ROTZIG & ROTZIG
Kriminalroman
Von Jörg Juretzka liegen bei Rotbuch außerdem vor:
Freakshow (1. Aufl. 2011)
Fallera (2. Aufl. 2011)
Prickel (4. Aufl. 2011)
Alles total groovy hier (2. Aufl. 2009)
Der Willy ist weg (4. Aufl. 2009)
ISBN 978-3-86789-554-5
© 2010 by BEBUG mbH/Rotbuch Verlag, Berlin
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Umschlagabbildung: Fotolia, Seen
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Rotbuch Verlag
Alexanderstraße 1
10178 Berlin
Tel. 01805/30 99 99
(0,14 Euro/Min., Mobil abweichend)
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FÜR CORA UND VERENA
Speziellen Dank an
Moon Martin für »Bad News«
Sämtliche Figuren dieses Romans
sind frei erfunden.
Das Kreischen begann ansatzlos zehn Etagen über mir. Es näherte sich rasant und endete mit einem scharfen und doch dumpfen Klatschen, wie die Hand eines Riesen auf einem kolossalen Klumpen Teig, inmitten der rechtwinklig eingefassten Kackrasenfläche direkt vor meinen Füßen.
Der Mann war noch nicht ganz aufgeschlagen, noch nicht ganz tot, als am Kellergeschoss eine Stahltür aufsprang und zwei rotznasig und unterernährt wirkende Jungs von vielleicht neun oder zehn Jahren herausstürmten, sich auf den Leichnam stürzten und ihm ebenso ungerührt wie routiniert die Taschen auf links zogen.
Ich hatte instinktiv ein paar Schritte rückwärts gemacht und stand nun da, schockgefroren, die Flanke meines Toyotas im Kreuz, Katzenkorb an der Hand, Pappkarton mit CDs, Dosenbier, Rasierzeug und anderem Lebenswichtigem unterm Arm, und fühlte mich von einer Sekunde auf die andere geradezu wundervoll eingestimmt auf den Job, den ich da angenommen hatte.
Ein alter Mann mit einer Lidl-Tüte schlurfte vorbei, ohne sich groß an dem Toten oder den beiden Leichenfledderern zu stören. Ein tätowiertes Pärchen mit einem Kinderwagen hingegen hielt an, drehte den Wagen so, dass der Kleine einen guten Blick hatte, und stand dann mit hängenden Lidern und Kiefern einfach da und glotzte.
Manche Stadtviertel versprühen einen solch eigenen, unnachahmlichen Charme, dass man sich insgeheim fragt, wann wohl die Touristenbusse anrollen.
»Nix«, sagte der eine der beiden Knaben genervt.
»Hier auch nicht.« Der andere erhob sich, spuckte aus und kickte den Leichnam zum Abschied in die Seite.
»Äh, Moment mal«, mischte ich mich ein.
Die beiden tauschten einen gereizten Was-will-er-denn?-Blick. Sie zogen praktisch simultan die Nasen hoch, drehten sich zu mir, und während mich der eine von oben bis unten musterte, machte der andere das Gleiche mit meinem Wagen. Nichts von beidem schien sie sonderlich zu beeindrucken.
»Ziehst du hier ein?«, wollte der eine wissen.
»Nein, ich mache hier Urlaub.«
»Schöne Reifen«, fand der andere. »Zwar nicht mehr viel Profil drauf, aber noch ordentlich Luft drin.«
»Fünf Euro die Woche, damit das auch so bleibt«, forderte der Erste und ließ spielerisch ein Butterfly-Messer auf- und wieder zuklappen.
»Drei Euro. Im Monat«, sagte ich langsam, »und wir sind möglicherweise im Geschäft.« Wer klug ist, weiß, wann er nicht gewinnen kann.
»Zehn. Im Voraus.«
»Im Voraus? Vergesst es.« Doch man muss auch nicht gleich jeden Blödsinn mitmachen.
Von irgendwo aus der Ferne jaulte ein Martinshorn heran.
Die beiden tauschten einen ihrer raschen Blicke, machten auf der Hacke kehrt und verschwanden ohne ein weiteres Wort im Hauseingang.
Das Jaulen kam näher. Irgendwie war mir nicht danach, als Zeuge befragt zu werden.
Mit einem letzten Aufwallen von Hoffnung, mich wie auch immer in der Adresse geirrt zu haben, verglich ich die Hausnummer mit der auf meinem Zettel, seufzte, packte mein Gepäck mit festem Griff und ging den beiden hinterher.
Der Flur war niedrig, schlecht beleuchtet, noch schlechter belüftet und bis auf Schulterhöhe mit eitergrünen Kacheln von exemplarischer Scheußlichkeit gefliest. Kunstlose, aggressiv und sinnlos wirkende Graffiti wucherten über sämtliche Oberflächen.
Immerhin, es gab einen Lift. Die Jungs standen davor. Der eine hieb seine flache Hand rhythmisch auf den Rufknopf, während der andere im Takt dazu gegen die Tür trat.
Ich fragte mich, ob er auch derjenige gewesen war, der der Leiche eins verpasst hatte. Zu sagen war es nicht. Ihre Ähnlichkeit war verblüffend.
»Davon kommt der Aufzug auch nicht schneller«, meinte ich.
Wieder dieser doppelte, flüchtige, automatisch genervte Blick.
»Klugscheißer«, sagte der eine, und sie verzogen sich ohne ein weiteres Wort ins Treppenhaus.
Ich wartete. Drückte, nur zur Sicherheit, noch mal den Knopf.
Das Sirenengejaule draußen schwoll an, bis es, knapp vor der Unerträglichkeit, gnädigerweise erstarb. Ein Krankenwagen stoppte vor dem Haus. Blaulicht flackerte in den Flur, Türen klappten, eine Funkgerät-Stimme knarzte.
Aus dem Aufzugschacht kam kein Ton. Die Katze jankte in ihrem Korb.
