Dirk Baecker – Wozu Theater?
Dirk Baecker
Wozu Theater?
Recherchen 99
© 2013 by Theater der Zeit
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Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Im Podewil | Klosterstraße 68 | 10179 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Lektorat: Nicole Gronemeyer
Gestaltung: Sibyll Wahrig
Umschlagabbildung: „Belagerung Bartleby: Eine theatrale Installation in 100 Stunden“,
Inszenierung: Claudia Bosse, Hebbel-Theater Berlin, 21. April, 20 Uhr, bis
24. April 2004, 24 Uhr. © Maix Mayer und Bettina Vismann
ISBN 978-3-943881-05-9
Vorwort
Stadt, Theater und Gesellschaft
Kunst und Kultur des Theaters
Schiffbruch mit Zuschauer
Zeigt her eure Spiegel
Grammatik der Leerstellen
Es geht nur weiter, wenn man die Dinge auseinanderhält
Die weiße Höhle
Manchmal ist der Tanz die bessere Soziologie
Als Experte auf einem Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen
Frauentausch
Die Form der Kunst im Medium der Öffentlichkeit
Kunstformate der Kulturrecherche
Possen im Netz
Von der Einheit der Institution zur Differenz der Formate
Die Öffentlichkeiten des Theaters
Formate der Kulturpolitik
Kein Theater
Das Festival als Fest
Nachweise und Anmerkungen
Der Autor
Der vorliegende Band versammelt Gelegenheitsarbeiten zum Theater. Ihre Einheit beziehen sie aus der Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des Theaters und aus der Überzeugung, dass auch das Theater nicht auf eine moralische, politische oder pädagogische Rolle reduziert werden darf, sondern als Kunst ernst genommen werden muss. Die gesellschaftliche Funktion, die das Theater erfüllt, erfüllt es als Kunst. Diese kann jedoch nicht mehr, wenn sie es denn je konnte, als selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern muss immer wieder neu gesucht und kann nur so bestätigt werden. Das Theater mag immer noch eine Institution sein, aber diese Unverzichtbarkeit verdankt es nicht seiner Absicherung in den Institutionen der Kunstförderung und Kulturpolitik, sondern seiner Arbeit am Format seiner Arbeit. Es variiert Darstellung, Publikum, Ort und Ästhetik und kann nur so sicher sein, dass es gegenüber politischen Interessen, kommerziellen Rücksichten, religiösen Botschaften, pädagogischen Absichten und wissenschaftlichen Fragestellungen hinreichend unabhängig bleibt. Es kann sich all diesen Zugriffen und Zumutungen der Gesellschaft anverwandeln, die die Wirklichkeit definieren, in der sich auch das Theater bewegt, muss aber zugleich sicherstellen, dass es als Theater nicht mit dieser Wirklichkeit verwechselt wird.
Die gesellschaftliche Funktion des Theaters, das wir hier als menschheitsgeschichtliche Einmalerfindung verstehen, besteht darin, dass das Theater wie keine andere soziale Form zur Beobachtung zweiter Ordnung herausfordert und die Beobachtung zweiter Ordnung vorführt. Auf der Bühne agieren Darsteller, die sich vom Publikum daraufhin beobachten lassen, wie sich Drama, Intrige und Komödie aus der wechselseitigen Beobachtung entwickeln, deren Inszenierung sie vorführen. Im antiken Theater war die Rolle des Beobachters explizit im Chor ausdifferenziert, im modernen, mittlerweile schon klassischen Theater (Lessing, Goethe, Schiller …) ist sie auf viele Rollen verteilt, um alle Kombinationen wechselseitiger Beobachtung und Blindheit zwischen Akteuren aller Art durchzuspielen, und in dem Theater, das wir passend zur heraufziehenden ‚nächsten‘ Gesellschaft das nächste Theater nennen,1 sind es nicht mehr nur Menschen in ihren Rollen, sondern Körper, Erinnerungen, Hoffnungen, Lichter, Räume und Gesten, die ihrerseits Beobachtungen anstellen, beobachtet werden und Effekte auslösen. Im antiken Theater wird tragisch und komödiantisch das Schicksal herausgefordert, im klassisch modernen Theater wird Kontingenz inszeniert, und im ‚nächsten‘ Theater wird das Spiel selber auf seine Unvermeidlichkeit zurückbuchstabiert, ohne dass zwischen Sein und Schein irgendein verlässlicher Trennstrich zu ziehen wäre.
Eine solche Soziologie und funktionale Analyse des Theaters innerhalb seines gesellschaftlichen Kontexts beraubt das Theater nicht seines Eigensinns, seiner Autonomie oder seiner prozessualen Differenz, sondern versucht diese im Gegenteil als Ausdruck von Kunst zu würdigen. Denn auch wenn der Soziologe immer schon zu wissen glaubt, dass die Differenz zwischen Darstellung und Publikum, die jedes Theater definiert, sich auch im neuen Stück, in der neuen Inszenierung, im neuen Format und an den neuen Orten wieder durchsetzen wird, so kann doch nichts die jeweilige Arbeit des Schauspielers, Regisseurs, Dramaturgen, Bühnenbildners und Lichtdesigners vorwegnehmen. Jedes Mal neu handelt es sich wieder um Kunst, und nicht um Politik, Moral, Erziehung oder Religion. Jedes Mal neu handelt es sich wieder um die Suche nach einer passenden Ästhetik, wieder um ein Spiel mit Wahrnehmung, das sich mit jeder neuen Wendung wieder neue Freiheitsgrade erobert.
Der auch kulturpolitisch geführte Streit um die Programme des Theaters setzt dessen Funktion voraus und bleibt erstaunlich unempfindlich gegenüber der unablässigen Arbeit des Theaters an seiner Ästhetik. Gerade wenn man von einer gesellschaftlichen Funktion des Theaters spricht, muss jedoch dessen Ästhetik in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Dafür werben die hier gesammelten Beiträge, auch wenn ihr eigener Akzent eher auf soziologischen Fragestellungen liegt. Kommentare zu einzelnen Theaterarbeiten, die in den vergangenen Jahren in Theater der Zeit, in der taz und in der Frankfurter Rundschau erschienen sind, habe ich hier der Vollständigkeit halber noch einmal aufgenommen, obwohl ich sie bereits andernorts zusammen mit anderen kleinen Beiträgen zur Sozialkunde gesammelt hatte.2
In den vorliegenden Beiträgen geht es um das überraschende Wiederauftauchen ästhetischer Fragestellungen innerhalb einer zwischen Stadttheater, freien Szene und Performance-Kunst schon längst nicht mehr eindeutig differenzierten Kunst. Das Theater entwindet sich zunehmend dem Zugriff bürgerlicher Ästhetiken, die – halb noch Repräsentationstheater, halb bereits Milieutheater – kaum noch die Kraft zur Innovation haben, und wendet sich neuen Orten, neuen Formaten, neuen Themen und eben auch neuen Ästhetiken zu, die den Akzent nicht mehr auf Texte, sondern auf Medien legen,3 und die die Welt nicht mehr klassisch, romantisch, sentimental oder kritisch begreifen, sondern in Ton-, Text-, Bild- und Codespuren zerlegen und allenfalls verwirrend wieder zusammensetzen.
