Cover

Laurence Heller | Aline LaPierre

Entwicklungstrauma heilen

Alte Überlebensstrategien lösen

Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken

Das Neuroaffektive Beziehungsmodell zur Traumaheilung NARM

Aus dem Amerikanischen von Silvia Autenrieth

Kösel

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Titel der Originalausgabe: »Healing Developmental Trauma: How Early Trauma Affects Self-Regulation, Self-Image, and the Capacity for Relationship«, erschienen bei North Atlantic Press, Berkeley, California

Das von Laurence Heller entwickelte Neuroaffektive Beziehungsmodell NARM™ (NeuroAffective Relational Model) ebenso wie die von Aline LaPierre entwickelte Methode NeuroAffective Touch™ sind eingetragene Schutzmarken. Der besseren Lesbarkeit halber wurde im Text auf das Trademark-Zeichen verzichtet.


Copyright © 2012 Laurence Heller, Ph.D.

Copyright © für die deutsche Ausgabe 2013 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlag: Monika Neuser, München

Umschlagmotiv: fotolia, Kundra

978-3-641-06862-2
V002


www.koesel.de

Inhalt

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Einführung in das Neuroaffektive Beziehungsmodell NARM

Teil I Die fünf adaptiven Überlebensstrukturen

1. Überblick

2. Kontakt Das erste Organisationsprinzip

3. Einstimmung Das zweite Organisationsprinzip

4. Vertrauen Das dritte Organisationsprinzip

5. Autonomie Das vierte Organisationsprinzip

6. Liebe und Sexualität Das fünfte Organisationsprinzip

Teil II Die Kontakt-Überlebensstruktur

7. Physiologie und Trauma Die Auswirkung von Traumen auf die Entwicklung

8. Die Anfänge unserer Identität Die Kontakt-Überlebensstruktur verstehen

9. Mitschrift einer NARM-Therapiesitzung mit Kommentar

10. Der Weg zur Auflösung von Traumen Kontakt mit sich selbst und anderen

11. Heilung der Beziehungsmatrix NARM und NeuroAffective Touch in der Langzeittherapie früher Entwicklungs-/Beziehungstraumen

12. Heilung verzerrter Ausdrucksformen der Lebenskraft Ein systemischer Ansatz

Danksagungen

Literaturhinweise

Register

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

0.1 Die fünf Kernbedürfnisse nach dem NARM-Modell und die dazugehörigen Kernfähigkeiten

0.2 Die fünf adaptiven Überlebensstrukturen und ihre jeweilige Kernproblematik

0.3 Die Entwicklung der Kernfähigkeiten sowie die Entstehung adaptiver Überlebensstrukturen

0.4 Verzerrte Ausdrucksformen der Lebenskraft

0.5 Auf Scham basierende Identifizierungen und auf Stolz basierende Gegenidentifizierungen für die jeweiligen adaptiven Überlebensstrukturen

0.6 Informationsfluss top-down und bottom-up

0.7 Der Teufelskreis innerer Not

0.8 Der NARM-Heilungskreislauf

1.1 Aufgabe von Aspekten des eigenen Ichs zur Bewahrung der elterlichen Liebe

2.1 Zentrale Merkmale der Kontakt-Überlebensstruktur

2.2 Therapeutische Strategien für die Kontakt-Überlebensstruktur

3.1 Vergleich der beiden Untertypen der Einstimmungs-Überlebensstruktur

3.2 Zentrale Merkmale der Einstimmungs-Überlebensstruktur

3.3 Therapeutische Strategien für die Einstimmungs-Überlebensstruktur

4.1 Zentrale Merkmale der Vertrauens-Überlebensstruktur

4.2 Therapeutische Strategien für die Vertrauens-Überlebensstruktur

5.1 Zentrale Merkmale der Autonomie-Überlebensstruktur

5.2 Therapeutische Strategien für die Autonomie-Überlebensstruktur

6.1 Zentrale Merkmale der Liebe-Sexualitäts-Überlebensstruktur

6.2 Therapeutische Strategien für die Liebe-Sexualitäts-Überlebensstruktur

6.3 Verzerrte Ausdrucksformen der Lebenskraft bei den fünf adaptiven Überlebensstrukturen

7.1 Schematische Darstellung des Nervensystems

7.2 Sympathisch und parasympathisch bedingte Veränderungen im Körper als Reaktion auf Stress oder Gefahr

7.3 Einige physiologische Kennzeichen der Unterschiede zwischen Kohärenz und Aktivierung

8.1 Symptome früher Traumen erkennen

8.2 Ursprünge früher Traumen

8.3 Verzerrte Ausdrucksformen gesunder Aggression

8.4 Auswirkungen früher Traumen auf die Gesundheit

8.5 Kennzeichen gesunder und beeinträchtigter energetischer Grenzen

10.1 Primäre Prinzipien, Werkzeuge und Techniken des NARM-Ansatzes

10.2 Überblick über die grundlegenden Schritte zur Wiederherstellung des Kontakts

10.3 Die Wirkung von Traumen auf die Augen

10.4 Nützliche Techniken für die therapeutische Unterstützung des inneren Kontakts

10.5 Therapeutische Themen in Verbindung mit der Kontakt-Überlebensstruktur

10.6 Auf Scham basierende Identifizierungen und auf Stolz basierende Gegenidentifizierungen

10.7Prinzipien und Techniken für die therapeutische Arbeit mit der Kontakt-Überlebensstruktur

12.1 Verzerrte Ausdrucksformen der Lebenskraft

Einführung in das Neuroaffektive Beziehungsmodell NARM

Der Preis der Freiheit ist ewige Achtsamkeit.

In diesem Buch geht es um die Wiederherstellung eines verloren gegangenen Kontakts. Die Erfahrung, in Kontakt mit uns selbst und anderen zu sein, stillt die Sehnsucht, uns durch und durch lebendig zu fühlen. Ist die Fähigkeit in Kontakt zu sein eingeschränkt, mindert es unsere Lebendigkeit, und genau auf dieser nicht gleich offensichtlichen Dimension basieren die meisten psychischen und viele physische Probleme. Leider ist uns oft gar nicht bewusst, welche inneren Barrieren verhindern, dass wir das ersehnte Maß an Kontakt und Lebendigkeit spüren. Barrieren dieser Art entstehen als Reaktion auf zutiefst schmerzhafte Erfahrungen in Verbindung mit Schock- und Entwicklungstraumen. Hier setzt das Neuroaffektive Beziehungsmodell an: Mit seiner Hilfe lassen sich einerseits die Barrieren ermitteln, die dieses In-Verbindung-Sein verhindern, und andererseits gesunde Ausdrucksformen von Lebendigkeit unterstützen. In diesem Buch befassen wir uns mit Konflikten rund um unsere Fähigkeit zum In-Kontakt-Sein mit uns selbst und anderen und ergründen Wege, diesen Kontakt zu vertiefen und größere Lebendigkeit zu entwickeln und zu fördern.