Ich wartete. Drückte den Knopf. Nichts. Mein Auto war vollgestopft mit Umzugskrempel, den ich auf keinen Fall Stück für Stück und Stufe für Stufe in die zehnte Etage hochschleppen wollte.
Ein Streifenwagen gesellte sich zur Ambulanz. Irgendjemand forderte irgendjemanden auf, zur Seite zu gehen, Platz zu machen für die Rettungskräfte.
Ich drückte noch mal auf den Knopf, dann noch mal. Nichts. Die Katze maulte. Schließlich, am Ende meiner Geduld, gab ich der Tür einen entnervten Kick.
»Ha!« Die beiden Rotznasen linsten um die Ecke, hinter der sie die ganze Zeit gelauert hatten, und grinsten breit.
»›Davon kommt der Aufzug auch nicht schneller‹«, äfften sie mich im Chor nach und verschwanden gackernd. Resigniert nahm ich den Katzenkorb auf und das Treppenhaus in Angriff.
Zehn Etagen höher, schwindelig von den vielen Windungen und keuchend in der beständig dünner werdenden Luft, durfte ich dann feststellen, dass irgendein Genie sein Fahrrad so im Flur abgestellt hatte, dass der Vorderreifen die Aufzugtür am Schließen hinderte.
Ich dachte kurz daran, an sämtlichen Wohnungstüren der Etage zu klingeln, den Besitzer zu finden und ihm seinen Vorderreifen zu fressen zu geben, doch war ich nach dem Aufstieg leider noch nicht wieder bei Atem, geschweige denn bei Kräften.
Nur die Anfertigung und gut sichtbare Anbringung eines großen, mit
FAHRRÄDER
IM HAUSFLUR ABSTELLEN
STRENGSTENS VERBOTEN!
beschrifteten Schildes war schon beschlossene Sache. Ein Ruck am Lenker, die Tür fiel zu und der Aufzug sackte mit dem Fauchen von Zugluft davon.
Ich kramte den Wohnungsschlüssel aus meiner Jacke, las die Nummer ab und zählte mich den halbdunklen Flur hinunter an den Türen entlang. Hätte ich nicht gebraucht, weder das Zählen noch den Schlüssel. Denn erstens war die Tür unmissverständlich mit ›Hausmeister‹ beschriftet, zweitens stand sie offen.
Halboffen, um genau zu sein, und dahinter waren die Geräusche einer hastigen und dabei jeglicher Heimlichkeit entbehrenden Durchsuchung zu vernehmen.
Mit einer Mischung aus in den Schmodder sinkender Laune bei gleichzeitig hochkochender Mordlust setzte ich den Pappkarton ab, um zumindest eine Hand frei zu haben. Ich kannte das hier, ich kannte das alles aus dem doppelt so hoch aufgeschichteten Slum in der Mülheimer City, den ich Heim nenne.
Kurz entschlossen kickte ich die Tür auf. Und war nicht weiter überrascht, dem genervten Doppelblick der Herren Rotzig & Rotzig zu begegnen.
»Okay«, bellte ich. »Hände, wo ich sie sehen kann. Dann Taschen leer. Alles – und ich meine alles – hier vor mir auf den Tisch.« Mit einer einzigen, ruppigen Armbewegung fegte ich das Sammelsurium aus leeren Gläsern, vollen Aschenbechern, dreckigem Plastikbesteck und Papp- und Aluschalen mit angegessenen und dann lange, lange Zeit sich selbst überlassenen Fertiggerichten von der Tischplatte hinunter auf den Boden, wo es sich mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit ins weitere Ambiente einfügte.
»Wird’s bald? Ich warte.«
Ich konnte spüren, wie sie in Gedanken nach kurzem Antäuschen links und rechts unter meinen ins Leere greifenden Händen hindurch an mir vorbei davonwieselten. Rasch setzte ich den Katzenkorb ab, knallte die Wohnungstür mit der Hacke zu und baute mich drohend davor auf.
»Alles!«
Die beiden blickten bockig. Da dies unmöglich das erste Mal sein konnte, dass man sie bei irgendetwas erwischte, erwartete ich das übliche Fünf-Punkte-Standardprogramm.
»Du hast uns überhaupt nix zu befehlen«, begann es denn auch, mit der zu erwartenden Widerborstigkeit, gemischt allerdings mit einer gewissen Vorsicht angesichts eines gereizten, unbekannten, männlichen Erwachsenen.
Mir fiel auf, dass mir das alles überhaupt keinen Spaß machte. Doch wenn ich die beiden jetzt einfach ziehen ließe, würden sie mir für die gesamte Dauer meines Aufenthaltes hier auf der Nase herumtanzen. Also für Tage, schlimmstenfalls Wochen. Sie und wer weiß wie viele ihrer gleichaltrigen Kollegen. Ein schon im Ansatz entnervender Gedanke.
»Taschen leer«, wiederholte ich stoisch.
»Aber wieso denn? Wir haben doch nix getan.«
Die weinerliche Nummer, jetzt. Zweites Häkchen auf der stark von eigenen jugendlichen Erfahrungen geprägten Liste.
»Das sehen wir dann.«
»Bist du etwa der neue Hausmeister?«
Ablenkung. Drittes Häkchen.
Ich schwieg. Wohl auch, weil ich mich irgendwie noch schwertat, diese Frage mit einem lockeren ›Ja‹ zu beantworten.
»Und selbst wenn, hast du kein Recht …«
Die juristische Karte. War die ausgespielt, müsste eigentlich eine wie auch immer geartete Drohung folgen.
»Ich erwische euch beim Einbruch in meine Wohnung und habe jedes Recht der Welt«, behauptete ich.
»Also bist du doch der neue Hausmeister.«
»Ja. Und ich warte.«
»Wenn du uns nicht gehen lässt, erzählen wir unserm Stief, dass du uns begrapschen wolltest.«
»Ja, und dass du uns deinen Pimmel gezeigt hast.«
Das, musste ich neidlos eingestehen, hatten Scuzzi und ich noch nicht draufgehabt, damals.