Wie bei Gelegenheitsarbeiten üblich, habe ich all denen zu danken, die mir die Gelegenheit zu diesen Arbeiten gaben, allen voran Carena Schlewitt und Matthias Lilienthal, aber auch Söke Dinkla, Christian Holtzhauer, Josef Mackert, Barbara Mundel, Heiner Goebbels, Marion Tiedtke, Christopher Balme, Philippe Bischof, Imanuel Schipper und Jurriaan Cooiman. Ohne viele Gespräche mit Wolfgang Krause Zwieback, Claudia Bosse, Kathrin Tiedemann, Bernard Fleury, Katka Schroth, Ivan Stanev, Janek Müller, Harriet und Peter Meining, Carl Hegemann, Barbara Gronau, VA Wölfl, Hans-Werner Krösinger, Hannah Hurtzig, Volker Lösch, Tobias Brenk, Boris Nikitin und Anna-Sophie Mahler hätte ich sicherlich noch weniger von der ganzen Sache verstanden, als es hier dokumentiert ist.
Der mir wichtigste Grund, die Texte noch einmal zu publizieren, ist nicht das gleichsam unvermeidlich mitlaufende Plädoyer für eine Soziologie des Theaters, sondern das Werben dafür, die Frage nach den Formaten, in denen Kunst stattfinden kann, strategisch noch ernster zu nehmen, als es jüngst vielfach bereits getan wird. Nur Formate geben die Antwort auf die Frage, wie strenge Kunst und schonungslose Öffnung miteinander Hand in Hand gehen können. Daraus erklärt sich der Titel des Bandes. Während wir uns auf die Institution des Theaters gleichsam menschheitsgeschichtlich verlassen können, stehen doch seine Institutionen nicht nur kulturpolitisch, sondern auch ästhetisch auf dem Prüfstand. Die Formatfrage liefert eine Handhabe, ästhetische, organisatorische, finanzielle und rezeptive Fragen an das Theater nicht nur wie bisher eher latent, widerwillig und dann auch intransparent, sondern offen und offensiv aufeinander zu beziehen und als eigenes Theater um das Theater zu inszenieren. Als Institution kann sich das Theater nur autoritär inszenieren, jede weitere Rückfrage als Frage von Banausen zurückweisend. Als Format unter anderen Formaten jedoch kann es sich der intelligenten Beobachtung durch sich selbst und durch andere aussetzen. Das gilt intern, zwischen den Häusern des Theaters, es gilt innerhalb der Künste, im Vergleich mit Konzert, Galerie, Museum und Performance, und es gilt innerhalb der Gesellschaft im Hinblick auf die Frage, welche Phänomene das Theater im Unterschied zu anderen Orten (Parlament, Universität, Kirche, Krankenhaus, Demonstration, Markt, Gericht, Gefängnis, Fabrik, Büro, Stadion, Bibliothek …) sichtbar und beobachtbar macht.
In drei Abschnitten erkunden die folgenden Überlegungen Möglichkeiten einer thematischen Orientierung der künstlerischen und dramaturgischen Arbeit an einem Theater der freien Szene in Berlin.
Der erste Abschnitt skizziert sehr selektiv einige der für die Theaterarbeit möglicherweise maßgebenden Koordinaten der gegenwärtigen (April 2003) Situation der Stadt Berlin im Hinblick auf Politik, Wirtschaft, Bevölkerung und Wissenschaft. Dabei gilt der politischen Situation Berlins nach dem Fall der Mauer und dem Standort für eine neuartige Dienstleistungs- und Beratungsökonomie sowie der Konzentration von Universitäten, Forschungsinstituten und Einrichtungen der Ausbildung und Weiterbildung ein besonderes Interesse.
Der zweite Abschnitt wendet sich mit aller Vorsicht der Frage zu, worin die Funktion der Kunst, die Rolle der Künste allgemein und die Leistungen des Theaters insbesondere in der gegenwärtigen Gesellschaft bestehen. Dem liegt die Vermutung zugrunde, dass eine Bestimmung der Funktion der Kunst zwar hochgradig umstritten sein muss (anders wäre die ‚Autonomie‘ der Kunst nur ein leeres Wort), andererseits jedoch dennoch möglich sein muss (andernfalls wüsste keine Kunst, woran sie arbeitet).
Und der dritte Abschnitt arbeitet an einem Themenkatalog, der als Suchraster für mögliche Produktionen und interessante Inszenierungen dienen kann. Dieser Themenkatalog kann und soll natürlich nicht die Inhalte der Stücke definieren, das wäre im Vorgriff auf eine Theaterarbeit, die ja erst noch stattfinden soll, unsinnig, aber er kann eine Orientierung darüber liefern, welche Theaterarbeit vor dem Hintergrund der Rolle der Künste und der Situation des Standorts Berlin besondere Aufmerksamkeit und vielleicht auch Unterstützung verdient.
Die folgenden Überlegungen beschreiben sowohl den Standort Berlin als auch die gegenwärtige Arbeit der Kunst als Suchbewegungen, die im Theater konvergieren und dort ein spezifisches Publikum finden können. Als Fluchtpunkt dieser beiden Suchbewegungen fungiert eine neuartige ‚Naturwissenschaft der Gesellschaft‘ beziehungsweise ‚Kognitionswissenschaft des Sozialen‘, die im Theater, aber auch in Museen, Ausstellungen und Galerien ihren künstlerischen und in den Universitäten und Forschungsinstituten der Stadt ihren wissenschaftlichen Ort hat.
Die Situation der Stadt Berlin ist in Deutschland und Europa in mancher Hinsicht einzigartig.
Berlin blickt erstens zurück auf eine Geschichte ebenso grandios geplanter wie grandios misslungener staatlicher Ansprüche auf die Gestaltung der Gesellschaft. Das Kaiserreich, die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und der Sozialismus sind hier gefragt und ungefragt der Kontext einer Neubestimmung der Politik der Bundesrepublik. Sowohl auf dem Gebiet der administrativen Organisation (Preußen, Einparteienstaat, Umverteilungsstaat) als auch auf dem Gebiet der symbolischen Repräsentation von Politik (das Schloss, der Reichstag, der Palast der Republik, der umgebaute Reichstag) liegen in Berlin Erfahrungen mit der Rolle der Politik in der Gesellschaft vor, die allesamt explorativer und experimenteller Natur sind, sich jedoch auf keine Neubestimmung dieser Rolle verdichten lassen. Der geografische wie mentale Fluchtpunkt der neuen Achse aus Abgeordnetenhaus und Kanzleramt ist Brüssel und damit eine administrative Einheit im Konfliktfeld europäischer Interessen und Traditionen, die mit einem traditionell auf die demokratische Kontrolle von Macht abstellenden Politikverständnis nur schwer zu beschreiben ist.
