Die Band
Sie waren und sie sind Deutschlands radikalste Punkband. 1979 in Hamburg gegründet, richteten sich Slime mit Texten wie »Deutschland muss sterben« und »Wir wollen keine Bullenschweine« gegen den Staat, die Polizei, Faschismus und Kleinbürgerlichkeit und lieferten die Parolen für eine wachsende autonome Szene. Straßenschlachten mit Neonazis und Polizisten und die Beschlagnahmung des Albums Slime 1 förderten ihren Nimbus als Kämpfer gegen das System. Gleichzeitig wird ihnen ihr kommerzieller Erfolg von Teilen der Punkszene zum Vorwurf gemacht. Dennoch stehen Slime bis heute sinnbildlich für den musikalischen Widerstand. Nun erzählen sie ihre Geschichte – ungeschönt und aus erster Hand: von Bandproben im Luftschutzbunker, von Hausbesetzungen in der Hamburger Hafenstraße, vom Aufstieg des FC St. Pauli vom Stadtteilclub zum gefeierten Kultverein, vom Ärger mit der Zensur und mit den Hells Angels. Wegbegleiter wie Campino, Jan Delay und Rocko Schamoni kommen mit persönlichen Anekdoten zu Wort. Ergänzt um bislang unveröffentlichtes Archivmaterial entsteht das Porträt einer außergewöhnlichen Band und ihrer Zeit.
Der Autor
Daniel Ryser, geboren 1979, lernte das journalistische Handwerk beim St. Galler Tagblatt und arbeitete ab 2005 für fünf Jahre als Reporter für die Wochenzeitung WOZ. 2008 wurde er für ein Interview mit dem serbischen Fußballspieler Ivan Ergi´c mit dem »Zürcher Journalistenpreis« ausgezeichnet. Im Echtzeit Verlag erschienen von ihm Feld-Wald-Wiese. Hooligans in Zürich und Yello – Dieter Meier und Boris Blank. Er lebt in Zürich und arbeitet als Reporter für Das Magazin.
Mehr Informationen zu Buch und Autor finden Sie auf seinem Blog www.nationofswine.ch
DANIEL RYSER
Deutschland muss sterben
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Copyright © 2013 by Daniel Ryser
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
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Redaktion: Stephan Glietsch, Thomas Brill
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-10266-1
V004
www.heyne-hardcore.de
Für Etrit.
Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen
Inschrift auf einem 1934 errichteten
Kriegerdenkmal am Hamburger Dammtorbahnhof
Deutschland muss sterben, damit wir leben können
Slime: »Deutschland muss sterben«, 1981
Einer von damals vielen:
Manfred Roeder war als Oberstkriegsgerichtsrat zur Zeit des Nationalsozialismus Untersuchungsführer und Mitverantwortlicher für insgesamt 56 Todesurteile des Reichskriegsgerichts unter anderem in den Verfahren gegen die Mitglieder der Widerstandsbewegung Rote Kapelle. Auf die von ihm erhobenen Anklagen und gestellten Anträge gegen die Rote Kapelle, einen Zusammenschluss von Dissidenten, Künstlern, Schriftstellern, Journalisten und Arbeitern, verhängte das Reichskriegsgericht 1942 und 1943 gegen 47 Männer und Frauen die Todesstrafe, die mit einer Ausnahme vollstreckt wurde. Roeder führte auch die Verfahren gegen den Theologen Dietrich Bonhoeffer und den Juristen Hans von Dohnanyi, denen unter anderem vorgeworfen wurde, in das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler verwickelt gewesen zu sein. Dietrich Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg gehängt, Hans von Dohnanyi am selben Tag im KZ Sachsenhausen. Der Kulturpolitiker Adolf Grimme erstattete am 15. September 1945 Strafanzeige gegen Roeder wegen Rechtsbeugung. Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft Lüneburg 1951 eingestellt. Im Abschlussbericht heißt es: »Die Verfahren vor dem Reichskriegsgericht sind nicht zu beanstanden und die Angeklagten mit Recht zum Tode verurteilt worden. Landesverrat gilt immer und zu allen Zeiten als das schimpflichste Verbrechen.« Nach dem Krieg und bis zu seinem Tod 1971 war Roeder ein angesehenes und aktives Mitglied der CDU, unter anderem auch mehrere Jahre stellvertretender Bürgermeister von Glashütten bei Frankfurt am Main.