»Einverstanden. Da komme ich direkt mit, zu eurem Stief. Doch zuerst macht ihr eure Taschen leer.«
Sie gehorchten.
Kleingeld rasselte auf den Tisch, ein Handy, ein Schlüsselbund, zwei Schülerausweise, zwei Monatstickets, ein kleiner, zylindrischer, wasser- und staubdichter Behälter, anderswo auch als Filmdose bekannt, ein zur Hälfte gerauchter Joint, gleich zwei fette Eddings.
»Wenn du irgendwas davon abziehst, kannste schon mal ’nen Satz neue Schluffen ordern.« Das Butterfly-Messer schlug kurz mit den Flügeln.
»Ihr bringt mich noch so weit, dass ich mir selbst die Reifen zersteche und dann euren Stief auf Schadenersatz verklage.«
Der Bengel hatte das Klappmesser in etwa der Zeit auseinander und wieder zusammen, die es braucht, sich einen Tropfen von den Fingern zu schlackern. Ich konnte nicht anders, als ihm dabei zuzusehen.
»Hier, willst du auch mal?« Schmales Grinsen, schmale Klinge.
»Damit da anschließend meine Fingerabdrücke drauf sind? Und dann stellt sich raus, dass damit erst gestern eine alte Frau erstochen wurde? Ich bin doch nicht bekloppt.«
Ein Ruck aus dem Handgelenk, und er ließ das Messer wieder in seiner Jackentasche verschwinden.
»Hm«, machte er resigniert. »Die Sache werden wir wohl einem anderen Blödmann anhängen müssen.«
»Ihr könnt euren Scheiß wieder einpacken.« Es dauerte nur Sekunden. »Was habt ihr hier überhaupt gesucht?«
»Na, Tatta.« Pause. »Geld, halt. Er …« – vage Kopfbewegung – »braucht es ja nicht mehr.«
Im ersten Augenblick wollte ich fragen, doch dann dämmerte mir mit einem Anflug von Grausen, dass ich wohl Nachfolger in Job und Behausung eben des Mannes war, den sie gerade unten vorm Haus aus dem Rasen kratzten.
»Alter Perversling. Der wollte uns nämlich immer seinen Pimmel zeigen.«
»›Lass ihn mal schön in der Hose, Heini‹, haben wir dem immer zugerufen«, erinnerten sie sich und gackerten.
Muss lustig sein, mit so was begrüßt zu werden, wann immer man vors Haus tritt, dachte ich.
»Hausmeister halten sich nicht, hier bei uns«, schickte der eine dann etwas nüchterner hinterher.
Die ganze Zeit über standen die beiden nicht eine Sekunde still. Tigerten herum, tauschten die Positionen wie die Hütchen eines Hütchenspielers. Die Katze, die normalerweise nicht schnell genug aus ihrem Reisekorb herauskommt, blieb bei offener Tür drin sitzen und beobachtete das Geschehen aus schmalen Augen.
»Der davor hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Da drüben, in der Wanne.«
Ich wandte den Kopf und blickte ins triste gelbliche Bad mit seiner nackten Glühbirne und der rostigbraun verfärbten Sitzbadewanne. Depression griff nach mir wie ein Krake nach den Füßen eines Schiffbrüchigen.
»Hatte Krebs, wollte nicht mehr.«
»Und der davor, den haben sie abgestochen.«
»War schwul, der Typ. Und hat’s dann ausgerechnet bei den Hoodies versucht.«
Ich muss fragend geblickt haben, denn die beiden fanden es nötig, zu erklären.
»Die Nordpark Hoodies.«
»Unsere superharte Spielplatzgang.«
»Lauter Kanaken.«
»Alle halbwarm, sagt unser Stief immer über die.«
»Und um sich zu beweisen, dass sie eben nicht schwul sind, mussten die den Hausmeister abstechen, das arme Arschloch.«
»War wahrscheinlich nur einsam, meint der Stief.«
»So wie alle Hausmeister, die wir hier hatten.«
»Alle einsam, krank oder pervers.«
Und mittlerweile tot, fügte ich im Stillen hinzu.
Es ist die Abwechslung, sage ich immer gern, es sind die ständig neuen Erfahrungen, die den Detektivberuf so faszinierend machen.
»Und, habt ihr was gefunden, an Tatta?«
Kopfschütteln.
»Schon im Geschirrschrank nachgesehen? Zwischen den Tellern?«
Zwei Blicke voll plötzlichen Interesses trafen mich. Augenblicklich hatten sie einen Stuhl unter den Hängeschrank geschoben und erklommen, und das Porzellan klapperte unter ihren flinken Fingern wie in einer Sortiermaschine. Sekunden später hörte ich ein triumphierendes »Ha!«. Dann noch eins und noch eins.
Ich musste mich mit der Schulter gegen die Wohnungstür werfen, oder sie wären mir mitsamt Beute entwischt.
Erst nach längerem, forderndem Fingerschnippen bekam ich meinen Anteil ausgehändigt. Zwanzig Euro. Ein Drittel der wahrscheinlich gesamten Ersparnisse meines Vorgängers. Wenn auch nicht unbedingt seiner Hinterlassenschaft. Die beiden waren schon wieder halb aus der Tür, als ich sie noch mal zurückpfiff und jedem von ihnen eine der zahllosen, übervollen Mülltüten in die Hand drückte.
»Und wenn ich den Dreck gleich im Hausflur finde, könnt ihr euch auf was gefasst machen.«
Sie taten beeindruckt, dann waren sie weg, und ich erwartete, sie gegen die Aufzugtür treten zu hören. Stattdessen quietschte nach kurzem Fußgetrappel eine Tür in den Angeln und fiel wuchtig ins Schloss.