Ursprünglich hatte ich vor, ein Buch für die klinische Praxis zu schreiben. Bald jedoch zeigte sich, dass der hier eingenommene Blickwinkel auch in Sachen Selbsterfahrung hilfreich sein könnte – für alle, die sich in irgendeiner Form aufgemacht haben, mehr über sich herauszufinden, und die neue Impulse suchen, um ihre Selbsterkenntnis, ihr persönliches Wachstum und ihre Heilung voranzutreiben. Von ihm profitieren werden also einerseits Fachleute aus der klinischen Praxis, deren Arbeit es um eine zusätzliche Dimension bereichern wird, aber es bietet andererseits auch Orientierung für Menschen, denen es darum geht, mehr mit sich und anderen in Kontakt zu sein und sich generell wohler in ihrer Haut zu fühlen.

Viele psychotherapeutische Systeme basieren auf einem medizinischen Krankheitsmodell. Im Mittelpunkt stehen für sie von daher die Krankheitsbilder der Psyche: In der Regel ergründet die Psychotherapie die Vergangenheit eines Menschen und sucht die dysfunktionalen kognitiven und emotionalen Muster zu ermitteln, die seinen psychischen Problemen zugrunde liegen. Neuere Erkenntnisse zur Funktionsweise von Gehirn und Nervensystem haben mittlerweile allerdings dazu geführt, dass altgediente psychologische Methoden auf den Prüfstand gekommen sind. Es zeigt sich immer klarer, dass wir neue klinische Ansätze brauchen. Aus heutiger Warte scheint es eine fragwürdige Hypothese, dass wir nur wissen müssten, was im Leben eines Menschen falsch gelaufen ist, dann wüssten wir auch, wie wir ihm bei der Lösung seiner Probleme helfen können. Wir wissen heute zum Beispiel: Wenn wir uns auf dysfunktionale Aspekte konzentrieren, laufen wir Gefahr, diese Dysfunktionalität noch zu verstärken. Stellen wir Defizite und Schmerz in den Mittelpunkt, so werden wir (oder unsere Klienten) wahrscheinlich immer besser im Erleben von Defiziten und Schmerz. So ähnlich verhält es sich, wenn in erster Linie die Vergangenheit im Fokus steht: Es schult das Reflexionsvermögen über die Vergangenheit, kann aber dazu führen, dass die Vorgeschichte der Person wichtiger scheint als das, was sie gegenwärtig erlebt.

In Entwicklungstrauma heilen wird ein somatisch orientiertes psychotherapeutisches Verfahren vorgestellt, bei dem die Förderung der menschlichen Fähigkeit zu In-Kontakt-Sein und Lebendigkeit im Mittelpunkt steht: das Neuroaffektive Beziehungsmodell (NeuroAffective Relational Model, NARM). Es handelt sich um ein Modell für persönliche Weiterentwicklung, Therapie und Heilung, bei dem die Vergangenheit eines Menschen zwar nicht ignoriert wird, der Akzent jedoch eher auf den Stärken, den Fähigkeiten, den Ressourcen und der Resilienz liegt. NARM ergründet die persönliche Vorgeschichte nur im Hinblick auf früh im Leben erlernte Bewältigungsmuster, die sich störend auf unseren Kontakt mit uns und anderen auswirken und darauf, uns hier und heute lebendig zu fühlen. NARM hilft beim Auf- und Ausbau unserer Fähigkeiten, in Kontakt mit unserem Körper, mit unseren Gefühlen und mit anderen Menschen zu sein – Fähigkeiten, die eng zusammenhängen, wie wir noch sehen werden.

Fünf biologisch bedingte Kernbedürfnisse

Nach dem Verständnis von NARM gibt es fünf biologisch bedingte Kernbedürfnisse, die für unser physisches und emotionales Wohlergehen entscheidend sind: das Bedürfnis nach Kontakt, nach Einstimmung, nach Vertrauen, nach Autonomie und nach Liebe/Sexualität. Wird eines der biologisch bedingten Kernbedürfnisse nicht erfüllt, führt dies zu absehbaren psychischen und physiologischen Symptomen. Selbstregulierung, Identität und Selbstwertgefühl geraten ins Wanken. In dem Maße, in dem unsere biologisch bedingten Kernbedürfnisse in der Frühzeit unseres Lebens erfüllt werden, entwickeln wir Kernfähigkeiten, die uns erlauben, derartige Bedürfnisse im Erwachsenenalter zu erkennen und für ihre Erfüllung zu sorgen. Auf diese fünf Kernbedürfnisse und -fähigkeiten eingestimmt zu sein bedeutet, dass wir mit unseren tiefsten Ressourcen und unserer tiefsten Lebensessenz in Kontakt sind.

Auch wenn man den Eindruck gewinnen könnte, dass Menschen von einer endlosen Zahl verschiedenster emotionaler Probleme und Herausforderungen geplagt wären: Die meisten davon lassen sich auf die beeinträchtigte Entwicklung einer oder mehrerer der fünf Kernfähigkeiten zurückführen. Auf das Beispiel des ersten Kernbedürfnisses bezogen (Kind bekommt nicht den Kontakt, den es braucht), bedeutet es, dass das Kind zu einem Menschen heranwächst, der einerseits Kontakt sucht und andererseits Angst davor hat. Wenn Kinder in der Frühzeit ihres Lebens keine ausreichende Einstimmung auf ihre Bedürfnisse erfahren (zweites Kernbedürfnis), lernen sie nicht, zu merken, was sie brauchen. Sie können eigene Bedürfnisse nicht ausdrücken und haben oft das Gefühl, sie hätten es nicht verdient, dass diese Bedürfnisse erfüllt werden.