Der Zusammenbruch eines der letzten dieser Versuche, des DDR-Sozialismus, hinterließ zweitens eine wiedervereinigte Stadt mit einer Bevölkerung, die sich mit gemischten Gefühlen an die Spaltung erinnert.1 Im Ostteil wie im Westteil der Stadt weiß man um das, was man mit dem Fall der Mauer verloren hat (nämlich: funktionierende Milieus der sozialen Orientierung im privaten wie öffentlichen Raum), und blickt man durchaus skeptisch auf das, was man gewonnen hat (nämlich: das Zusammenleben in einer Metropole, deren politische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung erst wieder gefunden werden muss). Konnte man sich vor dem Fall der Mauer darauf verlassen, dass es im Wesentlichen in beiden Teilen der Stadt vier funktionierende Milieus gab: 1) politische Funktionäre, 2) Dissidenten beziehungsweise Aussteiger, 3) Bürger (ein kulturelles Milieu, das je nach Lage und Bedarf zwischen einem Verständnis für die Macht der Funktionäre und einem Verständnis für den Protest der Dissidenten oszillierte) und 4) Arbeiter und Angestellte (die den Alltag definierten und sicherstellten), so ist nach dem Fall der Mauer nur deutlich, dass die Differenz von Macht und Protest, vermittelt und veralltäglicht durch hochkulturelle Erhabenheitsgesten auf der einen Seite und volkskulturelle Normalität auf der anderen Seite, neben einer gewissen Erinnerung an das Selbstverständnis ‚Berlins‘ kaum noch etwas organisiert.
Berlin ist drittens ein einzigartiger Wissenschafts- und Bildungsstandort, der dank gesellschaftlicher Ansprüche an die in Berlin arbeitenden Universitäten (HU, FU und TU) immer auch ein wissenschafts- und bildungspolitischer Standort war. Geistes-, Natur- und Ingenieurwissenschaften waren hier nie getrennt vom Streit um neue Philosophien, vom Wettbewerb um die Entschlüsselung der Geheimnisse der Natur und vom Ehrgeiz der Entwicklung und Bereitstellung neuer Technologien zu sehen. Die große Anzahl der Wissenschaftler (45 000) und Studenten (130 000), die in dieser Stadt arbeiten und lernen, hat gegenwärtig offensichtlich noch nicht jene kritische Schwelle erreicht, jenseits deren ein Milieu entstehen könnte, das seine wichtigsten Stimuli aus sich selbst bezieht; aber mit einer gezielten Förderung scheint es nicht unmöglich zu sein, diese Schwelle zu erreichen. Zahlreiche Institutionen der Bildung, Ausbildung und Weiterbildung sorgen für einen Transfer von Forschungsergebnissen in die gesellschaftliche Praxis, der über technologische Fragen weit hinausreicht und längst das weite Feld von Kommunikation, Organisation und Management erreicht hat.
Berlin ist viertens auf einzigartige Weise West- und Osteuropa verbunden. Vergleichbar nur mit Wien und Istanbul, rekrutiert sich ein Großteil der Bevölkerung aus osteuropäischen Ländern, während die kulturelle Orientierung der Stadt, gemessen an bestimmten Zivilisationsstandards (Verzicht auf religiöse Dominanzansprüche, demokratisches Selbstverständnis, Emanzipation der Frau, vorsichtige Unterstützung unternehmerischer Initiative), Westeuropa verpflichtet ist. Die unterschiedlichen Bevölkerungen der Stadt stehen sowohl für eine Verpflichtung auf die unruhige und komplexe Moderne wie auch für nach Bedarf reaktivierbare tribale und religiöse Organisationsformen der Gesellschaft.
Das zeigt sich nicht zuletzt an kriminellen Subkulturen, die die Gelegenheitsstruktur der modernen Gesellschaft unter Rückgriff auf traditionale Sozialstrukturen auszunutzen versuchen und dadurch bestimmte Formen der sozialen Organisation wachhalten und neu erfinden, die sich mit einem bürgerlichen Selbstverständnis der Gesellschaft (zumindest soweit dieses, vielleicht nur ideologisch, auf Aufklärung, Transparenz, Frieden und Gewaltfreiheit setzt) nicht leicht unter einen Hut bringen lässt.
Hervorzuheben ist, dass in Bezug auf das Interesse an gesellschaftlichen Ordnungsmodellen die mit Stichworten wie Partykultur, Love Parade und ‚neue‘ Friedensbewegung bezeichnete Jugendkultur eine wichtige Rolle spielt, weil sie schon aufgrund mangelnder Information traditionelle Bruchlinien zwischen den Schichten, Milieus und Ethnien einer Gesellschaft überspielt und auf universalisierbare Werte und Normen (des Friedens und der Gewaltfreiheit) zu setzen tendiert. Mit Berufsbeginn und Eheschließung verblasst jedoch dieses Interesse an einer eher universalistischen Moral der Gesellschaft.
Auffällig ist fünftens die besondere Rolle der Dienstleistungs- und Beratungswirtschaft in Berlin. ‚Unternehmensservices‘ gehören zu den wenigen Wachstumsbereichen der Berliner Wirtschaft, konsumnahe Dienstleistungen im Freizeit- und Wellnessbereich könnten in den kommenden Jahren ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen. Interessant ist dies deswegen, weil diese Dienstleistungen neuartig sind und daher einen erheblichen intellektuellen beziehungsweise analytischen Input erfordern. Es geht um die Definition von Bedürfnissen, um die Vernetzung von Verfahren, um die Formulierung von Problemstellungen und die Entwicklung passender Lösungsmuster sowie um das Angebot von Beratung, Training und Coaching in nahezu allen Lebenslagen in Arbeit und Freizeit, und dies parallel zu einer weitreichenden Umstellung von Organisationskultur und Familienleben, in denen die traditionell starke hierarchische Rolle des Mannes (inklusive der auch für die Gegner attraktiven Identitätspolitik, die damit einherging) einer vielleicht noch traditionelleren starken heterarchischen Rolle der Frau weicht (inklusive der damit einhergehenden Verunsicherung sozialer Identitäten).
