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Verschlußakte DDR

Fälle aus MfS, Polizei und NVA

Klaus Behling | Jan Eik

Tod bei der Fahne

Namen, die mit * versehen sind, sind den Autoren bekannt, wurden aber aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert.

eISBN 978-3-86789-557-6

© 2013 BEBUG mbH, Berlin

BEBUG mbH/Edition Berolina

(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

www.buchredaktion.de

Inhaltsverzeichnis

Unfehlbar, Allmächtig, Unsterblich? – Eine Vorbemerkung

Transit in den Tod

Die doppelte Ute

Mit der Geisterbahn nach West-Berlin

Der scheintote Verfassungsschützer

Tatort Bautzen?

Der gefälschte Held

Angst vorm elektrischen Stuhl

Ganoven im Stasi-Sold

»Der Mann ist ein Sicherheitsrisiko«

Falsche Postler, Echte Diebe

Posträuber

Leichenöffnungsbericht 620/8V

Briefgeheimnisse

»Geschenksendung, keine Handelsware«

Partisanen im Feindesland

Untergrundkämpfer für den Westen

»Wally«, »Rosa« und »Maria«

Die Stasi übernimmt

»Gruppe Forster«

Auch der Westen rüstet auf

Gewalt, Verrat, Betrug und Lüge

Erfundene Spione

»Beschuldigter 595«

Eine fatale Affäre

Der kriminelle Stasi-Alltag

»Bitte kratzen«

Der Beschaffer

Lolitas Zuhälter

Ein Schloss für den Minister

Entführung aufs Schafott

Rache

Mordplan Th.

Carola Stern und ein Mann mit Vergangenheit

Bruno und Susanne Krüger

Muraus Flucht

Die Tochter

Die Entführer

Operation »Lump«

Ein Happyend nach Stasi-Art

Ein Akademiker im Ruhestand

Wie John Kling zur Stasi kam

Ein Mann mit vielen Namen

Eine kurze Karriere

Der Unentbehrliche

Der unerwartete Tag X

Kundschafter in vollem Einsatz

Lohn der Angst

Der Mörder ist unter uns

Ein erster Verdächtiger

Fleischer widerruft

Das Oberste Gericht entscheidet

Ein neues Urteil

Wohlwollende Richter

Ein unbefriedigender Schluss

Tod bei der Fahne

Der Klassenstandpunkt und der verfluchte Schnaps

Eine Bilderbuchkarriere

Manöver

Hat Hand an sich gelegt …

Die verschwiegene Vorgeschichte

Volkspolizisten als Mordopfer

Ein unaufgeklärter Mord

Detektive aus dem Volk gefragt

Endlich ein Verdächtiger

Ermittlungen in der Sackgasse

Kompetenzgerangel

Die Zeit vergeht

SG und IM-Kandidaten und kein gutes Ende

Freunde

Kollateralschaden

SBZ?

Zwei Tote im Wald

Deckname »Vergeltung«

Privatangelegenheiten – Ein letztes Kapitel

Papa Mielke

Schwarzarbeiter

Die Renten der Agenten

Unfehlbar, Allmächtig, Unsterblich?

Eine Vorbemerkung

Am Schluss ist nur noch der letzte musikalische Gruß am Grab konspirativ: Der Trompeter hat zwar die Noten von Mozarts »Ave Verum« auf sein goldglänzendes Instrument gesteckt, aber dann spielt er doch lieber »Von all unseren Kameraden, war keiner so lieb und so gut …«

Als die Urne des DDR-Spionagechefs Markus Wolf am 25. November 2006 in der Berliner »Gedenkstätte der Sozialisten« in die Erde gleitet, fehlt kein einziges der üblichen Geheimdienstklischees.

»Nur die, die reinen Herzens sind, verabschieden sich so aus dem Leben«, lässt Russlands Botschafter Vladimir V. Kotenev in den lauen Spätherbstvormittag schallen. – Meint er damit, dass Geheimdienste unfehlbar sind?

»Wenn die Wende in der DDR ohne Blutvergießen verlief, haben wir es auch Markus Wolf zu verdanken«, diktiert Hans Modrow, der letzte SED-Ministerpräsident der DDR, den Journalisten in den Block. – Will er damit sagen, dass die Stasi so mächtig war, auf alles einzuwirken?

Doch das ist längst noch nicht alles: »Ehrendes Gedenken« bezeugt die »Leitung der HVA« mit einem Kranz aus roten Nelken. Diese »Leitung« gibt es seit fast 16 Jahren nicht mehr – der Geheimdienst wäre demnach wohl sogar unsterblich?

Unfehlbar, allmächtig, unsterblich?

Göttliche Attribute, die sich die Herren mit den steifen Gesichtern gern anheften. Sie meinen sie durchaus ernst. Und über die ansonsten im einfachen Volk verbreiteten James-Bond-Klischees – schnelle Autos, attraktive junge Frauen, Sonnenbrillen und exotische Kulissen – können sie sogar lächeln.

Aber all diese Schablonen sind falsch und verlogen.

Geheimdienste sind brutale Machtinstrumente der jeweils Herrschenden. Sie machen ihre Protagonisten zu Rädchen in einem für die Betroffenen selbst undurchschaubaren Getriebe, instrumentalisieren Gefühle und Empfindungen und lassen sie wie eine ausgesaugte Frucht fallen, wenn sie nicht mehr »nützlich« sind.

