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GOTTFRIED SCHATZ

ZAUBERGARTEN BIOLOGIE

Wie biologische
Entdeckungen unser
Menschenbild prägen

 

 

Mit einem Vorwort
von Rolf Zinkernagel

VERLAG NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Für Merete

VORWORT

 

Mit 19 Geschichten führt uns Gottfried Schatz zum dritten Mal nach seinen Büchern Jenseits der Gene und Feuersucher in das unendliche Reich der Natur, in den «Zaubergarten» der Biologie. Einige Eigenschaften der Natur kennen wir oder meinen, uns dessen sicher zu sein, über andere streiten und an anderen verzweifeln wir. Wie Märchen ihre Geschichten mit dem Satz «Es war einmal» einleiten, setzt Gottfried Schatz an den Anfang seiner Essays eine Beobachtung oder eine Frage. Er beschreibt Begebenheiten, wie sie einmal wahrgenommen wurden und was wir heute über sie wissen, und lässt uns an dem Wundersamen von Naturphänomenen teilhaben. Die Geschichten sind echte Mären, Berichte oder Nachrichten, die der Autor auf einnehmende Art inszeniert, so wie der Märchenerzähler die Rapunzelgeschichte erzählt und uns in Bildern miterleben lässt. Wie im Märchen, so auch hier, meinen wir, weil es so einfach, kurz und klar erzählt ist, wir begreifen es und könnten es weitererzählen. Es sind «wahre» Geschichten, die etwas Allgemeingültiges haben – und trotzdem, es bleibt eine unsichere Offenheit in jedem Kapitel erhalten.

Der grosse britische Biologe Sir Peter Medawar hat zwei extreme Arten von Wissenschaftlern unterschieden: Die einen beobachten ein Naturphänomen oder eine Krankheit und machen sich auf den Weg, diese zu erforschen und vielleicht einmal zu verstehen. Die anderen stellen eine theoretische Frage in die Welt und versuchen, diese mit Experimenten zu beweisen («begging for the question»). Gottfried Schatz gehört zu Ersteren: Auch er stellt an den Anfang immer die Beobachtung, die Frage, das Unerklärte und engt dann die Lösungswege über Experimente, Beobachtungen, Vorschläge, Hypothesen und vor allem gesunden Menschenverstand ein. Diesen schwierigen, aber faszinierenden Weg des Naturforschers lässt er den Leser logisch nachvollziehen, um ihm zu erweiterten Einsichten und beglückenden Antworten zu verhelfen.

Naturphänomene und seine eigene Forschung dienen dem Autor als Ausgangspunkt für die vielen Fragen der Natur und des Menschseins, die er wunderbar in eine verständliche Sprache übersetzt. Verdankt er dies seiner Universalität, seiner Beziehung zur Musik oder der Erzählgabe seiner Vorfahren? Jedenfalls ist jede Geschichte ein kleines Kunstwerk, das uns packt, Neues lehrt und deshalb glücklich macht. Viel Genuss beim Flanieren im Zaubergarten der Biologie.

 

Rolf Zinkernagel

 

Träger des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin 1996

DER KLEINE WARME TÜMPEL

Was urtümliche Einzeller von der Frühzeit des Lebens berichten

Wir wissen nicht, wie Leben auf der Erde begann und wie die ersten Lebewesen beschaffen waren. Sie dürften jedoch den primitiven Einzellern geglichen haben, die heute im kochend heissen Wasser schwefelhaltiger Geysire und unterseeischer Erdspalten leben.

Woher kommen wir?» Diese Frage hat uns Menschen seit Urzeiten beschäftigt, doch lange konnten allein Mythen und heilige Bücher uns darauf eine Antwort geben. Erst als Biologen über die Entstehung der vielfältigen Lebensformen nachzudenken begannen, erkannten sie, dass diese keine einmaligen Schöpfungen waren, sondern sich unaufhörlich zu neuen Lebensformen wandelten. An diesem Stammbaum des Lebens sind wir Menschen nur ein winziger und später Zweig. Doch wo liegen die Wurzeln dieses Baums? Wie begann Leben auf unserer Erde?

