Buch
Niemand in der texanischen Kleinstadt Blewer hat je daran gezweifelt, dass Carl Herbold ein Psychopath ist. Aber Herbold kann auch sehr geduldig und gerissen sein. Denn er lebt für seine Rache: Rache an seinem verhassten Stiefvater Delray Corbett, der ihn und seinen Bruder einst verstoßen hat. Die Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis ist für ihn nur der erste Schachzug in einem mörderischen Spiel. Denn auf dem Weg nach Texas hört Carl von der jungen Frau, die inzwischen auf der Corbett Ranch wohnt: Anna, die taubstumme Witwe von Corbetts Sohn. Herbolds ganz spezieller Feind, der rastlose Jack Sawyer, hat sich seit zwanzig Jahren von seiner Heimatstadt Blewer ferngehalten. Als er jedoch von Carl Herbolds Flucht erfährt, rast er wie von Furien gehetzt zur Corbett Ranch. Denn jetzt ist es für ihn an der Zeit, eine alte Rechnung zu begleichen. Dass er aber auf die schöne, empfindsame Anna Corbett treffen würde, hat Jack nicht erwartet. Und genau da setzt Herbold mit seinem diabolischen Katz-und-Maus-Spiel an …
Autorin
Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihr großer Durchbruch als Thrillerautorin gelang Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland zum Bestseller wurde. Seither konnte die Autorin mit vielen weiteren Romane große Erfolge feiern. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet
und www.instagram.com/blanvalet.verlag
Sandra Brown
Nachtglut
Thriller
Deutsch von
Mechtild Sandberg-Ciletti
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © der Originalausgabe 1998 by Sandra Brown
Management Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Blanvalet Verlag,
München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Covergestaltung: bürosüd
Coverabbildungen: Getty Images/National Geographic/Anne Keiser;
Getty Images/Robert Harding World Imagery/Colin Bryan
wr · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-10746-8
V005
www.blanvalet.de
1
»Myron, hörst du mir überhaupt zu?«, fuhr Carl Herbold seinen Mithäftling gereizt an. Er schüttelte ungeduldig den Kopf und brummte: »Blödmann!«
Myron Hutts, offenbar taub für die Beleidigung, grinste weiter leer vor sich hin.
Carl schob sein Gesicht näher an seines heran. »Hey, hör auf, so dämlich zu grinsen, Myron! Die Sache ist ernst. Ist davon irgendwas bei dir angekommen? Hast du auch nur ein gottverdammtes Wort kapiert?«
Myron biss in seinen Schokoriegel. »Klar, Carl. Du hast gesagt, ich soll genau zuhören und gut aufpassen.«
»Okay.«
Carl beruhigte sich etwas, auch wenn er ziemlich sicher war, dass Myron nicht einmal einen Bruchteil dessen, was er ihm zu sagen hatte, verstehen würde. Myron war nicht gerade einer der Hellsten; genau gesagt war er total unterbelichtet.
Trotz seiner Kraft und ständigen Beflissenheit stellte er mit seinem Spatzenhirn ein Risiko für Carls wohldurchdachte Pläne dar. So ein Komplize hatte seine Nachteile.
Andererseits benötigte Carl Myron Hutts’ Hilfe. Er brauchte einen, der nicht fähig war, selbstständig zu denken, und tat, was man ihm sagte – ohne lange zu überlegen, ohne Fragen, Widerreden oder Skrupel. Eben deswegen war Myron letztlich doch der perfekte Partner. Selbst wenn er ein gottverdammter Einstein gewesen wäre – aber er hatte kein Gewissen.
Gewissen, das war »innerer Dialog«. Klasse, der Ausdruck, was? Carl hatte ihn aus einem Artikel in einer Zeitschrift. Er hatte ihn sich eingeprägt und schwups!, aus dem Hut gezogen, als er das letzte Mal vor dem Ausschuss für bedingte Haftentlassung antanzen musste. Fünf Minuten lang hatte er sich des Langen und Breiten über seine inneren Dialoge bezüglich seiner vergangenen Missetaten und des Unheils ausgelassen, das er in seinem eigenen Leben und dem anderer angerichtet hatte. Aus diesen Dialogen habe er erkannt, auf dem falschen Weg gewesen zu sein; sie hätten ihn ins Licht der Selbsterkenntnis und des Verantwortungsbewusstseins geführt. Er bereue, was er getan habe, und wünsche, dafür zu büßen.
Die Ausschussmitglieder hatten sich von den großen Worten nicht beeindrucken lassen. Sie hatten gemerkt, dass er ihnen nur einen Haufen Mist auftischte, und seinen Antrag auf bedingte Haftentlassung abgelehnt.
Aber mal angenommen, das Gewissen war tatsächlich ein innerer Dialog. Das verlangte abstrakte Vorstellungen, die Myron in seiner Beschränktheit nicht einmal in Erwägung zog. Doch Carl war es sowieso egal, ob Myron ein Gewissen hatte oder nicht. Der Typ tat, was ihm gerade in den Kopf kam, und basta. Genau deshalb hatte Carl ihn ausgewählt. Myron würde keine Muffen kriegen, wenn es unappetitlich wurde.
Der Kerl war selbst ein ziemlich unappetitlicher Typ, um nicht zu sagen grottenhässlich, mit seiner beinahe haarlosen weißen Haut. Nur die wulstigen Lippen leuchteten unnatürlich rot; die Iris seiner Augen hingegen waren praktisch ohne Farbe. Spärliche helle Augenbrauen und Wimpern ließen seinen ohnehin einfältigen Blick noch einfältiger wirken. Sein Haar war dünn, aber von grober Beschaffenheit, und stand, fast weiß, drahtartig von seinem Kopf ab.
Einen besonders unappetitlichen Anblick bot er gerade jetzt, wo ihm der zähe Saft der Nugatfüllung des Schokoladenriegels aus den Mundwinkeln troff. Carl musste wegschauen, als Myron mit langer Zunge nach dem Zeug leckte.