Kernbedürfnis

Für das Wohlbefinden wichtige Kernfähigkeiten

Kontakt

Fähigkeit, in Berührung mit unserem Körper und unseren Emotionen zu sein

Fähigkeit zu wirklichem Kontakt mit anderen

Einstimmung

Fähigkeit, auf eigene Bedürfnisse und Emotionen eingestimmt zu sein

Fähigkeit, physisch und emotional Nährendes zu erkennen, zu suchen und in sich aufzunehmen

Vertrauen

Fähigkeit zu einem gesunden Vertrauen in andere und zum Zulassen einer gesunden wechselseitigen Abhängigkeit

Autonomie

Fähigkeit, angemessene Grenzen zu setzen

Fähigkeit, nein zu sagen und klarzumachen, wie weit andere gehen dürfen

Fähigkeit, ohne Angst und Schuldgefühle seine Meinung zu sagen

Liebe/Sexualität

Fähigkeit, mit einem offenen Herzen zu leben

Fähigkeit, liebevolle Beziehungen und eine lebendige Sexualität miteinander zu verbinden

0.1 Die fünf Kernbedürfnisse nach dem NARM-Modell und die dazugehörigen Kernfähigkeiten

In dem Maße, in dem wir innerlich die Fähigkeit entwickeln, für unsere eigenen Kernbedürfnisse zu sorgen, kann sich Selbstregulierung, innere Organisation, Expansion, Kontakt und Lebendigkeit einstellen – alles Merkmale körperlichen und seelischen Wohlbefindens. Die gesunde Entwicklung der Kernfähigkeiten zu unterstützen, ist ein zentraler Punkt des NARM-Ansatzes.

Fünf adaptive Überlebensstrukturen

In dem Maße, in dem die fünf biologisch begründeten Kernbedürfnisse in der Frühzeit des Lebens unerfüllt bleiben, kommt die Ausbildung fünf entsprechender adaptiver Überlebensstrategien in Gang. In der frühen Entwicklung sind diese Anpassungs- oder Überlebensstrukturen Wege, um mit unerfüllten Bindungsbedürfnissen, der gestörten Regulierung und Organisation sowie der Isolation umzugehen, die ein Kind erlebt, wenn Kernbedürfnisse und Bedürfnisse auf der Bindungsebene nicht erfüllt werden. Jede der fünf adaptiven Überlebensstrukturen ist nach dem Kernbedürfnis und der jeweils fehlenden oder beeinträchtigten Kernfähigkeit benannt: Kontakt-Überlebensstrategie, Einstimmungs-Überlebensstrategie, Vertrauens-Überlebensstrategie, Autonomie-Überlebensstrategie und Liebe-/Sexualitäts-Überlebensstrategie. (Die Bezeichnung Überlebensstrategie und Überlebensstruktur werden im Folgenden synonym verwendet.)

Je mehr im Erwachsenenalter die fünf adaptiven Überlebensstrukturen regieren, desto mehr sind wir abgeschnitten von unserem Körper, desto mehr entsteht eine verzerrte Identität und desto weniger können wir uns selbst regulieren und mit den Herausforderungen des Lebens umgehen. Wenn wir den Punkt erreicht haben, uns mit einer Überlebensstruktur zu identifizieren, bewegen wir uns nur im engen Rahmen der Einschränkungen, die wir zunächst von unserer Umgebung erlernt und uns später selbst auferlegt haben und versperren uns so den Zugang zu unserer eigenen Lebendigkeit. Auch wenn wir uns durch eine Überlebensstruktur und die mit ihr verbundenen physiologischen Muster vielleicht eingeengt fühlen, haben wir oft Angst, sie hinter uns zu lassen.

Adaptive Überlebensstrategie

Kernprobleme

Kontakt-Überlebensstrategie

Kontaktverlust zum physischen und emotionalen Ich

Probleme mit Kontakt zu anderen

Einstimmungs-Überlebensstrategie

Probleme damit, zu wissen, was wir brauchen

Das Gefühl, dass unsere Bedürfnisse es nicht verdienen, erfüllt zu werden

Vertrauens-Überlebensstrategie

Das Gefühl, uns auf niemanden außer uns selbst verlassen zu können

Das Gefühl, immer die Kontrolle behalten zu müssen

Autonomie-Überlebensstrategie

Sich belastet und unter Druck fühlen

Probleme, Grenzen zu setzen und unverblümt nein zu sagen

Liebe~Sexualitäts-Überlebensstrategie

Probleme, Herz und Sexualität zu integrieren

Selbstwertgefühl basierend auf Aussehen und Leistung (»Performance «)

0.2 Die fünf adaptiven Überlebensstrategien und ihre jeweilige Kernproblematik

Entwicklung von Kernfähigkeiten

Kernbedürfnis Bezugspersonen, die sich in das Kind einfühlen Kernfähigkeiten zu wirklichem Kontakt, Lebendigkeit und Kreativität

Entstehung adaptiver Überlebensstrukturen

Kernbedürfnis Fehler und Versäumnisse von Bezugspersonen Herausgehen aus dem Kontakt Beeinträchtigte Kernfähigkeit Adaptive Überlebensstruktur

0.3 Die Entwicklung der Kernfähigkeiten sowie die Entstehung adaptiver Überlebensstrukturen

Wir alle – auch diejenigen unter uns, die in der klinischen Praxis tätig sind – fühlen uns von der immensen Bandbreite und scheinbaren Komplexität psychischer und physiologischer Probleme oft regelrecht niedergewalzt. Wenn wir die adaptiven Überlebensstrukturen verstehen, haben wir fünf elementare Organisationsprinzipien an der Hand, die einen eindeutigen Kristallisationspunkt für Therapie und persönliche Entwicklung liefern. NARM greift bei der Arbeit jede der Kernfähigkeiten auf und unterstützt den persönlichen Wachstumsprozess.

In Teil I dieses Buches werden die fünf adaptiven Überlebensstrukturen vorgestellt. Teil II schildert eingehender, wie sich die Kontakt-Überlebensstruktur in Anpassung an frühe Schock- und Entwicklungstraumen entwickelt. Dieses erste Entwicklungsstadium wird ausführlich dargelegt, da Schwierigkeiten in dieser frühen Phase aus einer somatischen Perspektive bislang nur unzureichend verstanden werden und doch grundlegende Auswirkungen auf unsere Vitalität, auf die Resilienz unseres Nervensystems, die Ausbildung unserer Identität und unsere Beziehungsfähigkeit haben.

Zentrale Prinzipien von NARM

Das Neuroaffektive Beziehungsmodell konzentriert sich auf die Verflechtungen zwischen der biologischen und der psychischen Entwicklung. Das NARM-Modell

zeigt die Rolle von Kontakt auf und wie sich Kontakt auf allen Ebenen des menschlichen Erlebens auswirkt: physiologisch, psychisch und in der Beziehungsfähigkeit.

entwickelt Möglichkeiten des Einsatzes somatischer Achtsamkeit und eine Ausrichtung auf persönliche Stärken, um die Fähigkeit zur Selbstregulierung und Befreiung von einer fixierten und einschränkenden Identität zu fördern, die mit adaptiven Überlebensstrukturen einhergeht.