Diese Frage werden wir wohl nie mit letzter Sicherheit beantworten können. Wir wissen aber, dass unsere Erde schon bald nach ihrer Entstehung Leben trug. Kurz zuvor hatte der Aufprall eines verirrten Planeten sie in einen weissglühenden Feuerball verwandelt und ihr dabei den Mond entrissen, und in den folgenden Hunderten Jahrmillionen schlugen gewaltige Meteore ihr unzählige Krater, die heute wieder eingeebnet sind. Doch als vor 3,6 bis 3,8 Milliarden Jahren wieder Ruhe einkehrte, gab es bereits Leben. Waren die heissen Krater vielleicht Retorten, in denen unbelebte Materie sich zu Leben formte? Könnte es sein, dass das biblische Paradies fatal der Hölle glich?

Tatsächlich leben heute die urtümlichsten der uns bekannten Lebewesen in kochend heissen Geysiren und Schwefelquellen, in kilometertiefen Erdspalten und sogar in glosendem Kohleschutt. Ihr extremster Lebensraum sind jedoch Erdspalten am Meeresboden, denen bis zu 500 Grad heisses Wasser entquillt. Wenn dieses Wasser, das wegen des hohen Drucks nicht siedet, auf das eiskalte Wasser am Meeresgrund trifft, entlässt es gelöste Metallsalze, die als dichter Rauch nach oben steigen und diesen unterseeischen Erdspalten den Namen «Schwarze Raucher» gegeben haben. In dieser heissen, lichtlosen und chemisch hoch reaktiven Unterwelt tummeln sich Mikroorganismen, welche die primitivsten und widerstandsfähigsten aller bekannten Lebewesen sind. Einige von ihnen sind kleiner als die Wellenlänge des grünen Lichts; andere verwenden für ihren Stoffwechsel das in Zellen nur ganz selten vorkommende Metall Wolfram; viele vermehren sich nur bei 100 Grad Celsius und stellen unterhalb von 80 bis 90 Grad ihr Wachstum ein; und wieder andere überleben Temperaturen von bis zu 130 Grad. Warum ihre Proteine so hitzebeständig sind, ist noch rätselhaft, da sie weitgehend den unseren gleichen. Unter dem Mikroskop sehen diese Einzeller zwar wie Bakterien aus, haben aber mit diesen sonst wenig gemein. Deshalb ordnen wir sie der Domäne Archaea zu. Ihr Erbmaterial verrät, dass sie am Stammbaum des Lebens den untersten Ast bilden. Sie sind die engsten überlebenden Verwandten des unbekannten Urwesens, von dem alles Leben auf unserer Erde abstammt.

Auch der Stoffwechsel dieser Einzeller trägt den Stempel einer urtümlichen und vulkanischen Welt. Viele von ihnen gewinnen ihre Lebensenergie weder aus Sonnenlicht noch durch die Verwertung von Biomasse, sondern über geochemische Prozesse. Anders als die meisten heutigen Lebewesen sind sie nicht Kinder des Lichts, sondern Geschöpfe der Unterwelt. Man fand sie in 20 Millionen Jahre altem heissem Wasser aus der südafrikanischen Mponeng-Goldmine, einer der tiefsten Minenschächte der Welt. Diese Hadesbewohner benützen als Energiequellen Wasserstoffgas und schwefelhaltige Salze, die sie zu übelriechendem Schwefelwasserstoff umsetzen. Das Wasserstoffgas bildet sich durch die Einwirkung von heissem Wasser auf eisenhaltige Basalte. Das Leben um uns herum nährt sich von Luft und Licht – das Leben im Erdinneren von Wasser und Gestein.

Obwohl es diesen unterirdischen Einzellern offenbar nicht an Energie mangelt, wachsen sie milliardenfach langsamer als die meisten anderen Mikroorganismen. Wahrscheinlich fehlt es ihnen an biologisch verwertbarem Stickstoff, der ja selbst an der Erdoberfläche kostbare Mangelware ist. Wie viel Leben regt sich wohl in den Tiefen unserer Erde – oder auf anderen Planeten oder Monden unseres Sonnensystems? Sollten wir je Leben anderswo in unserem Sonnensystem finden, wird es wahrscheinlich dem gleichen, das wir in den Tiefen unserer Erdkruste und den Spalten unserer Meeresböden finden.

