Mark Lilla
Der totgeglaubte Gott
Politik im Machtfeld der Religionen
Übersetzt von Elisabeth Liebl
Kösel
Mark Lilla
Der totgeglaubte Gott
Politik im Machtfeld der Religionen
Übersetzt von Elisabeth Liebl
Kösel
Copyright © 2013 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung und -motiv: Weiss / Werkstatt / München
ISBN 978-3-641-10520-4
The Stillborn God
Copyright © 2007, 2008, Mark Lilla
All rights reserved
www.koesel.de
Für meine Tochter Sophie
Du sollst dir kein Gottesbild und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde machen. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen.
Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott.
Ex 20,4–5a1
Inhalt
Kapitel 1
Die Krise
Kapitel 2
Die Große Trennung
Kapitel 3
Der ethische Gott
Kapitel 4
Der bürgerliche Gott
Kapitel 5
Das wohlgeordnete Haus
Kapitel 6
Der Erlösergott
Kapitel 7
Der totgeborene Gott
Danksagung
Anmerkungen
Einführung
Die Götterdämmerung wurde vertagt. Zwei Jahrhunderte lang, von der Amerikanischen und Französischen Revolution bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion kreiste die öffentliche Diskussion im Westen um eminent politische Themen. Wir debattierten über Krieg und Revolution, Klassengesellschaft und soziale Gerechtigkeit, über Rasse und nationale Identität. Heute aber sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir erneut die Kämpfe des 16. Jahrhunderts ausfechten – Offenbarung gegen Vernunft, dogmatische Reinheit gegen Toleranz, Inspiration oder Konsens, unsere Pflichten gegenüber Gott und Mitmensch. Wir sind verunsichert, ja zutiefst beunruhigt. Wir finden es unbegreiflich, dass religiöse Ideen Menschen immer noch so sehr entflammen können, dass sie messianische Leidenschaften entfachen und damit ganze Gesellschaften in Trümmer legen. Wir dachten, diese Zeit sei ein für alle Mal vorüber. Wir dachten, die Menschheit habe endlich gelernt, das Religiöse vom Politischen zu trennen, und sich vom Fanatismus abgewandt. Das war ein Irrtum.
In den meisten uns bekannten Zivilisationen und Epochen haben die Menschen sich, wenn sie Lösungen für politische Probleme suchten, für eine Antwort an Gott gewandt. Ihr politisches Denken war politische Theologie. Die politische Theologie ist eine der ursprünglichsten Formen menschlichen Denkens und hat über die Jahrtausende zahlreiche Ideen und Symbole hervorgebracht, die die Gesellschaft zu organisieren halfen und – im Guten wie im Schlechten – ihr Handeln inspirierten. Diese offensichtliche, historische Tatsache setzt sich heute wieder und mit Nachdruck auf die politische Tagesordnung. Getragen vom Glauben an die Notwendigkeit der Säkularisierung hat unsere intellektuelle Selbstgefälligkeit uns blind gemacht für das Fortleben der politischen Theologie und ihre Macht über die Organisation des menschlichen Lebens. Diese Selbstzufriedenheit ist nur allzu begreiflich, haben die liberalen Demokratien des Westens doch ein Umfeld geschaffen, in dem öffentliche Konflikte über konkurrierende Offenbarungsmodelle undenkbar sind. Aber sie ist auch anmaßend. Jede Zivilisation, der es über längere Zeit gelingt, den Frieden zu sichern, ist davon überzeugt, dass sie die grundlegenden Probleme des politischen Lebens gelöst hat. Kommt zu dieser Selbstgewissheit eine bestimmte Auffassung von Geschichte, führt dies unweigerlich zu der Vorstellung, andere Zivilisationen müssten notwendig denselben Pfad beschreiten. Auch der Chauvinismus kann ein sehr menschliches Antlitz tragen.
