Henning Heske

Molly, Ricky und der Quälgeist

Henning Heske

MOLLY, RICKY UND DER QUÄLGEIST

© 2013 Henning Heske

Umschlagillustration: Dipl.-Graphikerin Inken Heske

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN 978-3-8495-0181-5

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Inhalt

Schwarzes Weißbrot

Sonnenschein im Regenwald

Glücksperlen für die Pechschweine

Doppelte Zwillinge und sprechende Steine

Feuerhelle Hexennacht

Weißes Schwarzbrot

Schwarzes Weißbrot

„Aufstehen“, rief der Quälgeist und zupfte an den langen dunklen Haaren, die unter der riesigen, bunten Bettdecke hervorlugten.

„Hau ab“, murmelte Molly schläfrig und drehte sich auf die andere Seite.

„Aber die Schmalzfliege und das Waldhuhn sind schon lange wach und haben Hunger“, quäkte der Quälgeist, während er in seinem weißen Gewand, das wie ein viel zu großes Nachthemd aussah, auf und ab hüpfte.

„Du alter Quälgeist!“, stöhnte Molly. Schließlich schlug sie die dicke Bettdecke zurück, streckte die Arme in die Höhe und räkelte sich ausgiebig.

Dann seufzte sie zufrieden, setzte sich im Bett auf und wackelte mit einer Hand an ihrem Goldzahn.

„Morgenstund hat Gold im Mund“, stellte sie zufrieden fest.

„Wir haben Hunger“, rief der Quälgeist.

„Jaja!“ Molly rutschte auf die Bettkante und sang leise: „Affenzahn und Schweinerei, heute gibt’s ‘nen Hühnerei.“

Einen Augenblick später prasselte es laut und heftig auf das Dach der Hütte. Der Quälgeist zuckte zusammen und huschte blitzschnell unter den langen Holztisch.

„Auweia“, seufzte Molly und stand auf. „Was hab ich jetzt bloß wieder angerichtet?“

Vorsichtig öffnete sie die quietschende Holztür und trat vor ihre Hütte. Der Vorgarten aus Kräutern, Sträuchern und Blumen war über und über mit aufgeschlagenen Hühnereiern übersät. Auf dem Strohdach klebten mehr als zwanzig Spiegeleier.

Der Quälgeist trat leise neben Molly und betrachtete ebenfalls die Bescherung. „Was bist du nur für eine komische Magierin?“, meckerte er. „Kannst du nicht einmal mit deinen Zaubersprüchen aufpassen?“

„Ich glaube, es muss Affenbaum heißen“, murmelte Molly. Sie drehte sich um und blickte auf den wirren Schopf aus roten Haaren. „Du musst heute draußen frühstücken“, sagte Molly, zeigte auf das verstreute Eigelb und drängte sich am Quälgeist vorbei in ihre Wohnschlafküche.

Dort legte Molly Reisig und Holzstücke in den Kachelofen und entfachte mit etwas Zunder ein Feuer. Dann füllte sie den Kupferkessel mit Wasser aus dem Regenfass und stellte ihn auf den Ofen. Sie räumte die benutzten Becher und Schüsseln vom Tisch und vollführte ihre Morgengymnastik. Sie kletterte auf den Tisch, machte einen Handstand, hüpfte hinunter, nahm Anlauf und schlug ein Rad, sodass sie mit beiden Beinen im Bett landete. Molly kicherte zufrieden und schlief einen Moment später ein.

Das Pfeifen des Wasserkessels weckte sie zum zweiten Mal an diesem Morgen. Gähnend stand sie auf und goss das heiße Wasser auf die Handvoll frischer Kräuter, die sie vorher in die Teekanne geworfen hatte. Dann legte sie zwei Scheiben Weißbrot auf den Kachelofen und ging zum Regal, das ein furchtbares Durcheinander zeigte. Alte Schuhe lagen dort neben Knoblauchwurzeln, dicke Bücher standen neben gefüllten Obstschalen, eingemachte Frösche neben Blechdosen, die nicht verrieten, was sie enthielten. Doch Molly griff zielsicher nach dem, was sie suchte: ein Glas Erdbeermarmelade und ein Glas Waldblütenhonig.