Oft vergessen wir, welch unvollständiges und verzerrtes Bild unsere Sinne vom Leben auf der Erde zeichnen. Mehr als die Hälfte aller Biomasse besteht aus Bakterien und Archaea, von denen wir die Mehrzahl noch gar nicht kennen. Wir haben bisher weniger als 10 000 von ihnen identifiziert – nicht einmal ein Tausendstel der 10 Millionen Arten, die es wahrscheinlich gibt. Und nur eine einzige von ihnen könnte kraft ihrer besonderen Eigenschaften unsere heutigen Vorstellungen von der Entstehung des Lebens völlig über den Haufen werfen.

Eindrückliche Zeugen unseres Unwissens sind die Wasserproben, die amerikanische Biologen auf einer zweijährigen Expedition aus verschiedenen Regionen der Weltmeere einsammelten. Die Forscher waren im Jahre 2003 auf einer umgebauten Privatjacht von Halifax aus die nordamerikanische Ostküste hinab, durch den Panamakanal in den Pazifik und von dort über die Galapagosinseln bis hin nach Polynesien gereist. Auf dieser Reise entnahmen sie alle 320 Kilometer eine Wasserprobe und untersuchten das in ihr enthaltene Genmaterial – eine rasche und eindeutige Methode, um Mikroorganismen zu identifizieren, ohne sie mühsam züchten zu müssen. Das Resultat überraschte selbst die Forscher: In jedem Teelöffel Meereswasser fanden sie Millionen von Bakterien und zehn- bis zwanzigmal so viele Bakterienviren. Unzählige neue Gene und Bakterienarten waren die reiche Beute dieser Expedition. Und dabei entstammten die Wasserproben nur der Meeresoberfläche. Wer weiss, was die lichtlosen Tiefen der Ozeane verbergen?

In einem Brief an den Botaniker Joseph Hooker vermutete Charles Darwin, dass Leben in einem «kleinen warmen Tümpel» entstanden sein könnte. Bescheiden wie er war, fügte er jedoch hinzu: «Im Moment ist es glatter Unfug, über den Ursprung des Lebens nachzudenken; ebenso gut könnte man über den Ursprung der Materie sinnieren.» Seither haben wir beides gewagt und atemberaubende Erkenntnisse über den Ursprung des Universums und die Herkunft des Menschen gewonnen. Eine dieser Erkenntnisse ist, dass Darwins kleiner warmer Tümpel wahrscheinlich ein brodelndes Kraterloch war und sich das Leben erst im Verlauf der darauffolgenden Jahrmilliarden an die tieferen Temperaturen der alternden Erde gewöhnen musste. Die Frage, woher wir kommen, harrt immer noch einer eindeutigen Antwort. Für mich ist dies kein Grund zur Trauer. Leben ist auch deshalb so faszinierend, weil wir noch so wenig darüber wissen.

FEUER AUS DEM ALL

Wie das Leben auf der Erde das Feuer zähmte

Die Verbrennung von Nahrung treibt in den Atmungsorganen unserer Zellen winzige Motoren an, deren Rotation eine chemisch reaktive Substanz erzeugt. Diese vermittelt unserem Körper die von Pflanzen eingefangene Sonnenenergie.

Vor viereinhalb Milliarden Jahren ballten sich in unserer Milchstrasse Gase und Staub zu einem neuen Himmelskörper zusammen. Dabei erhitzten sie sich so stark, dass Atomkerne miteinander verschmolzen und immense Energiemengen als Hitze und Licht freisetzten: Unsere Sonne war geboren. Die Materie, aus der sie sich geformt hatte, enthielt auch Asche von Sternen, die Jahrmilliarden zuvor ausgebrannt oder explodiert waren und ihre Trümmer in die Tiefen des Weltalls geschleudert hatten.

Bei der Geburt dieser Sonne ging ein Teil der kosmischen Materie seine eigenen Wege und verdichtete sich zu Planeten. Auf einem von ihnen – unserer Erde – regte sich schon bald Leben. Anfangs gewann es seine Energie wahrscheinlich durch Spaltung organischer Stoffe – ähnlich den heutigen Hefezellen, die Zucker zu Alkohol und Kohlendioxid vergären. Gärung liefert zwar nur wenig Energie, benötigt aber auch kein Sauerstoffgas, das in der jungen Erdatmosphäre noch fehlte. Als die vergärbaren Stoffe knapp wurden, tauchte ein neuartiges Lebewesen auf, das sich von Sonnenlicht zu ernähren wusste und damit dem Leben die schier unerschöpfliche Energie des atomaren Sonnenfeuers erschloss.