Das, wie man sagt, eher mürrische, dienstleistungsaverse Berlin könnte in besonderem Maße geeignet sein, unterhalb der bundesweiten Emphase für die Entwicklung einer Dienstleistungskultur herauszufinden, auf welchen Feldern und für welche Fragen hier ein tatsächliches Potential entsteht. Dienstleistungen von Unternehmen, zwischen Unternehmen und zunehmend auch für Privatkunden sind ein Wirtschaftsbereich, der nicht mehr drittrangig ist wie in der Industriegesellschaft, sondern erstrangig, weil hier die Probleme identifiziert, beschrieben und gelöst werden, die die Interdependenzen einer komplexen Gesellschaft ‚strukturieren‘, das heißt, es möglich machen, Vernetzungen so zu beschreiben, dass man weiß, was etwas miteinander zu tun hat und was nicht. Hier gehen analytische Intelligenz (inklusive der Fähigkeit zur Bestimmung neuartiger Problemstellungen) und pragmatische Experimente (inklusive einer Kultur, die dazu den Mut aufbringt) Hand in Hand.
Konnte Georg Simmel die Intelligenz des Städters noch darin sehen, dass es ihm gelingt, ‚blasiert‘ (Simmel) beziehungsweise ‚cool‘ der Überflutung mit Wahrnehmungsreizen Herr zu werden und sich private, ‚gemütliche‘ Ecken in der Stadt zu schaffen,2 so könnte diese Intelligenz in Zukunft darin bestehen, Lösungen für Vernetzungen zu finden, die nicht in die sauberen, modernen Kategorien von Macht, Geld, Technik, Kunst und Erziehung passen, sondern hier eher ungewohnte Gemengelagen in Anspruch nehmen. Unter anderem steht das Stichwort von der Dienstleistungswirtschaft für die Wiederentdeckung des Gestaltungsfaktors ‚Organisation‘, der im traditionellen Politik-, Wirtschafts- und Kulturverständnis ausgeblendet war beziehungsweise ‚Funktionären‘ überlassen wurde.
Versucht man, diese sicherlich unvollständige, aber für einen ersten Zugriff vielleicht hilfreiche Liste von für Berlin typischen Standortfaktoren auf einen Nenner zu bringen, so kann man vielleicht sagen, dass Berlin in Deutschland so etwas wie die Hauptstadt intelligenter Selbstbeobachtung ist. In keiner anderen Stadt werden so schnell so viele unterschiedliche Angebote eines Selbstverständnisses gemacht und im Wettbewerb dieser Angebote untereinander und der sich diesem Wettbewerb verdankenden kritischen Intelligenz auch wieder zunichtegemacht. Auch damit hat es zu tun, dass diese Stadt mürrisch ist: Sie ist politisch, wirtschaftlich und kulturell frustriert, ohne sich deswegen auch nur einen Moment den Mut nehmen zu lassen, es immer wieder neu mit immer wieder demselben Selbstverständnis zu versuchen, das darin besteht, gnadenlos wach zu sein für die Vielfalt der Verhältnisse. Dieses Potential der intelligenten Selbstbeobachtung ist jederzeit bereit zu implodieren; es bietet jedoch auch so viele Chancen der unternehmerischen Neukombination von alten und neuen Verhältnissen, Faktoren und Perspektiven, dass es etwa für die Kunst- und Kulturpolitik eher darauf ankommt, an den richtigen Stellen die richtigen Engpässe zu setzen, als darauf, großzügig und unspezifisch zu fördern.
Die Funktion der Kunst ist nicht unumstritten, sondern nach wie vor Gegenstand eines Streits zwischen denen, die ihr eine Aufgabe bei der Repräsentation eines gesellschaftlichen, insbesondere politischen und wirtschaftlichen Selbstverständnisses zumessen, und den anderen, die ihre Autonomie für wesentlich und die individuelle Freiheit des Künstlers für unverhandelbar halten. Der Streit ist ebenso unverzichtbar wie unentscheidbar, zumal aufgeklärte Interessen der Gesellschaft sich längst mit autonomer Kunst zu schmücken wissen und die individuelle Freiheit des Künstlers, seit sie behauptet wird, eine der großen Imitationsvorlagen für Individualisierungsvorhaben in der Gesellschaft ist. Man wird den Streit um die Funktion der Kunst von daher zu den Voraussetzungen, unter denen die Funktion erfüllt werden kann, hinzurechnen müssen und wird die repräsentative Rolle der autonomen Kunst und das gesellschaftliche Muster der individuellen Freiheit des Künstlers als Belege für die gesellschaftliche Einbettung jeder Kunst beschreiben können.
Das ändert jedoch nichts daran, dass die Funktion der Kunst, selbst im Rahmen dieses Streits, befragt werden muss, wenn es darum geht, künstlerische Arbeit zu fördern. Die beiden überzeugendsten soziologischen Vorschläge, die Funktion der Kunst zu bestimmen, stammen gegenwärtig von Harrison C. White und Niklas Luhmann – wobei die Untersuchung der Kunst als Feld des Wettbewerbs um soziale Distinktionsgewinne, die Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede vorgelegt hat, zumindest erwähnt werden muss.3
White bestimmt in seinem Buch Careers and Creativity die Kunst als ein Feld, auf dem vorgeführt werden kann, dass Identitäten aus der Unterbrechung von Routinen gewonnen werden können. Das ist, wenn der Akzent nicht nur auf der Unterbrechung, sondern auch auf der Vorführung liegt, nicht weit entfernt von der von Luhmann in seinem Buch Die Kunst der Gesellschaft entwickelten Vermutung, dass es die Kunst mit Versuchen zu tun hat, etablierte Formen zu durchkreuzen und an unwahrscheinlichen Stellen neue Formgewinne zu erproben. Denn in beiden Fällen geht es um die Arbeit an ‚Identitäten‘ in jenem allgemeinen Sinne, dass diese in ihrer prekären Möglichkeit sowohl vorgeführt als auch abgesichert werden müssen, und um die Frage nach den Situationen und Kontexten, in denen diese Identitäten sich bewähren können. In diesem abstrakten Sinne deckt sich beider Analyse mit der von Bourdieu.
Informativ wird diese Bestimmung der Funktion von Kunst jedoch erst dann, wenn Begriffe wie jene der ‚Identität‘ oder der ‚Form‘ soziologisch verstanden werden. Es geht dabei nicht um die Identität einer Substanz oder Kategorie, so als sei etwas schon, was es ist, und müsse jetzt nur noch zusätzlich und eigentlich überflüssig bestimmt werden. Und es geht nicht um die Form eines bereits vorhandenen Inhalts. Sondern es geht um die Identität und die Form, die etwas zu dem machen, was es ist – durch ‚Kontrolle‘ im Fall des Identitätsbegriffs und durch ‚Unterscheidung‘ im Fall des Formbegriffs. Kunst ist jene gesellschaftliche Betätigung, in der sich die Gesellschaft, stellvertretend durch die Künstler und ihr Publikum, vorführt, wie prekär ihre Identitäten und Formen sind und wie diese dennoch und zuweilen erst deswegen gesichert werden können. Denn Motiv einer Identität wie einer Form ist die Vermeidung des Zusammenbruchs.
