FREAKSHOW
Von Jörg Juretzka liegen bei Rotbuch außerdem vor:
Prickel (5. Aufl. 2011)
Fallera (3. Aufl. 2011)
Rotzig & Rotzig (2. Aufl. 2010)
Alles total groovy hier (2. Aufl. 2009)
Der Willy ist weg (4. Aufl. 2009)
ISBN 978-3-86789-555-2
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FÜR CORA UND VERENA
Speziellen Dank an
The Vietnam Veterans
für »I Walked With A Zombie«
Sämtliche Figuren dieses Romans
sind frei erfunden.
Qualm stieg aus meinen Radkästen, so hart musste ich aufs Pedal steigen, um die beiden nicht breitseits zu rammen und damit unweigerlich in die Notaufnahme zu schicken. Sie waren aus einem dunklen Waldweg gekommen, urplötzlich, ohne Licht, ohne sich um den übrigen Verkehr zu scheren, und nun jagten sie weiter in die Nacht, zwei Teenager auf einem Scooter, der Junge vorn, das Mädchen fest an ihn geklammert dahinter. Ich machte meinem Schrecken mittels Lichthupe Luft, und das Mädchen löste ihren linken Arm, sonnenbraun und nackt wie ihr ganzer Rücken, drehte sich halb zu mir um und musterte mich allein schon von der Dauer her unverschämt herablassend durch ihr getöntes Visier. Fertig damit, hob sie den Helm leicht an, schob sich den linken Mittelfinger zwischen die Lippen und nuckelte daran herum, bevor sie ihn wieder rauszog und mir spuckefeucht und ausgesprochen steif entgegenreckte.
Charmant. Ließ mich den Tritt auf die Bremse wenn schon nicht bereuen, so doch als möglicherweise übertrieben umsichtig ansehen.
Zwei eng zusammenstehende Scheinwerfer erschienen in meinem Rückspiegel, ein weiterer Roller mit einem feisten Hünen vorn und einem Kind hintendrauf zog neben mich, dann vorbei und gesellte sich zu dem Pärchen vor mir. Zweitaktplärren waberte mir entgegen, begleitet vom stechenden Geruch verbrannten SynthetikÖls. Mein Tacho zeigte mittlerweile wieder achtzig, und sie beschleunigten weiter und weiter davon. Mit den kleinen, quadratischen, sie vom Gesetz her eigentlich auf fünfundzwanzig Stundenkilometer begrenzenden Versicherungskennzeichen an den Hecks ihrer hochgetunten Nähmaschinen.
Nur ein paar Kids, die ihren Spaß hatten.
Aus einem unerklärlichen Impuls heraus ging ich vom Gas, bremste, stoppte, zögerte, wendete und fuhr zurück.
Ein ungeschälter Fichtenstamm fungierte als Schlagbaum und versperrte, mit Kette und Vorhängeschloss gesichert, die Zufahrt zum Waldweg. Die Motorroller waren einfach dran vorbeigebrettert, die für Fußgänger und Reiter gedachte Öffnung gerade breit genug für sie. Doch nicht für meinen Toyota. Ich hielt an, zögerte erneut. Nichts regte sich im Scheinwerferlicht vor mir. Auch bei Fernlicht nicht. Nur Wald, dunkler, schweigender Wald. Trotzdem schaltete ich die Zündung aus, das Licht, öffnete die Fahrertür, stieg aus. Das Fallen schwerer, letzter Tropfen des letzten Gewitters des vergangenen Abends und fernes, mit viel Wohlwollen an Brandung erinnerndes Autobahn-Rauschen waren die einzigen wahrnehmbaren Geräusche in dieser tropisch heißen, tropisch feuchten Nacht gegen Ende eines weiteren Glutofen-Sommers in der Ruhr-City. Der Himmel war wolkenlos, doch die Luft diesig, die Dunkelheit nahezu vollkommen. Was immer die Halbwüchsigen hier im Wald getrieben hatten, es ging mich nicht das Geringste an.
Dennoch griff ich durchs offene Beifahrerfenster, klappte das Handschuhfach auf und fand nach einigem Gefummel den zu einer kleinen Rolle gewickelten Sägedraht, den ich – zusammen mit ein paar anderen Werkzeugen – immer dabeihabe. Anderthalb Minuten später war der Schlagbaum hoch.
Die Gestalt, die mir inmitten einer Wegbiegung ins Scheinwerferlicht hoppelte, war die eines Mannes. Unverkennbar. Was da bei jedem Hopser vorn munter mitschwang, stellte Thüringens stolzestes Produkt glatt in den Schatten, in Länge wie Umfang. Also ein Mann, offenbar nackt, wenn auch von Kopf bis Fuß in braune Tannennadeln gehüllt. Augen, Mund, Hand- und Fußgelenke straff mit Tape umwickelt, sprang er schwankend und irgendwie frenetisch auf der Stelle herum. Ich fuhr dicht heran, stoppte, starrte und hechtete aus dem Wagen. Mit der Fußmatte in Händen rannte ich zu dem Mann und begann auf ihn einzuschlagen. Denn was ich für tote Tannennadeln gehalten hatte, war in Wahrheit höchst lebendig. Ameisen. Große, braune Waldameisen. Tausende davon. Ich wischte, schlug und bürstete sie hinunter, doch der Großteil der bissigen Krabbler machte sich sofort wieder an den Aufstieg, und nun auch an meinen Beinen hoch.