Manch einer fragte sich wahrscheinlich, wieso ausgerechnet er und Myron Kumpel waren – bei dem auffallenden Kontrast, der zwischen ihnen bestand –, Myron und der große, dunkle, gutaussehende Carl. Wenn es ihn packte, arbeitete er mit Gewichten, aber mit strenger Regelmäßigkeit absolvierte er täglich in seiner Zelle Liegestütze und andere Leibesübungen, um seinen kräftigen Torso fit zu halten. Er besaß ein absolut umwerfendes Lächeln, das an den jungen Warren Beatty erinnerte. Hatte man ihm jedenfalls gesagt. Er persönlich fand, er sähe besser aus als der Schauspieler, den er als Schwuchtel betrachtete. Aber eine tolle Frau hatte er, ja, Mrs. Beatty, eine total scharfe Nummer!
An Grips war Carl seinem Kumpel Myron eindeutig weit überlegen. Was Myron zu wenig hatte, das hatte er im Überschuss. Im Planen war er unschlagbar. Die genialsten Einfälle kamen ihm ganz von selbst. Außerdem besaß er ein echtes Talent dafür, eine Idee, die zunächst noch ganz nebelhaft war, anzureichern und zum großen Entwurf zu verdichten.
Wäre er beim Militär gewesen, so wäre er General geworden. Aber selbst die hochrangigsten Offiziere brauchten die gemeinen Soldaten, um ihre Strategien umzusetzen. Daher Myron.
Er hätte jeden Kerl in dem Schuppen hier haben können. Myron war den meisten Leuten unheimlich, sogar abgebrühten Kriminellen. Sie gingen ihm aus dem Weg. Aber Carl, der geborene Führer, zog die Leute an wie ein Magnet. Er gehörte mit zu den Alteingesessenen, und das hatte ihm unter der Zuchthausbevölkerung eine Menge Einfluss verschafft. Hinzu kam sein angeborenes Charisma. Er hätte jeden Beliebigen unter den Insassen zum Partner wählen können, allesamt cleverer und bösartiger als Myron – der war nämlich trotz seiner gewalttätigen Tendenzen ein gutmütiger Mensch. Aber jeder mit ein bisschen mehr Grips würde Carl Probleme verschaffen.
Er wollte keinen Partner, der seinen eigenen Kopf hatte und meinte, ihm dreinreden zu müssen. Meinungsverschiedenheiten lenkten einen ab und führten direkt in die Katastrophe, nämlich dazu, wieder geschnappt zu werden. Alles, was er für seinen Fluchtplan brauchte, waren ein zusätzliches Paar Augen und Ohren sowie jemanden, der schießen konnte und keine Angst hatte, es im Notfall auch zu tun. Myron Hutts erfüllte diese Voraussetzungen, brauchte also nicht schlau zu sein. Carl war schlau genug für beide.
Außerdem würde er mit Cecil schon Scherereien genug kriegen. Cecil dachte zu viel. Der analysierte jeden Furz bis zum Gehtnichtmehr. Und während er die Möglichkeiten hin und her drehte, verpasste er die Gelegenheiten. Er war so wie der Typ auf der Witzpostkarte, die Carl einmal gesehen hatte: Der hatte dagestanden und den Fotoapparat vor die Augen gehalten, um den Eiffelturm zu fotografieren, während direkt vor seiner Nase eine nackte Französin vorbeimarschierte. Das war Cecil.
Aber Carl wollte jetzt nicht über seinen älteren Bruder nachdenken. Später, wenn er allein war, würde er dafür Zeit haben.
Er lehnte sich an den Maschendrahtzaun und ließ seinen Blick über den Hof schweifen. Ständige Wachsamkeit war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Zwanzig Jahre im Zuchthaus hatten ihn gelehrt, immer auf der Hut zu sein, um gleich beim ersten Anzeichen von Ärger reagieren zu können. Er hatte eine Menge Einfluss und einen großen Kreis von Freunden, aber war nicht bei allen beliebt.
Drüben auf der anderen Seite des Hofs tummelte sich ein Trupp schwarzer Gewichtheber, die ihre gutgeölten Muskeln spielen ließen und ihn mit blankem Hass anstarrten, bloß weil er nicht einer von ihnen war. Da regten sich die Leute draußen über Bandenkriege, Straßenkämpfe und Vendettas auf. Lachhaft! Keiner, der nicht im Knast gewesen war, hatte von Banden auch nur einen blassen Schimmer. In keiner Gesellschaft auf der ganzen beschissenen Welt gab es Ausgrenzung, Polarisierung und Diskriminierung wie in der Zuchthausgesellschaft.
Er hatte Meinungsverschiedenheiten mit den schwarzen Häftlingen gehabt, die zum Austausch von Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten geführt und zwangsläufig disziplinarische Maßnahmen nach sich gezogen hatten.
Aber weder heute noch an irgendeinem anderen Tag in absehbarer Zukunft würde er sich mit irgendjemandem hier anlegen. Bis zu dem Tag, an dem er und Myron zum Straßenbautrupp abkommandiert würden, wollte Carl Herbold sich vorbildlich benehmen. Das Arbeitsprogramm war eine Neueinführung im Rahmen der Gefängnisreform, die es sich zum Ziel erklärt hatte, den Häftlingen das Gefühl zu vermitteln, wieder nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Die sozialen Aspekte interessierten ihn natürlich einen Dreck. Ihn interessierte einzig, was es für ihn persönlich bedeutete. Wenn die ihn aufriefen, den Bau hier zu verlassen, um draußen zu arbeiten, würde er als Erster im Bus sitzen.