Die Kunst kann diese Funktion nur erfüllen, wenn und weil sich die verschiedenen Künste um ihre jeweils eigentümlichen Themen und Materialien kümmern und wenn und weil auch für diese Künste untereinander die jeweilige Arbeitsteilung nur eine Identität und eine Form unter anderen möglichen Arbeitsteilungen bezeichnet. Die Künste müssen die jeweilige Arbeitsteilung akzeptieren, und sei es nur, um laufend gegen sie rebellieren zu können. Mit einer gewissen Vereinfachung kann man die Differenz der Künste auf die Differenz der Wahrnehmungsvermögen beziehen und beschreiben, dass Identitäten und Formen in den bildenden Künsten, in Literatur und Dichtung, in der Architektur (sofern man diese zu den Künsten zählt), in der Musik, in Film und Video und im Theater jeweils unterschiedlichen Tests durch Auge und Vorstellung, Begehung und Gehör, Großaufnahme und Schnitt sowie Gestik und Tonfall unterzogen werden – wobei es jeweils darum geht, individuelle Wahrnehmungsfähigkeiten zu gesellschaftlichen Sinn- und Ordnungsvorgaben in ein Spannungsverhältnis zu bringen. Die Künste sind jene gesellschaftliche Veranstaltung, die so tut, als könnten gesellschaftlicher Sinn und gesellschaftliche Ordnung dem Individuum ‚ästhetisch‘ zur Disposition gestellt werden.
Diese vereinfachende Gegenüberstellung einzelner Künste und bestimmter Wahrnehmungsfähigkeiten übersieht, dass es angesichts des synästhetischen Charakters aller Künste allenfalls heuristisch Sinn macht, einzelne Künste auf einzelne Sinne des Menschen zu beziehen. Die Vereinfachung übersieht außerdem, dass die Wahrnehmung des Menschen nur adressiert wird, weil und insofern sie eine Scharnierfunktion bei der Erprobung und Etablierung sozialer Formen einnimmt. Es geht um die Überprüfung dieser sozialen Formen durch die Gesellschaft, die auf sie angewiesen ist, nicht um das ästhetische Urteil des Individuums. Dieses ist nur ein Stellvertreter eines gesellschaftlichen Problems und muss auch damit noch zurande kommen. Die Künste richten sich vielleicht zunehmend nicht an ein menschliches, sondern an ein gesellschaftliches Vorstellungsvermögen, das von einzelnen Menschen und ihrem Bewusstsein zwar mitvollzogen werden können muss, aber aus deren ästhetischer Urteilskraft nicht mehr seine wichtigsten Anregungen bezieht. Dennoch kann die Vereinfachung dazu dienen, an der Schnittstelle zwischen sozialer Form und bewusster Wahrnehmung zum einen zu erkennen, dass es soziale Formen überhaupt gibt (à la Émile Durkheim: An der Verzweiflung des Individuum gibt sich die Gesellschaft zu erkennen – und à la Foucault: Ebendies gilt auch für seine Lust), und zum anderen, dass diese die menschliche Wahrnehmung in Anspruch nehmen, ohne dass diese überhaupt wüsste, wo und wie sehr und inwieweit dies der Fall ist.
Das Theater, auf dessen Betrachtung unter allen Künsten ich mich hier beschränke, lässt sich nach wie vor als ‚Knoten‘ im Sinne der aristotelischen Poetik beschreiben.4 War es für Aristoteles die tragische Handlung, die auf der Bühne verknüpft und wieder gelöst werden musste, so erstreckt sich diese Struktur des Theaters heute auf große Handlungsbögen ebenso wie auf Gesten, Sprache und Mimik, auf das Schicksal einer Figur ebenso wie auf die Präsenz eines Körpers, die Stimmung einer Situation, die Atmosphäre eines Raums.
Mit zwei Begriffen der Systemtheorie, nämlich Selbstorganisation und Mikrodiversität,5 kann man davon sprechen, dass das Theater auf der Bühne und vor den Augen eines Publikums (allerdings immer wieder auch: vor den Augen des Ensembles, weswegen das Theater immer wieder als ‚Labor‘ der Erprobung sozialer Möglichkeiten beschrieben worden ist) ausprobiert, wie viel ‚Mikrodiversität‘ mit der ‚Selbstorganisation‘ des Sozialen (noch) kompatibel ist. Unter Mikrodiversität wird die Fülle der kleinen und großen Abweichungen verstanden, die in Verhalten, Handeln und Sprechen an den Tag gelegt werden kann und trotz oder vielleicht auch gerade wegen einer beachtlichen Bandbreite des Möglichen dennoch immer wieder auf einen Zusammenhang, einen Sinn, ein Ziel, ein Ende bezogen werden kann. Unter Selbstorganisation wird die Fähigkeit sozialer Situationen verstanden, sich aus dieser mikrodiversen Bandbreite des Möglichen immer wieder jene Elemente herauszusuchen, die auf andere Elemente bezogen werden können und so den Anfang einer Geschichte ausmachen, wie schnell auch immer diese dann sofort wieder verschwinden mag (und manche Geschichten halten sich beachtlich lange).
Das Theater ermöglicht es, diese Logik der Verknüpfung und Lösung des Knotens auf alle Elemente des Sozialen zu beziehen: Wie kommt eine soziale Beziehung zustande? Was hält sie aus? Was hält sie nicht aus? Wie sichert sie sich ab gegen ihre Auflösung in die Unbestimmtheit ihrer Umgebung? Mithilfe welcher Techniken und Mechanismen grenzt sie sich ab? Wie schafft sie es, ihre Umgebung in eine Ressource zu verwandeln, aus der sie immer wieder neue Kräfte schöpft? Wie motiviert sie zur Teilhabe? Was macht sie aus den Individuen, die teilnehmen? Wie halten die Individuen aus, was die Situation aus ihnen macht? Und ab wann reicht ihre Kraft genau dazu nicht mehr aus? Was geht verloren, wenn eine Beziehung verloren geht? Wie ist eine Krise strukturiert? Gibt es Möglichkeiten der Früherkennung fataler Entwicklungen? Wie kann man dann noch aufhalten – und wie kann man nachhelfen? Wie verwandelt man eine Situation in eine andere? Wie vollzieht sich eine Verwandlung? Worin besteht die ‚Form des Übergangs‘ (Hegel)? Und so weiter und so fort. Hier kann man eine nahezu endlose Reihe von Fragen stellen (das kleine und das große dramaturgische Alphabet), die immer wieder im selben Punkt konvergieren: Wie wird der Knoten anschaulich?