Blutiger Rotz schäumte dem Typen aus der Nase, und er winselte in erstickten Tönen.
Ich rannte zurück zum Wagen, griff erneut ins Handschuhfach, diesmal nach dem Teppichmesser. Anschließend musste ich den Kerl in den Schwitzkasten nehmen, um ihm ohne größeres Blutvergießen die Klebestreifen vom Kopf zu schneiden. Jetzt winselte er nicht länger, sondern stöhnte vor Schmerz und Panik, hielt mir in fiebriger Ungeduld die gefesselten Hände entgegen. Ein weiterer Schnitt, und er wischte sich beidhändig um den Kopf herum, schlug auf ihn ein, steckte sich sämtliche Finger abwechselnd in die Öffnungen von Nase und Ohren, stöhnte furchterregend.
Kaum hatte ich ihm auch die Beinfesseln durchtrennt, war er auch schon mit drei langen Sätzen beim neben dem Weg herlaufenden Wassergraben und stürzte sich der Länge nach in die bräunlich-grünlich aufschäumende Mocke.
Einiges an zuckendem und prustendem Gewälze später kam er, bedeckt von grünem Schleim, wieder hoch.
»Doktor!«, stammelte er, Hände an den Schläfen, Finger in den Ohren, Finger in den Nasenlöchern. »Doktor! Schnell!«
Und schon hatte ich ihn nackt und nass und schlammig auf dem Beifahrersitz hocken.
Pang, Tür zu, Motor an, Rückwärtsgang.
»Doktor«, flehte er, zusammengekrümmt, Hände hektisch, fahrig, Augen voller Pein und Horror.
Da erst erkannte ich ihn.
»Sie haben Glück«, meinte Schwester Rebekka am Empfang der Notaufnahme, nachdem ich ihr, sicher senkrecht und fest auf der Stelle gehalten von zwei uniformierten Polizeibeamten, Alfreds Probleme kurz und knapp geschildert hatte. »Dr. Korthner hat gerade eben den letzten Disco-Messerkämpfer zusammengeflickt.« Damit griff sie den nach wie vor nackten, zuckenden, stöhnenden Alfred recht robust am Arm und führte ihn den Gang hinunter.
»Nun zu uns«, meinte der eine der beiden Uniformierten, der an meinem linken Ohr.
Wie das so ist, wenn man es eilig hat und keine rechte Geduld aufbringt für Mülheims ewig rote Ampeln und den sonstigen Wirrwarr an verkehrstechnischen Gängelungen, hatten wir unterwegs eine Streife aufgeschreckt und eingesammelt.
»Führerschein und Papiere«, raunzte der an meinem rechten Ohr. »Haben Sie getrunken?«
Ich seufzte.
Menden seufzte, wie nur er es kann. So ganz aus der Tiefe des Zwerchfells heraus, geradezu guttural.
Die Kellenschwenker hatten mich zur Wache schleifen wollen, Aussage aufnehmen, Personalien überprüfen,
Blutprobe ziehen und was ihnen nicht noch so alles einfällt, um die Zeit bis zum Schichtwechsel totzuschlagen. Doch die ebenso rotgetönte wie resolute Empfangsschwester hatte mich nicht gehen lassen, bevor nicht Identität und Versichertenstatus des von mir Eingelieferten geklärt waren. Deshalb mussten die Polizisten Rücksprache mit dem Präsidium halten und hatten damit niemand Geringeren als Hauptkommissar Menden auf den Plan gerufen. Nun saßen wir einander über zwei Tässchen Tee in der gemütlich neonhellen Krankenhaus-Cafeteria gegenüber. Der bläuliche Ton des Lichts vertiefte die Falten von Mendens Gesicht, bis man versucht war, ›Juchhu‹ hineinzurufen und auf ein Echo zu warten.
Er seufzte erneut und betrachtete mich wie ein Hausbesitzer einen unausrottbaren Schimmelbefall.
»Ich höre Ihren Namen, Kryszinski, und mein erster Impuls ist, den Dienst zu quittieren. Wie kommt das nur?« Menden liebt es, wenn ich ein bisschen Leben in die Ödnis des Mülheimer Polizeialltags bringe, er kann es einfach nur nicht zeigen.
»Na los«, forderte er in einem Tonfall, dem Widerwille und Müdigkeit die Luft nahmen, »schildern Sie mir die angebliche Notlage, die Ihrer Ansicht nach gleich ein Dutzend schwere Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung rechtfertigt.«
»Ich will einen Anwalt«, sagte ich, um ihn ein wenig aus seiner Lethargie zu wecken.
Er hob ruckartig den Kopf und der Blick seiner fahlen Augen ließ Frost in meinen Wimpern knistern.
Also gab ich nach und erzählte ihm den Ablauf der letzten Stunde. Es brachte mir einen weiteren Mendenschen Seufzer ein.
»Sie fahren zufällig mitten in der Nacht durch den Uhlenhorst, haben dort zufällig einen Beinahe-Unfall mit einem bisher nicht identifizierten Motorroller, biegen dann zufällig in einen eigentlich für den Verkehr gesperrten Waldweg ein, wo Sie zufällig einen bisher ebenfalls noch nicht identifizierten, gefesselten und über und über mit Waldameisen bedeckten Mann finden, mit dem Sie zufällig auch noch flüchtig bekannt sind.«
»Genau«, bestätigte ich mit großem Ernst.