Neugierig trat ich raus in den Flur. Der Aufzug hatte hier oben Endstation, doch das Treppenhaus wand sich noch eine Etage höher. Oben fanden sich zwei Stahltüren. Die eine führte zum Maschinenraum des Aufzugs – abgeschlossen –, die andere raus aufs flache Dach.
Kies knirschte unter meinen Sohlen, als ich das Maschinenhaus umrundete.
Die beiden Rotzigen standen vor einem alten, krude an einen der Kamine angenagelten Briefkasten.
»Habt ihr den angebracht?«
»Ja klar. Für Abschiedsbriefe und so.« Der eine wedelte mit einem fleckigen Briefumschlag.
»Und wenn sich einer erst die Jacke ausziehen will, bevor er die Flatter macht«, sagte der andere und zeigte stolz auf einen Kleiderbügel, der von einem rostigen Nagel baumelte.
»Wollt ihr mir erzählen, hier springen öfter Leute runter?«
»Dauernd. Darum heißt die Bude hier ja auch Startbahn Nord. Wussteste nicht, wa?«
»Was ist das für ein Schreiben?«
Achselzuckend reichten sie mir den Brief rüber.
»Ist wohl eh für dich.«
Der Umschlag war mit ›An mein Nachfolger‹ adressiert. Er enthielt einen karierten DIN-A5-Bogen, ungelenk handbeschriftet mit nur einem einzigen Satz: Pass bloß auf auf die beiden Zwillinge.
»Ihr seid Zwillinge«, sagte ich.
»Das sieht man, oder?«, meinte der eine der beiden.
Ich nickte. Sie waren einander zum Verwechseln ähnlich. Dieselben laufenden Nasen, dieselben für die Jahreszeit eindeutig zu dünnen langärmeligen T-Shirts, dieselben auffallend akkurat geschnittenen blonden Haare.
»Aber zweieiige«, meinte der andere und griff sich demonstrativ an die Hose.
Ich lachte.
»Das ist unser größter Witz«, vertraute mir der Erste an. »Darüber lacht jeder.«
Ich nickte, lächelnd.
»Schwachköpfe natürlich zuerst«, sagte der Zweite.
Das wischte mir das Lächeln aus dem Gesicht und beendete auch das Nicken. Abrupt, kann man sagen.
»Wie heißt ihr eigentlich?«
»Üffes«, sagte der eine. Er hatte eine kleine weiße Narbe in der rechten Braue.
»Sien«, der andere. Er nicht. »Und wir müssen dann mal weiter.«
Üffes und Sien, dachte ich. Was sind das denn für Namen?
Erst als die Stahltür hinter den beiden zuklappte, fiel mir auf, dass die Mülltüten nirgendwo zu sehen waren.
Der Mief in der Wohnung trieb mich raus auf den Balkon. Unten schoben sie gerade den Zinksarg mit meinem Vorgänger in einen Leichenwagen.
Nein, entschied ich. Ging rein und griff zum Telefon. Es gab ein Freizeichen. Gut. Zumindest das. Dann stutzte ich. Öffnete meine Hand, Fläche nach unten, spreizte die Finger. Der Hörer blieb, wo er war.
Fünf Liter Sprit und ein Streichholz kreuzten den Pfad meiner Gedanken.
In der schmalen, düsteren, fettstarrenden, vor parasitärem Leben wimmelnden Küche fand sich nicht ein Lappen.
Schließlich wickelte ich im Bad einen Meter Scheißpapier ab, feuchtete ihn an und wischte damit am Hörer herum, bis er sich auch ohne Gewaltanwendung wieder von meiner Haut trennen ließ.
Dann wählte ich eine Nummer bei der WODEGA, ein Akronym, das ich nie ganz fehlerfrei aufgedröselt bekomme. Auf alle Fälle ist WODEGA, als Teil eines Immobilienkonzerns, die Betreibergesellschaft des Wohnparks Nord. Spengler meldete sich, einer der Geschäftsführer.
»Hören Sie«, sagte ich und überprüfte eine kunstlederne Sessellehne auf Klebrigkeit, bevor ich mich mit einer Arschbacke darauf niederließ, »Sie haben mir eine Wohnung zugesagt, und ich finde eine Müllhalde vor. Sie haben behauptet, der bisherige Hausmeister hätte von sich aus gekündigt, doch irgendwie kann ich das nicht so ganz glauben.«
Während ich sprach, sah ich mich um, wie man das so macht. Überall, egal wohin mein Blick auch wanderte, traf er auf leere Flaschen. Braune, leere Flaschen. Mal war nur ein Hals zu sehen, mal nur ein Boden, mal eine partielle, mal eine vollständige Seitenansicht. Ich stupste eine vor mir auf dem Boden leicht an, bis das Etikett hochrollte. Portwein. Urghs.
»Der Mann taugte einfach nichts, Kryszinski. Wir waren gezwungen, ihn zu entlassen.«
»Er ist tot. Vom Dach gesprungen, gerade, als ich vor dem Haus hielt.«
»Das ist ja furchtbar«, kommentierte Spengler in einem Tonfall, wie man ihn für ›Da kann man mal sehen‹ verwendet. Also eher, tja, unbewegt.
»Trotzdem sind das Verstöße gegen unsere Absprachen. Ich trete deshalb vom Vertrag zurück.«
»Kryszinski, es war Ihre Idee, für die Dauer Ihrer Ermittlungen inkognito die Stelle des Hausmeisters zu besetzen. Wir haben extra für Sie alle dafür nötigen … äh … Vorbereitungen getroffen.«
»Ich hatte das nur angeregt« sagte ich. Und die gingen hin und setzten einen Typen auf die Straße, der nicht die geringste Chance hatte, jemals wieder einen Job zu finden.
»Wie auch immer. Wenn Sie jetzt kneifen, müssen wir einen mobilen Hausmeisterservice engagieren. Plus einen anderen Detektiv. Und sämtliche dafür nötigen Aufwendungen, Kryszinski, werden wir Ihnen in Rechnung stellen und, falls nötig, einklagen.«
Ich legte auf. Sah mich um. Wie ein Verdammter. Mir blieb nur eine Wahl: sofort mit der Arbeit zu beginnen. Einziger Hinderungsgrund war eine überwältigende Lustlosigkeit.