Aber es gibt noch einen tieferen Grund, weshalb wir im Westen die ungebrochene Anziehungskraft der politischen Theologie nicht begreifen. Wir haben mit unserer theologischen Tradition politischen Denkens durch einen intellektuellen Umsturz gebrochen, der etwa vierhundert Jahre zurückliegt und uns gewissermaßen »an neue Ufer« getragen hat. Wenn wir Zivilisationen betrachten, die aus unserer heutigen Perspektive an den alten Gestaden liegen, reagieren wir mit Verwirrung, weil wir vergessen haben, dass wir einst genauso dachten. Wir sehen, dass sie mit denselben politischen Problemen konfrontiert sind wie wir, dass sie sich mit Fragen nach Gerechtigkeit, Legitimierung von Macht, Krieg und Frieden, Rechten und Pflichten auseinandersetzen. Doch die Antworten, die sie darauf finden, sind uns fremd geworden. Der Fluss, der uns trennt, ist schmal, aber dennoch tief. Am einen Ufer werden grundlegende politische Strukturen mit Bezug auf göttliche Autorität gedacht und beurteilt, am anderen nicht. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
Historisch gesehen aber sind wir die Ausnahme, nicht sie. Die moderne politische Philosophie im Westen ist eine vergleichsweise junge Erfindung, denn über ein Jahrtausend lang war hier die politische Theologie des Christentums die einzige Form politischen Denkens. Die ersten modernen Philosophen hofften noch, die Praxis christlicher Politik zu verändern, doch ihr wahrer Gegner war die intellektuelle Tradition, aus der diese Praxis hervorgegangen war. Indem sie die christliche politische Theologie kritisch betrachteten und ihre Legitimität infrage stellten, wandten sie sich gegen das Grundprinzip, über das in den meisten westlichen Ländern Macht legitimiert wurde. Dies war der entscheidende Bruch mit der Tradition. Die neue Philosophie suchte nach Wegen, ihr politisches Denken auf den Menschen und auf ihn allein zu gründen – ohne Rückgriff auf göttliche Offenbarung oder kosmische Spekulation. Die neue Philosophie hegte die Hoffnung, die westliche Gesellschaft von der politischen Theologie entwöhnen zu können und so ans andere Ufer zu gelangen. Was als Gedankenexperiment begann, wurde zum Versuch am lebenden Objekt, an uns. Ein Versuch im Übrigen, dem wir uns kollektiv angeschlossen haben. Heute ist die lange Tradition christlich fundierter politischer Theologie vergessen und mit ihr das jahrtausendealte Streben des Menschen, sein gesamtes Dasein Gott unterzuordnen. Das Experiment geht weiter, auch wenn uns nicht mehr bewusst ist, aus welchen Gründen es begonnen hat und welche Herausforderung dahinter stand. Doch diese Herausforderung ist heute noch lebendig.
Verwundbarkeit macht Angst. Wir sehen dies an unseren Kindern. Sie lieben Märchen, in denen die dunklen Mächte, die ihre kleine Welt bedrohen, ans Tageslicht befördert und überwunden werden. In puncto politisches Denken verhalten wir uns wie Kinder: Wir blenden dessen experimentellen Charakter lieber aus. Viel mehr erzählen wir uns Geschichten darüber, wie unsere große Welt entstanden ist und warum sie weiterbestehen wird. Es gibt zahllose Legenden über den Lauf der Geschichte, die mit plakativen Worten ihre angeblichen Triebfedern beschreiben – Modernisierung, Säkularisierung, Demokratisierung, die »Entzauberung der Welt«, die »Geschichte als Gedanke und Tat« und dergleichen mehr. Dies sind die Märchen unserer Zeit. Ob sie nun von jenen, die sich mit dem Status quo wohlfühlen, in epischem Gestus vorgetragen oder von den Unzufriedenen, die sich nach einem verlorenen Paradies sehnen, mit tragischem Unterton erzählt werden, sie erfüllen innerhalb unserer intellektuellen Kultur dieselbe Funktion wie die Legenden von Hexen und Zauberern in der Fantasie unserer Kinder: Sie machen die Welt lesbar, versichern uns ihrer Unwiderruflichkeit und entheben uns der Verantwortung für deren Bewahrung.
Der totgeglaubte Gott ist kein Märchen. Es ist ein Buch über die Verwundbarkeit unserer Welt, jener Welt, die aus der intellektuellen Rebellion gegen die politische Theologie des Westens geboren wurde. Das Thema mag ein wenig ungewohnt wirken, ja abwegig, angesichts der Tatsache, dass die westlichen Nationen augenblicklich miteinander in Frieden leben und dass die Normen der liberalen Demokratie, gerade was die Religion angeht, allgemein akzeptiert werden. Der Westen scheint eine Art historischer Demarkationslinie überschritten zu haben. Heute ist es kaum noch vorstellbar, dass aus unserer Mitte je wieder Theokratien entstehen oder bewaffnete Banden religiöser Fanatiker einen Bürgerkrieg anzetteln könnten. Und doch ist unsere Welt verwundbar – einerseits, weil unser politisches System seine Versprechen zunehmend nicht mehr einlöst, andererseits, weil unser politisches Denken gar keine Anstrengungen mehr unternimmt, überhaupt noch Versprechen zu formulieren.