»Ich weiß nicht«, meinte Menden, nahm einen Schluck von seinem Tee und zog, soweit das möglich war, ein noch längeres Gesicht als vorher. »Ich weiß nicht, ob ich es schon mal erwähnt habe, aber ich habe meine Schwierigkeiten mit dem Konzept ›Zufall‹. Vor allem, wenn er in Häufung auftritt. Deshalb noch mal von vorn: Was genau hatten Sie nachts um zwei im Uhlenhorst zu suchen?«
Eine Frage, die ich unmöglich wahrheitsgemäß beantworten konnte. Deshalb versuchte ich es wider besseres Wissen erst mal mit Ausflüchten.
»Hören Sie, es ist mein gutes Recht, mich wann auch immer …«
»Antworten Sie.«
»Ich konnte nicht schlafen und wollte der Hitze in der Stadt entgehen.«
»Gekleidet in einen schwarzen Overall, an den Füßen nachträglich geschwärzte Sneaker.«
War ihm natürlich nicht entgangen, meine Aufmachung. Verdammt.
»Alle meine anderen Sachen sind momentan in der Wäsche.«
Menden griff in seine Manteltasche und legte kommentarlos einen zu einer kleinen Rolle gewickelten Sägedraht auf den Tisch.
»Nur eines der Werkzeuge eines professionellen Detektivs«, behauptete ich eilig.
Menden nickte mit geradezu väterlichem Verständnis.
»In welcher Beziehung stehen Sie zu dem von Ihnen ach so zufällig Geretteten?«, fragte er dann.
»Erinnern Sie sich an das Rehabilitierungs-Experiment, das ich vor ein paar Jahren im Auftrag Ihrer Behörde begleitet habe?«
Mendens Blick nahm einen leicht glasigen Ausdruck an. »Ob ich mich erinnere?«, fragte er tonlos und holte tief Luft. »Ob ich mich erinnere?« Der Löffel in seiner Tasse klirrte leicht, und der Bedienung hinter der Theke fiel irgendetwas aus der Hand und schepperte zu Boden. »Wissen Sie«, senkte Menden die Stimme wieder auf ein angemessenes Niveau, wenn auch ohne ihr den tiefen Groll zu nehmen, »ich hatte mal Ambitionen. Ambitionen, ich. Ha!« Beinahe hätte er mit der Faust auf den Tisch geschlagen, bekam sich nur mühsam gebremst. »Doch seit dieser fehlgeleiteten, dieser schwachsinnigen Entscheidung, ausgerechnet Sie mit solch einer Mission zu betrauen, seither also kann ich mich tagtäglich aufs Neue daran erfreuen, überhaupt noch einen Job zu haben.«
»Also, der Mann, den ich vorhin im Wald gefunden habe, ist zufällig einer der Behinderten, die damals an dieser Bergtour teilgenommen haben.« Ich ging bewusst nicht auf Mendens Lamento ein. So was feuert die Leute nur unnötig an. Letzten Endes hatte ich das Projekt weder erbrütet noch mich dafür unter Vertrag genommen. »Und ich habe keine Ahnung, wie er in diese Situation gekommen ist. Vielleicht sollten wir ihn das ganz einfach mal selber fragen.«
»Darum kümmert sich bereits Kommissar Hufschmidt.« Ich hatte gerade die Tasse gehoben und hustete nun einen halben Schluck lauen Tees durch die Gegend. »Hufschmidt«, wiederholte ich dann, wie man ›Durchfall‹ sagt. Also von der Sprechweise her neutral, bei einem gleichzeitig unüberhörbaren Mangel an Affinität. Hufschmidt, muss man wissen, hat den feinen Unterschied zwischen ›Befragung‹ und ›Verhör‹ nie so richtig begriffen. Täter, Zeugen, Opfer sind für ihn allesamt ein- und dasselbe: verstockte Verdächtige, die man am besten durch Anbrüllen zur Räson bringt. »Na«, sagte ich leichthin, »dann kann ja nichts mehr schiefgehen.« Menden hob den Kopf.
»Nun mach schon den Mund auf«, brüllte Hufschmidt. »Du wirst doch deinen eigenen Namen kennen. Wie soll ich wohl sonst eine Anzeige aufnehmen? Also raus damit.«
Vermutlich mangels anderer, auch nur ansatzweise passender Klamotten hatten sie Alfred in einen mintgrünen Frottee-Pyjama gesteckt, der aller Dehnbarkeit zum Trotz bei jedem seiner Atemzüge hörbar in den Nähten knirschte.
»Du solltest ihm mit Schlägen drohen«, sagte ich. Hufschmidt fuhr zu mir herum, dass seine Hamsterbacken schlackerten. »Oder mit Folter.«
Alfred war mit seinem Stuhl bis in die letzte Ecke des Krankenzimmers zurückgewichen und hockte nun da wie ein verängstigtes Kind von weit über zwei Metern Länge, hundertzehn Kilo Gewicht und einem Kinn wie ein Backstein. Tausende von roten Pusteln bedeckten seine Haut.
»Du hast mir gerade noch gefehlt«, grollte Hufschmidt mich an.
»Wie immer«, sagte ich. »Und ich vermute mal, dass mein Freund Alfred schon seit Stunden in irgendeiner Behinderten-Institution vermisst wird.«
Alfred gab einen Seufzer der Erleichterung von sich. Er versteht alles, nur mit dem Erwidern hapert es bei ihm. Und mit der Motorik und ein paar anderen Kleinigkeiten.