Selbst- und Affektregulierung

Die Wichtigkeit der Selbstregulierung ist in neueren Jahren in der Neurowissenschaft ausgiebig erforscht worden und gehört mittlerweile zum psychologischen Grundverständnis. Heute geht man davon aus, dass eine der folgenreichsten Konsequenzen früher Schock- und Beziehungstraumen die resultierende mangelnde emotionale und autonome Selbstregulierungsfähigkeit ist. Schock- und Entwicklungstraumen beeinträchtigen unsere Fähigkeit, unsere Emotionen zu regulieren, und stören die Regulierung autonomer Funktionen wie Atem, Puls, Blutdruck, Verdauung und Schlaf.

Einfach ausgedrückt, bedeutet Selbstregulierung, dass wir schlafen können, wenn wir müde sind, und in stressbelasteten Situationen gesunde Möglichkeiten haben, diesen Stress abzubauen. Zur Affektregulierung gehört, wie wir mit unseren Emotionen fertig werden, wie wir mit Traurigkeit, Freude, Wut, Aufregung, Herausforderungen, Angst umgehen – der ganzen Palette menschlicher Emotionen. Symptome emotionaler Dysregulation entwickeln sich dann, wenn wir entweder nicht in der Lage sind, unsere Emotionen zu spüren, oder wenn sie uns überwältigen beziehungsweise sich nicht wieder auflösen. Für unser Wohlbefinden ist es grundlegend wichtig, dass wir positive wie auch negative Emotionen, die auf uns einstürmen, bewältigen können. Wenn uns heftige oder schwierige Emotionen aus der Bahn werfen oder auch dann, wenn wir ängstlich oder niedergeschlagen sind, ist unsere Regulierung gestört. Zu den häufigsten Symptomen einer solchen Dysregulation gehören Schlaf- oder Essstörungen, Angst- und Panikattacken, Zwänge, Depressionen und Suchtverhalten.

Am Anfang des Lebens fungiert die Verbindung mit der Mutter im Nervensystem des Babys als regulierende Instanz; die Fähigkeit zur Selbstregulierung wird zunächst einmal in der Beziehung zur Mutter oder einer nahen Bezugsperson erlernt. In der Bindungstheorie konnte man eingehend dokumentieren, dass ein gesunder Kontakt zwischen Bezugsperson und Säugling für die Ausbildung der kindlichen Bewältigungsmechanismen elementar ist. Jedes Mal, wenn eine Mutter ihr Baby erfolgreich beruhigen kann, reguliert sie letztlich sein Nervensystem – obwohl sie wohl kaum auf die Idee käme, ihre mütterliche Fürsorge mit diesen Worten zu beschreiben. Die Bindungstheorie belegt, welche Folgen chronisch deprimierte, ängstliche, wütende oder dissoziierte Mütter für die kindliche Entwicklung haben – Brüche im Kontakt zwischen Säugling/Kleinkind und Mutter sind prinzipiell immer traumatisch. Ist der Regulierungsprozess zwischen Mutter und Kind aus welchem Grund auch immer gestört, so entwickelt sich die grundlegende Selbstregulierungsfähigkeit des Kindes nicht adäquat. Ist die Mutter in ihrer eigenen Regulierungsfähigkeit eingeschränkt, kann sie sich selbst nicht beruhigen und von daher auch das Nervensystem ihres Babys nicht angemessen regulieren. Die Stabilität dieser frühen Verbindung ist besonders wichtig für die Prägung individueller Beziehungsmuster – zum eigenen Körper, zu sich selbst und zu anderen. Eine beeinträchtigte Selbstregulierungsfähigkeit kann lebenslange negative Auswirkungen haben. Wird der Aufbau einer gesunden Selbstregulierungsfähigkeit kein wesentlicher Bestandteil unserer Entwicklung, hat dies eine destabilisierende Wirkung, und ohne diese zentrale Grundvoraussetzung wird das Leben zum Kampf. Man geht heute davon aus, dass affektive Dysregulation zentral für eine Anfälligkeit für Stress und Traumatisierung und ein grundlegendes Element bei der Entstehung seelischer und körperlicher Probleme ist.

Sich stabil, ausgeglichen und in unserem Körper und unserem Leben wohl zu fühlen ist ein so wichtiges Bedürfnis, dass wir bei Dysregulation oft versuchen werden, uns die erforderliche Regulierung zu verschaffen, auch wenn der Preis dafür hoch ist. So ist das Bedürfnis nach Regulierung beispielsweise so stark, dass Menschen rauchen, obwohl sie wissen, dass es ihrer Gesundheit schadet. Das Rauchen wirkt scheinbar emotional regulierend, da Nikotin Angst senkt und kurzzeitig Depressionen mildern kann. Menschen mit gestörter Regulierung rauchen also, weil es ihnen Erleichterung verschafft, selbst wenn sie wissen, dass das Rauchen sie töten kann. Bemühungen, mit dem Rauchen aufzuhören oder ein selbstzerstörerisches Suchtverhalten wie die Einnahme von Drogen, Alkoholmissbrauch, Hypersexualität, übermäßiges Essen und übermäßiges Arbeiten aufzugeben, schlagen oft fehl, weil es sehr schwierig ist, von etwas abzulassen, das eine gewisse Selbstregulierung bewirkt (und sei es auch ungesund), solange es nicht durch eine bessere Form der Selbstregulierung ersetzt werden kann.

Die folgende Übung bietet die Gelegenheit, in einen vertieften Kontakt mit der eigenen Lebendigkeit zu gelangen.

Übung Die eigene Lebendigkeit spüren

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um an einen Zeitpunkt in Ihrem Leben zurückzudenken, wo Sie sich ganz besonders lebendig fühlten. Wählen Sie hierfür ein Ereignis, das gut ausging (oder zumindest kein böses Ende nahm). Es könnte eine Situation sein, in der Sie mit jemandem zusammen waren, in einer Gruppe oder für sich allein – alles ist möglich: von einem Erlebnis draußen in der Natur über die Geburt Ihres Kindes bis zu einem Liebesakt.

Rufen Sie sich so viele sensorische Details des Erlebnisses wie möglich in Erinnerung: Farben, Geräusche, die Temperatur, die Gerüche … Nehmen Sie wahr, während Sie sich diese sinnlichen Einzelheiten vergegenwärtigen, wie diese sich auf Sie auswirken. Beobachten Sie möglichst, was Sie dabei körperlich erleben. Sollten Sie zu den Menschen gehören, die sich schwertun damit, in ihren Körper hineinzuspüren, geben Sie sich den Raum dafür, generell wahrzunehmen, welche Wirkung die Erinnerung auf Sie hat.