Die Katze stakste angewidert durch den ganzen Dreck und blickte mich an, als hätte sie immer schon vorausgesehen, dass wir mal so enden würden.
Unter der Spüle fand sich eine staubige Rolle Mülltüten. Ich wickelte eine ab und stopfte wahllos Abfall hinein, bis sie voll war. Dann sah ich mich um. Es war kein Unterschied feststellbar. Resigniert griff ich mir die nächste. Und die übernächste. Und dann noch eine.
Es klopfte an der offenen Tür, und jemand trat ein, ohne mein Einverständnis abzuwarten.
»Ich werde zu einer Leiche gerufen, und auf wen treffe ich? Sie.« Menden. Hauptkommissar Menden. So lang, so hager, so angepisst wie nur eh und je. Ganz der Mann, für den man dereinst das Lied ›You are my sunshine‹ geschrieben haben könnte. Beide Hände tief in die Taschen eines Lodenmantels vergraben, musterte er mich mit Augen, die in Wärme und Farbgebung an den feinen Überzug erinnern, der sich in klaren Winternächten auf die Autoscheiben legt. »Und nicht nur das. Ich erwische Sie auch noch dabei, wie Sie in der Wohnung des Toten systematisch Spuren vernichten.«
»Das ist jetzt meine«, sagte ich.
Er drehte den Kopf von mir zur Aufschrift auf der offen stehenden Wohnungstür und wieder zurück. »Sie. Als Hausmeister.« Irgendwie wirkte der Hauptkommissar nicht recht überzeugt. Ob von meiner Intention oder aber Qualifikation war dabei unmöglich zu sagen.
»Außerdem gibt es hier nichts an Spuren zu sichern. Es war Selbstmord.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Er ist mir direkt vor die Füße gefallen. Und er hat mir das hier hinterlassen.«
Ich reichte Menden den Abschiedsbrief.
Er betrachtete den Umschlag, las die Textzeile. »Die Zwillinge«, sagte er.
»Gemeint sind wohl zwei ungefähr neun- oder zehnjährige Brüder. Die umtriebige Sorte.«
»Ah, ja. Ich hatte schon das Vergnügen. Sie wollten zwei Euro Schutzgebühr von mir. Für meine Autoreifen.«
»Günstig. Von mir haben sie fünf verlangt. Und – haben Sie gezahlt?«
»Ich hab ihnen meinen Dienstausweis gezeigt.«
Ich wartete.
»Daraufhin verlangten sie das Doppelte.«
»Ich sag ja – umtriebig.«
»Doch es ist mir gelungen, den Preis ein wenig zu drücken.« Menden zog einen länglichen Gegenstand aus der Manteltasche, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf. Ein Butterfly-Messer. »Jetzt sagen Sie mir, was Sie hier wirklich wollen.«
Ich schloss die Tür. Man weiß ja nie. Inkognito und alles.
»Ich soll einem Mietstreik den Nährboden entziehen. Grund dafür ist eine nicht abreißende Serie von Einbrüchen und Vandalismen.« Nicht, dass die kriminellen Akte die WODEGA wirklich scherten. Aber die fehlenden Mieteingänge schlugen so unschön auf die Bilanzen.
»Ihnen ist bewusst, dass Sie sich damit in polizeiliche Aufgaben einmischen?«
»Klar doch.« Er konnte es mir nicht verbieten. Und Mann, das wurmte ihn.
»Was immer Sie herausfinden, werden Sie zuerst mir berichten. Ich dulde in meinem Revier keine Wildwest-Methoden. Verstanden?«
»Ja. Ich habe verstanden«, sagte ich. Nicht ›Ja, ich werde berichten‹. Menden begriff den Unterschied. Sagte aber nichts, sondern wollte sich grußlos verabschieden. Ich stoppte ihn kurz und drückte ihm zwei volle Mülltüten in die Hände.
»Und nicht im Aufzug stehen lassen«, mahnte ich.
Ich konnte machen, was ich wollte, es zog mich hinaus auf den Balkon. Und das trotz der feuchtkalt miefigen Witterung.
Es war einer dieser Winter, die die Welt der Farben auf Abstufungen von Grau und Braun reduzieren.
Es war eine dieser Wohnsiedlungen, die schon vom Reißbrett an mit dem erklärten Willen zu maximaler Schäbigkeit gestaltet worden waren. Wer immer so etwas entworfen, genehmigt, in Auftrag gegeben und letzten Endes bezahlt hatte, sie alle sollten gezwungen werden, hier für den Rest ihrer Tage zu wohnen.
Es war mal wieder einer dieser Jobs, die im Vergleich Geigenlehrer oder Grillhähnchenverkäufer auf dem Baumarktparkplatz in den Rang von Traumberufen erhoben.
Es war, unterm Strich, einer dieser Tage im Leben, die es auf eine subtile Art verlockend wirken lassen, aus größerer Höhe irgendwo aufzuklatschen.
Eine dürre Frau blieb stehen und beobachtete an ihrem Krähenschnabel von einer Nase entlang, wie ich Portweinflasche auf Portweinflasche auf Portweinflasche auf Portweinflasche in den farblich zugeordneten braunen Altglasbehälter fallen ließ.
»Das sind nicht meine«, fühlte ich mich irgendwie gedrängt zu bemerken.
»Verleugnung bringt gar nichts«, meinte sie spitz.
»Aber wenn es doch stimmt.«
»Sind Sie etwa der neue Hausmeister?«
Ich nickte.
»Na, allem Anschein nach sind Sie keinen Deut besser als der alte.«
Das, fand ich, ging jetzt ein bisschen weit.