Und deshalb verhielt er sich ruhig und tat nichts, wodurch er sich bei den Wärtern auffällig gemacht hätte. Keine Regelverstöße, keine Prügeleien, nicht einmal Widerspenstigkeit. Wenn er ein Schimpfwort aufschnappte, das gegen ihn gerichtet war, überhörte er es. Was ihm nicht passte, übersah er. Neulich nachts hatte er untätig zuschauen müssen, wie Myron einem Kerl einen blies. Der andere, ein dreckiger Weißer, der seine Frau umgebracht und zwei Jahre seiner lebenslänglichen Strafe abgesessen hatte, hatte Myron mit einer Belohnung gelockt, woraufhin der sich sofort breitschlagen ließ.
Die aggressiveren Häftlinge versuchten häufig, Myrons Schwachsinn auszunutzen. Im Allgemeinen pflegte Carl dann einzugreifen. Aber so kurz vor dem geplanten Ausbruch hatte er das Risiko eines Zusammenstoßes nicht eingehen wollen. Außerdem litt Myron wohl nicht allzu viel dabei. Für seine Dienste hatte er eine lebendige Maus bekommen, der er später mit dem langen spitzen Nagel seines kleinen Fingers den Bauch aufschlitzte.
»Also, merk dir, was ich dir gesagt hab, Myron«, mahnte Carl jetzt. Die Hofpause würde gleich vorüber sein, und danach würden sie kaum noch Gelegenheit finden, allein miteinander zu sprechen. »Wenn wir zum Straßenbautrupp eingeteilt werden, darfst du dir keine Aufregung anmerken lassen.«
»Okay«, sagte Myron, schon wieder abgelenkt von der blutenden Nagelhaut an seinem Daumen.
»Es wäre vielleicht sogar gut, wenn wir so täten, als wären wir sauer, dass wir da rausmüssen. Meinst du, du schaffst das? So zu tun, als wärst du sauer?«
»Klar, Carl.« Er lutschte mit dem gleichen Genuss, wie vorher an dem Schokoriegel, an seiner Nagelhaut.
»Wenn die nämlich glauben, wir wären scharf darauf …«
Der Schlag traf ihn aus heiterem Himmel. Er riss ihn von der Holzbank, auf der er gesessen hatte. Eben noch blickte er Myron ins grinsende, schokoladenverschmierte Gesicht, und im nächsten Moment lag er mit dröhnenden Ohren im Dreck, während alles rundherum vor seinen Augen verschwamm und seine Nieren mit Tritten bearbeitet wurden, dass sich ihm der Magen umdrehte.
Er vergaß seinen Vorsatz, allen Ärger zu vermeiden. Der Überlebensinstinkt gewann die Oberhand. Sich auf den Rücken rollend, schwang er sein Bein in die Höhe und trat seinen Angreifer mit aller Kraft in die Hoden. Der schwarze Gewichtheber, der sich offensichtlich nur auf seine Muskeln verließ, ohne an Taktik zu denken, hatte den Gegenangriff nicht erwartet. Laut aufheulend fiel er auf die Knie, die Hände an seiner zartesten Körperstelle. Natürlich konnten da die anderen Schwarzen nicht untätig bleiben. Die ganze Meute fiel über Carl her und hieb mit Fäusten auf ihn ein.
Die Wärter kamen mit schwingenden Schlagstöcken angerannt. Andere Häftlinge versuchten entweder den Kampf zu beenden oder anzuheizen. Sehr schnell war das Handgemenge beigelegt. Nach Wiederherstellung der Ordnung wurde der Schaden begutachtet, und er erwies sich als minimal. Nur zwei Häftlinge wurden mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht.
Einer war Carl Herbold.
2
»Ich fand den Abend sehr nett.«
Die Bemerkung seiner Frau veranlasste Ezra Hardge zu einem geringschätzigen Prusten. »Das war das zäheste Stück Fleisch, das ich je auf dem Teller hatte, und die Klimaanlage hat aus dem letzten Loch gepfiffen. Ich dachte schon, ich zerfließe in diesem schwarzen Anzug.«
»Dir hätte man heute Abend sowieso nichts recht machen können. Du wolltest unbedingt der Miesmacher sein!«
Ezra Hardge war seit fünfzig Jahren Sheriff von Blewer County und seit zweiundfünfzig Jahren mit Cora verheiratet. Zum ersten Mal hatte er sie bei einer Wiedererweckungsversammlung gesehen, an der er und seine Freunde nur zum Jux teilnahmen. Beinahe wie den Worten des Wandergeistlichen zum Trotz, der unter dem Zeltdach Hölle und Verdammnis predigte, hatte Cora eine freche rote Schleife im Haar und knalliges Rot auf den Lippen getragen. Während die Gemeinde sang, wanderte ihr Blick vom Gesangbuch über den Gang und traf Ezzy, der sie mit unverhohlenem Interesse und Wohlgefallen anstarrte. Was in ihren Augen blitzte, war nicht religiöser Eifer, sondern reiner Übermut. Sie hatte ihm zugezwinkert.
Die Aufmüpfigkeit war ihr geblieben, und ihm gefiel sie nach diesen langen Jahren immer noch.
»Die Leute hier haben es sich eine Menge Mühe und Geld kosten lassen, dir dieses Essen zu geben. Du hättest wenigstens ein bisschen Dankbarkeit zeigen können.« Sie schlüpfte aus ihrem Morgenrock und kam zu ihm ins Bett. »Man kann immerhin höflich sein!«
»Ich hab nicht um ein großartiges Essen mir zu Ehren gebeten … kam mir vor wie ein Affe …«
»Ach, es geht gar nicht um das Essen. Du bist wütend, weil du aufhören musst.«
Cora nahm meistens kein Blatt vor den Mund. Mürrisch zog Ezzy die Bettdecke hoch.