Viele ihrer Methoden sind in einer kriminellen Grauzone angesiedelt, Unrechtsbewusstsein wird vom alles heiligenden Zweck unterdrückt.

Wer sich mit dem Geheimdienst einlässt oder in dessen Visier gerät, ist nahezu automatisch auch kriminellen Praktiken ausgesetzt. Als Täter nutzt er sie, als Opfer erleidet er sie. Manchmal sind die Grenzen zwischen beiden auch verwischt.

Wenn die Schattenmänner dann auch noch einer subtil strukturierten Diktatur dienen, ist die Gefahr einer kriminellen Verstrickung besonders groß. Denn immer geht es um die Macht, immer geht es um aggressive Aktionen, die allein den gewünschten Erfolg versprechen.

Unter diesem Dach spielen unzählige Geschichten von Hoffnung und Glauben, Verrat und Missbrauch, Enttäuschungen und Betrug.

Meist sind sie spannend, manchmal unterhaltsam, ein anderes Mal fast unglaublich, skurril und voller schwarzem Humor. Immer aber verbergen sich Tragödien dahinter, weil stets irgendeiner irgendwo auf der Strecke bleibt.

Transit in den Tod

Mit dem Blinddarm hatte Heinz Fischer nie Probleme.

Für den Studenten an der berühmten Universität in Cambridge lief überhaupt alles glatt.

Das Studium belastete ihn nicht besonders, die Ruderer-Konkurrenten aus Oxford wurden auch immer mal wieder besiegt und Geldsorgen kannte er nicht.

Nur einmal, das war 1966, ärgerte ihn ein kleiner Zwischenfall; Heinz Fischer hatte seinen deutschen Ausweis verbummelt.

Doch auch das war kein Problem. Die Bonner Botschaft an der Themse schrieb einfach ein neues Dokument aus.

Drei Jahre später reist Heinz Fischer damit nach Hamburg. In Deutschlands Medienmetropole redeten damals alle nur von den Wunderdingen, die diese neuen Computer inzwischen so können. Sogar bis auf den Mond hatten es die amerikanischen Apollo-Astronauten mit Hilfe der elektronischen Rechenkisten geschafft. Punktgenau, das hat Heinz Fischer am 20. Juli 1969 mit eigenen Augen im Fernsehen gesehen.

Natürlich will er auch so einen EDV-Kurs machen und wenn schon, dann gleich richtig. Studieren ist er ja gewöhnt. Die DGB-Bundesfachschule für Datenverarbeitung in Hamburg bietet das Passende für ihn an.

Das ist der Karriere nützlich. Heinz Fischer steigt wenig später als EDV-Abteilungsleiter bei einer Bank ein.

Ein paar Jahre lang passiert nichts. Bis zum Frühjahr 1973.

Heinz Fischer ist inzwischen in sicherheitsrelevanten Bereichen tätig und die Spionageabwehr des Bundesamtes für Verfassungsschutz überprüft seine Daten: Brillenträger – stimmt, bis Herbst 1965 der Job beim Bahnpostamt Köln-Deutz – kann sein, Volksschulabschluss – Moment, jetzt werden die Abwehrleute stutzig. Der Mann hat doch in England studiert. Ohne Abi geht das aber nicht!

Konspirativ gehen sie erst einmal auf Dienstreise nach Köln.

Natürlich können sich die älteren Kollegen dort noch an Heinz Fischer erinnern. Hat ein bisschen Pech gehabt, der Junge. 1955 aus der Zone in den Westen geflohen, dann von der Freundin verlassen, beruflich ging es auch nicht so recht voran. Gewundert hat sich jedenfalls niemand, als er im Herbst 1965 den Kollegen erzählte, er wolle in die DDR zurück …

Jetzt ist die Spionageabwehr hellwach. Offenbar sind die Geheimen einem Doppelgänger auf die Spur gekommen. Sie observieren Pseudo-Fischer, denn noch ist ihm kaum etwas nachzuweisen.

Es ist Sommer und eines Tages geht der Banker in der Elbe baden. Körper unauffällig, keine Narbe, nichts, registrieren die Beschatter routiniert.

Das ist es!

Wäre Fischer echt, müsste er eigentlich eine Blinddarmnarbe haben. Ihr Fehlen hat den ansonsten so sorgsam vorbereiteten Doppelgänger aus dem Osten verraten.

Nun geht die Sache ans BKA, denn der Verfassungsschutz darf nicht so einfach verhaften. Immerhin geht es ja um ein kriminelles Delikt. Wer in Deutschland unter falschem Namen mit falschen Papieren lebt, macht sich strafbar.

Natürlich vermuten die Ermittler, dass es sich um Spionage für die DDR handeln könnte. Und die funktioniert kaum ohne die sorgsam vertuschte Begleitkriminalität – von falschen Papieren über Nötigung bis zur Erpressung. Kein Jurist, weder im Westen, noch im Osten, unterscheidet zwischen »guten« und »schlechten« Straftaten. Spionage und Landesverrat werden strafrechtlich nicht anders behandelt als zum Beispiel die Kriminalität im Rotlichtmilieu. Helden sind die Täter nur für die jeweils andere Seite. Deshalb sind überstürzte Fluchten und wilde Verfolgungsjagden – meist auch wieder mit hohem kriminellen Potential – an der Tagesordnung.

So auch in diesem Fall. Als die Fahnder dreimal klingeln, ist Heinz Fischer weg.