Ausführlich zu dem Verfahren gegen Manfred Roeder: Helmut Kramer in Detlef Vogel und Wolfram Wette (Hrsg.): »Das letzte Tabu – NS-Militärjustiz und Kriegsverrat«, Aufbau Verlag, Berlin 2007
HANDELNDE PERSONEN (SLIME)
Michael »Elf« Mayer, Gitarrist, Songwriter und Gründer
Dirk »Dicken« Jora, Sänger
Christian Mevs, Gitarrist und Songwriter
Sven »Eddie« Räther, Bassist bis 1994 und Gründer, heute Geschäftsführer in der Müllentsorgungsbranche
Peter »Ball« Wodok, Schlagzeuger bis 1981, gestorben 1993
Stephan Mahler, Schlagzeuger und Songwriter von 1981 bis 1994, heute Geschäftsführer im Stoffgroßhandel
Thorsten »Scout« Kolle, erster Sänger von Slime, heute Journalist und Drehbuchautor
Alex Schwers, Konzertveranstalter, Exschlagzeuger von Hass, Schlagzeuger von Eisenpimmel und seit 2009 von Slime
Nici, Geschäftsführerin des Rum Bumper’s in Bremen, Bassistin seit 2009
WEITERE PERSONEN
Schorsch Kamerun, Mitgründer von Die Goldenen Zitronen, heute freier Theaterregisseur
Eugen Honold, Gründer des Punk-Fanzines Pretty Vacant, heute im Import-Export-Geschäft
Klaus Danker, Gründer und Sänger der Razors, heute Altenpfleger
Klaus Maeck, Gründer des Hamburger Plattenladens Rip Off und des Musikverlags Freibank, heute Geschäftsführer der Filmproduktionsfirma Corazon International
Karl Walterbach, Gründer der Labels Aggressive Rockproduktionen, Noise Records, Modern Music, heute Förderer junger Metalbands
Mike Stanger, Sänger von The Buttocks, heute Unternehmer im Gebrauchtwagenhandel
Jan Delay, Mitgründer der Rapgruppe Absolute Beginner, Sänger
Ted Gaier, Mitgründer von Die Goldenen Zitronen, Musiker, Theaterschaffender, Politaktivist
Alfred Hilsberg, Gründer des Plattenlabels ZickZack, Journalist
Rocko Schamoni, Entertainer, Theatermacher, Schriftsteller, Betreiber des Clubs Golden Pudel in Hamburg
Jan Müller, Bassist von Tocotronic
Gary, Exhooligan und Roadie von Slime, heute Gewerkschaftsfunktionär
Sven Brux, Organisationsleiter und Sicherheitschef des FC St. Pauli
Knut Ipsen, Mitglied der Rockergang Likedeeler, selbstständiger Unternehmer
Frank Ziegert, Gründer, Gitarrist und Sänger von Abwärts
FM Einheit, Schlagzeuger von Abwärts, danach Mitglied von Einstürzende Neubauten
Rodrigo González, Jugendfreund der Band, Produzent des Slime-Albums Viva la muerte, Bassist von Die Ärzte
Campino, Sänger von Die Toten Hosen
Thorsten Nagelschmidt, Exmitglied von Muff Potter, Autor, Sänger der Band Nagel
Alec Empire, Produzent und Sänger von Atari Teenage Riot
Oliver Frank, Manager von Blumfeld, Jochen Distelmeyer, Slime
Langenhorn is burning … Das Jahr, in dem die Ramones alles veränderten … Krawall im Grand Hotel …
»Was will man bei diesem Stück nicht überpiepsen?«, sagte Elke Monssen-Engberding, Leiterin der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, dem Reporter des Rolling Stone. Das Magazin hatte soeben den Beschluss der Prüfstelle aus dem Frühjahr 2011 publik gemacht, das Slime-Stück »Wir wollen keine Bullenschweine« zu indizieren – 31 Jahre nach dessen Erscheinen. Seither darf das Stück bundesweit nicht mehr an Jugendliche verkauft, beworben oder live gespielt werden. »Der Text ist ein einziger Aufruf zur Gewalt«, sagte Monssen-Engberding.
Vielleicht hatten ja die Schlagzeilen nach der Premierenfeier zu Tarek Ehlails Spielfilm Gegengerade im Februar 2011 bei der Entscheidung eine Rolle gespielt. Im Anschluss an die Premiere des Films, der im Umfeld des FC St. Pauli spielt, gab es Freigetränke für alle, die es irgendwie in die Lobby des Berliner Grand Hotel Esplanade schafften. Zahlreiche bekannte Gesichter waren gekommen, die Schauspieler Mario Adorf, Ralf Richter, Armin Rohde, die Pornodarstellerin Vivian Schmitt, Dutzende weitere Prominente und Halbprominente sowie fünfzig Punks. Sie alle drängten sich gegen Mitternacht zwischen Werbeständen von Jägermeister, Red Bull und Air Berlin vor eine grell beleuchtete Bühne, um den Höhepunkt des Abends zu erleben: einen Überraschungsauftritt der Hamburger Punkband Slime, die für den Soundtrack des Films das Stück »Mittendrin« aufgenommen hatte.
Punkrock im Grand Hotel: Die Band kam auf die Bühne und begann mit »Gewinnen werden immer wir«, einem Song von 1982, und die Punks tanzten vor der Bühne Pogo. Die Band beschleunigte Stück für Stück, die Punks tranken immer schneller, und spätestens als die Musiker im altehrwürdigen und geschichtsträchtigen Esplanade die ersten Takte von »Deutschland muss sterben« anspielten, wurde klar, dass es ein Frieden auf Zeit gewesen war zwischen den Punks und der Glamourwelt. Kurz darauf kappte das Hotelmanagement die für die ganze Nacht versprochene Alkoholzufuhr.