»Glaub ja nicht, dass ich mich auf deinen Ruhestand freue«, fuhr sie fort, während sie völlig unnötig ihr Kopfkissen zurechtklopfte. »Oder meinst du vielleicht, ich find’s lustig, dich in Zukunft den ganzen Tag zu Hause zu haben und ständig dein brummiges Gesicht sehen zu müssen? Ich seh’s schon, du wirst mir dauernd in die Quere kommen.«
»Dir wär’s wohl lieber gewesen, wenn mich irgendein besoffener Randalierer abgeknallt hätte, was? Dann müsstest du dir jetzt keine Gedanken darüber machen, wie du mich in Zukunft ertragen sollst.«
Cora kochte. »Du versuchst schon den ganzen Abend, mich zu reizen, und jetzt hast du’s endlich geschafft! Du weißt genau, dass solches Gerede mich wütend macht, Ezra Hardge.«
Sie riss am Messingkettchen der Nachttischlampe und tauchte das Schlafzimmer in Dunkelheit, rollte sich auf die Seite und drehte ihm den Rücken zu. Normalerweise schliefen sie einander zugewandt ein.
Zweifellos hatte er die Bemerkung absichtlich gemacht, weil er wusste, dass sie sie in Rage bringen würde. Offen gestanden hatte er während seiner Amtszeit als Sheriff jeden Tag darum gebetet, dass er nicht im Dienst draufgehen und als blutige Leiche zu Cora heimkehren würde.
Aber wenn man es einmal vom praktischen Standpunkt aus betrachtete, wäre es tatsächlich besser gewesen, er hätte in Ausübung seines Amtes das Zeitliche gesegnet. Es wäre sauberer und einfacher für alle Beteiligten gewesen. Den Gemeindevätern wäre die Peinlichkeit erspart geblieben, ihm nahezulegen, sich nicht noch einmal um das Sheriffsamt zu bewerben. Sie hätten sich die Ausgaben für die Fete heute Abend sparen oder das Geld zumindest für lohnendere Dinge verwenden können. Wenn er früher abgetreten wäre, brauchte er jetzt nicht einer Zukunft entgegenzublicken, in der er sich ungefähr so nützlich fühlen würde wie ein Paar Skier in der Sahara.
Zweiundsiebzig Jahre alt, auf die Dreiundsiebzig zugehend. Arthritis in allen Gliedern. So fühlte es sich jedenfalls an. Und sein Verstand war wahrscheinlich auch nicht mehr das, was er einmal gewesen war. Nein, er selbst hatte kein Nachlassen bemerkt; aber andere lachten wahrscheinlich bereits hinter seinem Rücken über die Anzeichen vorrückender Senilität.
Am schlimmsten war es, sich eingestehen zu müssen, dass sie möglicherweise recht hatten. Er war alt und abgewirtschaftet und hatte in diesem Amt nichts mehr zu suchen. Okay, das sah er ein. Auch wenn es ihm nicht gefiel – diese Sache mit dem Ruhestand –, er konnte ihn akzeptieren, weil den Leuten der Gemeinde mit einem Jüngeren besser gedient sein würde.
Er wünschte nur, er hätte die Arbeit nicht niederlegen müssen, bevor sie abgeschlossen war. Und sie würde so lange nicht abgeschlossen sein, bis er wusste, was Patsy McCorkle zugestoßen war.
Seit zweiundzwanzig Jahren teilte das Mädchen das Bett mit ihm und Cora. Natürlich nur im übertragenen Sinn. Vom schlechten Gewissen getrieben, gerade auch im Licht ihres Streits, drehte er sich herum und legte Cora die Hand auf die Hüfte. Er tätschelte sie liebevoll.
»Cora?«
»Ach, lass mich in Frieden«, fauchte sie. »Ich bin zu wütend.«
Als Ezra ein paar Stunden später sein altes Amt betrat, hob der diensthabende Deputy verschlafen den Kopf und sprang auf. »Hey, Ezzy, was, zum Teufel, machen Sie denn hier?«
»Tut mir leid, dass ich Sie aus Ihrer Nachtruhe gerissen hab, Frank. Lassen Sie sich von mir nicht stören. Ich hab noch ein paar Akten da, die rausmüssen.«
Der Deputy sah zur großen Wanduhr auf. »Um diese Zeit?«
»Ich konnte nicht schlafen. Und deshalb hol ich noch meine restlichen Sachen, wo ich jetzt offiziell weg bin. Sheriff Foster wird sicher gleich morgen einziehen wollen.«
»Ja, wahrscheinlich. Was halten Sie von ihm?«
»Guter Mann. Er wird ein tüchtiger Sheriff werden«, antwortete Ezzy aufrichtig.
»Kann sein, aber Ezzy Hardge ist er nicht.«
»Danke, Frank.«
»Tut mir leid, dass ich gestern Abend nicht zu dem Essen kommen konnte. Wie war’s denn?«
»Sie haben nichts verpasst. Ich hab mich noch nie in meinem Leben so gelangweilt.« Ezzy ging in sein Büro und machte Licht, wahrscheinlich zum letzten Mal. »Endlose Reden! Man braucht den Leuten nur ein Mikrofon in die Hand zu drücken, und sie können gar nicht mehr aufhören zu quasseln.«
»Na, Sie sind schließlich eine lebende Legende, Ezzy. Über so jemanden gibt’s viel zu sagen.«
Ezzy räusperte sich laut und nachdrücklich. »Ich bin nicht mehr Ihr Chef, Frank – aber wenn Sie weiter so reden, werd ich handgreiflich. Haben Sie vielleicht eine Tasse Kaffee für mich? Die könnte ich jetzt gebrauchen.«
»Klar. Kommt sofort.«
Unfähig, nach Coras grober Zurückweisung und diesem Abend, der ihn doch sehr aufgewühlt hatte, Schlaf zu finden, war er wieder aufgestanden, hatte sich angezogen und aus dem Haus geschlichen. Cora verfügte über ein Radarsystem wie eine Fledermaus, mit dem sie jede Bewegung und jedes Geräusch, das er machte, unweigerlich aufnahm. Er hatte keine Lust gehabt, sich von ihr vorhalten zu lassen, wie albern es sei, mitten in der Nacht loszuziehen, um etwas zu erledigen, wofür er sich eine Woche Zeit lassen durfte.