Glück im Unglück für den ertappten Spion: Er hatte sich in eine seiner Kolleginnen verliebt und das passte der Truppe von Markus Wolf in Ost-Berlin nicht. Ohne zu ahnen, dass sich über ihrem Mann in der Hansestadt das Netz bereits eng zusammengezogen hatte, beorderten sie ihn zufällig just in dem Moment hinter den Eisernen Vorhang zurück, als das Greif-Kommando mit dem Peterwagen voran anrückte.

So glimpflich geht es jedoch nicht immer beim Einsatz an der unsichtbaren Front ab.

Die doppelte Ute

Das war doch klar, das hat er doch gleich gewusst. Bremsen quietschen, dann ein dumpfer Schlag. Taxifahrer Horst K. ist Zeuge des Unfalls, den er Sekundenbruchteile zuvor hat kommen sehen. Natürlich funkt er sofort die Zentrale an: »Schwerer Unfall Neue Kantstraße 22«. Es ist 17.21 Uhr und wenig später erscheinen Polizei und ein Krankenwagen der Berliner Feuerwehr.

Horst K. könnte sich schon wieder aufregen. Wie auf dem Dorf hat sich die junge Frau bewegt! Ohne nach rechts und links zu gucken, durch die Autos durch und rauf auf die Strasse. Wie auf dem Dorf! Und das in Berlin, »inne ßitti«, wie die Kutscher vom »Würfelfunk«-Taxi stolz das Zentrum ihrer halben Stadt seit dem Mauerbau nennen. Und das ganze auch noch acht Tage vor Weihnachten!

Es ist der 16. Dezember 1968, und Horst K. ein guter Zeuge. Noch während die beiden Feuerwehrmänner die aus einer Kopfwunde blutende Frau bergen, gibt er seine Beobachtungen zu Protokoll. Kaum zu sehen war die junge Frau an diesem düsteren Nachmittag, trotz ihres hellen Popelinemantels. Und sie hat weder nach links, noch nach rechts geguckt. Das hat er doch gleich gewusst, das konnte doch nur mit dem Schlimmsten enden …

Das sieht ein paar Monate später auch das Jugendschöffengericht so: »Das Opfer hat durch verkehrswidriges Verhalten seinen Tod mitverschuldet«, stellen die Richter fest. Der 20-jährige Unfallfahrer, Norbert W. aus Charlottenburg, kommt in der ersten Instanz mit einer Geldbuße von 800 DM wegen »fahrlässiger Tötung« davon.

Minuten nach dem Unfall war die bewusstlose Frau damals ins Westend-Krankenhaus eingeliefert worden. Die etwa 30-Jährige hatte keine Papiere dabei, aber ein Notizbuch mit einer Telefonnummer in Frankfurt am Main.

Der ermittelnde Polizeibeamte ruft dort an. Ein Kaufmann ist am Apparat, der sich auch sofort erinnert: Ja, einer Frau Ute Schwarzer* habe er in Berlin seine Nummer gegeben. Nein, ein Irrtum ist nicht möglich. Sie ist Lehrerin in Hannover und wollte sich bei Gelegenheit mal melden. So haben sie es nach ihrem Ku’damm-Bummel verabredet. Dann hat er die Dame ins Hotel »Frühling« am Zoo gebracht. Natürlich in der Lobby verabschiedet, er kannte Ute Schwarzer ja kaum.

Im gewohnten Trott macht sich die Polizei an die nun nötige Routinearbeit. Im Hotel wird sie fündig und findet im Zimmer der Verunglückten einen auf Ute Schwarzer ausgestellten Reisepass mit der Nummer C 0842 98. Die Daten werden nach Hannover übermittelt, schließlich können die Kollegen dort auch mal etwas tun. Außerdem ist das Überbringen einer Unglücksnachricht ohnehin kein angenehmer Job.

Der Beamte in Niedersachsen hat dennoch kein Problem damit, denn Ute Schwarzer öffnet ihm persönlich, als er klingelt. Die Lehrerin kann ohne lange zu suchen, auch ihren Pass vorweisen. Er trägt die Nummer C 2921 087.

Darüber geht nun eine Meldung nach Berlin, denn irgendwas stimmt ja wohl nicht an der ganzen Sache.

Dort war die nun wieder völlig unbekannte Frau im Westend-Krankenhaus nicht mehr erwacht und Stunden nach dem Unfall an »Gehirndruck« verstorben. Ihre sterbliche Hülle wird ins Leichenschauhaus Invalidenstrasse 59a in Moabit gebracht.

In der geteilten Stadt kann solch ein mysteriöser Fall schnell einen politischen Hintergrund haben. Deshalb ermitteln nun die Beamten der Abteilung I, die für die politischen Fälle zuständig sind. Sie fangen noch einmal ganz von vorne an.

In der braunen Lederhandtasche der Toten finden sie einige Packungen DDR-Zigaretten der Marke »Belvedere«. Beim weiteren Stöbern kommt dann ein Geheimfach zum Vorschein. Darin stecken 200 West-Mark und eine Ansichtskarte mit einem unverfänglichen Text, aber einer Adresse in der DDR.

Den Reisepass haben sich indes die Kriminaltechniker vorgenommen. Schnell erkennen sie eine Totalfälschung. Der Name wurde von Ute Schwarzer »entliehen«, die Passnummer von einem anderen Hannoveraner Bürger.

Nun wandert der Vorgang an die Spionnagabwehr beim Verfassungsschutz. Dort ist man sich sicher, dass der gefälschte Pass und die Handtasche mit dem »Container« aus Ost-Berliner Werkstätten stammen. Die Stasi ist für die Machart von derartigem Reisegepäck einschlägig bekannt.