Eine knappe Stunde später stürmten fünfzig Polizisten in Kampfmontur die Hotellobby. Es wurde gerempelt und geprügelt, es gab Verhaftungen, und als sich einige Beamte gerade auf einen älteren Mann mit blondierten Haaren stürzen wollten, der sie anbrüllte, dass sie sich verpissen sollten, warf sich ein Hotelangestellter dazwischen: Nein, nein, Gewalt sei hier nicht nötig, das müsse ein Missverständnis sein. Dieser Herr da sei Sänger einer Band und Gast des Hotels, und zwar auf Kosten der Filmproduktionsfirma.
»Diesem Herrn da« widmete die Berliner Zeitung zwei Tage später einen prominenten Platz in ihrer Berichterstattung: »Die Partystimmung war umgeschlagen und eskaliert, als der Sänger der Punkband Slime das Publikum beschimpfte. Ein Teil der Gäste warf Flaschen, zerstörte Glastische, urinierte auf die Teppiche, verursachte eine Überschwemmung im Toilettenbereich und zerschlug Inventar.« Bild schrieb: »Echte Hooligans, die offenbar auch in dem Film mitspielen, zerlegten das Mobiliar, zertrümmerten Glastische – Dutzende in blinder Zerstörungswut. Schauspieler Ralf Richter war mittendrin, bekam aber nichts ab. Polizei-Großeinsatz. Mehrere Festnahmen.« Der Tagesspiegel erkannte ein Muster: »Bereits Mitte Dezember war es in Kreuzberg schon einmal nach einem Auftritt von Slime zu Krawallen gekommen.« Der Sänger wiederum, Dirk Jora, verneinte später, mit dem Ärger irgendwas zu tun gehabt zu haben. Der Aufruhr sei womöglich aus Publicitygründen von der Filmproduktionsfirma inszeniert worden. Er selbst könne sich nur daran erinnern, wie er sich nach dem Konzert angeregt mit Exhandballer Stefan Kretzschmar unterhalten und sich dann mit seiner Zimmerkarte einen Weg durch ein Spalier von Polizisten und deren hasserfüllte Blicke gebahnt habe.
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Hamburg, 1975. Die Geschichte von Slime begann im Stadtteil Langenhorn. Der Bezirk im Norden der Stadt war eine Arbeiterhochburg und nach 1933 ein Zentrum des antinationalsozialistischen Widerstands durch KPD, SPD und Anarchisten. In Langenhorn standen auch eine Kaserne der Waffen-SS für das »I. Bataillon der SS-Standarte 2 ›Germania‹« und die Fabriken des Rüstungsbetriebs »Hanseatische Kettenwerke«, in deren Produktion während des Zweiten Weltkriegs rund tausend Frauen arbeiteten – aus Osteuropa verschleppte Zwangsarbeiterinnen. Auch die Asklepios Klinik Nord steht in diesem Stadtteil, während der Nazi-Zeit Landesirrenanstalt Ochsenzoll genannt. Vor dem Klinikgebäude an der Langenhorner Chaussee steht heute eine Gedenktafel:
Vom Gelände dieser Klinik aus wurden während der Zeit des Nationalsozialismus 4097 Patientinnen und Patienten (…) in Tötungs- und Verwahranstalten abtransportiert. 3755 von ihnen, darunter viele jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, fanden dabei den Tod. Bei medizinischen Versuchen in der Kinderfachabteilung wurden zwölf Kinder getötet. Wir gedenken an dieser Stelle der Opfer. Ihr Schicksal bleibt uns in Mahnung zum würdevollen und achtsamen Umgang mit jedem Menschen.
Die Landesirrenanstalt, so hieß es anlässlich der Einweihung der Tafel im Mai 2009, »war ein Tor in den Tod«. Im Rahmen des Euthanasie-Programms, der »Aktion T 4«, auch »Aktion Gnadentod« genannt, ermordeten die Nazis über 70000 Psychiatrie-Patienten und Menschen mit körperlichen Behinderungen, darunter viele Kinder.
In Langenhorn steht auch das Gymnasium Heidberg. Als »Eliteschule des Fußballs« ist das Gymnasium eine Quelle für lokale Fußballtalente wie Thomas von Heesen oder Benedikt Pliquett. 1975 trafen sich dort die beiden Schüler Michael »Elf« Mayer und Sven »Eddie« Räther. Sie trugen Jeansjacken mit Aufnähern von Status Quo, Slade, Alice Cooper und Kiss und hatten alles andere im Kopf als Schule und Fußball. Gemeinsam mit anderen wuchsen sie schnell zu einer kleinen Gang pseudoharter Jungs zusammen, die auf den Klassenfesten ihre Musik durchsetzten.