»Dein Freund«, echote Hufschmidt und hob die Brauen. »Hätte ich mir irgendwie denken können.« Und er gluckste ein bisschen. Wie über einen Witz.
Menden, der bis dahin schweigend an der Tür gestanden hatte, klappte sein Handy auf, trat raus auf den Gang und ließ sich murmelnd irgendwohin verbinden. Keine Minute später kam er zurück ins Zimmer. »Alfred Ullrich. Elenor-Nathmann-Stiftung«, sagte er. »In Duisburg-Mündelheim.«
»Na also«, meinte Hufschmidt zufrieden, und wir alle sahen ihn einen Moment lang an.
»Nein«, sagte Menden. »Auf keinen Fall.«
Ich trank Kaffee, Menden einen weiteren Tee, und Alfred löffelte eine Suppe zu Geräuschen, die an Grubenreinigung mittels Saugrüssel erinnerten. Hufschmidt hatte uns dankenswerterweise verlassen. Draußen dämmerte der Tag, was dem Energiesparlicht der Cafeteria einen weiteren Aspekt der Unwirtlichkeit verlieh. Ich fühlte die Nacht in meinen Knochen und hatte keine Lust mehr auf Diskussionen. Doch diese eine musste jetzt noch sein.
»Um aus Alfred etwas herauszuholen, braucht es Einfühlungsvermögen«, erklärte ich, »und Geduld.«
»Gleich zwei Ihrer hervorstechendsten Eigenschaften«, konterte Menden.
»Wir reden hier über versuchte schwere Körperverletzung. Da ist es doch Ihr gesetzlicher Auftrag, alles zu unternehmen, was zur Aufklärung beitragen kann.«
»Aber nicht, wenn das bedeutet, Sie hinzuzuziehen.« Menden nahm einen Schluck von seinem Tee und blickte drein, als ob er sich am liebsten aus schierem Überdruss suizidieren würde.
»Alfred vertraut mir«, beharrte ich. »Und ich weiß ihn zu händeln. Mein Vorschlag ist, dass ich ihn mit dem Wagen nach Hause bringe und während der Fahrt in aller Ruhe befrage. Solange er sich gestresst fühlt, kriegt er die Zähne nicht auseinander. Und nach Hufschmidts Vorarbeit dürfte sein Verhältnis zur Polizei für längere Zeit recht stressbelastet sein.«
Menden gönnte mir einen Augenaufschlag voll düsterster Vorahnungen. So ermutigt, sprach ich rasch weiter. »Doch dafür bräuchte ich natürlich …« Ich hatte das so gut wie möglich vorbereitet, die Worte ›mit dem Wagen‹ und ›während der Fahrt‹ sorgfältig eingewebt, und zögerte jetzt dennoch, so nah vor dem Ziel. »… meinen Führerschein.«
Menden seufzte, wie nur er es kann.
Die Vögel des Waldes piepten. Frühes, flaches Sonnenlicht stach durch die Lücken der Baumkronen. Die Ameisen waren immer noch mit den Reparaturen ihres Haufens beschäftigt. Alfred stand da, in seinem viel zu engen Schlafanzug, viel zu kleine Plastikschlappen an den Füßen, hielt gehörigen Abstand zum Gewimmel und betrachtete die Anstrengungen der bissigen kleinen Krabbler ohne rechte Sympathie.
»Na«, knurrte ich ihn an, »jetzt stell dich mal nicht doofer, als du bist. Irgendwo müssen deine verdammten Plörren doch abgeblieben sein.« Ja, ich war ein wenig ungehalten mit ihm. Grund war seine halsstarrige Verschwiegenheit. Alles, was ich von ihm wollte, war einen Hinweis auf seine Peiniger. Ich brauchte etwas, und sei es nur ein Häppchen, um Menden damit zu füttern, irgendeine Information, anhand der der Hauptkommissar es vor sich selbst rechtfertigen konnte, mir meinen Lappen wiedergegeben zu haben. Denn wenn ich nichts lieferte, war jetzt schon klar, wie unsere nächste Begegnung ablaufen würde. Ungemütlich, um es kurz zu sagen. Menden hat manchmal eine Art, dass sich fünf Minuten in seiner Gegenwart anfühlen wie eine Nacht in einer Wanne voll Eiswasser. »Also geh sie suchen, oder ich bringe dich in diesem Strampelanzug zurück in die Stiftung.«
Während der ganzen Fahrt hierher hatte ich Alfred geduldig mit Fragen gelöchert, die mit einem Nicken oder Kopfschütteln zu beantworten gewesen wären. Doch er hatte nur die Arme vor der Brust verschränkt und reglos und schweigend aus dem Seitenfenster geblickt. Ich fand das wenig hilfreich und möglicherweise auch etwas undankbar. Obendrein war ich übernächtigt und hatte genug eigene Probleme am Hals, angefangen bei meinem Hund in den Klauen raffgieriger Geiselnehmer. Das alles addierte sich nun zu einer gewissen Schroffheit im Umgang.
Alfred ging unschlüssig umher, während ich mich als Spurenleser versuchte. Wie war Alfred hierhergekommen? Es waren gut und gern zwanzig Kilometer von seinem Wohnort in Duisburg-Mündelheim bis hierhin. Wer hatte ihn dann entkleidet und gefesselt?