Nehmen Sie sich Zeit für diese Übung. Achten Sie auf Gedanken, Wertungen oder Emotionen, die vielleicht in den Weg geraten, wenn Sie kurz davor sind, Ihre Lebendigkeit und ein Gefühl der Expansion zu spüren. Selbst wenn es Ihnen gelingt, ein immer größeres Wohlgefühl zu erleben, seien Sie nicht allzu überrascht, falls mit dieser Expansion auch Traurigkeit aufsteigt – vielleicht, weil die erinnerte glückliche Zeit vorbei ist. Sollten Sie Traurigkeit verspüren, nehmen Sie sie wahr, aber konzentrieren Sie sich nicht primär auf sie.

Es gibt nicht »die« richtige Reaktion auf diese Übung. Etwas, was bei der Erinnerung an eine solche Zeit jedoch bei vielen Menschen aufsteigt, ist ein Gefühl des Im-Fluss-Seins, von Wärme, Vergnügen, ein Gefühl der Lebendigkeit und Expansion.

Selbstregulierung in der klinischen Praxis

NARM überträgt den derzeitigen Wissensstand um die Regulierung des Nervensystems auf die klinische Praxis. Es entspricht einem Grundgedanken von NARM, gesunde Möglichkeiten zur Regulierung des Nervensystems zu unterstützen, indem der Kontakt mit denjenigen Aspekten eines Menschen betont wird, die organisiert und kohärent sind und gut funktionieren. Die Analyse von Problemen und die primäre Konzentration auf das, was im Leben schiefgelaufen ist, unterstützt nicht unbedingt die Selbstregulierung und stört sie mitunter nur noch mehr. Wie wir sehen werden, fördert NARM das gesundheitliche Potenzial einer Person durch Einsatz bestimmter Techniken, die jene autonome und emotionale Selbstregulierung unterstützen, die Voraussetzung für Kontakt und Lebendigkeit ist.

Unterstützung von mehr Lebendigkeit

Wir wollen nichts mehr, als uns lebendig zu fühlen. Eine subjektiv erlebte Sinnlosigkeit, Depressionen und viele andere Symptome spiegeln, dass wir nicht in Kontakt mit unserer Kernlebenskraft sind. Wenn wir uns lebendig fühlen, fühlen wir uns wirklich in Kontakt, und wenn wir uns in Kontakt fühlen, fühlen wir uns lebendig. Lebendigkeit ist nicht in erster Linie ein mentaler Zustand, obwohl sie geistige Klarheit mit sich bringt, noch ist sie lediglich eine lustvoll-angenehme Erfahrung. Sie ist vielmehr ein Zustand, wo alles energetisch im Fluss ist und alle Systeme des Körpers, des Gehirns und des Geistes im Einklang miteinander sind. Menschen reagieren auf Schock-, Entwicklungs- oder Beziehungstraumen mit Dissoziation und Rückzug aus dem Kontakt. Das Ergebnis ist eine Herunterregelung der Lebenskraft, die die Betreffenden – in manchen Fällen mehr, in anderen weniger – aus dem Leben ausschließt. Ein zentrales Prinzip, nach dem wir die Arbeit nach der NARM-Methode strukturieren, ist die Beschäftigung mit den konkreten Hemmfaktoren, die einer Wiederherstellung des Kontakts mit der eigenen Lebendigkeit im Weg stehen.

In vielen Jahren als Kliniker, Lehrer und Supervisoren ist uns klar geworden, dass wir ein umfassenderes Verständnis emotionaler Regulierung brauchen, das mehr Aspekte integriert. NARM stellt klar, wie mit Emotionen gearbeitet werden kann; zu lernen, mit unseren Emotionen in Berührung zu sein und sie angemessen zum Ausdruck zu bringen, ist ein zentraler Bestandteil. Bei NARM liegt die Betonung auf somatischer Achtsamkeit, dem Containment (In-sich-Halten) und tieferen Erleben von Affekten sowie der Vollendung entstandener emotionaler und biologischer Impulse. Das Modell unterstützt einen tieferen Kontakt mit der Affektebene, indem es zeigt, wie Emotionen physisch und energetisch im Körper erlebt und gespürt werden. Gefühlen auf diese Weise nachzuspüren und sie in uns zu halten, bringt uns zunehmend mehr in Kontakt mit der Lebendigkeit in unserem innersten Kern.

Lebenskraft, Lebendigkeit und Emotionen

Wir haben zwei Grafiken entwickelt, um zu verdeutlichen, wie man mit Emotionen arbeiten kann und zwar im Kontext der Stärkung unserer Fähigkeit, mehr Lebendigkeit zuzulassen. Die erste Grafik, 0.4, Verzerrte Ausdrucksformen der Lebenskraft, zeigt auf, wie die Lebenskraft in Reaktion auf die kindliche Anpassung an Fehler und Versäumnisse des Umfelds vermindert und verzerrt wird. Sie zeigt darüber hinaus sowohl die Ähnlichkeiten wie die Unterschiede von Entwicklungstrauma und Schocktrauma. Die zweite Grafik, 6.3, Verzerrte Ausdrucksformen der Lebenskraft bei den fünf adaptiven Überlebensstrukturen, demonstriert konkret, welche verzerrten Ausdrucksformen der Lebenskraft bei den einzelnen adaptiven Überlebensstrukturen auftreten. Beide Grafiken verdeutlichen die emotionale und autonome Regulierung in ihrer Beziehung zu den sympathischen und parasympathischen Funktionen des Nervensystems und führen vor Augen, wie die verzerrten Ausdrucksformen der Lebenskraft sich psychisch und physiologisch auswirken.

Verzerrte Ausdrucksformen der Lebenskraft

Nachstehend wird erklärt, wie man anhand von Grafik 0.4 verzerrte Ausdrucksformen der Lebenskraft verfolgen kann, wenn ein Mensch ein Schock- oder Entwicklungstrauma erlebt und sich entsprechend anpasst.

Kernenergie/Lebenskraft: Die erste Ebene stellt die noch nicht ausdifferenzierte Energie im innersten Kern, die Lebenskraft, dar. Es handelt sich um das, was im Französischen Élan vital genannt wird und in anderen Kulturen Prana, Reiki, Chi und die Essenz, um nur einige der gängigeren Namen zu erwähnen.

Gesunde Differenzierung der Lebenskraft: Die zweite Ebene stellt die unterschiedlichen Ausdrucksformen von Kernbedürfnissen und einer gesunden Lebendigkeit dar. Die Lebenskraft ist die Energie, die die Antriebskraft für gesunde Aggression, Stärke, Selbstausdruck, Trennung, Individuation, Kampf, Flucht, Leidenschaft und Sexualität darstellt. Werden die zentralen Ausdrucksformen der Lebenskraft nicht unterstützt beziehungsweise wird auf sie unangemessen reagiert oder verhindert, dass sie sich ausdrücken können, erhöht sich die sympathische Aktivierung. Es setzt eine Entwicklung in Richtung einer sympathisch dominierten Verzerrung der Lebenskraft ein.

