➥ Sympathisch dominierte Symptome: Wenn Kernbedürfnisse nicht erfüllt werden, ist die Reaktion zunächst einmal Protest, der schließlich in Wut umschlägt. Wut ist eine Reaktion, die für unser Überleben durchaus hilfreich ist. Sie zielt darauf ab, auf ein Umfeld einzuwirken, das uns nicht gibt, was wir brauchen. Babys zum Beispiel drücken ihr Bedürfnis nach Berührung, Nahrung, Liebe und Kontakt ja zunächst durch Quengeln und Schreien aus, was einfach ein Ausdruck gesunder Aggression ist. Eine Mutter, die gut auf das Kind eingestimmt ist, wird merken, was es braucht, und entsprechend reagieren. Kommt auf das Bedürfnis des Kindes keine angemessene Reaktion, so schaltet der sympathische Zweig des autonomen Nervensystems einen Gang höher: Das Kind fordert zunehmend lautstärker, es protestiert gegen die ausbleibende Reaktion und bricht schließlich in ein wahres Wutgeschrei aus. Werden Wut und Aggressionen chronisch, entwickeln sich die Symptome einer nicht wieder entladenen sympathischen Erregung. Was zurückbleibt sind Beklemmungen, übermäßige Reizbarkeit, eine Neigung zu Gefühlsausbrüchen, Ängstlichkeit und sogar Panikattacken. Wie es gelingt, das Kontinuum von gesunder Aggression bis hin zu Wutzuständen zu bewältigen, ist bei der Arbeit an allen fünf adaptiven Überlebensstrukturen ein zentrales Thema.
➥ Parasympathisch dominierte Symptome: Wenn Aggressionen, lautstarke Empörung und andere Formen des Protestes keine Wirkung zeigen oder nicht möglich sind, passt sich das Kind an diesen Umstand an. Bleibt die Einstimmung auf das Kind anhaltend aus, überlastet die chronische sympathische Erregung sein Nervensystem. Die Folge ist eine Adaptionsleistung: Das Kind resigniert, stellt seine wütenden Proteste ab und legt auch das Bedürfnis selbst still. Es verfällt in eine parasympathisch dominierte Erstarrungsreaktion, es »friert ein«. Dieser Abschaltprozess löst zwar nicht das zugrunde liegende Problem, betäubt aber wirksam die kindliche Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und Emotionen. Die unerfüllten Bedürfnisse und unbewältigten Gefühle werden im Körper und Nervensystem in Form nicht entladener Erregung gebunden, die sich in körperlicher Anspannung oder in einem resigniert-erschlafften oder erstarrten Zustand niederschlägt.
Die therapeutische Arbeit mit verzerrten Ausdrucksformen der Lebenskraft
Ein zentraler Punkt des NARM-Ansatzes besteht darin, bei der Arbeit an Symptomen nie die tiefer gehende Aufgabe aus dem Blick zu verlieren – die Unterstützung des Ausdrucks von Lebendigkeit – und nicht zu vergessen, dass Symptome ein Abgeschnittensein von unserer Kernlebendigkeit spiegeln. Indem wir uns vom oberen Bereich der Grafik 0.4 in die Richtung vorarbeiten, die Kernlebendigkeit und den Kontakt mit der Lebenskraft zurückzuerobern (Kapitel 12), tragen wir sowohl der Neigung zum Ein- als auch zum Ausagieren von Aggressionen Rechnung. Unterstützung bei dem Prozess, Affekte in sich halten (Containment) und tiefer erleben zu können, ermöglicht eine größere Spannbreite der Gefühle und erhöhte Selbstregulierung. Wird Wut integriert, legen sich Ängste, Depressionen und andere Symptome. Die in Emotionen inhärent vorhandene Lebensenergie wird dazu genutzt, Potenziale eines tieferen Kontaktes mit sich selbst und anderen leichter erschließen zu können. Wenn Kernbedürfnisse erkannt und erfüllt werden, wird nach und nach der Kontakt zur eigenen Lebenskraft verstärkt.
Somatische Achtsamkeit
Die aus östlichen Traditionen stammende Achtsamkeitspraxis wird zu einem immer beliebteren Werkzeug der Psychotherapie. Achtsamkeit bedeutet im allerweitesten Sinne aufmerksam zu sein für das eigene Erleben, in uns hineinzulauschen, unsere Gedanken, unsere Emotionen und körperlichen Empfindungen zu beobachten. Letztendlich lernen wir, so wahrzunehmen, dass wir keine Elemente des Erlebten von uns wegschieben, sondern den Punkt erreichen, wo wir erkennen, dass Gedanken, Emotionen und körperliche Empfindungen kommen und gehen. Was Achtsamkeit so attraktiv macht, ist die Freiheit sowie das Gefühl des Fließens und Im-Fluss-Seins, wenn wir für unsere Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindungen präsent sind, uns aber nicht mit ihnen identifizieren.