Dieser Abschnitt des Uhlenhorstes bestand aus altem Tannenwald, der Boden ein in hundert Jahren angewachsener, federnder Belag von Nadeln, der Fußabdrücke einfach absorbierte. Mit Schleif- oder Kampfspuren wäre es etwas anderes gewesen, doch im gesamten Umkreis des haufenförmigen Gewimmels gab es nur die unregelmäßigen Verwerfungen, die Alfreds hopsendes Entkommen hinterlassen hatte. Auf den Haufen selbst hätte er genauso gut vom Himmel gefallen sein können. Außer man hatte ihn getragen. Aber wer war dann ›man‹? Vier Kids im Mofa-Alter? Mir kam der leise Verdacht, dass die vier möglicherweise nur vor Alfreds unheimlicher Gestalt im nächtlichen Wald geflüchtet waren.
Schließlich fand ich seine Klamotten, ein loses Bündel, am Fuß einer grasbewachsenen, kreisrunden Mulde inmitten einer Lichtung. Wahrscheinlich einer der zahllosen Bombenkrater aus dem Zweiten Weltkrieg, nur dass der Wald diesen hier warum auch immer noch nicht wieder zurückerobert hatte.
Ich rief nach Alfred, wedelte mit seiner Hose, doch anstatt angerannt zu kommen und endlich diesen peinlichen Pyjama loszuwerden, zögerte er, als ob er sich nicht recht aus dem Wald und auf die Wiese traute.
Ich fragte, was er habe, forderte ihn auf, zu kommen, doch nein, er zierte sich. Schließlich warf ich ihm die Sachen zu, und er verzog sich hinter ein Gebüsch.
Vögel piepten, die Sonne jagte die Temperaturen in die Höhe, mein Bett rief mich. Ohne Struppi kam mir das ganze Grün ringsum komplett sinnlos vor. Okay, es versorgte die Atmosphäre mit dem für den Betrieb unserer Verbrennungsmotoren so unabdingbaren Sauerstoff, doch machte das meine Anwesenheit in seiner Mitte nicht sinnvoller.
Nicht weit von der Lichtung reflektierte etwas großes, blendend Weißes das Sonnenlicht durch das Blattwerk hindurch. Ein schmaler Trampelpfad schlängelte sich darauf zu, also folgte ich ihm ein paar Schritte, bis ich ein Gebäude erkennen konnte. Ein Gebäude wie ein von einer hohen Mauer umgebener Bauernhof, mit schwarzen Pfannen auf dem Dach, die Fassade offensichtlich frisch gestrichen. Das Fehlen jeglicher Fenster oder Türen auf der Waldseite gaben dem Ganzen etwas Unbeteiligtes, Abweisendes.
Nach einem Moment bräsiger Ambivalenz – was tat ich hier, was ging es mich an? – machte ich kehrt, entschlossen, Alfred nach Hause zu fahren und dann schnellstmöglich meine Matratze aufzusuchen und für ein paar Stunden am Davonfliegen zu hindern.
Alfred war inzwischen zum Auto zurückgekehrt und saß umgezogen und wartend auf dem Beifahrersitz. Wartend und schweigend. Plötzlich war mir danach, es doch noch mal mit der Methode Hufschmidt zu versuchen. Nicht dass es Antworten gebracht hätte, aber trotzdem. Mir war danach. Also baute ich mich breitbeinig vor Alfred auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und sagte: »Entweder du antwortest jetzt auf meine Fragen, oder ich pack dich am Kragen und schüttle dich durch bis du’s tust. Ich zähle bis drei: Eijenns, zawei …« Ich brach ab.
Er hatte das Fenster hochgekurbelt und den Türknopf runtergedrückt.
»Die Elenor-Nathmann-Stiftung ist eine Einrichtung des Betreuten Wohnens, Herr Kryszinski. Wir beherbergen geistig wie körperlich Behinderte, Senioren, und wir unterhalten auch eine Abteilung für trockene Alkoholiker.« Einen Augenblick lang sah Frau Dr. Marx mich abwartend an, ganz so, als wäre ein Stichwort gefallen, auf das ich hätte anspringen sollen, bevor sie, als ich nicht reagierte, säuerlich fortfuhr. »Da sind Zwischenfälle wie dieser nicht zu verhindern. Wir können die Bewohner schließlich nicht an die Kette legen.« Ein Seufzen. »Und wollen es natürlich auch gar nicht«, fügte sie eilig, wenn auch wenig überzeugend hinzu.
Frau Dr. Marx also, ausgerechnet. Die biestige, rollstuhlfahrende Ärztin hatte uns gleich bei der Ankunft in der ›Village‹ genannten Wohnanlage abgepasst und in ihr Büro beordert. Ein Schild an der Tür und ein weiteres auf ihrem Schreibtisch wiesen sie als Leiterin der Stiftung aus.
»Doch Sie sehen ja selbst, was dabei herauskommt.« Sie deutete vorwurfsvoll auf den von roten Pusteln bedeckten und mit hängendem Kopf maximal betreten dreinblickenden Alfred.
»Alfred, meines Wissens nach sind Sie heute zur Pflege der Anlagen eingeteilt. Also bitte.«
Er machte erleichtert kehrt und duckte sich unter dem Türrahmen durch.
»Wir sprechen uns dann später noch«, schickte sie ihm hinterher, mit der klaren Intention, ihm den Tag zu versauen.