Das Theater ist eine der radikalsten Formen der Erprobung des Sozialen, weil alles, was funktioniert, zwischen Schauspielern auf der Bühne und vor dem Publikum im Parkett funktionieren können muss. Das heißt, es gibt eine soziale Situation, in der das Theater sich befindet und in der die Neugier und die Urteilskraft mobilisiert werden müssen und mobilisiert werden können, sich anzuschauen, anzuhören und auszuhalten, was auf der Bühne passiert. Das Theater erlaubt nur diejenige Form der Distanz, die auch dem Mitspieler möglich ist, wenn er einen Moment innehält. Die ‚vierte Wand‘ (zwischen Bühne und Publikum) ist vorhanden und schützt sowohl das Experiment auf der Bühne als auch die Beobachter im Parkett, aber jegliche Faszination, die das Theater zu entfalten vermag, lebt daraus, dass diese Wand hochgradig durchlässig ist. Im Mindestfall organisiert die Wand den Genuss des Publikums am Publikum und das Staunen der Schauspieler über die Schauspieler – dann ist die Wand der Spiegel, in dem sich die beiden Seiten des Theaters, Bühne und Parkett, selber beobachten.
Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Funktion der Kunst, Rolle der Künste und Leistung des Theaters gegenwärtig eher diffus als markant realisiert werden. Man steht deswegen vor der Wahl, ob man ‚postmodern‘ alles für möglich und nichts für bestimmbar halten will oder doch und eher ‚modern‘ daran festhält, Strukturen wiedererkennen und an ihnen arbeiten zu können. Diese Wahl ist jedoch weniger prinzipieller Natur als vielfach angenommen wird. Denn selbst dann, wenn man sich für die Postmoderne entscheidet, wird man sich mit wiedererkennbaren Elementen beschäftigen, die als ‚Kunst‘, ‚Theater‘, ‚Performance‘ oder was auch immer bezeichnet werden. Und selbst dann, wenn man für die Moderne optiert, wird man es sofort mit Unterscheidungen zu tun bekommen, die wesentlich uneindeutiger und umstrittener sind, als es uns ein bestimmter Diskurs der Moderne einreden wollte. Es mag daher hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass Paul Feyerabends berühmte Formel des ‚anything goes‘ keine fröhliche Beliebigkeit einläuten sollte,6 sondern erstens gegen jene opponierte, die an universelle Maßstäbe und Regeln der Vernunft glauben, und zweitens darauf hinwies, dass man selbst dann, wenn man ‚irgendwie‘ und ‚frei‘ und ‚spontan‘ startet, mit dem nächsten Schritt schon wieder mitten in einer Geschichte steckt, die ihre Erinnerung und ihre Zukunft, ihre Erwartungen und ihre Befürchtungen, ihre Struktur und ihre Rebellion hat.
Die möglicherweise interessanteste Einsicht, die die so genannte Postmoderne nach sich gezogen hat, ist daher von Bruno Latour mit seinem Buchtitel Nous n’avons jamais été modernes formuliert worden:7 Wir stecken seit fünftausend Jahren, vermutlich seit der Erfindung der Schrift, in derselben Geschichte, und es gibt keinen Grund zu glauben, die Möglichkeiten dieser Geschichte seien ausgereizt. Dass die Moderne und die Postmoderne behaupten konnten, jetzt würde eine neue Epoche beginnen, gehört zu dieser Geschichte dazu und ist Teil des selben. Es ist vielleicht nicht unwichtig, an diese Relativierung historischer Differenz zu erinnern, weil sich damit eine bestimmte Geste der Überschreitung von Grenzen erübrigt, die die Fortschrittsemphase mit der Dekadenz gemeinsam hat, und weil sich daraus eine unendliche Neugier ergibt, herauszufinden, was es mit dieser alten Geschichte immer noch auf sich hat.
Die Künste im Allgemeinen und das Theater im Besonderen partizipieren an einer Art ‚Naturwissenschaft der Gesellschaft‘, wenn man unter dieser Naturwissenschaft ein eher trockenes, das heißt möglichst vorurteilsfreies (vom Publikum meist als ‚zynisch‘ wahrgenommenes) Interesse daran, wie etwas funktioniert, versteht und die ‚Gesellschaft‘ als eine Kategorie einsetzt, die es erlaubt, die großen alten Unterscheidungen von Natur, Geist, Technik und Kultur erst einmal in Klammern zu setzen. Prinzipielle Grenzen für einen ‚Prozess der theoretischen Neugierde‘ (Hans Blumenberg), der in jedem seiner Momente praktische Resultate für die Bestimmung eines Problems, einer Möglichkeit, einer Lösung abwerfen kann, werden nicht akzeptiert. Das Theater ist der Ort, wo dies zum Thema gemacht werden kann und sich ein bestimmtes Publikum einfinden kann, in dessen Augen sich die Stadt und ihre Künste, wenn man so will, beim eigenen Treiben zuschauen können.
Daraus resultiert eine möglicherweise tragfähige Engführung einer an das Theater zu richtenden Erwartung (wohl wissend, dass bereits die Formulierung der Erwartung das Theater dazu motivieren wird, der Erfüllung dieser Erwartung nach Möglichkeit auszuweichen): Vielleicht ist das Theater der Ort, an dem erprobt wird, was es heißt, ‚städtisch‘ zu leben (exponiert und zurückgezogen, privat und öffentlich, riskant und gemütlich), und nichts einen genaueren Blick auf das städtische Leben zu werfen erlaubt als die Künste, die sich in ihm bewähren und behaupten. Auf der Bühne beobachtet sich die Stadt im Spiegel der Kunst. Und das bedeutet, dass das Theater, zumindest ein bestimmtes Theater, die ‚freie Szene‘ (die traditionell weniger stark an Gattungsgrenzen hängt), nicht darum herumkommt, auch die Künste (inklusive des Theaters selbst) als Akteure auf die Bühne zu bringen.
Man mag hierbei noch einmal an Bruno Latour denken, der sich vorstellen kann, dass nicht nur Personen (und Götter), sondern auch Sachen, Ideen, Träume, Ideologien, Institutionen, Mächte, Tiere und Maschinen und eben auch die Kunst ‚Akteure‘ im präzisen Sinne des Wortes sind: Handlungspotentiale, denen sich innerhalb eines Netzwerks von Beziehungen Intentionen und Restriktionen zuschreiben lassen, an denen sich die anderen Elemente des Netzwerkes affirmativ oder kritisch, gläubig oder rebellisch orientieren. An die Moderne zu glauben, so Latour, heißt, nichts von Netzwerken zu wissen. Diese Netzwerke gehören auf die Bühne! Es genügt nicht, die Bühnen organisatorisch untereinander zu ‚vernetzen‘.
Wir wissen nicht, was wir wissen, während wir tun, was wir tun
Im Sinne der eben genannten ‚Naturwissenschaft der Gesellschaft‘, die in Wirklichkeit eine ‚Kognitionswissenschaft des Sozialen‘ ist, sind zwei Fragen für uns erkenntnisleitend:
(1) Welche Form der Erkenntnis setzt jede soziale Beziehung voraus?