Aber da man ihn nun einmal in den Ruhestand versetzt hatte, sagte er sich, wollte man ihn bestimmt auch nicht mehr sehen – ganz gleich, wie oft man ihm versicherte, dass er im Sheriffsamt von Blewer County jederzeit willkommen sei. Und den anderen auf die Nerven zu fallen oder so ein jämmerlicher alter Knacker zu werden, der sich an den Glanz vergangener Tage klammerte und nicht wahrhaben wollte, dass er weder gebraucht wurde noch erwünscht war – das kam keinesfalls infrage.
In Selbstmitleid wollte er sich wirklich nicht suhlen, aber genau das tat er wohl jetzt gerade.
Er dankte dem Deputy, als dieser ihm einen dampfenden Becher Kaffee auf den Schreibtisch stellte. »Machen Sie bitte die Tür zu, wenn Sie rausgehen, Frank. Ich möchte Sie nicht stören.«
»Sie stören mich nicht. Ist eine ruhige Nacht.«
Trotzdem zog Frank die Tür hinter sich zu.
Ezzy ging es in Wirklichkeit nicht darum, den Deputy nicht zu stören. Er selbst wollte bei seiner Arbeit unbehelligt sein. Die amtlichen Akten waren selbstverständlich keine Geheimsache, sondern allen anderen Vollzugsbehörden – wie zum Beispiel der städtischen Polizei, dem Ministerium für Innere Sicherheit, den Texas Rangers – zugänglich, mit denen sein Amt zusammenarbeitete.
Aber die Aktenschränke in Ezzys Büro enthielten auch persönliche Aufzeichnungen – Listen von Fragen, die einem Verdächtigen zu stellen waren; Angaben zu Zeiten, Daten, Personen in Verbindung mit einem Fall; Aussagen von zuverlässigen Informanten oder Zeugen, die anonym zu bleiben wünschten. Größtenteils waren diese Aufzeichnungen in einer Art Kurzschrift niedergelegt, die er selbst entwickelt hatte und die nur er lesen konnte – meist mit einem Zweierbleistift auf irgendeinen Fetzen Papier gekritzelt, der zum betreffenden Zeitpunkt gerade zur Hand gewesen war. Ezzy sah sie als so privat an wie ein Tagebuch. Weit anschaulicher als die blumigen Reden, die er sich am vergangenen Abend im Gemeindezentrum hatte anhören müssen, dokumentierten sie sein Arbeitsleben.
Er trank einen Schluck Kaffee, rollte in seinem Sessel zu dem Aktenschrank aus Stahl hinüber und zog die unterste Schublade auf. Die Hefter waren nach Jahren geordnet. Die frühesten entnahm er zuerst, blätterte sie durch, fand sie nicht wert, aufgehoben zu werden, und versenkte sie in dem hässlichen braunen Metallpapierkorb voller Beulen, der schon so lange hier Dienst tat wie er selbst.
Systematisch leerte er eine Schublade nach der anderen und näherte sich unerbittlich dem Jahr 1975. Als er dort anlangte, war der Kaffee in seinem Magen sauer geworden und stieß ihm auf.
Eine Akte unterschied sich deutlich von den anderen; sie war umfangreicher und noch abgegriffener, ein Packen brauner Hefter, die ein breites Gummiband zusammenhielt. Die schmutziggrauen, an vielen Stellen eingerissenen oder welligen Ränder der Hefter erzählten ihre eigene Geschichte: wie oft die Unterlagen herausgenommen und durchgeblättert worden waren, wie oft Ezzy bei ihrem Studium seinen Kaffee über sie verschüttet hatte, wie oft sie wieder zwischen die weniger bedeutsamen Akten in die Schublade hineingequetscht worden waren, nur um sehr bald wieder herausgezogen und neuerlichem Studium unterworfen zu werden.
Er streifte das Gummiband ab und schob es über sein dickes Handgelenk. Dort befand sich bereits ein Kupferarmband, weil Cora behauptete, Kupfer sei gut gegen Arthritis – bis jetzt hatte er allerdings nichts davon gemerkt.
Nachdem er die Hefter in einem Stapel auf seinem Schreibtisch aufgebaut hatte, trank er von dem frischen Kaffee, den der Deputy ihm freundlicherweise gebracht hatte, und schlug dann den obersten auf. Das erste Blatt war eine Seite aus dem Jahrbuch der Highschool von Blewer County. Ezzy erinnerte sich genau an den Tag, an dem er sie aus dem Buch herausgerissen hatte. Abschnitt »Oberklassen«, dritte Reihe von oben, zweites Bild links: Patricia Joyce McCorkle.
Sie blickte direkt ins Objektiv, mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen, sie hätte ein Geheimnis, das der Fotograf bestimmt liebend gern wissen würde. Unter der Rubrik »Wahlfächer« stand neben ihrem Namen: Chor, Spanisch, Hauswirtschaft. Ihr Tipp an die Mitschüler der unteren Klassen lautete: »Feiern, feiern, feiern!«
Schulabschlussfotos, bei denen man sich in Barett und Talar präsentieren muss, schmeicheln selten; Patsy jedoch sah extrem unattraktiv aus, schon deshalb, weil sie ohnehin keine Schönheit war. Sie hatte kleine Augen, eine breite, flache Nase, und der schmallippige Mund saß über einem fliehenden Kinn.
Aber beliebt war sie trotzdem gewesen, besonders bei den Jungen. Sehr schnell hatte Ezzy herausbekommen, dass Patsy McCorkle mehr Verehrer um sich versammelte als alle anderen Mädchen ihres Jahrgangs. Weil sie, wie eine ihrer Mitschülerinnen – die jetzt die Texaco-Tankstelle in der Crockett Street betrieb – ihm verlegen erklärt hatte, »jeden rangelassen hat, Sheriff. Sie verstehen, was ich meine?«
Ezzy verstand. Diese Mädchen, die »jeden ranließen«, hatte es auch zu seiner Schulzeit schon gegeben, und jeder wusste, wer sie waren.