»Ich denke«, sagte ich sanft, »wir werden uns beide warm an diese herzliche Begrüßung erinnern, sollte in nächster Zeit mal Ihre Heizung ausfallen.«
Die Matratze war nichts anderes als ein lebendes Feuchtbiotop. Wenn auch keins von der schützenswerten Sorte. Ich hatte sie früher am Tag einmal angehoben und sofort wieder sinken lassen. Jetzt, nachdem es draußen dunkel und still geworden war, zerrte ich sie vom Bett auf den Balkon und hievte sie entschlossen übers Geländer. Dann den Lattenrost. Schließlich, als immer noch niemand protestierte, den Bettkasten. Ganz zum Schluss schnitt ich noch den Teppichboden aus der Ecke, in der das Bett gestanden hatte, und wollte auch den übers Geländer wandern lassen, zögerte allerdings, als von unten ein wütendes »Soll’n der Scheiß?« ertönte. Also rollte ich den Teppich nur zusammen und schob ihn raus auf den Balkon. Runterschmeißen konnte ich ihn dann später immer noch.
Schritt für Schritt wuchs mein Verständnis für meinen Vorgänger.
Ich meine, für seinen Freitod.
Weniger für sein Vermächtnis. Was hatte er mir mit ›Pass bloß auf auf die beiden Zwillinge‹ sagen wollen? Das konnte alles heißen. Sollte ich mich vor ihnen in Acht nehmen? Sollte ich sie vor irgendetwas beschützen? Oder sollte ich sie und ihre Aktivitäten scharf im Auge behalten?
Letzteres erschien mir am plausibelsten. Die beiden pulsierten geradezu vor krimineller Energie. Mit denen, das war vorauszusehen, würde es noch ein schlimmes Ende nehmen. So wie mit Scuzzi und, nicht zu vergessen, mir.
Langsam umkurvte ich den Parkplatz vor dem vierundzwanzigstöckigen Hochhaus in der Mülheimer City, bevor ich den Toyota abstellte. Niemand hockte in verdächtiger Manier in einem parkenden Wagen, niemand schien mir aufzulauern. Fein. Ich schaffte es bis ins Haus und hoch in die siebte Etage, ohne dass man mir unterwegs die Kehle durchgeschnitten hatte, und war recht froh darüber. Jetzt musste ich nur noch heil in mein Apartment und ebenso heil wieder heraus. Ein Klacks, sollte man meinen.
Wenn man einmal Einnahmen und Risiken meines Broterwerbs in die Waagschalen wirft, bleibt eigentlich nur der Schluss, dass man einen Schaden haben muss, einen solchen Beruf zu ergreifen: Privatdetektiv.
Grob vereinfacht, wird man beauftragt und dafür bezahlt, etwas herauszufinden. Eines der Probleme ist, dass es fast immer jemanden gibt, der genau das verhindern will. Kurz, man macht sich Feinde. Und nicht nur bei der Opposition. Denn es kann durchaus vorkommen, dass das mühsam Ermittelte im Endeffekt so gar nicht der Erwartung des Auftraggebers entspricht. Und wenn nicht das Ergebnis als solches, dann die Art und Weise, wie man als Ermittler damit umgeht.
Es war ein von Anfang an befremdlicher Auftrag gewesen, ein Eintauchen in eine andere Welt und Zeit: der schläfengraue Patriarch in seinem thronähnlichen Sessel, mit Unterwürfigkeit umwieselt von seinen Söhnen, Neffen und Schwiegersöhnen. Teppiche, tief genug, um einen Schuh darin zu verlieren, vergoldetes Teegeschirr, theatralisches Geflenne der weiblichen Familienmitglieder in den Kulissen. Man bedeutete mir, vorzutreten, und der Patriarch hielt mir seine Hand hin, als ob er erwartete, dass ich den dicken Ring daran küsste. Ich bekam mich gerade noch gebremst, drückte die Pfote mannhaft und ließ mich – angewiesen von einer fließenden Geste – in einen der mit Brokat überkrusteten Sessel fallen.
»Nazdar, Herr Kryszinski, ist meine einzige Tochter, das Licht meiner Augen.« Der Patriarch sprach mit der leisen Stimme eines Mannes, der gewohnt ist, dass man ihm und seinen Worten komplette Aufmerksamkeit schenkt. »Sie ist weggelaufen, und ich möchte, dass Sie sie suchen. Ihr Preis ist mein Preis.«
Zack! hatte ich meinen Block gezückt und angefangen, meine Fragen zu stellen. Einige musste ich mehrmals stellen. Vor allem die nach dem ›familiären Zerwürfnis‹, das Nazdar aus dem Haus getrieben hatte.
Niemand lungerte im Flur herum, um seine befleckte Ehre mit meinem Blut reinzuwaschen, also hastete ich zur Tür meines Apartments und kramte nach meinen Schlüsseln.
»Wir kommen aus einer einfachen Gegend, Herr Kryszinski.«
Ich konnte so direkt fragen, wie ich wollte, die Antworten des Patriarchen kamen auf Umwegen daher.
»Unsere Nachbarn, hier wie zu Hause, sind einfache Leute. Ich mache fast alle meine Geschäfte mit einfachen Leuten. Traditionen sind stark, bei uns. Doch der Mann, den ich Nazdar ausgesucht habe, er taugt nichts.« Einer der anwesenden männlichen Verwandten, ein schwammiger Typ mit auffallend roten Backen, war bei diesem Satz unmerklich zusammengezuckt. »Er ist ein Schurke. Nazdar hat es früh erkannt, ich leider erst sehr spät. Ich muss blind gewesen sein. Bitte, Herr Kryszinski, finden Sie meine Nazdar. Sagen Sie ihr, alles ist vergeben.«
Aus irgendeinem Grund fragte ich erst mal nicht weiter nach, sondern ließ ein Schweigen entstehen.
»Sagen Sie ihr auch, sie darf heiraten, wen sie möchte. Ihr Herz soll entscheiden. Sie soll nur zurückkommen. Nach Hause.«
Nach Hause. Richtig heimelig hatte das geklungen.