Das NARM-Verfahren ergänzt die herkömmliche Achtsamkeitspraxis um zwei neue Facetten:
➥ Somatische Achtsamkeit
➥ Achtsames Gewahrwerden der Organisationsprinzipien unserer adaptiven Überlebensstrukturen
Im Rahmen der herkömmlichen Achtsamkeitspraxis wird im Allgemeinen gelehrt, allem Erleben mit geistiger Offenheit und wachem Gewahrsein zu begegnen. Diese traditionelle Achtsamkeitspraxis wirkt eher, wenn jemand wenig oder nichts Traumatisches erlebt hat. Wo es zu Traumen gekommen ist, fällt ein offenes Gewahrsein aufrechtzuerhalten extrem schwer und kann sogar zu überwältigenden emotionalen Reaktionen führen. Je mehr Traumatisches erlebt wurde, desto schwieriger ist die Praxis des offenen Gewahrseins. Traumatisierte werden dazu neigen, sich von ihrem Körper abzuschneiden, indem sie übermäßig kopflastig werden oder ihr körperliches Erleben betäuben oder auch beides. Bei hoher Erregung und stark gestörter Regulierung ist es eine Qual, in unserem Körper zu sein. Traumen halten uns wegen der mit ihnen verbundenen Überreizung des Nervensystems und dementsprechend gestörter autonomer Regulierung davon ab, in unserem Körper präsent zu sein. Aus diesem Grund besteht der Ansatz von NARM darin, die traditionelle Achtsamkeitspraxis um eine zusätzliche Facette zu ergänzen: somatische Achtsamkeit. Der Zweck somatischer Achtsamkeit liegt darin, die allmähliche Regulierung des Nervensystems durch Techniken aus Somatic Experiencing wie Erden, Orientierung, Titrieren, Pendeln und Entladung zu unterstützen, die dazu konzipiert sind, die hohen Erregungs-, Erschlaffungs- und Schockzustände anzugehen, die traumatisierte Menschen erfahren. In NARM wird die bewährte uralte Achtsamkeitspraxis mit dem Wissen zusammengebracht, das wir uns im 21. Jahrhundert um das Nervensystem erworben haben.
Achtsamkeit im Hinblick auf die adaptiven Überlebensstrukturen
Der zweite Aspekt der Achtsamkeit, wie sie bei NARM zum Einsatz kommt, besteht darin, achtsam unsere adaptiven Überlebensstrukturen und das Organisationsprinzip der einzelnen Strategien hierbei ins Gewahrsein zu rücken. Überlebensstrukturen werden gewöhnlich erst dann wahrgenommen, wenn schon eine gewisse Fähigkeit zur Selbstregulierung entstanden ist. Wenn die Regulierung sich verbessert, die Betreffenden mehr im eigenen Körper zu leben beginnen und die innere Bedrängnis abnimmt, wächst die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung. Somatische Achtsamkeit in Verbindung mit einem achtsamen Gewahrsein von Überlebensstrukturen erlaubt uns, die Lebensgeschichte eines Menschen bei ihrer Aufarbeitung aus einer Perspektive aufzugreifen, die tiefer und weiter reicht als das Erzählte allein. Die beiden Prozesse, somatische Achtsamkeit und achtsames Gewahrsein unserer Überlebensstrukturen, verstärken sich gegenseitig und erhöhen die Wirkungskraft psychologischer und physiologischer Heilungsarbeit.
Auf Scham basierende Identifizierungen und Gegenidentifizierungen
Bei jeder adaptiven Überlebensstruktur gibt es ihr zugrunde liegende, auf Scham basierende Identifizierungen, die auf das Bemühen zurückgehen, Sinn in den Fehlern oder Versäumnissen des frühen Umfelds zu finden. Zudem entwickeln die meisten Menschen als Reaktion auf die Scham, die sie deshalb auf tieferen Ebenen empfinden, konträre (Gegen-)Identifizierungen und Ich-Ideale, die auf Stolz basieren und in denen sich spiegelt, wie sie sich selbst gerne sehen möchten oder von anderen gesehen werden wollen. Solche von Stolz getragenen Gegenidentifizierungen, traditionell Abwehrmechanismen genannt, sind der Versuch, aus der Scham eine Tugend zu machen. Paradoxerweise gilt aber: Je mehr Energie jemand in die Gegenidentifizierungen hineinsteckt, desto stärker werden die auf Scham basierenden Identifizierungen. Diese werden in Abbildung 0.5 kurz vorgestellt.
NARM stützt sich auf die Auffassung, dass die auf Scham basierenden Identifizierungen wie auch die auf Stolz aufbauenden Gegenidentifizierungen gleichermaßen Illusionen sind, auch wenn sie sich oft recht real anfühlen. Die auf Stolz basierenden Gegenidentifizierungen, die manchmal als Abwehrmechanismen, Widerstand und Verdrängung abgetan wurden, haben die Funktion, vor den schmerzhaften Identifizierungen zu schützen, die aus Traumen resultieren und eine Illusion eigener Art darstellen. Es besteht die Gefahr, nur die auf Stolz basierenden Gegenidentifizierungen zu hinterfragen, die dem Selbstschutz dienen, also die sogenannte Abwehr einer Person, ohne gleichzeitig die auf Scham basierenden tieferen Identifizierungen aufzuarbeiten, die ohne diesen Schritt verstärkt werden können. Ohne dieses Verständnis um die beiden unterschiedlichen Arten von Identifizierungen kann der therapeutische Prozess unnötig quälend sein und mitunter sogar Schaden anrichten.