Ganz ihr liebreizendes Selbst. Wie Alfred und ich war auch Frau Dr. Marx eine Veteranin des einstigen Resozialisierungsexperiments in Bergtourform. Sie hatte mir damals eine Gewehrkugel aus der Arschbacke gepolkt, doch aller gebotenen Dankbarkeit zum Trotz hatte ich sie vorher nicht gemocht und nachher nicht gemocht, mochte sie immer noch nicht und sah auch für die Zukunft eher schwarz, was meine Gefühle für sie anging.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, wandte sie sich mit einer Sachlichkeit, der nicht viel zur Schroffheit fehlte, wieder an mich. »Doch wie es der Zufall will, könnte ich möglicherweise Ihre Dienste gebrauchen.« Frau Dr. sah mich erzwungen freundlich an. Ich sah wenig begeistert zurück.
»Wusste gar nicht, dass Sie hier arbeiten«, sagte ich schließlich, um auch mal etwas zu sagen. »Und dass Alfred hier wohnt. Ist Egon auch hier? Oder sonst einer von der Truppe?«
»Nein. Nachdem man mir diese Stelle angeboten hat, habe ich explizit Alfred ermutigt, mit hierhin umzuziehen. Die logopädische Versorgung ist so ziemlich die beste im Land.«
»Davon habe ich bisher noch nicht viel gemerkt«, sagte ich, doch sie ging nicht darauf ein.
»Zurück zu dem Angebot, das ich Ihnen unter Umständen machen könnte. Ich denke, ich übertreibe nicht, Herr Kryszinski, wenn ich sage, dass sich hier merkwürdige Dinge abspielen.« Sie sah mich ernst und abwartend an.
»Aha«, sagte ich schließlich und bemühte mich, dreinzublicken wie jemand, dem solch ein Statement die Socken auf links zieht.
»Ist ›aha‹ etwa alles, was Sie dazu zu sagen haben?«, fragte sie vorwurfsvoll.
Vorwurf und Wehklagen waren ihre liebsten Ausdrucksformen, grundsätzlich vorgetragen mit einer gezogenen, gern auch mal ins Weinerliche abdriftenden Stimmlage, die mich fatal an das Gejanke meiner Katze erinnerte, und genau das verwehrte es mir, etwas anderes für die Frau Dr. zu empfinden als einen ausgesprochen wetterfesten Widerwillen.
»Ich erhole mich noch von dem Schock, den Sie mir mit Erwähnung der ›merkwürdigen Dinge‹ eingejagt haben«, sagte ich. »Sie hätten mich vorwarnen können.«
Wir saßen uns an ihrem altmodischen Schreibtisch gegenüber. Sie fummelte die ganze Zeit mit einem langen, spitzen Bleistift herum, und ich sehnte mich nach einem Bier, einer Zigarette, einem Tag Schlaf und spielte mit dem Gedanken, einfach aufzustehen und zu gehen. Ich hatte Menden meinen Führerschein abgeluchst, ich hatte Alfred nach Hause gefahren und ebenso einfühlsam wie leider ergebnislos befragt. Alles weitere brauchte mich eigentlich nicht zu kümmern.
»Ich frage mich nicht zum ersten Mal, was Sie hinter Ihrem Sarkasmus zu verbergen versuchen.«
»Ja, das ist auch mir ein Rätsel.«
Frau Dr. setzte ihren Rollstuhl ein Stück zurück, steuerte ihn dann um den Schreibtisch herum und brachte ihn knapp vor meinen Zehen zum Stehen. »Wir sind dabei, hier die modernste forensische Klinik Deutschlands zu bauen«, dröhnte sie mich an. »Und je näher wir unserem Ziel kommen, desto hässlicher wird der Widerstand der zum großen Teil reaktionären oder religiös verblendeten Anrainer.«
»Na ja«, meinte ich. »Wer will schon gerne Tür an Tür mit kriminellen Wahnsinnigen …«
»Verschonen Sie mich mit Ihren Ansichten«, unterbrach Frau Dr. mich barsch. »Ich kann diesen Satz nicht mehr hören.« Sie ruckte ihren Rollstuhl gereizt hin und her. »Wie steht es eigentlich momentan um Ihre berufliche Auslastung?«, wollte sie dann wissen.
»Tja«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Ich habe natürlich keinerlei Budget, um einen Detektiv zu engagieren, doch ich kann Ihnen – vorausgesetzt, Sie sind mittlerweile drogenfrei … Das sind Sie doch, oder?«
»Tja«, antwortete ich.
»Also unter der Voraussetzung – nein«, sie stach ihren Bleistift so energisch in meine Richtung, dass ich unwillkürlich den Kopf zurücknahm, »unter der Bedingung völliger Drogenfreiheit und alkoholischer Abstinenz kann ich Ihnen eine Stelle hier im Hause anbieten, und zwar als …«
»Sagen Sie’s nicht«, unterbrach ich sie hastig.
Sie blickte überrascht. »Es ist natürlich nichts Großes, aber immerhin eine feste Anstellung als …«
»Bitte nicht. Ich hab’s mal versucht, und die eine Erfahrung reicht mir.«
»Aber ein Job als Wachmann sollte doch ganz auf Ihrer Linie liegen.«
»Ach so«, sagte ich. »Wachmann.«
»Ja, natürlich. Was hatten Sie denn erwartet?«
»Hausmeister«, antwortete ich.