Aber Patsys zweifelhafter Ruf hatte es ihm nicht leichter gemacht, an jenem heißen Morgen im August ihre Eltern aufzusuchen und ihnen jene Nachricht zu überbringen, die keine Mutter und kein Vater hören wollen.
McCorkle war Angestellter der Versorgungsbetriebe. Ezzy kannte ihn flüchtig, befreundet waren die beiden Männer nicht. McCorkle kam ihm entgegen, noch ehe er die vordere Veranda erreicht hatte. Er stieß die Fliegengittertür auf und sagte gleich als Erstes: »Was hat sie angestellt, Sheriff?«
Ezra bat, eintreten zu dürfen. Auf dem Weg durch die sauber aufgeräumten Zimmer zur Küche, wo schon Kaffee aufgesetzt war, berichtete McCorkle ihm, dass seine Tochter in letzter Zeit völlig außer Rand und Band sei.
»Es ist überhaupt nichts mit ihr anzufangen. Sie hat ihren Wagen demoliert, weil sie viel zu schnell und rücksichtslos fährt. Sie kommt jede Nacht erst in den frühen Morgenstunden nach Hause, trinkt bis zum Umfallen, steht dann morgens im Bad und reihert. Sie raucht Zigaretten, und ich möchte nicht wissen, was sonst noch. Patsy hält sich an keine unserer Regeln und versucht nicht einmal, es zu verheimlichen. Sie weigert sich, ihrer Mutter und mir zu sagen, mit wem sie ausgeht; aber ich habe gehört, dass sie sich mit diesen Herbolds rumtreibt. Als ich ihr deswegen Vorhaltungen machte und ihr verbieten wollte, sich mit solchen Kriminellen einzulassen, sagte sie, das ginge mich verdammt noch mal rein gar nichts an. Genau das waren ihre Worte. Sie könne ausgehen, mit wem sie wolle, auch mit verheirateten Männern, wenn es ihr Spaß mache. Wirklich, so, wie sie sich in letzter Zeit benimmt, Sheriff, traue ich ihr fast alles zu.«
Er reichte Ezzy eine Tasse frisch gebrühten Kaffee. »Es konnte gar nicht ausbleiben, dass sie irgendwann mit dem Gesetz in Konflikt geraten würde. Und da sie heute Nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen ist, habe ich Sie eigentlich schon erwartet. Was hat sie angestellt?«, wiederholte er.
»Ist Ihre Frau da?«
»Sie ist oben … schläft noch.«
Ezzy nickte, sah zu seinen schwarzen Stiefeln hinunter, dann hinauf zu den gerüschten weißen Vorhängen am Küchenfenster, hinüber zu der roten Katze, die um ein Bein des Tisches strich, auf dem sein Kaffeebecher stand.
»Ihre Tochter ist heute Morgen tot aufgefunden worden, Mr. McCorkle.«
Diesen Teil seiner Arbeit hasste er. Zum Glück kam es nicht allzu häufig vor, dass er den Leuten solche Hiobsbotschaften ins Haus bringen musste – sonst hätte er sich wahrscheinlich schon längst nach einer anderen Tätigkeit umgesehen. Es ging verdammt an die Nieren, einem Menschen ins Auge zu blicken, dem man soeben eröffnet hatte, dass sein Kind oder Partner nie wieder nach Hause kommen würde. Und es war doppelt schwer, wenn der Betroffene sich noch Augenblicke zuvor im Zorn über den oder die Verstorbene geäußert hatte.
Alle Muskeln im Gesicht des Mannes schienen zu erschlaffen – wie durchgeschnitten. Nach diesem Tag sah McCorkle nie wieder aus wie früher. Die Leute im Ort machten ihre Bemerkungen über die Veränderung. Ezzy konnte auf den Moment genau sagen, wann sie stattgefunden hatte.
»Ein Autounfall?«, stieß McCorkle hervor.
Ezzy wünschte, es wäre so. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Sie – äh – sie wurde kurz nach Tagesanbruch gefunden, draußen im Wald, am Fluss.«
»Sheriff Hardge?«
An der Küchentür stand Mrs. McCorkle in einem leichten Morgenrock mit Gänseblümchenmuster. Ihr Haar war aufgedreht, und ihre Augen waren vom Schlaf verquollen.
»Sheriff Hardge? Entschuldigen Sie, Ezzy?«
Ezzy drehte den Kopf zur Tür seines Büros und zwinkerte verwirrt den Deputy an. Er hatte vergessen, wo er war. Seine Erinnerung hatte ihn zweiundzwanzig Jahre in die Vergangenheit katapultiert. In der Küche der Familie McCorkle hörte er nicht Frank, sondern Mrs. McCorkle seinen Namen sagen, fragend und mit einem Anflug von Angst.
Er rieb sich die müden Augen. »Ja, Frank. Was ist denn?«
»Ihre Frau ist am Telefon. Sie wollte wissen, ob Sie hier sind.« Er zwinkerte. »Was soll ich ihr sagen?«
»Schon gut, Frank. Danke.«
Kaum meldete er sich, fiel Cora umgehend zornig über ihn her. »Was ist das für eine Art, dich aus dem Haus zu schleichen, während ich schlafe, und mir nicht zu sagen, wo du hinwillst?«
»Ich hab dir doch einen Zettel geschrieben.«
»Ja, da steht drauf, du wärst im Büro. Wie sollte ich das verstehen? Schließlich bist du gestern offiziell in den Ruhestand getreten.«
Er musste lächeln. Vor sich sah er sie zu ihrer vollen Größe von einem Meter fünfundfünfzig aufgerichtet, kerzengerade, als hätte sie ein Lineal im Rücken, die Hände in die Hüften gestemmt, mit blitzenden Augen. Es war ein Klischee, aber es passte: Im Zorn war Cora noch hübscher als sonst.