(2) Welche Erkenntnis ist von einer sozialen Beziehung möglich
und wie weicht diese Erkenntnis von der durch die soziale Beziehung realisierten Form der Erkenntnis ab?
Im Umkreis dieser Fragen kann man sich eine Reihe von Themen vorstellen, die im weitesten Sinne durch die soziologische Theorie motiviert sind, jedoch über die traditionellen Grenzen dieser wissenschaftlichen Fachdisziplin durch ihren Verweis auf die Kognitionswissenschaften hinausreichen. Jedes dieser Themen ist eine Variation der den beiden genannten Fragen zugrunde liegenden Grundeinsicht dieser Kognitionswissenschaft des Sozialen, dass wir nicht wissen, was wir wissen, während wir tun, was wir tun.8 Diese Grundeinsicht verbindet die beiden wichtigsten Motive der Moderne, das Motiv der Aufklärung (wir können wissen, was wir tun) und das Motiv der Romantik (wir können nicht wissen, was wir tun), und befindet sich damit sowohl auf deren Höhe wie auch, durch die Thematisierung der für diese konstitutiven Differenz, jenseits ihres Rahmens.
Folgende Themen könnten das Theater der Gesellschaft im Rahmen einer Kognitionswissenschaft des Sozialen beschäftigen (wobei noch einmal zu unterstreichen ist, dass diese Themen zugleich auch die Dienstleistungs- und Beratungswirtschaft, Forschung, Aus- und Weiterbildung sowie die Künste beschäftigen, je unterschiedlich, natürlich). Ich halte mich zunächst an einige in der Soziologie Niklas Luhmanns, etwa in seinem Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft,9 genauer bestimmte Kategorien.
Zunächst geht es um die Einheit des Verschiedenen, die im Rahmen einer Theorie der Differenzierung behandelt wird. Für die ‚moderne‘ Gesellschaft, die mit der Einführung des Buchdrucks beginnt und mit der Einführung des Computers endet, geht Luhmann von einer Differenzierung der Gesellschaft in die drei Systemtypen ‚Interaktion‘, ‚Organisation‘ und ‚Gesellschaft‘ aus, wobei sich die Gesellschaft (als ein eigenes und von Interaktion und Organisation in spezifischen Hinsichten unabhängiges Sozialsystem) wiederum in die so genannten Funktionssysteme ‚Wirtschaft‘, ‚Politik‘, ‚Recht‘, ‚Religion‘, ‚Kunst‘, ‚Wissenschaft‘, ‚Erziehung‘ und mögliche weitere (‚Gesundheit‘, ‚Sport‘, ‚Fürsorge‘) differenziert.
Für die Zwecke des Theaters lässt sich jedes dieser Systeme als eine Wette auf die Möglichkeit einer sozialen Ordnung verstehen und daraufhin überprüfen, ob diese Wette noch gilt und wer oder was mit welchen Einsätzen auf sie setzt. Man beschreibt die ‚Postmoderne‘ vielfach als eine Epoche der Entdifferenzierung dieser Systeme, die sich in ‚Netzwerke‘ auflösen. Tatsächlich ist jedoch nicht ausgemacht, ob diese Netzwerke nicht vielmehr eine neue und raffinierte und komplexere Form der Realisierung dieser Systeme und damit sowohl ihrer Gestaltung nach innen wie auch ihrer Verbindung untereinander sind.
Jede einzelne Überprüfung dieser Systemwetten richtet sich immer zugleich darauf, ob und wie das System noch funktioniert, und darauf, wieweit die Unterscheidung der Systeme noch trägt. Das Theater ist wegen seiner eigenen Gebundenheit an soziale Systeme der Interaktion, das heißt an einen Systemtyp, der an die Bedingung der wechselseitigen Wahrnehmung der Anwesenden gebunden ist, häufig geneigt, a) die Interaktion für das Maß aller Dinge zu halten, b) die Gesellschaft entweder als den fernen Zusammenhang von Schicksal und Entfremdung oder aber sozialutopisch selbst als Interaktion zu interpretieren und c) bei alldem nach Möglichkeit auszublenden, dass es auch den Systemtyp der Organisation gibt, der Anwesende und Abwesende als ‚Mitglieder‘ (‚Funktionäre‘, ‚Angestellte‘, ‚Arbeiter‘) in Anspruch nimmt und dabei sowohl Regeln der interaktiven, mehr oder minder zivilen Geselligkeit als auch Chancen der ungebundeneren Bewegung in der Gesellschaft missachten kann. Das heißt, das Theater glaubt zunächst einmal systematisch nicht an die genannte Differenzierung und ist damit sowohl in der problematischen Situation einer bestimmten analytischen Blindheit als auch in der günstigen Situation, anders, ‚unpassend‘, zu beobachten, was sich in der Gesellschaft abspielt.
Die Interaktion ist ein soziales System, das, wie gesagt, durch die wechselseitige Wahrnehmung der Anwesenden strukturiert ist (und dem freisteht, auch Abwesende wie Anwesende zu behandeln) und daher typischerweise zwischen der Akklamation von Nähe und Wärme einerseits und der Kritik von Beengung und Gewalt andererseits oszilliert. Für das Theater ist interessant, dass immer beides gilt, die Nähe ist gewalttätig und die Beengung wärmt. Wie wird diese strukturelle Spannung (die das System lebendig erhält) von einzelnen Interaktionssystemen eingerichtet, aufrechterhalten, ausgehalten und ausgenutzt? Wie steht es um die Interaktion in der Liebe, in der Ehe, in der Familie, im Betrieb, auf der Straße, in der U-Bahn, in der Kirche, im Parlament, in der Kneipe, im Museum und nicht zuletzt im Theater? Welche Entfaltungsspielräume und Entfaltungszwänge gibt es hier jeweils für die Individuen, mit welchen Wahrnehmungen wird jeweils gearbeitet und welche werden ausgeblendet, wie bestätigt sich die Interaktion als das, was sie ist, und wie bringt sie sich auf neue Ideen? Als soziale Akteure kennen wir alle Antworten auf jede einzelne dieser Fragen. Aber wir kennen sie, ohne um sie zu wissen. Wir bewegen uns in den entsprechenden ‚Feldern‘, die an unserer Stelle wissen und deren Fingerzeigen wir gelernt haben zu folgen. Das Theater kann hier überall genaue Fragen stellen und an gutmütigen wie bösartigen, ironischen wie übermütigen, ermutigenden wie verzweifelten Beschreibungen arbeiten.