Wir machen dich tot, Krisinski stand quer über die Tür zu meinem Zuhause gekrakelt. Manchmal denke ich, ich sollte meinen Namen auf diese Schreibweise ändern. Würde das Leben für alle so viel einfacher machen.
Ihr Preis ist mein Preis. Ein unwiderstehlicher Satz, bei einem Kontostand wie dem meinen. Sie hatten mir einen Dolmetscher zur Seite gestellt, einen aus der Familie, den ich schon am ersten Tag irgendwo am Bordstein stehen ließ, nachdem Nazdars beste Freundin bei seinem Anblick fast ihre Zunge verschluckt hätte. Kein guter Auftakt, sollte man meinen. Doch ich hatte den Job einmal angenommen, und meine täglichen Berichte wurden prompt und in bar entlohnt.
Nazdar war von zu Hause erst mal zu ihrem deutschen Freund gezogen. Ich fand ihn im Krankenhaus, minus seiner Schneidezähne, die Nase ein dick verbundener Klumpen, Rippen und eine erkleckliche Anzahl anderer Knochen geschient, er selbst zu keinerlei Aussage bereit.
Ab da, kann man sagen, dämmerte mir endgültig, worauf ich mich eingelassen hatte.
Von ihrem Freund war Nazdar zu dessen Freund geflüchtet, der hatte sie an einen Kumpel vermittelt, und der wiederum hatte die kleine Nazdar, wie das gern passiert mit Leuten, die ohne Bleibe oder sonst wie erpressbar sind, seither als Drogenkurierin zwischen Ankara und Düsseldorf missbraucht.
Ein bisschen verschärfte, dann sehr verschärfte Überredung, und es gelang mir, sie von diesem Typen loszueisen. Ich verabredete ein Versöhnungstreffen mit ihrem Vater. Ich fuhr vor. Nazdars Brüder kamen aus dem Haus, und der jüngste schoss ihr fünfmal in den Kopf.
Nein, natürlich nicht. Ich mag einen Schaden haben, aber so bescheuert bin ich nun doch nicht.
Ich fuhr vor, die Brüder kamen aus dem Haus, und der jüngste schoss der mit einem Kopftuch maskierten Puppe auf dem Rücksitz fünfmal in den Kopf. Dann war Menden angerückt, und mit ihm ein SEK.
Nazdar lebte seither an einem unbekannten Ort und, wie ich, in der vagen Hoffnung, die blutrünstige Hysterie ihrer Verwandten möge sich irgendwann legen. Nichts versaut dir das Leben so sehr wie begründete Angst darum. Mich hatte sie letztendlich in einen Hausmeisterjob im Wohnpark Nord gehetzt.
Noch nicht ganz in meinem seit Wochen nur noch sporadisch genutzten Apartment, und das Telefon klingelte. Es war Scuzzi.
»Dein Hund hat sich gerade sehr gehaltvoll quer über meinen Wohnzimmerteppich erbrochen.«
»Ja, das macht er gerne.«
»Außerdem kratzt er sich unaufhörlich. Als ob er Flöhe hätte.«
»Ja, das ist möglich.«
»Er bellt. Ohne Anlass, ohne Sinn und Verstand.«
»Dann ist ihm meistens langweilig.«
»Und er furzt, Kristof. Und wenn er furzt, schwinden einem die Sinne.«
»Ja, das kenne ich.«
»Und er furzt andauernd.«
»Vielleicht gibst du ihm das falsche Futter.«
»Es ist das Zeugs, das du gekauft und mitgebracht hast.«
»Nach ’ner Weile riecht man das kaum noch.«
»Was noch hinzukommt, Kristof, ist der Eindruck, dass dieses Tier mich nicht besonders mag.«
»Ja, er ist da etwas wählerisch.«
»Also, wann kommst du ihn holen?«
»Oh, das kann noch dauern.«
»Alles, was über zwanzig Minuten hinausgeht, und ich kugelstoße den räudigen kleinen Stinker aus dem offenen Fenster.«
»Wenn er dich lässt«, sagte ich, hängte ein und griff mir Lappen und Verdünner. Ich hatte das Wir von Wir machen dich tot mühsam zu einem lilaschwarzen Schmier verrieben und dachte daran, das Krisinski eventuell stehen zu lassen, als die Tür des Apartments zur Rechten aufging.
»Na, Herr Kryszinski, bereiten Sie die Übergabe vor? Bin mal gespannt, wen man als Nächstes hier einquartiert.«
»Frau Mohr, ich ziehe nur für ein paar Tage in eine andere Wohnung. Aus beruflichen Gründen. Dann komme ich wieder zurück.«
Edna Mohr ist eine dieser rundlichen, kittelbeschürzten alten Damen, die jede einzelne Äußerung wie einen Vorwurf klingen lassen können. Sie mag mich, warum auch immer, und hatte sich in den Kopf gesetzt, ich sei im Begriff, die Wohnung aufzugeben.
»Wenigstens die Katze hätten Sie mir hierlassen können.«
»Sie wissen so gut wie ich, dass das nicht geht.«
Was habe ich nicht schon alles versucht, das verdammte Mistvieh zu Edna Mohr überzusiedeln – Katzenkorb, Katzenhaus, Kratz- und Kletterbaum, Spielmäuse, Gourmetfutter und was nicht noch angeschafft und bei Frau Mohr deponiert, doch alles vergeblich. Das Aas besteht darauf, bei mir zu wohnen, und wenn ich länger als drei Tage nicht zu Hause übernachte, fängt sie an, mir alles vollzupissen. Und sperre ich sie aus auf den Balkon, macht in den Nächten in der halben Innenstadt kein Mensch ein Auge zu. Sie hat diese Stimme, muss man wissen.
»Außer der Katze habe ich ja sonst niemanden zum Reden«, fuhr Frau Mohr ungeachtet meiner Einwände fort.
So, dachte ich, genau so werde ich auch mal.