Menschen sehnen sich nach Sicherheit. Was politische Theologie jeglicher Couleur so attraktiv macht, ist ihr »ganzheitlicher« Charakter. Sie bietet nicht nur die Möglichkeit, über die Organisation menschlichen Handelns nachzudenken, sondern unterfüttert dieses Denken mit allerlei erhabenem Gedankengut wie z. B. über das Wesen Gottes, die Beschaffenheit des Kosmos, die Natur der Seele, den Ursprung aller Dinge, das Ende der Zeit. Das Neue an der modernen politischen Philosophie war ja gerade, dass dieser umfassende Anspruch aufgelöst und die Reflexion über die politische Organisation der menschlichen Gesellschaft von theologischen Spekulationen über das, was sie transzendiert, abgekoppelt wurde. In gewissem Sinne war diese neue politische Philosophie bescheidener als die politische Theologie, an deren Stelle sie trat, da sie auf transzendente Elemente verzichtete, auf den Anspruch, politische Prinzipien durch Rückgriff auf die Offenbarung zu legitimieren. In psychologischer Hinsicht allerdings war sie höchst ambitioniert. Überall auf der Welt denkt der Mensch über die grundlegende Struktur der Wirklichkeit und den rechten Lebensweg nach. Von dort zur Spekulation über das Göttliche und den Glauben an eine Offenbarung ist es nur ein kleiner Schritt. Und von dort zur Überzeugung, dass ein derartiger Glaube Legitimationsquelle politischer Autorität sein kann, ein noch kleinerer. Wir kennen diesen Prozess aus den Geschichtsbüchern und in jüngster Zeit auch aus eigener Erfahrung. Im Westen wird auch heute noch über Gott, den Menschen und die Welt nachgedacht. Warum auch nicht? Doch die meisten Menschen vollziehen den letzten Schritt, der mitten in die Politik hineinführt, gewöhnlich nicht mehr mit. Wir haben uns abgewöhnt, den politischen Diskurs mit dem theologischen und kosmologischen zu verknüpfen. Die Offenbarung ist für uns nicht länger Quelle politischer Autorität. Dies ist ein Beweis unserer Fähigkeit zur Selbstbeschränkung. Doch dass wir uns diesbezüglich Grenzen auferlegen müssen, sollte uns zu denken geben.
Unsere Verwundbarkeit ist nicht institutioneller, sondern intellektueller Natur. Die dogmatischen politischen Theologien, die den Westen über ein Jahrtausend lang geprägt haben, haben ihren Einfluss auf das westliche Denken möglicherweise eingebüßt. Doch den Fragen, die die politische Theologie aufwirft, kann sich niemand entziehen, auch jene nicht, die mit überkommener Religiosität nichts anfangen können. Und die Antworten müssen auch nicht im Rahmen der Konvention stehen bleiben. Die politische Theologie ist eine Denkform, eine geistige Gewohnheit. Daher steht sie seit jeher als Alternative neben jenen Institutionen, die wir heute als selbstverständlich betrachten. Auch wenn die politische Theologie vielleicht nicht vermag, diese Institutionen auszuhebeln, so kann sie doch unsere Sicht von ihnen verzerren. Aus diesem Grund sind wir es uns – wie die frühen politischen Philosophen der Moderne es formulierten – selbst schuldig, die Natur der politischen Theologie zu erforschen und die intellektuelle Herausforderung anzunehmen, die sie für unser modernes Denken darstellt. Nicht ohne Grund beginnen ihre größten Werke nicht mit der Diskussion hehrer Prinzipien, sondern mit der gründlichen Untersuchung des Wahrheitsanspruches von Offenbarungen und der Psychologie des Glaubens. Ihnen war klar, dass die Prinzipien, die ihnen heilig waren – Trennung von Kirche und Staat, Recht zur individuellen und kollektiven Glaubensausübung, Gewissensfreiheit, religiöse Toleranz – nur dann fest verankert werden konnten, wenn die Fragen der politischen Theologie geklärt würden. Die zeitgenössische politische Philosophie hält es nicht mehr für nötig, sich mit der politischen Theologie auseinanderzusetzen. Dies ist Zeugnis für ihr immenses Vertrauen in den Fortbestand unseres Experiments und seiner universellen Gültigkeit. Ob dieses Vertrauen gerechtfertigt ist, kann jeder für sich entscheiden: beim allmorgendlichen Blick in die Zeitung.