Die Fremde dürfte sich in West-Berlin auf dem Weg zu einem Spionageauftrag irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang befunden haben, als ihre Reise zum Transit in den Tod geriet.

Aber wie heißt die dunkelhaarige Frau im Leichenschauhaus? Die Ermittlungen zu dem Unfall mit Todesfolge in der Neuen Kantstrasse stecken in der Sackgasse, denn von der Stasi ist kaum Auskunft zu erwarten.

Doch plötzlich geschieht etwas, was jeder durchschnittliche Krimi-Autor mit dem Satzklischee vom »Eingreifen des Kommissars Zufall« beschreiben würde.

Per Telefon meldet sich nämlich der West-Berliner Anwalt Jürgen Stange und begehrt im Auftrag seiner Ost-Berliner Mandanten die Genehmigung zur Überführung der Leiche in die DDR. Den Namen der Toten gibt er mit Gerda Kabel* an, geboren am 14. April 1939 in Chemnitz, jetzt Karl-Marx-Stadt.

Nun werden die Verfassungsschützer hellhörig, denn Jürgen Stange ist kein Unbekannter im west-östlichen Agententauschgeschäft. Er hatte mit seinem Ost-Berliner Kollegen Wolfgang Vogel im Februar 1962 die Freilassung des amerikanischen Piloten Gary Powers gegen den Sowjet-Spion Rudolf Abel gemanagt, der mit richtigem Namen William Genrichowitsch Fisher heißt.

Schnell wird nun klar, dass auch der Schlüssel für die Rückführung der Leiche Gerda Kabels alias Ute Schwarzer im geheimdienstlichen Dunstkreis zu suchen sein würde.

Und so ist es auch: Das Ministerium für Staatssicherheit hatte die Eltern der jungen Frau in der DDR informiert, dass ihre Tochter in West-Berlin ums Leben gekommen sei. Die wiederum baten Anwalt Stange mit Duldung der Ost-Berliner Behörden, die Überführung zu bewerkstelligen.

Das ist kein Problem, aber die Lösung des Falls hat ihren Preis.

Der Senat lässt Jürgen Stange wissen, dass er an einem Agentenaustausch durchaus interessiert sei und im Gegenzug zwei in der DDR inhaftierte West-Späher erwarte. Ohne lange zu zögern, stimmt die DDR zu.

Am 27. Dezember 1968 holt ein Leichenwagen des Ost-Berliner »Städtischen Bestattungswesens« den Sarg in der Invalidenstrasse West ab und verschwindet damit über den gleichnamigen Grenzübergang Richtung Osten.

Per S-Bahn kehren wenige Stunden später zwei BND-Spione aus der DDR-Haft nach West-Berlin zurück.

Damit hat die Stasi zwar keinen besonders guten Tausch gemacht, aber so ist die peinliche Angelegenheit wenigstens vom Tisch.

Im Westen spekulieren noch ein paar Zeitungen, ob die Stasi bei dem Unfall in der Kantstraße nicht ein wenig nachgeholfen haben könnte, doch das bleiben Vermutungen.

Im Osten wird die Aktion Rückführung ausgewertet und durchaus kritisch gesehen. Immerhin musste die Stasi den Namen der Toten preisgeben und deren letzte Reise außerdem noch mit zwei »Faustpfändern« bezahlen – es ist der Preis für die kriminellen Aktivitäten in der anderen Hälfte der Stadt. Das soll nicht wieder vorkommen.

Deshalb lassen sich die Genossen in der Normannenstraße ein paar Jahre später etwas ganz anderes einfallen, als »die Freunde« vom KGB bei einer ihrer kriminellen Aktionen Hilfe brauchen.

Mit der Geisterbahn nach West-Berlin

»Naa’sche«, die unseren, nennen die Russen ihre DDR-Untertanen. Das klingt zwar familiär, aber lässt auch erkennen, wer das Sagen hat. Die »richtigen Deutschen«, die aus »Germanija«, sind für die Genossen in Moskau eher jene, die hinter dem Eisernen Vorhang stecken.

Ihr Geheimdienst KGB hat natürlich beide Sorten fest im Auge. Über sie wachen rund 1000 KGB-Männer und einige wenige Frauen. Ihr Hauptquartier befindet sich im Ost-Berliner Stadtteil Karlshorst.

Von dort geführte Spionageaktionen im »Operationsgebiet« sind mehrfach gesichert. Nur der Führungsoffizier kennt den Namen des Agenten, dessen gesamtes Umfeld peinlich genau überwacht wird.

Ist der geheime Späher an der unsichtbaren Front dann auch noch aus familiären Motiven Spion geworden, wird das um so schwieriger.

So wie bei Josef Springer*. Seit 1977 dient der West-Berliner Journalist dem KGB. Er meint, damit eine Dankesschuld gegenüber seinen Eltern abtragen zu müssen.

Springers Vater musste als Jude 1937 Hals über Kopf seine Heimat Österreich verlassen. Seine Mutter war Kommunistin und brachte sich ebenfalls vor den Nazis in Sicherheit. Beide wanderten nach Südafrika aus.

Dort störte sie nach dem Krieg zunehmend die Apartheid-Politik, die ihnen schließlich ein ruhiges Weiterleben am Kap unmöglich machte. Über die Bundesrepublik zogen die alten Springers in die DDR, weil sie meinen, dort ihre wahre Heimat finden zu können.