»Ich wollte dich eigentlich zum Frühstück im IHOP einladen, aber wenn du so ungenießbar bist, such ich mir vielleicht eine andere.«
»Als ob irgendeine andere sich überhaupt mit dir abgeben würde!« Nach einer gekränkten Pause fügte sie hinzu: »Ich bin in zehn Minuten fertig. Lass mich nicht warten.«
Er räumte auf, bevor er ging, und verstaute, was er aufbewahren wollte, in Kartons, die die Gemeinde aufmerksamerweise bereitgestellt hatte. Frank half ihm, die Kartons zum Wagen hinauszutragen. Als alles im Kofferraum untergebracht war, gab er Ezzy die Hand. »Wir sehen uns, Ezzy!«
»Machen Sie’s gut, Frank!«
Erst nachdem der Deputy wieder hineingegangen war, legte Ezzy die McCorkle-Akte zu den anderen. Er würde den Kofferraum nicht in Coras Beisein auspacken. Ein Blick auf die Akte, und sofort wüsste sie, was ihn mitten in der Nacht aus dem Bett getrieben und die vergangenen Stunden beschäftigt hatte. Dann würde sie wirklich sauer sein.
3
»Morgen ist es so weit, denk dran«, flüsterte Carl Myron zu.
»Klar, Carl. Ich denk dran.«
»Mach also bloß keinen Quatsch. Nicht dass du am Ende passen musst!«
»Bestimmt nicht, Carl.«
Total behämmert, dachte Carl, Myron in die wasserhellen Augen blickend, hinter denen sich nichts als geistige Öde dehnte.
Obwohl es eigentlich nicht ganz fair war, Myrons Verhalten in Zweifel zu ziehen, wo er selbst doch beinahe alles verpfuscht hätte. Zwar hatte er nur seine Haut retten wollen; aber wenn er noch einmal in so eine Situation geriete, würde er sich nicht mehr wehren.
Als dieser Nigger sich auf ihn gestürzt hatte, hatte er rotgesehen. Es hatte vier Männer gebraucht, ihn ins Krankenhaus zu befördern und im Bett festzuschnallen. Und selbst da noch hatte er es geschafft, den Pfleger in den Arm zu beißen. Ein Beruhigungsmittel hatten sie ihm nicht geben können, weil sie seinen Kopf noch nicht untersucht hatten, um das Ausmaß seiner Verletzung festzustellen.
Von mörderischen Kopfschmerzen geplagt, hatte er den Rest des Tages und die ganze Nacht getobt und gewütet. Er hatte gebrüllt wie ein Wahnsinniger und gegen Gott, den Teufel und die Nigger gewettert, die ihn womöglich seine einzige Chance auf Flucht gekostet hatten.
Rückblickend war ihm klar, dass es gescheiter gewesen wäre, still im Dreck liegen zu bleiben und sich von diesem Gewichtheber dreschen zu lassen, bis die Wärter angerückt wären und ihn weggezogen hätten. Wie viel mehr Schaden hätte er in den paar Sekunden schon anrichten können?
Man hatte eine leichte Gehirnerschütterung bei ihm festgestellt. Carl hatte sich ein paarmal übergeben, etwas unscharf gesehen; aber bis zum Spätnachmittag des folgenden Tages war das ausgestanden. Er hatte Kopfschmerzen gehabt, gegen die alle Schmerzmittel nichts ausrichteten. Schließlich waren sie von selbst vergangen. Seine Nieren taten ihm zwar weh, aber der Arzt hatte gesagt, es werde kein dauernder Schaden bleiben.
Ein paar unangenehme Tage folgten, aber er war dankbar gewesen für die Verletzungen. Sie zeigten dem Wärter, dass er das Opfer war und nur versucht hatte, sich zu verteidigen, indem er nach dem anderen Häftling trat.
Es war Carl höchste Genugtuung gewesen, das Krankenhaus heil und auf eigenen Füßen verlassen zu können, während der Nigger sich immer noch mit seinen geschwollenen Eiern quälte. Sie waren zu so grotesker Größe aufgegangen, dass das ganze Krankenhaus darüber witzelte; genauso wie über den Katheter, den man ihm in den Schwanz gesteckt hatte. Und bei der kleinsten Bewegung flennte er wie ein Säugling.
Letztendlich war also doch noch alles gut gegangen. Der Arzt hatte ihn gesund geschrieben – das hieß, dass er auch für den Straßenbau einsatzfähig war. Einmal mit knapper Not am Scheitern seiner Pläne vorbeigeschrammt, wollte er nun auf keinen Fall mehr ein Risiko eingehen.
Seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er von den anderen Häftlingen, außer Myron, Abstand gehalten. Er redete mit niemandem, sah keinen schief an, schon gar nicht die Schwarzen. Mit Genuss hätte er vor seinem Verschwinden aus dem Bau noch einen von ihnen umgelegt, zum Dank für alles, was sie ihm im Lauf der Jahre angetan hatten; aber man musste in größeren Zusammenhängen denken, und da war es die Sache einfach nicht wert. Die Kerle bluten zu sehen, würde ihm vielleicht ein paar flüchtige Momente schadenfroher Befriedigung bringen, aber hinterher wär’s aus und vorbei. Er würde nie mehr rauskommen. Und er hatte eine Riesensehnsucht, die Sonne Mexikos zu sehen und die exotischen Genüsse zu kosten, die dieses Land bot.
Aber zuerst musste er hier raus.
Heute hatten sein und Myrons Name auf der Liste gestanden. Morgen war der große Tag. Nur auf ihn hatte er gewartet, auf ihn hin alles geplant. In wenigen Stunden würde er ein freier Mann sein. Wenn alles glattging. Es konnte immer noch alles Mögliche schieflaufen. Deswegen hatte er auch solches Magenflattern, dass er kaum die Wurst und das Sauerkraut auf seinem Teller runterbrachte.