Wir müssen das Spannungsfeld zwischen der politischen Theologie und der modernen politischen Philosophie erneut in den Blick nehmen. Dies ist keine einfache Aufgabe, da wir heute bildlich gesprochen am anderen Ufer leben. Wir wissen nicht mehr, worum es bei der politischen Theologie eigentlich geht, warum sie jahrhundertelang für die Menschen so attraktiv war und warum sie in bestimmten Ländern und Kulturen heute noch so starke Anziehungskraft besitzt. Da wir heute über diese Zusammenhänge so wenig Bescheid wissen, können wir nicht mehr sicher sein, dass wir uns selbst verstehen.
Der totgeglaubte Gott geht diesem Spannungsverhältnis nach. Das Buch zeichnet die Geschichte einer Debatte zwischen Religion und Politik nach, die im Westen über vierhundert Jahre andauerte. Sie setzte im England des 17. Jahrhunderts ein und endete im 20. Jahrhundert in Deutschland. Dabei geht es nicht darum, die Auseinandersetzungen zwischen Religion und Politik in dieser Zeit in einer umfassenden Studie nachzuzeichnen, da solch ein Vorhaben mehrere Bände füllen würde. Vielmehr will ich den Leser exemplarisch durch die einzelnen Phasen einer Debatte führen, in der die Auseinandersetzung zwischen politischer Theologie und ihrem modernen philosophischen Widerpart von beiden Seiten mit leidenschaftlichen Diskussionen und klaren Ansagen besonders intensiv geführt wurde. Dieses Buch ist eine Ideengeschichte in Episoden, die mit jenen großen Denkern einsetzt, die aus Sorge über den messianischen Eifer, welcher das politische Leben Europas damals erfasst hatte, eine moderne intellektuelle Alternative zur politischen Theologie suchten. Es schließt mit jenen Philosophen und Theologen des 20. Jahrhunderts, die – ob aus der jüdischen oder christlichen Tradition kommend – sich gegen diesen intellektuellen Ansatz zur Wehr setzten, um eine moderne politische Theologie zu begründen, von der sie sich eine Wiederbelebung des messianischen Impulses im westlichen Leben erhofften. Wir werden uns exemplarisch auf eine Reihe europäischer Denker konzentrieren, deren Arbeit in dieser Diskussion Marksteine setzte. Einige der Protagonisten sind wohlbekannt und gründlich erforscht. Andere sind dem Vergessen anheimgefallen. Und doch spielten sie alle eine gewichtige Rolle in der Debatte um die verborgenen Stärken und Schwächen des modernen Denkens über Religion und das politische Leben. Wie Fabrizio del Dongo in Stendhals Kartause von Parma, der unbeabsichtigt in die Schlacht von Waterloo geriet, sind auch diese klugen Köpfe Teil einer gewaltigen intellektuellen Schlacht – um die Erfordernisse der Politik, die Gebote Gottes und letztendlich um die Natur des Menschen.
Dabei fand dieses Buch seine Inspiration nicht am glorreichen Beginn dieser Schlacht, sondern an ihrem unrühmlichen Ende. Denn nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs lebte die politische Theologie in Deutschland unerwartet wieder auf. Einige ihrer Vertreter waren Protestanten, andere Juden. Sie verorteten sich ganz klar in der Moderne, daher gaben sie auch sehr modern anmutende Begründungen dafür, warum die Bibel plötzlich wieder als Inspirationsquelle für politisches Handeln herhalten sollte. Zu dem Bild der Verwirrung trägt bei, dass sie dem Denken, das die moderne liberale Demokratie hervorgebracht hatte, grundsätzlich feindlich gegenüberstanden. Viele von ihnen waren Vertreter der abscheulichsten politischen Theorien des 20. Jahrhunderts – Nationalsozialismus und Kommunismus. Dabei handelte es sich nicht um naive Idealisten, die sich mit unverdauten politischen und religiösen Konzepten schmückten. Vielmehr handelte es sich um gelehrte Männer, die sich mit dem philosophischen und theologischen Werk ihrer Vorgänger intensiv auseinandergesetzt hatten und klare Vorstellungen vom Sinn und Zweck des modernen Lebens entwickelt hatten. Sie waren zwar Reaktionäre, aber nicht – wie man sagen könnte – »alter Schule«. Sie argumentierten nicht mit Wundern oder der Unfehlbarkeit der Bibel, weder mit der göttlichen Vorsehung noch mit der geheiligten Tradition. Sie zeigten sich ganz der Zukunft zugewandt, die sie, in theologisch-politischen Begriffen ausgedrückt, als eine Zeit der Erlösung sahen, in der jenes dunkle Zeitalter ein Ende finden sollte, das mit der Moderne begonnen hatte.