Dann kam das Jahr 1976, »und die Ramones veränderten alles«, sagt Elf und steckt sich in seiner Wohnung in Bremen eine Zigarette an. Befreundete Hippiemädchen hatten die jugendlichen Rocker mit Warum geht es mir so dreckig? und Keine Macht für Niemand bekannt gemacht, Alben der Berliner Hausbesetzer-Rockband Ton Steine Scherben aus den Jahren 1971 und 1972. Sie fanden die Texte gut, man fühlte sich verstanden, nur die Musik passte den jungen Rockern nicht so recht. Die Musik, die ihm passte, fand Elf, als er das erste Album der Ramones in einem Einkaufszentrum an der Hamburger Straße entdeckte: »Diese Rocker-Vögel mit ihren zerrissenen Jeans vor einer zerstörten Wand – nicht verkleidet, kein Glitterkram, Foto in Schwarz-Weiß –, die mussten einfach geil sein. Und so war es auch: Die Musik traf mich wie ein Blitz. So etwas hatte ich noch nie gehört. Es war ja auch die erste Punkplatte, die man überhaupt in Deutschland kaufen konnte. Und sofort war mir klar: Das ist es, was ich will. Das ist der beste Weg, meine ganze Wut rauszulassen.«
Vier Wochen lang sparte Elf, bis er genug Geld für die Platte zusammenhatte. Er hörte sie rauf und runter, und damit war der 14-Jährige nicht allein. Schnell bildete sich in Hamburg eine Punkszene aus rund hundert Leuten, die sich regelmäßig in einer Kneipe beim Fischmarkt trafen, dem Krawall 2000. »Ein Freund brachte mir Black-Sabbath-Riffs bei. Kurz darauf ging es auch schon los, und zwar im Musikraum unseres Gymnasiums.«
Elfs Vater arbeitete als Beamter bei der Bundeswehr, die Mutter als Sekretärin bei einer Versicherung. »Sie waren feine Leute. Aber sie verloren die Nerven, als ich nach dem mit Ach und Krach bestandenen Abitur nur noch eines machen wollte: Punkrock. Aber ich ließ mich nicht umstimmen. Ich wusste, das ist mein Weg. Und den bin ich gegangen. Bis heute.«
Eddie am Bass und Elf an der Gitarre holten Peter »Ball« Wodok hinzu, einen befreundeten Hafenarbeiter, der Schlagzeug spielte. Jetzt brauchten sie bloß noch einen Sänger. Sie nötigten ihren Klassenkameraden Thorsten »Scout« Kolle, der als Sänger absolut talentfrei und sogar für Punkrock zu unmusikalisch war. Die einzige Anforderung, nämlich den Takt zu treffen, erfüllte er schon einmal nicht. Stattdessen verpasste er den Einstieg, platzte irgendwo mitten in das Stück hinein und brüllte wie ein Irrer. Das erste Stück, das die vier übten, hieß »Polizei SA/SS«: ein schneller, harter Beat, drei Akkorde, radikaler Text, wütend und schnell heruntergespielt – das wurde zum Markenzeichen der Band, die sich zuerst Slime 79 and the Sewer Army nannte. Elf: »Wir waren Fans der Scherben, was die Texte betraf, waren links angehaucht, gingen auf Demos gegen Atomkraft und vor allem gegen den Bau des Atomkraftwerks in Brokdorf in der Nähe von Hamburg. Die Bullen waren wegen der ganzen RAF-Geschichte heftig drauf, haben bei den Demonstrationen ständig Leute verprügelt. Da ergab sich das automatisch, politische Texte zu machen und ordentlich zu provozieren.«
Ihr lieben Polizisten in der BRD
Ich will euch mal was sagen – hört mal alle her
Ihr seid moderne Nazis, das steht für uns fest
Kommt lasst uns doch in Ruhe, ihr seid schlimmer als die Pest
Bullenschweine, Bullenschweine
In der ganzen Welt
Söldner aller Staaten
Schläger für wenig Geld
Verteidigt euren Scheiß-Staat
Wisst selber nicht, warum
Die Scheiß-Politiker freu’n sich
Verkaufen euch für dumm
Polizei SA/SS
GSG 9 und BGS
Jedesmal, wenn ’ne Demo ist, gebt ihr uns was drauf
Aber den Faschisten lasst ihr freien Lauf
Baader, Meinhof hingerichtet im Stammheimer KZ
Polizei SA/SS, immer hilfsbereit und immer nett
Slime: »Polizei SA/SS«, 1981
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Ihr erstes Konzert spielten Slime im Sommer 1979 im Jugendzentrum Kiwittsmoor. »Frag mich nicht, wann genau das war«, sagt Elf. Auf jeden Fall hieß der Sänger an jenem Abend Scout, und an der Gitarre wurde Elf von einem Rocker namens Oliver Laudahm unterstützt. Auch eine andere Band spielte an jenem Abend im Jugendzentrum, eine dreiköpfige Combo, die musikalisch überhaupt nichts zustande brachte. Die Band hieß The Kreislaufkollaps, ihr Sänger war ein frischgebackener Punk: Dirk Jora.