»Also, hätten Sie Interesse?«
»Wenn, dann bräuchte ich einen Vorschuss«, sagte ich, und Frau Dr. brach ihren Bleistift mittendurch.
Ich erklomm die letzte Stufe, hoch zur siebten Etage, reich an Schweiß, wenn auch knapp an Luft, doch alles ist besser als mit dem Aufzug stecken zu bleiben. Ich erklomm also die letzte Stufe und ein irgendwie lagerfeuriger Geruch weitete mir die Nüstern. Rum ums Eck, und mein Freund Pierfrancesco Scuzzi taumelte mir entgegen wie ein Schlafwandler nach einem Schlag auf den Schädel.
»Kristof.« Er erkannte mich. Immerhin. »Ich wollte zu dir«, erklärte er im Tonfall eines vollkommen verblüfften Kindes. »Aber du warst nicht da.«
»Na so was«, sagte ich beruhigend.
Weiß der Schinder, was er sich wieder eingepfiffen hatte. In Scuzzis Haar allein ließe sich eine wahrscheinlich größere Vielfalt an Wirkstoffen nachweisen als in hundert Metern noch so wohlsortierten Apothekenregals. Von seinem Blut wollen wir gar nicht erst anfangen.
»Aber komm, lass uns reingehen.« Ich fasste ihn sachte am Arm, und er ließ sich willig den Flur hinabführen.
»Es ist alles weg«, sagte er übergangslos und offenbar nur halb anwesend. »Alles«, wiederholte er. »Alles weg. Verbrannt.«
»Verbrannt«, echote ich nicht wirklich überrascht, hatte Scuzzi doch etwas ausgesprochen Angeschmurgeltes an sich, mit rußigem Gesicht und Händen, Brandlöchern in seinem T-Shirt und der alten Jogginghose, mit der er es sich spätabends so gern gemütlich macht. Dazu kam der schon erwähnte, nicht von der Hand zu weisende Geruch, der entfernt an Mettwurst erinnerte. Die aus dem Buchenrauch.
»Ja, verbrannt. Alles. Meine Wohnung, meine Sachen – es ist alles weg. Alles.«
Ich weiß nicht, wieso, aber als Erstes kreuzte Scuzzis Plattensammlung den Pfad meiner Gedanken, und das rechte Mitgefühl, das Gefühl, Zeuge eines großen, tragischen Verlustes zu werden, wollte und wollte sich nicht einstellen.
»Wie konnte das passieren?«, fragte ich, weil so was in solchen Momenten von einem erwartet wird. Davon abgesehen hatte ich schon das ganze Szenario vor Augen: Es begann mit einer entschlossen niedergerungenen Flasche Calvados.
»Ich habe keine Ahnung.« Sein ausweichender, leicht gehetzter Blick strafte ihn Lügen. »Vielleicht Brandstiftung?«
»Brandstiftung«, wiederholte ich und bekam einen Unterton von Skepsis nicht vollkommen aus der Stimme verbannt. Der leeren Flasche Calvados folgte ein fetter Joint.
»Ja. Damit mein Vermieter die Versicherung abkassieren kann, was weiß denn ich. Oder mein Laptop ist implodiert.«
»Dein Laptop. Implodiert.« Zum Joint gesellten sich zwei schwere Lider.
»Oder mein Fernseher. So was passiert. Ich weiß nur, plötzlich war die ganze Bude voll Qualm und Flammen.«
Schwere Lider. Eine Glut, dick wie ein Weinkorken, in sackender Hand. Ein wie auch immer gestaltetes Polstermöbel. Sessel, Sofa, Federkernmatratze. Glut trifft Textil. Ein Moment der Vereinigung. Ein Schwelen, ein Kokeln, ein Aufflammen. Dann: Lalü-lala.
Ich sagte nicht: Wie furchtbar. Ich sagte nicht: Oh, mein Gott, da hast du ja gerade noch mal Glück gehabt. Ich sagte aber auch nicht: Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst die Scheiß-Kifferei im Bett sein lassen?
Stattdessen sagte ich: »Wie blöd kann man denn sein? Die eigene Hucke abzufackeln?«
Scuzzi verschränkte die Arme vor der Brust im Versuch, Schuldbewusstsein mit Bockigkeit zu kaschieren. Dann hustete er eine Weile kehlig vor sich hin, bis ich ihn in meinen Sessel schob und ihm ein Bier aus dem Kühlschrank holte.
»Weißt du, was das Schlimmste ist?«, fragte er ein paar lange Schlucke später. »Das Allerschlimmste?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich muss jetzt zu dir ziehen.«
»Ach du Scheiße«, entfuhr es mir. Aus tiefster Seele und von ganzem Herzen. Denn ich konnte es drehen und wenden wie ich wollte, ich sah mich nicht mit der verfluchten Katze und Pierfrancesco Scuzzi zusammen auf 28 Quadratmetern hausen, ohne entweder die eine oder den anderen über kurz oder lang gewaltsam vom Leben zum Tod zu befördern. Doch dann erhellte sich mein Gemüt fast augenblicklich wieder. Ich musste ja gar nicht. »Pierfrancesco, mein Junge«, sagte ich väterlich, »nimm’s nicht so schwer. Ich sag dir was: Du kannst meine Bude haben, ganz für dich allein, bis du dich wieder bekrabbelt hast. Oder von mir aus, solange du willst.«
»Ja – und was machst du in der Zeit?«
»Ich ziehe so lange aufs Land.«
»Aufs Land?«
»Aufs Land.« Viel ländlicher als Duisburg-Mündelheim geht es nicht. Felder, Wiesen, Äcker, Bauern, Höfe: Land. Auch wenn Containerstapel den nördlichen Horizont wie eine buntlackierte Skyline beherrschten.