Vor dem Hintergrund der politischen Erschütterungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dies aber nur ein Nebenschauplatz der philosophischen Debatte. Doch wenn man sie einreiht in die Geschichte der langen Auseinandersetzung zwischen Religion und Politik im modernen westlichen Denken, gewinnt sie eine ganze neue Bedeutung. Denn auch heute noch denken wir, wenn wir uns mit messianischen Ansätzen der politischen Theologie auseinandersetzen, vor allem an die vormoderne Vergangenheit oder an Entwicklungen in anderen Kulturen. Wir betrachten dieses Denken entweder als »überholt« oder als »anders«. Allein die Vorstellung, im modernen Westen könnte es etwas wie eine politische Theologie geben, ist ungewohnt und verstörend. Noch schwieriger wird es, wenn man sich klar macht, dass die neuen politischen Theologen keine intellektuellen Leichtgewichte waren, deren originäre Erkenntnisse nicht einfach von der Hand zu weisen sind. Das Wiederaufleben der messianischen politischen Theologie kann man nicht als deutschen Irrweg, als kurzzeitige überschießende Reaktion auf den kriegsbedingten Zerfall des europäischen Bürgertums behandeln. Sie war viel eher wohlüberlegte Antwort auf den lang andauernden Streit um das Wesen der Religion und ihrer Beziehung zum politischen Leben, der die klugen Köpfe Europas beinahe vierhundert Jahre lang beschäftigte und der immer noch nicht beigelegt ist.
Daher stellten sich beim Schreiben dieses Buches vor allem zwei Fragen: Welche philosophischen und theologischen Strömungen ließen die Rückkehr zur politischen Theologie angebracht erscheinen? Und was sagt uns die ganze Debatte darüber, welche Stärken und Schwächen unser gegenwärtiges politisches Denken aufweist? Dabei interessierten mich weder die sozialen noch die historischen Beweggründe, die die einzelnen Philosophen zu bestimmten Argumenten bewegten. Mir ging es vielmehr darum, diese Standpunkte zu rekonstruieren und zu erkunden, ob sie einen kontinuierlichen Schlagabtausch über die Jahrhunderte darstellten. Ob sich also politische Theologie und modernes politisches Denken tatsächlich als verschiedene Denkweisen verstanden und präsentierten. Ich persönlich bin zu der Ansicht gelangt, dass dies der Fall ist, doch möchte ich es dem Leser überlassen, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Die Debatte wird von den Anfängen bis zu ihrem Abschluss vorgestellt, doch ich beginne meine Darstellung von hinten her. Mein Ansatzpunkt war die Wiederauferstehung der messianischen politischen Theologie in Weimar, was mich zu den verschiedenen Schulen »liberaler Theologie« führte, die das protestantische und jüdische Denken im 19. Jahrhundert beherrschten. Von dort aus gelangte ich zu den Schriften über Politik und Religion der deutschen Idealisten Kant und Hegel und weiter zum Ursprung der modernen politischen Philosophie bei Hobbes und Rousseau. Und natürlich zu der grundlegenden Dynamik der christlichen politischen Theologie, der die frühen Denker der Moderne entkommen wollten.2
Die Erkenntnis, dass das Experiment der Moderne fragil ist, sollte heilsam wirken. Tröstlich ist sie natürlich nicht. In diesem Buch finden sich keine Enthüllungen über irgendwelche verborgenen Aspekte der Geschichte, an deren Ende sich das Haupt einer Hydra abzeichnet, das es abzuschlagen gilt. Es gibt hier nichts, was sich feiern oder promoten ließe. Und schon gar keine praktischen Empfehlungen. Ich habe es quasi als Bestandsaufnahme geschrieben, damit wir fundierter darüber nachdenken können, wie wir heute leben und was nötig ist, wenn wir dieses Experiment fortführen wollen. Es ist reiner Zufall, dass das Buch zu einer Zeit geschrieben wurde und auf den Markt kam, in der uns die Herausforderungen der politischen Theologie wieder deutlich vor Augen geführt werden – doch möglicherweise ist das auch ein Glücksfall. Die Geschichte, die hier nachgezeichnet wird, soll uns daran erinnern, dass wir uns als moderne Gesellschaft keineswegs am Scheideweg finden zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder dem Westen und »dem Rest der Welt«, wie so häufig behauptet wird. Vielmehr müssen wir uns zwischen zwei großen Traditionen des Denkens entscheiden, zwei Wegen, die der menschliche Geist einschlagen kann. Wir müssen uns klar werden, welche Alternativen wir haben, uns für die ein oder andere entscheiden und mit den Konsequenzen unserer Wahl leben. Das ist die Grundbedingung des Menschseins.