Im »ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden« bringt der Vater seinen Sohn mit dem KGB in Kontakt.

Das ist nicht nur ein Gastgeschenk für die neuen Asyl-Geber. Vater Springer ist ehrlich davon überzeugt, eine Hilfe für die Sowjetunion wäre immer auch ein Stückchen Kampf gegen die Apartheid. Der scheint ihm bitter nötig, doch selbst kann er ihn nicht mehr leisten. Der dankbare Sohn ist aber bereit, das für die Familie zu tun.

Schon als Volontär und später dann als junger Reporter zweier West-Berliner Zeitungen liefert er Stimmungsberichte an die Sowjets. Dann, von 1984 bis 1987, wird er einer der Redenschreiber des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen und hat so die Möglichkeit, interne Stimmungsbilder aus der CDU und dem Senat zu verraten.

Ab 1988 arbeitet Josef Springer in der Presseabteilung der US-Mission. Nun tun die Russen alles, um ihre potentielle Spitzenquelle bei den Amerikanern zu schützen.

Doch das ganze Geheimdienstgeflecht droht zu zerreißen, als Josef Springers Mutter Mitte 1988 im Berliner Ostsektor verstirbt. Herzversagen, so wie es bei älteren Leuten oft vorkommt.

Dass der Mitarbeiter der US-Mission bislang peinlich verschwiegene Verwandtschaft im Osten hat, muss unbedingt geheim bleiben. Deshalb greift die KGB-Einsatztruppe zu einem rüden Mittel, um sich der Leiche der Frau zu entledigen: Die Tote wird eines Nachts einfach in eine der im Transit unter Ost-Berlin verkehrenden West-U-Bahnen gesetzt.

Dazu reicht ein kurzer Stopp irgendwo zwischen Jannowitzbrücke und Rosenthaler Platz in Ost-Berlin. Die Grenzer sind vorsorglich für ein paar Minuten abgezogen und die West-Züge fahren ohnehin im Schritttempo durch die unbeleuchteten und verdreckten Geisterbahnhöfe im Osten.

Im Westen soll man die Tote finden und denken, sie sei während eines Besuches bei ihrem Sohn in West-Berlin verschieden.

So läuft es wohl auch und ohne das Ende des Kalten Krieges wäre Frau Springers letzte Reise ewig geheim geblieben.

Da das KGB die Rückkehr der Toten aus der »Hauptstadt der DDR« per Geisterbahn aber nicht ohne die Mithilfe der Stasi bewerkstelligen konnte, fand sich dort nach dem Ableben der DDR auch jemand, der die Räuberpistole den bundesdeutschen Behörden erzählte.

Josef Springer fliegt auf und gesteht. Das wirkt strafmildernd und so bringt ihm seine Spionage im Juni 1992 nachträglich nur noch 18 Monaten auf Bewährung und 20 000 Mark Geldbuße ein. Außerdem muss er seinen KGB-Agentenlohn von 3 000 Mark an die Staatskasse abgeben.

Und eine als »unbekannte Tote« bestattete Leiche hat wieder ihren Namen bekommen.

Der scheintote Verfassungsschützer

Regierungsamtmann. Das klingt zwar ganz gut, aber in der deutschen Beamten-Hierarchie ist der schöne Titel nicht allzu viel wert. Für NichtAkademiker so um die 40 fast das Ende der Fahnenstange, Gehalt nach A 11, rund 3 500 Mark. Bis zum Oberamtsrat kann man noch klettern, aber damit ist dann die Karriere beendet.

Und die vier Männer in der »Groß-Destille« nahe der Schöneberger Hauptstrasse sind alle so um die 40. Bei den letzten Beförderungen im Frühjahr 1982 war keiner von ihnen dabei.

Dabei sitzen sie in ihren getarnten Büros rings um die Hauptstrasse und am Fehrbelliner Platz gerade einmal fünf Busstationen von der Front entfernt. Für die Spionageabwehr hier in West-Berlin verläuft diese nämlich direkt an der Mauer.

Das schmerzt. Die jungen Schnösel von den Unis, Juristen meist, ziehen an den Frontschweinen vorbei. Deren Erfahrung ist offenbar nicht mehr so viel wert, wie irgendwelche Zeugnisse. Früher war das anders.

Wer wollte denn schon nach dem Mauerbau nach Berlin. Ohne eine anständige Zulage und die Aussicht auf eine schnelle Karriere lief da gar nichts. Und jetzt tritt man die Mühle und bleibt beim Regierungsamtmann hängen.

Bernhard Spitzwald* will da raus. Natürlich ist er frustriert, deshalb zieht er ja auch mit den Kollegen eine Molle mit Korn nach der anderen. Abgelehnt haben sie ihn, einfach abgelehnt. Ohne Begründung, man ist ja beim Geheimdienst.

Nach West-Deutschland wollte Bernhard Spitzwald, nach Hannover. War ja auch schon alles klar, der Job beim Verfassungsschutz in Niedersachsen schien wenigstens bis zur A 13 gesichert. Das wären dann runde 4 200 Mark im Monat. Damit lässt es sich schon leben und die Pension stimmt auch. Bernhard Spitzwalds Bewerbung lief ohne Probleme durch, in Berlin saß der Nachfolger für die Planstelle schon bereit.