»Wir sahen ihn auf der Bühne, und uns war sofort klar: Das ist unser Sänger«, sagt Elf. »Scout war eine Notlösung gewesen. Er ist nach wie vor ein guter Kumpel von mir. Aber bei Slime war er raus. Dirk hatte Charisma. Da waren wir uns alle sofort einig. Die Stimme hat einen gepackt, und sein unerschrockenes Auftreten war beeindruckend. Bei den meisten Sängern hatte man das Gefühl, dass sie Angst haben, auf der Bühne zu stehen. Bei Dirk war das anders. Ich hatte das in jenen Jahren nur zweimal so gesehen, bei Dirk und Campino mit seiner Band ZK, Zentralkomitee Stadtmitte, dem Vorläufer der Toten Hosen. Campino sprang in seinen bayerischen Lederhosen brüllend in die Leute und war total durchgeknallt, anders als alle anderen. Dirk war nicht durchgeknallt, sondern eher steif – steif, aber cool. Und furchtlos. Dieser Abend war die Geburt der eigentlichen Band: Dirk als Brüller und Sänger, ich an der Gitarre, Eddie am Bass, Peter am Schlagzeug. Dirk und ich waren äußerlich die typischen Punkrocker: kurze Haare, Lederjacken, Nietenbänder, enge Jeans. Eddie sah aus wie ein völliger Normalo, der Kumpeltyp, und Peter war ein Rocker mit langen Haaren. Kurz darauf kam Christian als zweiter Gitarrist in die Band. Er sah aus wie ein langhaariger Kiffer, äußerlich der totale Anti-Punk. Und noch ein wenig später löste Stephan, ein kurzhaariger Punk, Peter am Schlagzeug ab. Das war die Besetzung, mit der wir vier Alben einspielten und die viele als Original-Besetzung betrachten: Dirk, Elf, Eddie, Christian und Stephan.«
Zum Tee bei Schorsch Kamerun … Paranoia in der BRD … Aufgekratzt im Jolly Roger …
Jetzt kann man natürlich mit den Ärzten kommen und den Toten Hosen, die schenken sich gegenseitig Corvettes zum Geburtstag oder machen Theater auf großen Bühnen. Großes Punkrockkino in Deutschland, das sind ja wohl die Ärzte und die Hosen, schon allein wegen des ganzen Zasters. Der wiederum fehlt bei Dirk Jora an allen Ecken und Enden.
Da steht er zum Beispiel an einem Januartag 2012 um fünf Uhr morgens auf dem Weg zum Frühschwimmen in Dunkelheit und beißender Kälte auf einer Landstraße irgendwo in Schleswig-Holstein: Das Prepaid-Guthaben für das Handy ist aufgebraucht, die Karre, die er für 2000 Euro sowieso schon fast schrottreif erstanden hatte, ist abgesoffen. Totalschaden, keine Menschenseele weit und breit. Er flucht und raucht eine West Light nach der anderen.
Die fehlende Kohle als Ausdruck eines harten Lebensstils. Ein paar Wochen später steht Dirk aufgekratzt inmitten einer Horde linksradikaler schottischer Hooligans. Es wird gerempelt und geschubst und umarmt. Und die Schotten singen Freiheitslieder für politische Gefangene und Kampflieder gegen die Königin im übervollen Jolly Roger, einer Fankneipe des FC St. Pauli. Auch Dixie liegt an diesem Abend Dirk in den Armen. Als Teil eines Kommandos der IRA beschoss er 1996 in Osnabrück einen Stützpunkt der britischen Armee mit einem Granatwerfer. Dixie, einst Herausgeber der IRA-Zeitung An Phoblacht und Zigarettenschmuggler, soll in Nordirland Bomben gelegt und einen Polizeispitzel erschossen haben. Das behauptet die Polizei. Im Zweifel für den Angeklagten. Vor allem wenn er spätabends in einer Bar schwer betrunken und gefährlich grinsend vor einem steht.
Der DJ – es ist Sven Brux, Organisationsleiter und Sicherheitschef des FC St. Pauli – spielt jetzt »Solidarity«, ein Stück der englischen Arbeiterpunkband Angelic Upstarts. Hundert Kehlen kennen den Text auswendig. Dirk umarmt mich, brüllt: »Das hier ist es, das ist mein Leben!« Dabei ist er doch kürzlich weg von St. Pauli aufs Land gezogen, mit dem Auto ungefähr vierzig Minuten von Hamburg entfernt, ins ehemalige Ferienhäuschen seiner Eltern. Und zwar weil ihm, er war gerade fünfzig geworden, der Großstadt-Lebensstil nach über dreißig Jahren zu viel wurde: die Bars, die niemals schließen, das Drumherum mit Livemusik, Drogen, Frauen, Fußball. Pausenloser Rock’n’Roll. Er tauschte es ein gegen lange Waldspaziergänge, Sauna, Frühschwimmen und Landluft. Nur noch alle zwei Wochen, und zwar für die Heimspiele des FC St. Pauli, so Dirks Masterplan, kommt er in die Stadt. Dann aber, zur Belohnung für den neuen Lebensstil, soll richtig durchgestartet werden. So wie jetzt.