Die Organisation ist ein Systemtyp, der dadurch zustande kommt, dass Mitglieder rekrutiert werden (das heißt mit der Möglichkeit eingestellt werden, sie auch wieder zu entlassen), die in der Regel gegen Bezahlung (das heißt eine in der Regel abstrakte Gegenleistung) akzeptieren, an Entscheidungen teilzunehmen, sie auszuführen und selber zu treffen, die im Vorhinein noch nicht inhaltlich im Einzelnen bestimmt, sondern nur im Rahmen bestimmter Kompetenzen beschrieben werden. Das bringt jede einzelne Organisation in die ‚unwahrscheinliche‘ (Konstruktivismus) und ‚unmögliche‘ (Dekonstruktion) Lage, Entscheidungen zu treffen und auszuführen, für die es kein anderes Motiv als vorherige und nachherige Entscheidungen gibt. Natürlich wird diese Selbstbezüglichkeit durch gesellschaftliche Aufträge, Gewinnziele, den Sinn der Arbeit, den Spaß am Team und so weiter bemäntelt (beziehungsweise angereichert), aber dass die Selbstbezüglichkeit primär ist, merkt man daran, dass die Aufträge und so weiter ausgewechselt werden können, der Bezug jeder einzelnen Entscheidung auf andere Entscheidungen desselben Systems jedoch unverzichtbar ist.
Was lässt sich unter welchen (gesellschaftlichen und psychischen) Bedingungen aus diesem und mit diesem Systemtyp machen: Jagdgesellschaften, Kreuzzüge, Kirchen, Behörden, Schulen, Fabriken, Gefängnisse, Konzentrationslager und Theater? Wie funktionieren diese Organisationen jeweils ähnlich und unterschiedlich? Wieso faszinieren sie ihre Mitglieder? Und wie halten ihre Mitglieder sie aus? Wie kann eine einzelne Entscheidung motiviert werden? Was wird zur Routine und was entzieht sich (routiniert) jeder Routine? Wie unterscheidet sich die Führung einer Organisation vom tonangebenden Verhalten in einer Interaktion? Was heißt Management? Wieso tendiert jede Organisation zur Bürokratie? Und so weiter und so fort. Ein Theater der Organisation gibt es nur rudimentär, wenn überhaupt. Und dies, obwohl wir alle, sofern wir einen Arbeitsplatz haben, unsere Tage (und viele Abende) in einer Organisation verbringen, von Organisationen politisch gelenkt werden, von Organisationen wirtschaftlich versorgt werden, von Organisationen verurteilt und eingesperrt werden, von Organisationen erzogen und ausgebildet werden, von Organisationen mit Information, Unterhaltung und Werbung versorgt werden. Auch hier wissen wir alles darüber, sobald wir in den entsprechenden Situationen stecken, und können mehr oder minder subtil mit den Formen der Individualisierung umgehen, die uns Organisationen abverlangen – aber sobald wir gefragt werden, wissen wir nicht, was wir gerade noch bewältigt haben.
Von Gesellschaft zu reden, ist schon deswegen sinnvoll, weil damit festgehalten wird, dass es sowohl für Interaktionen als auch für Organisationen ein Jenseits gibt. Man kann sich, zum Beispiel lesend oder fernsehend oder im Internet surfend, in der Gesellschaft bewegen, ohne im eigenen Verhalten an Organisation oder Interaktion gebunden zu sein. Und das heißt umgekehrt, dass sich Interaktionen und Organisationen immer daraufhin unter Druck sehen, dass man ihnen ausweichen kann. Nur deswegen müssen sie versuchen, hinreichend attraktiv zu sein. Nur deswegen können sie darauf angewiesen sein, Zwänge zu entwickeln, die von moralischen Appellen über die Ausbeutung von Emotionen bis zum Einsatz von Gewalt reichen. Sich im Rahmen einer Differenzierungstheorie zu bewegen heißt, das Geschehen auf beiden Seiten der Differenz im Hinblick auf beide Seiten der Differenz zu beobachten und zu beschreiben. Die Interaktion kann nur sein, was sie ist (zum Beispiel ‚menschlich‘), weil es gleichzeitig Organisationen und Gesellschaft gibt (in denen es entsprechend ‚kalt‘ und ‚anonym‘ zugeht). Die Organisation kann nur sein, was sie ist (zum Beispiel ‚effizient‘ und ‚rational‘), weil es gleichzeitig Interaktion und Gesellschaft gibt (in denen es entsprechend ‚umständlich‘ und ‚unberechenbar‘ zugeht). Die Gesellschaft kann nur sein, was sie ist (zum Beispiel ‚kultiviert‘), weil es gleichzeitig Interaktion und Organisation gibt (in denen es entsprechend ‚hemmungslos‘ und ‚engstirnig‘ zugeht). Jedes einzelne System beschreibt die eigenen Vorzüge im Licht der Nachteile der anderen, und die Gesellschaft, die ein eigenes System ist, nicht etwa das Supersystem aller Interaktionen und Organisationen, muss das aushalten und ermöglichen.
Die Gesellschaft selbst ist jedoch nichts anderes als die Möglichkeit, eine Kommunikation fortzusetzen beziehungsweise an eine Kommunikation anzuschließen. Sie ist kein eigener und alles regelnder Ordnungszusammenhang – beziehungsweise sie ist dieser eigene und alles regelnde Ordnungszusammenhang nur exakt insofern, als sie Regeln für die Fortsetzung und Anschließbarkeit von Kommunikation vorhält, erwartbar macht und ausprobiert, die in konkreten Situationen abgerufen werden können, aber nicht müssen.
In der Regel (!) laufen diese Regeln unter dem Stichwort ‚Kultur‘. Kultur definiert, so Mary Douglas, wovon ich mich überraschen lasse und wovon nicht, und welches Repertoire ich habe, mit einer Überraschung aversiv, kreativ oder sonstwie selektiv umzugehen.10 Man könnte von einem Theater träumen, das uns nicht nur zu überraschen vermag (das auch), sondern das uns vorführt, wovon beziehungsweise wie wir uns überraschen lassen und wovon beziehungsweise wie nicht, und das Situationen dann hinreichend variiert, um dort, wo keine Überraschung ist (in der Ehe?), wieder eine Überraschung einzuführen, und dort, wo nur noch Überraschungen sind (an der Börse?), zu zeigen, welchen Routinen sie folgen. Die Pointe daran läge jedoch nicht im Erstaunen über die Überraschung (oder in der Beruhigung oder Frustration, je nach Temperament, wenn sie ausbleibt), sondern im Aufzeigen dessen, was sich in einer Überraschung zu vernetzen versteht, das heißt, welche Verbindungen in einer Überraschung jeweils gesellschaftlich geknüpft werden. Eine Fragestellung dieser Art setzt eine gewisse analytische Tiefenschärfe voraus, weil scheinbar kompakte Situationen (bestehend aus Gewohnheiten, Gefühlen, Identitäten, Befürchtungen, Zwängen und Hoffnungen …) wieder aufgelöst werden müssen, um aus einem dieser Elemente einen neuen Funken schlagen zu können – getreu der Regel, dass eine Situation nicht überrascht wird, sondern sich nur selber überraschen kann.