In diesem Moment polterte es fürchterlich an der Tür.

Molly schrak zusammen. „Du brauchst die Tür nicht einzuschlagen, sie ist offen, Ricky“, rief sie.

Die Holztür schwang auf. Ein riesiger Kerl in einem noch größeren Mantel stand im Türrahmen.

„Wusste ich es doch: Ricky der Räuber“, murmelte Molly und machte dabei kein fröhliches Gesicht.

„Kann ich reinkommen?“

„Du bist ja schon fast drin! Außerdem fragst du doch sonst auch nicht.“

Mit einem großen Seufzer betrat der Räuber den Raum und ließ sich auf den nächstgelegenen Stuhl fallen. „Sag mal, wie hältst du es nur aus mit diesem Quälgeist?“

„Ach, an den habe ich mich gewöhnt. Eigentlich ist er ganz okay.“

„Ich habe Hunger“, sagte Ricky, und wie verabredet knurrte sein Magen laut und deutlich.

Molly flitzte zum Kachelofen, um das Brot umzudrehen. Die eine Seite war schon ziemlich schwarz geworden.

„Nur wegen dir ist das Brot angebrannt“, schimpfte Molly.

„Tut mir leid“, murmelte Ricky.

„Unter einer Bedingung darfst du mit mir frühstücken: du gibst mir meine Glaskugel zurück!“

Ricky machte ein erstauntes Gesicht und legte beide Hände offen auf den Tisch. „Welche Kugel? Ich habe keine Kugel! Und schon gar keine aus Glas!“

Molly setzte sich Ricky gegenüber, stützte ihren Kopf in eine Hand und sah dem Räuber genau in die Augen. „Seit vorgestern Abend vermisse ich meine magische Kugel. Also gib sie sofort her!“

„Wieso soll denn ausgerechnet ich sie haben?“

„Weil du der einzige Räuber weit und breit bist.“

Missmutig griff Ricky in seine tiefe, ausgebeulte Hosentasche und holte ein Klappmesser und eine Glaskugel hervor. Blitzschnell ließ er das Klappmesser wieder in der Hosentasche verschwinden. Die Glaskugel war größer als ein Apfel, aber kleiner als eine Melone und schillerte in seltsamen Farben.

Mit einem gewaltigen Seufzer legte Ricky die Glaskugel mitten auf den großen Holztisch. „Ach, Molly, weißt du, irgendwie macht es keinen Spaß mehr, Räuber zu sein.“

Molly sah eine Weile stumm in Rickys dunkle, traurige Räuberaugen. Dann holte sie die Teekanne.

„Du hast einen schönen neuen Mantel an“, sagte Molly, um das Thema zu wechseln.

„Gefällt er dir?“, fragte Ricky.

„Ja, er ist schick, nur etwas zu groß“, antwortete Molly und goss den Kräutertee in die Becher.

„Er war nur in dieser Größe da. Den habe ich mir nämlich erst vor einer Woche bei einer Feier von reichen Leuten gemopst, äh ich meine besorgt.“

„Einen Rasierapparat müsstest du dir bei Gelegenheit auch mal klauen, ich meine natürlich besorgen.“

Ricky fuhr sich mit einer Hand über seine Bartstoppeln. „Meinst du?“

„Allerdings“, sagte Molly und ging das angebrannte Weißbrot holen.

„Heute gibt es schwarzes Weißbrot zum Frühstück“, rief sie.

Ricky lachte lauthals. „Schwarzes Weißbrot, hahaha, um diese Zeit liebe ich schwarzes Weißbrot. Gibt es auch schwarzes Bier dazu?“

„Nein, grünen Kräutertee. Du solltest ihn trinken, bevor er kalt wird.“

„Bier wäre mir lieber“, murmelte Ricky und nahm einen kräftigen Schluck Tee.