Sein Onkel war es gewesen. Der hatte Dirk gezeigt, dass Musik nicht bloß etwas für die Angepassten ist. 1960 in Hamburg-Hamm geboren, der Vater Matrose, die Mutter Hausfrau, war Dirk mit Schlagermusik aufgewachsen, mit Ernst Mosch und den Egerländer Musikanten. Viele Jahre später las er Tadellöser & Wolff von Walter Kempowski und erkannte darin seine eigene Kindheit. Kempowski beschreibt eine obrigkeitshörige Gesellschaft, eine kleinbürgerliche deutsche Welt ab dem Jahr 1933, in der nicht jeder ein überzeugter Nazi war, aber als Teil einer Masse die Diktatur ermöglichte. »Wenn ich Stress mit einem Lehrer hatte, mit dem Hausmeister, später mit den Bullen, war immer klar, auf welcher Seite meine Eltern standen: im Zweifel für die Obrigkeit.«
Die Musik war Teil dieser Welt, also verachtete er sie, bis ihm sein Onkel 1975 T. Rex vorspielte, Poprock aus England. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte Dirk geglaubt, dass Musik mit Menschen wie ihm nichts zu tun habe. Kurz darauf haute er von zu Hause ab.
»Ein Freund hat mir Asyl gewährt«, brüllt Dirk, während die betrunkenen Schotten immer euphorischer ihre Lieder singen. »Seine Mutter hat dann richtig Stress bekommen, als meine Eltern das rausgefunden haben. Wir haben uns auf dem Jugendamt wiedergetroffen. In Anwesenheit eines Sozialarbeiters haben sie mir Zugeständnisse gemacht. Zwei Wochen ging das gut. Dann bin ich endgültig abgehauen. Die Schule habe ich kurz vor dem Abitur abgebrochen.«
Es gibt ein Konzept, man kann es bürgerlich nennen oder einfach nur vernünftig: zuerst eine Ausbildung abschließen und sich dann mal ordentlich austoben. Dieses Konzept hatte Dirk nicht verinnerlicht. Kaum von zu Hause weg, feierte er einfach nur noch und bekam dafür in Mathe eine Null.
Dann kam das Kiffen ins Spiel – in einer Zeit, in der bereits das Anzünden eines Joints einem revolutionären Akt gleichkam. »Das mit dem Kiffen wurde dann aber immer komischer«, brüllt Dirk. »Du hockst nur noch geistig festgenagelt im Sessel. Erleidest Kreislaufzusammenbrüche. Ich hörte auf. Kiffen ist keine kommunikative Droge. Musikalisch geht dann im besten Fall Reggae oder komplizierter Frickelkram. Aber ich bin ein Rock’n’Roller. Ich will los, raus aus dem Sessel, rein in die Kneipe, mit den Leuten kommunizieren.«
Nach T. Rex entdeckte er die Rolling Stones. Er zieht sein T-Shirt hoch. Auf dem Schulterblatt prangt das Bandlogo, die rote Zunge. Das Ergebnis einer Portugalreise Anfang der Achtziger mit seinen Kumpels Udo und Scout. Bernie Luther aus Wien, der später in der Tattooszene weltberühmt wurde, wohnte dort am Meer in einem Indianerzelt. Bernie kiffte die ganze Nacht bis in den frühen Morgen, aber gegen Abend kroch er jeweils aus seinem Zelt und tätowierte im Sonnenuntergang mit einer primitiven Maschine mit Fußschalter und Batterie die Freaks auf Durchreise, Touristen und Aussteiger. Dirk tätowierte er die Stones-Zunge mit dem ersten Teil einer Songzeile aus »Street Fighting Man«: »What can a poor boy do … (except to sing for a rock’n’roll band)?«
1977 war Dirk für ein Jahr nach Berlin-Kreuzberg geflüchtet. Die Berliner Regierung hatte Mitte der Sechziger mit ihrer Sanierungspolitik ein Chaos angerichtet. Aus dem alten Kreuzberg hätte eine moderne Großsiedlung werden sollen. Stattdessen standen nun Hunderte Häuser leer, Abriss und Neubau kamen nur schleppend voran. Wohnraum wurde immer knapper. So entstand in West-Berlin Ende der Siebziger eine Szene mit weit über hundert besetzten Häusern. Regelmäßig kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei, mit teilweise Hunderten Verletzten und Dutzenden Verhaftungen. Es war das Milieu, in dem Berlins autonome Szene entstand und in dem sich Dirk politisch zu radikalisieren begann. »Während meines Berlin-Jahres herrschte Ausnahmezustand wegen der RAF. Die Bullen haben uns mehrmals mit gezogenen Knarren in der U-Bahn angehalten. Die sind völlig durchgedreht. Es waren harte Zeiten mit harten Auseinandersetzungen mit dem Staat. Und plötzlich war Heroin da. Das hat die radikale Szene nach und nach zerstört. Viele aus meinem damaligen Umfeld haben wegen der Scheiße das politische Bewusstsein verloren oder sind ganz zugrunde gegangen.«