»Meine einzige Bedingung: Du musst während meiner Abwesenheit die Katze fütt… Nein, du musst sie töten. Umbringen, abkehlen. Wie, ist mir egal. Versprich es, und hier sind die Schlüssel …«
Da klopfte es an der Tür.
Es war der Gerichtsvollzieher, es war der Hausverwalter, es waren zwei uniformierte und ausgesprochen muffig dreinblickende Polizeibeamte. Durchsetzung der Räumungsklage, hieß es. Wegen Mietrückständen, hieß es. Augenblicklich, hieß es.
Scuzzi und die Katze sahen mich an.
»Ach du Scheiße«, sagte ich.
»Nachtwächter«, sagte Scuzzi trocken. »Herzlichen Glückwunsch.«
»Objektschützer«, korrigierte ich ihn und legte den Vierten ein. Auf dem Rücksitz quäkte die Katze in ihrem Transportkorb.
»Jacke wie Hose.«
»Pierfrancesco, mein Junge, du hast es im Laufe deiner Karriere vom notorischen Kleindealer zum wortwörtlich abgebrannten Kleindealer gebracht, also verschone mich bitte mit deiner Kritik an meinem beruflichen Werdegang.«
»Trotzdem, ein Idiotenjob.«
»Du vor allem solltest froh sein, dass ich ihn angenommen habe.« Der Job als Wachmann kam komplett mit Dienstwohnung auf dem Gelände der Stiftung. Deshalb hatte ich unterschrieben, auch ohne Vorschuss.
»Kristof, warum gehst du nicht wie jeder andere zum Sozialamt, wenn du dermaßen pleite bist?«
»Tja.«
Die Elenor-Nathmann-Stiftung lag in Sichtweite sowohl der Bundesstraße 8 wie des Rheins, eingebettet in hauptsächlich landwirtschaftliche Nutzflächen. Ein Trecker zog in direkter Nachbarschaft einen Tankanhänger hinter sich her, der das versprühte, was der Städter für gewöhnlich als ›Landluft‹ versteht. Mitten auf dem Acker reckte sich ein hoher, schon lange abgestorbener Baum in den Himmel wie ein Totem. Schwarze Vögel umflatterten ihn krächzend, hockten auf seinen Ästen und schissen ihm einen weißlichen Anstrich auf den nackten Stamm. Rastlose Kräne und das buntgewürfelte Aufeinander von Überseecontainern erinnerten daran, dass der Duisburger Hafen nur einen Gewehrschuss entfernt war.
Das Village bestand aus lauter eingeschossigen Bauten, was Sinn macht, wenn man eine Menge Bewohner in Rollstühlen oder an Gehhilfen unterzubringen hat, und war ringförmig angelegt, was schlau ist, wenn die Beweglicheren unter den Bewohnern gewisse Schwierigkeiten mit der Orientierung an den Tag legen. So aber konnten sie spazieren, so lange und so weit sie wollten, irgendwann kamen sie immer wieder bei sich zu Hause vorbei. Individuelle Farbgestaltung der Fassaden und riesige, aufgemalte Hausnummern sollten dabei helfen, das auch zu realisieren.
Die Außenwände meines Apartments waren in zartem Grün gehalten und mit einer ›2‹ nummeriert, prägte ich mir ein. Ein kleiner Vorgarten mit einem schattenspendenden Kirschbaum gehörte dazu. Drinnen war alles ganz zweckmäßige Schlichtheit, verteilt auf … 28 Quadratmeter. Mal wieder.
Ich hob den Katzenkorb aus dem Wagen und ließ das Miststück auf der Stelle frei, in der Hoffnung, sie möge sich bei irgendjemand anderem einschleimen oder auf der nahen B 8 überfahren werden oder sonst wie abhanden kommen.
Scuzzi machte es sich in einem Gartenstuhl bequem und wirkte, als erhoffe er sich irgendeine Form von Bedienung. Die Katze lief schnurstracks ins Apartment und äußerte in hohen, mauligen Tönen eine ähnliche Erwartungshaltung.
28 Quadratmeter, dachte ich. Zusammen mit den beiden. ›DUISBURGER BRATPFANNEN-MÖRDER LACHT BEI SEINER VEHAFTUNG‹ erschien vor meinem geistigen Auge. Mühsam löste ich meine wie um den Griff einer Gusseisernen verkrampften Hände und ließ, im Bedürfnis nach Ablenkung, den Blick schweifen.
Ringsherum tobte der Alltag der Stiftung.
Alte wurden in ihren Rollstühlen oder Betten zum Lüften raus in den Schatten geschoben oder schusselten, zusammen mit Psychiatrie-Patienten jeden Alters mal mehr, mal weniger wichtig in der Sonne herum. Selbstgespräche schienen allgemein zum guten Ton zu gehören.
Ein Pärchen, das der Sommerhitze in dicken Lammfellwesten trotzte, wie man sie zuletzt an Sonny & Cher gesehen hat, stand Hand in Hand und bestaunte sprachlos eine Gartenbank.