Sympathisch dominierte Symptome: Wenn Kernbedürfnisse nicht erfüllt werden, ist die Reaktion zunächst einmal Protest, der schließlich in Wut umschlägt. Wut ist eine Reaktion, die für unser Überleben durchaus hilfreich ist. Sie zielt darauf ab, auf ein Umfeld einzuwirken, das uns nicht gibt, was wir brauchen. Babys zum Beispiel drücken ihr Bedürfnis nach Berührung, Nahrung, Liebe und Kontakt ja zunächst durch Quengeln und Schreien aus, was einfach ein Ausdruck gesunder Aggression ist. Eine Mutter, die gut auf das Kind eingestimmt ist, wird merken, was es braucht, und entsprechend reagieren. Kommt auf das Bedürfnis des Kindes keine angemessene Reaktion, so schaltet der sympathische Zweig des autonomen Nervensystems einen Gang höher: Das Kind fordert zunehmend lautstärker, es protestiert gegen die ausbleibende Reaktion und bricht schließlich in ein wahres Wutgeschrei aus. Werden Wut und Aggressionen chronisch, entwickeln sich die Symptome einer nicht wieder entladenen sympathischen Erregung. Was zurückbleibt sind Beklemmungen, übermäßige Reizbarkeit, eine Neigung zu Gefühlsausbrüchen, Ängstlichkeit und sogar Panikattacken. Wie es gelingt, das Kontinuum von gesunder Aggression bis hin zu Wutzuständen zu bewältigen, ist bei der Arbeit an allen fünf adaptiven Überlebensstrukturen ein zentrales Thema.

Parasympathisch dominierte Symptome: Wenn Aggressionen, lautstarke Empörung und andere Formen des Protestes keine Wirkung zeigen oder nicht möglich sind, passt sich das Kind an diesen Umstand an. Bleibt die Einstimmung auf das Kind anhaltend aus, überlastet die chronische sympathische Erregung sein Nervensystem. Die Folge ist eine Adaptionsleistung: Das Kind resigniert, stellt seine wütenden Proteste ab und legt auch das Bedürfnis selbst still. Es verfällt in eine parasympathisch dominierte Erstarrungsreaktion, es »friert ein«. Dieser Abschaltprozess löst zwar nicht das zugrunde liegende Problem, betäubt aber wirksam die kindliche Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und Emotionen. Die unerfüllten Bedürfnisse und unbewältigten Gefühle werden im Körper und Nervensystem in Form nicht entladener Erregung gebunden, die sich in körperlicher Anspannung oder in einem resigniert-erschlafften oder erstarrten Zustand niederschlägt.

Die therapeutische Arbeit mit verzerrten Ausdrucksformen der Lebenskraft

Ein zentraler Punkt des NARM-Ansatzes besteht darin, bei der Arbeit an Symptomen nie die tiefer gehende Aufgabe aus dem Blick zu verlieren – die Unterstützung des Ausdrucks von Lebendigkeit – und nicht zu vergessen, dass Symptome ein Abgeschnittensein von unserer Kernlebendigkeit spiegeln. Indem wir uns vom oberen Bereich der Grafik 0.4 in die Richtung vorarbeiten, die Kernlebendigkeit und den Kontakt mit der Lebenskraft zurückzuerobern (Kapitel 12), tragen wir sowohl der Neigung zum Ein- als auch zum Ausagieren von Aggressionen Rechnung. Unterstützung bei dem Prozess, Affekte in sich halten (Containment) und tiefer erleben zu können, ermöglicht eine größere Spannbreite der Gefühle und erhöhte Selbstregulierung. Wird Wut integriert, legen sich Ängste, Depressionen und andere Symptome. Die in Emotionen inhärent vorhandene Lebensenergie wird dazu genutzt, Potenziale eines tieferen Kontaktes mit sich selbst und anderen leichter erschließen zu können. Wenn Kernbedürfnisse erkannt und erfüllt werden, wird nach und nach der Kontakt zur eigenen Lebenskraft verstärkt.

Somatische Achtsamkeit

Die aus östlichen Traditionen stammende Achtsamkeitspraxis wird zu einem immer beliebteren Werkzeug der Psychotherapie. Achtsamkeit bedeutet im allerweitesten Sinne aufmerksam zu sein für das eigene Erleben, in uns hineinzulauschen, unsere Gedanken, unsere Emotionen und körperlichen Empfindungen zu beobachten. Letztendlich lernen wir, so wahrzunehmen, dass wir keine Elemente des Erlebten von uns wegschieben, sondern den Punkt erreichen, wo wir erkennen, dass Gedanken, Emotionen und körperliche Empfindungen kommen und gehen. Was Achtsamkeit so attraktiv macht, ist die Freiheit sowie das Gefühl des Fließens und Im-Fluss-Seins, wenn wir für unsere Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindungen präsent sind, uns aber nicht mit ihnen identifizieren.

Das NARM-Verfahren ergänzt die herkömmliche Achtsamkeitspraxis um zwei neue Facetten:

Somatische Achtsamkeit

Achtsames Gewahrwerden der Organisationsprinzipien unserer adaptiven Überlebensstrukturen

Im Rahmen der herkömmlichen Achtsamkeitspraxis wird im Allgemeinen gelehrt, allem Erleben mit geistiger Offenheit und wachem Gewahrsein zu begegnen. Diese traditionelle Achtsamkeitspraxis wirkt eher, wenn jemand wenig oder nichts Traumatisches erlebt hat. Wo es zu Traumen gekommen ist, fällt ein offenes Gewahrsein aufrechtzuerhalten extrem schwer und kann sogar zu überwältigenden emotionalen Reaktionen führen. Je mehr Traumatisches erlebt wurde, desto schwieriger ist die Praxis des offenen Gewahrseins. Traumatisierte werden dazu neigen, sich von ihrem Körper abzuschneiden, indem sie übermäßig kopflastig werden oder ihr körperliches Erleben betäuben oder auch beides. Bei hoher Erregung und stark gestörter Regulierung ist es eine Qual, in unserem Körper zu sein. Traumen halten uns wegen der mit ihnen verbundenen Überreizung des Nervensystems und dementsprechend gestörter autonomer Regulierung davon ab, in unserem Körper präsent zu sein. Aus diesem Grund besteht der Ansatz von NARM darin, die traditionelle Achtsamkeitspraxis um eine zusätzliche Facette zu ergänzen: somatische Achtsamkeit. Der Zweck somatischer Achtsamkeit liegt darin, die allmähliche Regulierung des Nervensystems durch Techniken aus Somatic Experiencing wie Erden, Orientierung, Titrieren, Pendeln und Entladung zu unterstützen, die dazu konzipiert sind, die hohen Erregungs-, Erschlaffungs- und Schockzustände anzugehen, die traumatisierte Menschen erfahren. In NARM wird die bewährte uralte Achtsamkeitspraxis mit dem Wissen zusammengebracht, das wir uns im 21. Jahrhundert um das Nervensystem erworben haben.