Ob er solch ein Händchen wie Bernhard Spitzwald gehabt hätte, sei mal dahingestellt. Als »Schleusenwärter« arbeitete der Experte im mittleren Dienst für den Verfassungsschutz. Sein Job ist es, die jeweils aktuellen Visa- und Kontrollstempel mitsamt ihren geheimen Zeichen aus dem Osten zu beschaffen. »Ich sage euch, auf den i-Punkt kommt es an, auf irgendeinen Fleck, der wie ein verwischter Popel aussieht, oder auf die scheinbar zufällig fehlende Schlinge unter dem a!« Bernhard Spitzwald hatte da seine Erfahrungen.

Der sichere Rücktransport des ostdeutschen Atomspions Reiner Fülle in den Westen ging auf sein Konto. Als Operation »Veronika« lief er bei der Truppe. Er hatte für die Passfälscher von der CIA die Vorlagen besorgt, als der in die DDR geflohene Mann damals, Anfang September 1981, zurück in den Westen wollte. Trotz Villa in Kleinmachnow, Boot und zwei Autos von der Stasi gefiel ihm der Sozialismus dann doch nicht so gut. Ohne Bernhard Spitzwald könnte Reiner Fülle noch immer hinter der Mauer seine Vaterländischen Verdienstorden polieren.

Und jetzt das: Hannover hat einfach abgesagt. Die Kollegen tuscheln über irgendeinen weitläufigen Ost-Verwandten des Regierungsamtmannes, der plötzlich von den Sicherheitsfritzen entdeckt worden sei.

Die vier Männer in der »Groß-Destille« senken die Stimme, wenn es um ihre Arbeit geht. Berufsroutine. Man kann ja nie wissen, hier steckt die Stasi doch überall. Dabei will der Wirt am Messing beschlagenen Altberliner Tresen gar nicht wissen, was die Zecher zu besprechen haben. Hauptsache das Bier läuft und das tut es reichlich.

Hannover. Das Lachen der Männer klingt ebenso dröhnend wie höhnisch. Sind eben weit weg von der Front, die feinen Herren in Westdeutschland.

Eine dolle Geschichte, die da höchstwahrscheinlich hinter der Ablehnung des Kollegen Spitzwald steckt, denn so ganz aus heiterem Himmel kam die nicht.

In Hannover war nämlich vor einiger Zeit ein Mann aus dem Osten aufgetaucht, der erst beim Verfassungsschutz und dann bei der CIA erschien und frank und frei erklärte, er habe Stasi-Kontakte und hätte nun gern einen Job als Doppelagent. Natürlich haben die bloß die Hände gehoben – kein Bedarf. Und was macht der abgeblitzte James Bond?

Die Männer schlagen sich auf die Schenkel. Er wird Bau-Unternehmer, kauft sich eine Villa in Garbsen und stellt eine Sekretärin an, deren Mann beim Verfassungsschutz arbeitet. Ein paar Wochen später finden regelmäßig Bierabende im Party-Keller des spendablen Unternehmers statt. Alles Kollegen des Mannes seiner Sekretärin, zwölf Geheime zählen zum harten Kern.

Als die Sache auffliegt, ist es zu spät. »Im Dutzend verbrannt« nennt man so etwas beim Geheimdienst. Die Stasi kennt nach den bierseligen Herrenabenden nun selbst die Farbe der Unterwäsche der Verfassungsschützer-Damen.

Der Ost-Berliner James Bond gesteht im Bonner Untersuchungsgefängnis alles und weil er ja einen festen Wohnsitz hat, folgt die Haftverschonung auf dem Fuße. Natürlich taucht er sofort unter und wird nie mehr gesehen …

Und Bernhard Spitzwald hat nun darunter zu leiden, denn in Hannover geht es nach dem »Abgang« natürlich zu, wie im aufgescheuchten Ameisenhaufen.

Man spricht ja nicht gern darüber, aber so wie Ost-Funktionären der Kontakt mit der West-Verwandtschaft verboten ist, dürfen auch West-Beamte in sicherheitsrelevanten Bereichen keine dunklen Ost-Flecken auf der Personal-Weste haben. »NSW« sagt man im amtsinternen Kauderwelsch auf der einen Seite, »KMB« auf der anderen dazu. »Nicht sozialistisches Wirtschaftsgebiet« contra »Kommunistischer Machtbereich«.

Und Schleusenwärter Bernhard Spitzwald hat irgendeinen KMB-Haken. Nichts Genaues weiß man nicht, aber angeblich gibt es Andeutungen von einem Ost-Überläufer, nach denen eine Stasi-Observationsgruppe den Verfassungsschützer aus dem Westen hier, mitten in West-Berlin, hin und wieder »auf der Latte« hatte. Logisch wär’s, denn für die Stasi war er ja ein gefährlicher Gegner.

Darüber, dass sie alle verdammt gute Geheimdienstler und für den Osten gefährlich wie die Sandvipern sind, herrscht am Kneipentisch in der Schöneberger »Groß-Destille« zwischen den vier Abwehr-Männern Einigkeit, als am späten Abend ihr Eichstrich erreicht ist.

Der Kalender zeigt Dienstag, den 6. April 1982 an, auf das kommende Wochenende fällt in diesem Jahr Ostern.

Drei Kollegen teilen sich ein Taxi nach Hause, Bernhard Spitzwald marschiert ganz allein hinter seiner Bierfahne per pedes zum nächsten Bus. Mit seiner gerade einmal 25 Jahre alten Frau Gisela wohnt er im vierten Stock eines Mietshauses in der Neuköllner Ilsestrasse.