Diese lichtessenden Lebewesen setzten bei ihrem Siegeszug Sauerstoffgas aus Wasser frei und verursachten damit wahrscheinlich eine der grössten Umweltkatastrophen der Erdgeschichte: Sauerstoffgas ist ein Gift, das viele Zellbausteine durch Oxidation zerstört. Die erfinderische Natur entwickelte darauf Lebewesen, die sich gegen dieses tödliche Gas zu schützen wussten und schliesslich sogar lernten, mit ihm die Überreste anderer Zellen zu verbrennen. Das Leben hatte die Zellatmung erfunden – und damit das Feuer gezähmt. Dieses Feuer war jedoch kein wilder Brand, bei dem Elektronen – negativ geladene Teilchen – direkt vom Brennstoff auf Sauerstoff überspringen; es war ein gebändigtes Feuer, das die Elektronen dazu zwang, auf ihrem Weg zum Sauerstoff eine Kette farbiger Proteine zu durchlaufen, um anstatt feuriger Flammen nützliche Arbeit zu leisten. Die Zellfeuer, die auf unserem Planeten nun allerorts aufglimmten, waren Kinder der Sonne: Brennmaterial und Sauerstoffgas waren gespeicherte Sonnenenergie.

Doch nicht alle Zellen waren imstande, sich die Atmung anzueignen. Also fingen sie sich atmende Zellen ein, benutzten sie als Kraftwerke und boten ihnen im Gegenzug eine bessere Verwahrung der Erbsubstanz und eine schützende Umgebung. Die atmenden Gastarbeiter waren damit offenbar zufrieden, gewöhnten sich an ihren Wirt und konnten bald nicht mehr ohne ihn leben. Sie verkümmerten zu seinen Atmungsorganen – den Mitochondrien. Umgekehrt nahmen sie ihrem Wirt mit der Zeit so viele Aufgaben im Zellgeschehen ab, dass auch dieser nicht mehr ohne sie leben konnte. Diese «Symbiose» schuf einen neuartigen Zelltyp, der wirksame Kraftwerke besass und die Erbsubstanz zweier Lebewesen in sich vereinte. Nun hatte die Natur endlich den Baustein, um komplexe Pflanzen, Tiere und Menschen zu entwickeln. Jede der etwa 10 000 Milliarden Zellen meines Körpers entstammt der Vereinigung atmender mit nichtatmenden Zellen, aus der vor eineinhalb Milliarden Jahren die moderne Zelle hervorging.

Diese moderne Zelle ist etwa tausendmal so gross wie eine Bakterienzelle, besitzt eine hochkomplexe Innenstruktur mit vielen getrennten Räumen und hat einen gewaltigen Energiehunger, den die urtümliche Gärung nie und nimmer stillen könnte. Moderne Zellen beziehen deshalb den Löwenanteil ihrer Energie von den Feuern ihrer Mitochondrien.

Doch wie gelangt diese Energie dorthin, wo die Zelle sie gerade braucht? Das Leben entwickelte dafür eine wasserlösliche Substanz, die Energie innerhalb einer Zelle überträgt. Diese Substanz findet sich noch heute in allen Lebewesen, spielt in ihnen eine ähnlich wichtige Rolle wie die Elektrizität in unserer Technologie und ist ein kunstvoll gewirktes organisches Molekül mit einer Kette aus drei Phosphaten. Chemiker nennen diesen Energieüberträger Adenosintriphosphat – oder kurz ATP.

ATP ist ein friedfertiges weisses Pulver, das für sich allein keine Energie liefern kann. Löst man es jedoch in Wasser, so zerfällt es langsam, wobei sich zwei Phosphate von der Kette abspalten und dabei Wärme entwickeln. Da Zellen mit Wärme meist nicht viel anfangen können, ersannen sie Proteine, welche die Abspaltung des äussersten Phosphats bis zu hunderttausendfach beschleunigen und mit der dabei frei werdenden Energie biologische Prozesse antreiben. Aus ATP entstehen dabei ein «freies» Phosphat und das energieärmere Adenosindiphosphat – das ADP. Im wässrigen Innenraum einer Zelle wirkt jedes ATP-Molekül somit wie eine mobile chemische Batterie, die überall und jederzeit Energie liefern kann