Achtsamkeit im Hinblick auf die adaptiven Überlebensstrukturen

Der zweite Aspekt der Achtsamkeit, wie sie bei NARM zum Einsatz kommt, besteht darin, achtsam unsere adaptiven Überlebensstrukturen und das Organisationsprinzip der einzelnen Strategien hierbei ins Gewahrsein zu rücken. Überlebensstrukturen werden gewöhnlich erst dann wahrgenommen, wenn schon eine gewisse Fähigkeit zur Selbstregulierung entstanden ist. Wenn die Regulierung sich verbessert, die Betreffenden mehr im eigenen Körper zu leben beginnen und die innere Bedrängnis abnimmt, wächst die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung. Somatische Achtsamkeit in Verbindung mit einem achtsamen Gewahrsein von Überlebensstrukturen erlaubt uns, die Lebensgeschichte eines Menschen bei ihrer Aufarbeitung aus einer Perspektive aufzugreifen, die tiefer und weiter reicht als das Erzählte allein. Die beiden Prozesse, somatische Achtsamkeit und achtsames Gewahrsein unserer Überlebensstrukturen, verstärken sich gegenseitig und erhöhen die Wirkungskraft psychologischer und physiologischer Heilungsarbeit.

Auf Scham basierende Identifizierungen und Gegenidentifizierungen

Bei jeder adaptiven Überlebensstruktur gibt es ihr zugrunde liegende, auf Scham basierende Identifizierungen, die auf das Bemühen zurückgehen, Sinn in den Fehlern oder Versäumnissen des frühen Umfelds zu finden. Zudem entwickeln die meisten Menschen als Reaktion auf die Scham, die sie deshalb auf tieferen Ebenen empfinden, konträre (Gegen-)Identifizierungen und Ich-Ideale, die auf Stolz basieren und in denen sich spiegelt, wie sie sich selbst gerne sehen möchten oder von anderen gesehen werden wollen. Solche von Stolz getragenen Gegenidentifizierungen, traditionell Abwehrmechanismen genannt, sind der Versuch, aus der Scham eine Tugend zu machen. Paradoxerweise gilt aber: Je mehr Energie jemand in die Gegenidentifizierungen hineinsteckt, desto stärker werden die auf Scham basierenden Identifizierungen. Diese werden in Abbildung 0.5 kurz vorgestellt.

NARM stützt sich auf die Auffassung, dass die auf Scham basierenden Identifizierungen wie auch die auf Stolz aufbauenden Gegenidentifizierungen gleichermaßen Illusionen sind, auch wenn sie sich oft recht real anfühlen. Die auf Stolz basierenden Gegenidentifizierungen, die manchmal als Abwehrmechanismen, Widerstand und Verdrängung abgetan wurden, haben die Funktion, vor den schmerzhaften Identifizierungen zu schützen, die aus Traumen resultieren und eine Illusion eigener Art darstellen. Es besteht die Gefahr, nur die auf Stolz basierenden Gegenidentifizierungen zu hinterfragen, die dem Selbstschutz dienen, also die sogenannte Abwehr einer Person, ohne gleichzeitig die auf Scham basierenden tieferen Identifizierungen aufzuarbeiten, die ohne diesen Schritt verstärkt werden können. Ohne dieses Verständnis um die beiden unterschiedlichen Arten von Identifizierungen kann der therapeutische Prozess unnötig quälend sein und mitunter sogar Schaden anrichten.

Überlebensstrategie

Auf Scham basierende Identifizierungen

Auf Stolz basierende Gegenidentifizierungen

Kontakt

Scham, überhaupt zu existieren

Sich wie eine Last vorkommen

Das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören

Stolz darauf, ein Einzelgänger zu sein

Stolz darauf, niemanden zu brauchen

Stolz darauf, nicht emotional zu sein

Einstimmung

Bedürftig

Unerfüllt

Leer

Unwürdig

Umsorgen anderer

Stolz darauf, die starke Schulter zu sein, an der sich alle ausweinen

Sich unentbehrlich machen und dafür sorgen, gebraucht zu werden

Stolz darauf, keine Bedürfnisse zu haben

Vertrauen

Klein

Ohnmächtig

Benutzt

Verraten

Stark sein und das Sagen haben

Erfolgreich

Überlebensgroß

Selbst der, der andere benutzt und verrät

Autonomie

Wütend

Abneigung gegen Autorität

Rebellisch

Freude daran, andere zu enttäuschen

Nett

Liebenswürdig

Gehorsam

Lieber Junge/Braves Mädchen

Angst davor, andere zu enttäuschen

Liebe-Sexualität

Verletzt

Abgelehnt

Körperlich mit Makeln behaftet

Ungeliebt und nicht liebenswert

Weist lieber andere zurück, um ihnen zuvorzukommen, dasselbe zu tun

Makellos

Gestattet keine Fehler

Inbegriff von Perfektion

0.5 Auf Scham basierende Identifizierungen und auf Stolz basierende Gegenidentifizierungen der jeweiligen Überlebensstruktur

Der Teufelskreis innerer Not

NARM unterstützt die Ausbildung der Fähigkeit zu Kontakt, Lebendigkeit und Kreativität. Eine gestörte Bindung beeinträchtigt, ebenso wie frühe Entwicklungs- und Schocktraumen, die gesunde Selbstregulierung. Sie bewirkt, dass wir uns von uns selbst und anderen abschneiden, verzerrt die Identität und untergräbt das Selbstwertgefühl. De facto gehören Traumen zu den Hauptfaktoren, die zu Dysregulation und den mit ihr zusammenhängenden Störungen beitragen, die ihrerseits zahllose psychische und physiologische Probleme sowie Zwangs-, Sucht- und selbstzerstörerisches Verhalten nach sich ziehen. Überlebensstrukturen beginnen als lebensrettende Anpassungsstrategien. Sie helfen uns in der Frühzeit unseres Lebens, schmerzhafte traumatische Erfahrungen zu bewältigen und zu überleben. Paradoxerweise werden genau diese Überlebensstrategien im Erwachsenenalter dann zur Ursache einer anhaltenden Dysregulation des Nervensystems und bewirken Dissoziation und Probleme mit dem Selbstwertgefühl. Die ehemals an die Umstände angepassten Überlebensstrategien erzeugen, sofern sie auch noch fortbestehen, wenn sie längst ausgedient haben, einen wahren Teufelskreis innerer Not, der anschließend in einer Grafik dargestellt ist.