»Da waren wieder diese beiden Türken.«
»Kurden«, sagte ich.
»Also, diese Ausländer. Einer hat mich mit einem Messer bedroht. Er sagte, Sie hätten seine Ehre beschmutzt.« Einfache Leute. Mit starken Traditionen. Man muss sie nur ein bisschen näher kennenlernen, um tiefes Vertrauen in die Integrationsvisionen der Politiker zu entwickeln.
»Sie haben hoffentlich gesagt, ich sei auf Wangerooge?«
Edna Mohr schnalzte gereizt mit der Zunge. »Jetzt hören Sie mal damit auf«, meinte sie. »Das kann ich schon lange keinem mehr erzählen. Nein, ich hab denen gesagt, die Polizei hätte Sie abgeholt.«
»Was?«
»In Handschellen.«
»Was?« Selbst der misstrauischste Mensch der Welt käme kaum auf die Idee, diese reizende alte Dame könne je etwas anderes von sich geben als die reine, lautere Wahrheit. Und die Geschichte mit einem Detail wie den Handschellen zu untermauern war … kunstvoll.
Ein wenig baff und im wachsenden Bewusstsein, dass man aus dem Gewahrsam heraus nur schlecht Graffiti von seiner Wohnungstür rubbeln kann, ließ ich den Lappen sinken.
»Ich habe ja überhaupt nicht gewusst, was für ein durchtriebenes Luder Sie sind, Frau Mohr.«
Edna lächelte ein bübisches Lächeln, das stillvergnügt all die Dinge implizierte, die ich nicht von ihr wusste. Eigentlich war ich ja wegen meiner Matratze hergekommen, also ging ich rein, zerrte sie vom Bett, raus in den Flur und dann weiter Richtung Treppenhaus, wo ich mich noch mal kurz umdrehte und winkte.
»Schreiben Sie wenigstens ab und zu mal!«
Sie waren zu fünft und hatten es offenbar gern warm um die Omme. Ich meine: Mützen und Kapuzen. Sich in der ach so gefährlichen Welt des Straßengangstertums die Ohren und auch noch das periphere Sehvermögen dermaßen zu verhängen, erscheint mir leichtsinnig, wenn nicht fahrlässig dämlich. Hast du mit einem von diesen Heinis ein Hühnchen zu rupfen, brauchst du dich noch nicht mal anzuschleichen. Du trittst einfach hinter ihn und schlägst ihm seelenruhig eins über den Schädel, und bis er endlich begriffen hat, was passiert ist, bist du schon wieder zu Hause. Da fragt man sich doch, warum sie sich nicht gleich auch noch die Augen verbinden.
»Gib ma ’ne Zippe«, forderte der eine. Der mit dem Gebammel von Goldketten. Und stellte sich mir in den Weg. Groß, für sein Alter. Massig. Ob nur fleischig oder auch muskulös, war nicht zu sagen, unter der viel zu weit geschnittenen Jacke.
Jetzt ist das Schleppen einer nur schwer zu greifenden Matratze keine Beschäftigung, die meiner Laune förderlich wäre. Und daran weiter gehindert zu werden, erst recht nicht. Fleischig oder muskulös? Ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen.
»Kauf dir selber welche«, ranzte ich. »Und jetzt verpiss dich.«
»Ey, ey, bisschen Respekt.«
Gleichzeitig ist eine Matratze auf dem Buckel wie ein Panzer. Ich hatte vier Hoodies im Rücken, aber sie konnten mir praktisch nichts.
»Respekt? Für einen, der Fremde auf der Straße um Zigaretten anbettelt?« Das war ein Treffer. Ich sah es in seinen Augen und nutzte die Gelegenheit, entschlossen auf ihn zuzugehen. Er machte tatsächlich Platz.
»Ey, isch bettel nisch, isch zieh Leute ab.«
»Mich nicht«, widerstand ich der Versuchung, ihn nachzuäffen, quetschte mich mit Matratze durch die Eingangstür und rief den Aufzug.
Ich hatte nicht umsonst im Knast gesessen. Gib bei der ersten Begegnung nach, und du gibst von da an für immer nach.
»Ey, bist du etwa der neue Hausmeister?« Alle fünfe sahen mich vom Hauseingang her an, wie sie alles und jeden ansehen: höhnisch, von oben herab und im vollen Bewusstsein ihrer Überlegenheit. Ein Star, jeder Einzelne von ihnen. Mal im Ernst: Wer braucht da noch einen Schulabschluss?
»Ja«, antwortete ich zähneknirschend und drückte zum x-ten Mal den Aufzugknopf.
»Ey, da kriegen wir bestimmt noch voll viel Spaß mit dir.«
Aber sicher. Der erste Punkt war zwar an mich gegangen, doch das Spiel als solches hatte gerade erst begonnen.
Ich zerrte die Matratze durch die Tür und stutzte. Das Gemisch repulsiver Gerüche in der Wohnung war während meiner Abwesenheit um eine Variante reicher geworden, unverwechselbar in ihrer Schärfe.
Mahatma Gandhi? Der Dalai Lama? Pah! Sanftmütig und friedliebend geboren zu sein und sich das dann groß an die Brust zu heften, das ist doch keine Kunst. Wo bleibt da das Element der Überwindung? Wo das Niederringen des inneren Schweinehunds? Wenn irgendjemandem Weltruhm zusteht für Großmut, Nachsicht und meisterhafte Beherrschung seiner Tötungsinstinkte, dann mir. Diese Katze ist der, tja, lebende, meines tausendfachen Wunsches, sie mit der Bratpfanne platt zu kloppen, zum Trotz nach wie vor lebende Beweis.
»Du gehst zurück zu Edna«, sagte ich zu ihr, »morgen schon.« Und meine Balkontür wird vernagelt, fügte ich im Stillen hinzu. Mit ein bisschen Glück fand sich ja in den kommenden Nächten jemand, der mich von diesem Mistvieh erlöste.