„Aua“, schrie er. „Das Zeug ist ja heiß wie Höllensteine! Jetzt habe ich mir den Mund verbrannt!“

Jetzt lachte Molly. „Du musst nicht so gierig sein.“

„Gierig, gierig! Man wird ja noch vernünftig trinken dürfen! Motz und Petz!“

„Du solltest nicht so fluchen“, meinte Molly und beschmierte sorgfältig ihr schwarzes Weißbrot mit Waldblütenhonig.

„Ich fluche so viel ich will“, maulte Ricky mit vollem Mund.

„Das kann in diesem Haus gefährlich sein“, sagte Molly. „Donnerkeil und Kugelblitz, so ein Fluch, das ist kein Witz.“

Augenblicklich wurde es in Mollys Haus stockfinster. Nur die Glaskugel leuchtete. Wind heulte durchs Zimmer. Dann zuckte ein greller Blitz von der Decke auf den Tisch. Einen Moment später war es wieder taghell. Alles war wie vorher, nur mitten durchs Rickys Teller ging ein Riss.

„Meine Güte, hast du mich erschreckt!“, rief Ricky. „Jetzt hast du einen Teller kaputt gemacht.“

„Den kann ich wieder zusammen zaubern.“

Die Tür flog auf. Der Quälgeist stürmte herein. „Was ist denn hier los?“

„Ich habe nur ein bisschen gezaubert“, erklärte Molly.

„Und es war wieder der falsche Spruch, stimmt's?“, fragte der Quälgeist.

„Nein, diesmal war es sogar der richtige.“

„Ich will auch was trinken“, quengelte der Quälgeist.

„Dann nimm dir was“, seufzte Molly.

Der Quälgeist holte sich einen Becher und goss Tee ein. Eine ganze Menge ging daneben.

Molly sagte nichts.

Ricky rülpste.

„Bleibt der Riese noch länger?“, fragte der Quälgeist.

Niemand antwortete.

„Ich habe was gefragt“, rief der Quälgeist erbost. Hilfesuchend schaute Ricky zu Molly.

„Ich glaube, er bleibt nicht lange“, sagte Molly schließlich. „Er ist nämlich auf der Suche nach einem neuen Beruf. Räuber ist wirklich ein doofer Beruf ...“

„Wieso?“, unterbrach Ricky. „Er ist spannend, man kommt viel rum in der Welt und ...“

„Ja, aber man findet keine Freunde“, fuhr Molly fort. „Im Gegenteil, alle sind sauer auf Räuber. Und weißt du was, ich bin schon solange nicht mehr verreist. Ich komme mit. Ich helfe dir, einen neuen Beruf zu finden.“

„Du kannst doch nicht einfach abhauen“, rief der Quälgeist dazwischen. „Was soll ich denn ohne dich machen?“

„Zum Beispiel selber mal Frühstück.“

Der Quälgeist flitzte zu Molly und zog kräftig an ihrem weiten Pullover. „Du kannst mich doch nicht einfach hier allein lassen!“

„Doch“, sagte Molly leise und starrte regungslos zum Fenster hinaus. „Wir sollten uns auf den Perleninseln umschauen. Und vielleicht treffe ich dort auch meine Schwester wieder. Ich vermisse sie so.“

Sonnenschein im Regenwald

Molly und Ricky verschwanden im Gebüsch des alten Weges zur Bucht.

„Wartet!“, rief der Quälgeist und hastete den beiden hinterher.

Molly und Ricky taten, als würden sie den Quälgeist nicht hören, und gingen weiter. Sie erreichten die steinige Bucht. Die Sonne hing tief und rot über dem Horizont. Die Schaumkronen der Wellen glitzerten in der Abendsonne. Mit zusammengekniffenen Augen konnte man drei Inseln erkennen. Die Perleninseln.

„Und nun?“, fragte Ricky, der bisher schweigend hinter Molly her getrottet war. „Was sollen wir hier?“

„Wir schwimmen rüber. Ist doch klar.“

„Aber die Krokodile. Sie werden uns fressen.“

Molly winkte ab. „Ach was. Die Tiere sind meine Freunde.“

Ricky räusperte sich laut. Doch bevor er etwas sagen konnte, schrie eine bekannte Stimme durch die Bucht: „Da seid ihr ja endlich!“