Aber er aß das Zeug, um nicht aufzufallen, um keinen Verdacht zu erregen.
»Myron, bevor du heut Abend einschläfst, versuch, den Plan noch mal genau durchzugehen.«
Ein Löffel voll Sauerkraut verschwand in Myrons Mund. »Welchen Plan, Carl?«
»Ach, Scheiße«, knurrte Carl. Das war ja hoffnungslos. Wie oft hatten sie die Sache durchgesprochen? Wenn dieser Idiot ihm alles kaputtmachte, würde er ihn mit bloßen Händen erwürgen. Mit einem tiefen Seufzer der Resignation sagte er: »Schon gut, Myron. Lass mal. Bleib morgen einfach wie ’ne Klette an mir dran.«
»Okay, Carl.«
»Wenn ich dir sag, was du tun sollst, dann tust du’s, okay?«
»Okay.«
»Keine Widerreden und keine Diskussion, du tust es einfach, okay?«
»Okay.«
Los, schieb deinen Schwanz in den Fleischwolf, Myron, okay? Okay, Carl.
Carl, der vor Frust am liebsten laut gebrüllt hätte, rief sich ins Gedächtnis, dass dies genau die blinde Ergebenheit war, die er wollte und brauchte. Er war der Boss, er hatte das Sagen. Er war der verwegene, gutaussehende, mit allen Wassern gewaschene Ladykiller und Stratege. Bei so einem Unternehmen konnte nur einer die Befehle geben. Die anderen mussten spuren.
Also eine ideale Voraussetzung, dass Myron nichts im Kopf hatte und ihm sklavisch ergeben war! Mal angenommen nämlich, er würde zu Myron sagen, schneid dem Scheißwärter die Kehle durch, dann würde Myron das brav erledigen.
Er hatte Carl ohne Scham und Reue Geschichten aus seiner Kindheit erzählt, denen man nur entnehmen konnte, dass der kleine Myron Hutts ein total kranker Typ gewesen war: ein Junge, der nach Art eines Ein-Mann-Vernichtungskommandos sämtliche kleinen Haustiere in seiner Heimatgemeinde und den umliegenden Gebieten abgemurkst hatte, ehe die Polizei ihn schnappte und in die Psychiatrie verfrachtete. Familienangehörige hatten die Behörden mit Anträgen und Gesuchen bombardiert, bis er schließlich aus der Klapsmühle entlassen wurde. Ihre Freude darüber währte nicht lange.
Myron hatte ganz sachlich von dem Massaker berichtet. »Plop hat’s gemacht, und Oma ist die Perücke vom Kopf geflogen. Direkt in die Suppenschüssel.«
Diesen Teil erzählte Myron besonders gern, weil Oma mit Vorliebe Myrons Kopf als Perückenkopf benutzt hatte, wenn sie ihr Kunsthaar frisch ondulieren wollte. Die anderen hatten sich kaputtgelacht über den Anblick des langen, schlaksigen Myron in Großmutters grauer, mit rosaroten Schaumgummiwicklern gespickter Perücke.
Sein Kopf hatte außerdem als Punchingball herhalten müssen, wenn sein Vater im Suff ausgeflippt war. Von einem dieser Exzesse hatte Myron einen Hirnschaden davongetragen. Sein liebender Vater hatte den Kopf seines zweijährigen Sohnes wiederholt gegen den Heizkörper gedonnert. Es war Sommer gewesen und der Heizkörper kalt, aber das hatte den Schaden nicht gemindert.
Mit diesem Tag war Myron zum billigen Ziel verbaler und körperlicher Gewalt geworden. In der Schule wurde er gehänselt, von den Klassenrowdys regelmäßig misshandelt. Aber viel schlimmer war, dass seine eigene Familie – Dad, Mam, Schwester und Oma – den Jungen zu ihrem Amüsement quälte und demütigte.
An dem Abend, an dem Myron mit einer Axt und einer Flinte zum Essen kam, verging ihnen das Lachen.
Er schlachtete seine ganze Familie ab. Es war ein Wunder, dass er angesichts dieses Gemetzels nicht wegen Geisteskrankheit für unzurechnungsfähig erklärt und in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden war. Höchstwahrscheinlich hatte irgendein scharfer Staatsanwalt argumentiert, Myron wäre helle genug für den Knast; wenn man ihn in eine Anstalt einwiese, anstatt ihn auf Lebenszeit in einem Hochsicherheitsgefängnis in Verwahrung zu nehmen, bestünde die Gefahr, dass irgendein Schlaffi von einem Psychiater ihn für »geheilt« erklären und wieder auf die ahnungslose Menschheit loslassen würde. Und tatsächlich zeigte Myron nicht die geringsten Skrupel zu töten. Ob es Tiere oder Menschen waren, ganz gleich, Carl hatte oft genug zugesehen, wie Myron kleine Tiere stundenlang quälte, ehe er sie tötete.
O ja, Carl brauchte einen Myron. Man konnte natürlich auch argumentieren, dass er Myron genauso gnadenlos missbrauchte, wie es früher die Rowdys in der Schule getan hatten. Aber auf dem Ohr war Carl taub.
In einem plötzlichen Anfall von Zuneigung für den Mann, der ihn offensichtlich vergötterte, beugte sich Carl über den Tisch und lächelte seinem Verbündeten zu. »Hab ich dir schon mal gesagt, was ich tu, wenn ich hier raus bin, Myron?«
»Du suchst dir ’ne scharfe mexikanische Tussi.«
Carl lachte. »Das hast du nicht vergessen, was, Myron?«
»Ne, hab ich nicht vergessen.« Myron grinste, den Mund voll halb gekauter Wurst.
»Und was noch?«, fragte Carl. »Was tu ich noch?«
Myron schluckte geräuschvoll sein Essen hinunter. »Du legst die Arschlöcher um, die dich in den Knast gebracht haben.«