Dort kommt er nie an.

Am nächsten Tag meldet Frau Gisela das Verschwinden ihres Mannes seiner Dienststelle. Der Verfassungsschutz erstattet bei der Berliner Polizei eine Vermisstenanzeige.

Fast einen Monat können die Behörden den Abgang unter der Decke halten, bis BILD am 3. Mai meldet: »Berliner Geheimdienstmann weg …« und gleich die Kurzfrage » … entführt?« nachschiebt.

Das will die seriöse »Berliner Morgenpost« nicht unbedingt vermuten. Sie berichtet am 4. Mai lapidar »Geheimdienstler verschwunden«, bleibt aber offenbar an der Story dran. Gut zwei Wochen später, am 20. Mai, scheint man dann endlich mehr zu wissen: »Streit mit dem Chef und zuviel Alkohol – Abwehrexperte läuft nach Ost-Berlin über«, heißt es nun.

Selbstverständlich fehlt das Wort »Kurzschlussreaktion« ebenso wenig, wie die Vermutung: »Der Mann soll über alle geheimen Aktionen des Verfassungsschutzes informiert gewesen sein«. Daraus folgt die Spekulation, er könne womöglich auch schon seit längerem für die Ost-Berliner Stasi gearbeitet haben. Prompt wird vom Berliner Landesamt für Verfassungsschutz alles harsch dementiert. »Total falsch« seien die Behauptungen aus dem Hause Springer.

Das sind sie nicht. Aber sie sind auch nicht zu beweisen.

Ein Bernhard Spitzwald sei in der DDR nicht bekannt, heißt es in der Antwort auf eine offizielle Anfrage aus West-Berlin.

Dort wird derweil weder eine Leiche gefunden, noch eine unidentifizierbare Person festgestellt. Im Osten wiederum bleibt das sonst übliche Propaganda-Getöse um Überläufer jeglicher Couleur aus dem Westen aus.

Aus einer Unter-der-Hand-Information, dass beim Berliner Verfassungsschutz das Alkohol-Verbot während der Dienstzeit innerhalb und außerhalb der Büros mal wieder verschärft wurde, strickt ein geschickter Illustrierten-Journalist im August 1982 noch einmal die Geschichte vom »Spion, der in die Kälte ging«, dann wird es still um Bernhard Spitzwald.

Bereits ein Jahr nach seinem Verschwinden wird der Verfassungsschützer von Amts wegen für tot erklärt. Die junge Witwe Gisela kassiert seither 1 700 Mark Witwenrente vom Land Berlin.

Dann stirbt die DDR und manche ihrer früher besonders emsigen Diener versuchen, daraus noch ein wenig Kapital für den Neustart zu schlagen. So könnte im Dezember 1990 auch ein Tipp über den Verbleib des 1982 abgängigen Verfassungsschützers ans Bundeskriminalamt gelangt sein.

BKA-Beamte reisen in einen Ort in der Nähe von Weimar und vernehmen diskret einen Mitarbeiter der Geschäftsleitung einer großen HO-Nachfolge-Handelskette. Er arbeitete schon zu DDR-Zeiten bei der HO, ist in Thüringen seit Jahren verheiratet, hat zwei Kinder und leugnet alles.

Doch die Experten lassen nicht locker. Nach Stunden gibt der Mann dann zu: Jawohl, ich bin Bernhard Spitzwald aus West-Berlin!

Nach diesem Geständnis bleibt er auf freiem Fuß, denn die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe sitzt in der Zwickmühle.

Dass der wieder gefundene Überläufer des erst nach 20 Jahren verjährenden Landesverrats schuldig ist, kann sie nicht beweisen. Als kleiner Regierungsamtmann dürfte er kaum Zugang zu Staatsgeheimnissen gehabt haben.

Einen Haftbefehl könnten die Bundesanwälte deshalb allenfalls mit dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit begründen, doch die wäre nach fünf Jahren verjährt.

Für Bigamie interessieren sich die obersten deutschen Ankläger nicht und obwohl sich die Rentenzahlungen an die vermeintliche Witwe inzwischen auf rund 160 000 Mark summiert haben, hat Bernhard Spitzwald eigentlich niemanden betrogen, denn schließlich wurde er von Amts wegen für tot erklärt.

So erwischt es als erstes nur die sitzen gelassene Frau des scheintoten Verfassungsschützers. Bereits die Rente für Dezember 1990 muss die falsche Witwe Gisela, inzwischen 33, zurückzahlen, weitere Bezüge werden eingestellt.

Dann gehen wieder Jahre ins Land. Die Akte Spitzwald wandert von Karlsruhe nach Berlin und der Delinquent nutzt die Zeit, um seine persönlichen Verhältnisse in Ordnung zu bringen. Er lässt sich von seiner Berliner Frau scheiden und heiratet die Thüringerin ein zweites Mal, damit die Ehe gültig wird. Das Landesverwaltungsamt Berlin brummt ihm kleine Rückzahlungsraten für die zu Unrecht gezahlte Rente auf, dagegen legt er Widerspruch ein und irgendwann verliert er auch noch seinen Job.

Die Mühlen der Justiz mahlen derweil weiter. In Deutschland hat die Öffentlichkeit ein Recht darauf, darüber Näheres zu erfahren.

Trotzdem blitzen neugierige Journalisten mit ihren Nachfragen bei der Berliner Staatsanwaltschaft ab, als am 22. Mai 1994 im »Tagesspiegel« eine merkwürdige »Todesanzeige« erscheint.