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Der Tag, ab dem es für Dirk kein Zurück mehr gab, war der 31. Juli 1977. Der Tag, an dem Vital Michalon starb. Im französischen Creys-Malville demonstrierten an jenem Tag 60000 Menschen gegen den Bau des Atomkraftwerks Superphénix. Auch 5000 Beamte der Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) waren vor Ort. Einer von ihnen schoss dem Demonstranten Vital Michalon aus drei Metern eine Blendgranate an den Kopf. Der junge Franzose starb auf der Stelle. Auch Dirk stand in Creys-Malville im Tränengasnebel. Der Bau von AKWs war für ihn ein Symbol dafür, dass sich der Kapitalismus nicht um Menschen schert, sondern einzig um Profit. In Deutschland war es bereits seit einem Jahr zu heftigen Protesten gegen den Bau eines AKWs in Brokdorf in der Nähe von Hamburg gekommen. An jenem Tag in Frankreich sah Dirk schwer verletzte Demonstranten, darunter viele Deutsche. »Sie dachten, sie könnten die Tränengasgeschosse wie in Deutschland in die Hand nehmen und zurückwerfen, aber die französischen Blendgranaten explodierten.« Einem Demonstranten riss eine Granate den Fuß ab, einem anderen die Hand. Die Demonstranten skandierten »CRS – SS«. Ein Slogan, aus dem zwei Jahre später die Parole für den ersten Song von Slime werden sollte: »Polizei SA/SS«. Aber dazu musste Dirk zuerst Punkrock entdecken. Und dafür sorgte ein Mann namens Eugen Honold.
Honold kam aus dem Umfeld der ersten vier Hamburger Punkbands: Big Balls And The Great White Idiot, The Cocksuckers, Razors und The Buttocks. Eine Szene, die anfangs nicht so recht wusste, was Punk eigentlich sein sollte. Man hörte das erste Album von The Damned und traf sich mit einer Handvoll Leuten im Herbst 1977 im Winterhuder Fährhaus, wo eine Band namens The Clash spielte. Dazu band man sich Klobrillen um den Oberkörper, steckte sich Plastikgabeln durch einen Wollpullover, färbte sich die Haare oder tat sonst irgendwas, von dem man glaubte, dass Punks es taten. Es war noch bevor die Medien Punk entdeckten und zu erklären versuchten – und bevor ab 1981 etliche junge Leute von Hamburg nach London jetteten, um sich in einem Punkladen an der King’s Road im Stadtteil Chelsea von oben bis unten neu einzukleiden.
Anfang 1978 produzierte Honold die erste Ausgabe des Punk-Fanzines Pretty Vacant und verkaufte davon hundert Stück bei einem Konzert von AC/DC. Das Heft beschäftigte sich ausschließlich mit Musik. »Wir alle waren durch die Musik zum Punk gekommen, Politik interessierte uns nicht«, erzählt Honold, der heute im Import-Export-Geschäft tätig ist. »Ich kannte Dirk damals schon aus dem Viertel, da war er noch kein Punk. Er trug einen langen Pferdeschwanz und hing immer mit seiner Clique von Anarchisten herum. Er war auch ständig in Berlin. Und das unterschied nicht nur uns, sondern auch die beiden Städte und Szenen: Berlin war sehr politisch und Hamburg mit sich selbst beschäftigt.« Honold nahm Dirk im Frühjahr 1979 mit auf einen seiner London-Trips. »Nach einer Woche Punkrock und Fußball war sein Pferdeschwanz weg. Der politische Anspruch aber blieb. Das war ein anständiger Deal: Ich hatte ihn mit Punk in Berührung gebracht, und er brachte mich und den Rest der Hamburger Szene der Politik näher.«
Ich reiße mich los und stolpere aus dem Jolly Roger in die Nacht hinaus, weil ich unter den hackedichten Fußball-Hooligans, linken Skinheads, IRA-Leuten und dem kettenrauchenden Sänger von Slime immer nüchterner werde. Und weil Dirk jetzt, nach einigen Wodkas, auf das umgeschaltet hat, was Klaus Danker, einer von Dirks engen Freunden, den »Fotzenmodus« nennt. »Und in all den Jahren habe ich gelernt«, sagt Danker, selbst ein Zwei-Meter-Mann, »dass in diesen Momenten nur die Flucht hilft, wenn man nicht in der Stimmung ist, auf taub zu schalten, oder physisch nicht in der Lage ist, diesen Typen mit einem gezielten Faustschlag zum Schweigen zu bringen.«
»Hey, Journalistenmuschi, wo gehst du hin?«, brüllt Dirk mir nach, und Danker bugsiert mich in ein Taxi. Wir fahren los Richtung Kiez, während hinter uns der aufgekratzte Dirk und das Jolly Roger immer kleiner werden.