Um zu verstehen, wie dieser Teufelskreis innerer Not in Gang kommt, ist es wichtig, zunächst einmal zu verstehen, wie sich der Informationsfluss innerhalb des Nervensystems von »oben« nach »unten« (top-down) wie auch von »unten« nach »oben« (bottom-up) abspielt. Der Begriff Top-down bezieht sich darauf, wie kognitive Strukturen des Gehirns sich auf die emotionalen und instinktiven Systeme des Körpers auswirken. Der Begriff Bottom-up bezeichnet, wie die Regulierung im Nervensystem sich auf Kognitionen auswirkt. Top-down meint die Auswirkung des »oben« Angesiedelten – unserer Gedanken, Wertungen und Identifizierungen auf unsere Gefühle und die Regulierungsfähigkeit unseres Nervensystems. In umgekehrter Richtung, bottom-up, beeinflusst die Regulierung oder Dysregulation in unserem Nervensystem unsere Emotionen und Gedanken.

Bottom-up-Mechanismen sind unwillkürlich, immer unbewusst und stehen in Beziehung zu den physischen Auswirkungen, die Umwelteinflüsse auf den Körper haben. Im Gegensatz dazu können Top-down-Mechanismen absichtlich und bewusst beeinflusst werden und damit zu tun haben, wie Erinnerung, Motivation, Gefühl, Aufmerksamkeit und innere Bilder die Wahrnehmung formen. Top-down-Therapieansätze konzentrieren sich auf die kortikalen Funktionen der Kognition. Bei Bottom-up-Therapieansätzen liegt das Augenmerk auf dem Körper, dem Spürbewusstsein (den gespürten Körperwahrnehmungen, Felt Sense) und den instinktiven Reaktionen, die durch das Stammhirn vermittelt werden und dann höher wandern, wo sie die limbischen und kortikalen Areale des Gehirns beeinflussen. Kontinuierlich wandern Informationen in einer Schleife vom Körper zum Gehirn und vom Gehirn zum Körper. In ähnlichen Schleifen wandern Informationen zwischen den kognitiven, emotionalen und instinktiven Strukturen innerhalb des Gehirns hin und her.

Man kann mit gutem Grund sagen, dass Babys zum Großteil auf Wahrnehmungsmechanismen zurückgreifen, die von »unten« nach »oben« verlaufen. Erlebt ein Kind ein frühes Trauma, so wird ein Teufelskreis innerer Not in Gang gesetzt, der in sich unaufhörlich selbst verstärkenden Schleifen sowohl top-down als auch bottom-up verläuft. Aus der Bottom-up-Warte betrachtet, erzeugen Traumen eine Dysregulation des Nervensystems. Wenn Menschen Traumatisches erleben, bewirkt dies, dass sie sich schlecht fühlen; und vor allem Kinder entwickeln, wenn sie sich schlecht fühlen, dann zudem die Vorstellung, sie selbst seien schlecht. Eine chronische Dysregulation und innere Not führen bottom-up zu negativen Identifizierungen, Glaubenssätzen und Urteilen über uns selbst. Diese negativen Identifizierungen, Glaubenssätze und Wertungen wiederum lösen (top-down) noch mehr Dysregulation im Nervensystem aus, und schon entsteht ein Teufelskreis innerer Not.

0.6 Informationsfluss top-down und bottom-up

Der NARM-Heilungskreislauf

Die meisten Therapieansätze und Wege zu Förderung des persönlichen Wachstums konzentrieren sich tendenziell auf nur eine Seite der zirkulierenden Informationen: auf den Informationsfluss von »oben« nach »unten« oder auf den von »unten« nach »oben«. Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist entweder der Körper und was von diesem an Informationen zum Gehirn weitergeleitet wird, oder das Gehirn und die Informationen, die dieses an den Körper sendet. Unbeachtet bleiben dabei die sich verselbstständigenden Aspekte dieser Informationsschleife und damit oft auch die entstehenden gefährlichen Verknüpfungen, die den Teufelskreis innerer Not in Gang halten. Die NARM-Arbeit integriert beide Ausrichtungen – bottom-up und top-down – und wendet sich ausdrücklich dem Informationsfluss in beide Richtungen zu. So werden die sich verselbständigenden geschlossenen Teufelskreise innerer Not durchbrochen und die Wendung zu einem Heilungskreislauf wird unterstützt.

NARM betrachtet das achtsame Erfahren des Körpers (den von »unten« nach »oben« ablaufenden Bottom-up-Prozess) als Grundlage des Heilungsprozesses. Der Körper ist unsere Verbindung zur Wirklichkeit, und auf dieser Plattform setzt die NARM-Arbeit an. Die Beachtung des Körpers macht es leichter, auseinanderzuhalten, was an der Geschichte, die wir uns selbst über unser Leben erzählen, der Wahrheit entspricht und was nicht. Mit zunehmender Entladung von Schockzuständen, die sich in unserem Nervensystem niedergeschlagen hatten, kommen wir mehr mit unserem Körper in Kontakt. Es entsteht ein positiver Kreislauf, bei dem wir angesichts besserer Selbstregulierung mehr in Kontakt mit unserem Körper kommen, und je mehr wir mit unserem Körper in Kontakt sind, desto größer wird unsere Fähigkeit zur Selbstregulierung.

Parallel zu dieser Bottom-up-Ausrichtung jedoch, die bei der somatischen Achtsamkeit ansetzt, wird bei der NARM-Arbeit ein gegenläufiger Prozess (top-down) angestoßen. Hier richtet sich der Fokus auf das achtsame Gewahrwerden entstandener Überlebensstrategien und leitet so eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität ein. Wobei zur Identität auch unsere festen Vorstellungen von uns selbst (Identifizierungen und Gegenidentifizierungen) gehören sowie unser Selbsthass und die Punkte, in denen wir uns selbst ablehnen, bewerten, verurteilen. Zudem betreibt NARM Selbsterforschung, um fixe, enge Vorstellungen von anderen und der Welt auflösen zu helfen, die unser Leben einschränken. Da vieles an unserer Identität sich in den ersten fünf Lebensjahren entwickelt, sorgen Identitätsverzerrungen dafür, dass wir uns selbst und die Welt weiter aus der Kinderperspektive sehen.