»Immer diese scheiß Fäkalsprache«, seufzt Danker. »Ich mag es nicht, wenn er so anfängt. Ich hab ihm das schon ein paarmal gesagt. Aber er liebt das Spiel mit der Provokation.«
Beim Fußball zum Beispiel. Da sitzen sie im Millerntor-Stadion seit Jahren nebeneinander, Danker und Dirk, die beiden über fünfzigjährigen Punks. Die Tradition will es, dass man zumindest angetrunken ist, wenn man ins Stadion geht. »Sobald Dirk getrunken und ein Bier in der Hand hat, fällt dieses Bier auch schon. Nicht mal absichtlich, aber es fällt«, sagt Danker. Da sitzen die beiden, der Alkoholpegel steigt, der Mann in der Reihe vor ihnen wird mit Bier geduscht, die Leute um sie herum sitzen in einem Biersee, und alle regen sich fürchterlich über Dirk auf. »Wenn ich den Platz vor ihm hätte, wäre ich schon lange durchgedreht«, sagt Danker. »Aber sobald sich der Typ vor uns entnervt zu Wort meldet, kriegt er die ganze Platte zu hören. Ich hab den Mann einmal auf der Toilette getroffen. Er kam verzweifelt zu mir: ›Hey, du bist doch der Vernünftige bei euch in der Gruppe. Kannst du nicht mal irgendwas tun?‹«
Konnte er nicht. Aber es war dann auch nicht nötig, sagt Danker. »Dirk ging beim letzten Saisonauftakt zu ihm hin und sagte: ›Wir sind alle St. Paulianer. Ich zahl dir jetzt ein Bier und verspreche dir Besserung.‹ Und ab da haben sie sich prächtig verstanden.« Und sowieso, Tribünenflüche hin oder her, auch in Dankers Augen gehören Fußball am Millerntor und Alkohol nicht erst zusammen, seit Jack Daniel’s Hauptsponsor des FC St. Pauli war.
Dirk Jora, Punkrockstar bis zum bitteren Ende: Anfang 2012 gerieten nach einem Fußballspiel in einer Bar in der Nähe des Millerntors ein paar Leute aneinander. Einer war allein unterwegs, die anderen waren zu dritt. Plötzlich schlugen die drei Typen zu, und als ihr Opfer blutend auf dem Boden lag, traten sie weiter auf den Mann ein. Danker kam hinzu, als der Tumult gerade zu Ende war. Und schnell war allen klar, dass Dirk, der den Vorfall nicht mitbekommen hatte, einen der Angreifer entfernt kannte. »Einige wollten von ihm den Namen des Typen, um ihn anzuzeigen. Doch er hat sich geweigert. Er verrate keinen an die Bullen, hat er gesagt. Er blieb stur bis zum Schluss. Er sagte immer nur: ›Ich bin auf eurer Seite. Und ich bin bereit, die Sache zu klären. Aber nach den Regeln der Straße. Ich verrate keinen an die Bullen.‹«
Das soll also Dirk Jora sein, diese legendäre Figur des Punkrock in Deutschland? »Klingt danach«, sagt Schorsch Kamerun, nur ein paar Hundert Meter Luftlinie vom Jolly Roger entfernt, wo Dirk noch immer mit den Schotten feiert. Kamerun wohnt mit seiner Freundin in einem dreistöckigen kleinen Haus nahe der Großen Freiheit. Keine Hooligans im Wohnzimmer, statt Testosteronhagel gibt es Kamillentee, und zweimal steht die Freundin auf, um am Fenster eine Zigarette zu rauchen. Bücher stapeln sich, gerade ist ein neues per Post gekommen, eines mit Texten von Kamerun selbst, dem Theaterregisseur. Einst gründete er die Goldenen Zitronen mit, eine Band, die Mitte der Achtziger mit Stücken wie »Für immer Punk« und »Der Tag, an dem Thomas Anders starb« kurz mit den Toten Hosen und den Ärzten gleichzog, sich dann aber vom Fun-Punk abwandte, hin zu Alarm-Sound im Stil der frühen Public Enemy und zu gesprochen-gesungenen journalistischen Texten über ein wiedervereinigtes Deutschland, in dem Ausländer von Neonazis unter Beifall der Bevölkerung gejagt und totgeschlagen werden.
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Die Stadtguerillas Bewegung 2. Juni und Rote Armee Fraktion hatten Anfang der Siebziger dem deutschen System den Krieg erklärt, und das System hatte die Kriegserklärung angenommen. Ein paar Jahre später, in den Nachwehen des »Deutschen Herbstes«, der Anfang September 1977 mit der RAF-Entführung des Arbeitgeberpräsidenten und ehemaligen SS-Untersturmführers und Kriegsverbrechers Hanns Martin Schleyer begonnen und nach sieben Wochen und vielen Toten geendet hatte, herrschte in der BRD ein Klima der Panik und Paranoia.