Der Text: »Das heute vor elf Jahren Geschehene kann nicht ungeschehen gemacht werden. Dich hat man als Toten verkauft und mich verraten und im Stich gelassen. Das Wie verstehe ich aber nicht das Warum …«

Sie ist an einen »Oswald« gerichtet und mit »Lilo – Deine Frau« unterzeichnet.

Es könnte ein Fingerzeig auf den mysteriösen Fall Spitzwald sein, denn genau elf Jahre zuvor wurde der Verfassungsschützer für tot erklärt. Dennoch wird sein Verschwinden auch fast vier Jahre nach der Einheit noch wie ein Staatsgeheimnis behandelt und aus diesem Grund auch keine Auskunft erteilt.

So muss schließlich noch ein Jahr vergehen, bis die »Berliner Morgenpost« am 10. Juli 1995 zu dem bis dahin immer noch laufenden Ermittlungsverfahren melden kann: »Agententätigkeit, Betrug, Bigamie: Alles ist verjährt«. In sauberem Juristen-Deutsch erklärt der ermittelnde Staatsanwalt: »Ich habe festgestellt, dass in nicht rechtsverjährter Zeit von dem Beschuldigten keine Tathandlungen mehr vorgenommen wurden. Da alles vorher abgeschlossen war, ist rechtlich nichts mehr zu machen.«

Der scheintote Verfassungsschützer ist aus dem Schneider, denn umgebracht hat er niemanden.

Wäre das der Fall gewesen, gäbe es keine Verjährung. Dieses Gewaltverbrechen ist ein Offizialdelikt und muss deshalb »ex officio«, also von Amts wegen, verfolgt werden. Dazu genügt ein Anfangsverdacht.

Tatort Bautzen?

Für Rainer Schubert ist die Sache klar: »Dieter wurde von der Stasi ›selbstgemordet‹. Das geschah am 9. März 1982 in seiner Zelle in Bautzen.«

Der Strafgefangene Dieter Vogel, zu lebenslanger Haft wegen Spionage »in besonders schwerem Fall« für die CIA verurteilt, ist erstickt. Selbstmord heißt es offiziell.

Der Kaufmann aus Hamburg hatte gerade ein Jahr Haft hinter sich und hoffte, im Rahmen eines Agentenaustausches bald in den Westen abgeschoben zu werden. In solch einer Situation verzweifelt Hand an sich zu legen, ist wenig wahrscheinlich.

Rainer Schubert hält es für ausgeschlossen: »An Dieters Todestag habe ich ein Blitzlicht hinter seinem Zellenfenster gesehen. Ich habe den Wärter gefragt: ›Na, habt ihr wieder einen umgebracht?‹ Der brachte mich daraufhin gleich zu seinem Chef. Ich wurde angeraunzt: ›Det war Selbstmord. Ich war nicht da!‹ Das war schon ein merkwürdiges Verhalten. «

Der Journalist aus dem Westen sitzt in Bautzen, weil er rund hundert DDR-Bürgern zur »Republikflucht« verholfen hat. In einem Schauprozess wird er dafür am 26. Januar 1976 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Erst am 14. Oktober 1983 kann Rainer Schubert vom Westen freigekauft werden.

Den Fall Dieter Vogel hat er da noch gut in Erinnerung. Er sorgt mit dafür, dass er nicht vergessen wird.

Und so schreibt Generalbundesanwalt Alexander von Stahl am 16. September 1992 in die Anklageschrift gegen den früheren DDR-Spionage-Chef Markus Wolf: »Unterlagen aus dem Aktenbestand der HA IX/MfS begründen den Verdacht, dass Dieter Vogel in Strafhaft ermordet worden ist.«

Nach den offiziellen Akten hat die VP den Tod Vogels untersucht und ein Leutnant ein kriminaltechnisches Gutachten angefertigt. Dieses Gutachten sollte die Selbstmordthese stützen. Der bei der Stasi gelagerten Sicherheitsverfilmung der VP-Akte ist aber ein Vermerk vorgeheftet, nach dem dieses Gutachten von der Abteilung 32 des »Operativ-Technischen Sektors« des MfS angefertigt wurde. Er belegt auch, dass die VP keinerlei Erhebungen am Tatort vorgenommen hat.

In der offiziellen Todesermittlungsakte, die der Staatsanwaltschaft Dresden zum Ermittlungsverfahren 40 UJs 854/91 vorliegt, ist der fragliche Vermerk nicht enthalten – irgendwo wurde also manipuliert.

Beweisen kann das Deutschlands oberster Ankläger jedoch nicht. Und auch die Beobachtungen Rainer Schuberts und anderer Bautzen-Häftlinge reichen nicht aus, den eventuellen Mörder Dieter Vogels zu finden.

Es fehlt vor allem der wichtigste Baustein jeder Mordanklage, das Motiv. Es kann nur darin liegen, dass der West-Agent irgendwann der Stasi noch einmal gefährlich werden könnte.

Der Generalbundesanwalt hat dazu folgendes ermittelt: Seit etwa 1974 diente Dieter Vogel der CIA. Der US-Geheimdienst will über ihn in die Stasi eindringen. Deshalb nimmt ihr Mann am 3. September 1978 in der DDR Kontakt zu MfS-Major Werner Poppe auf. Am 20. September 1978 erklärt Dieter Vogel, für die Stasi arbeiten zu wollen.

Die »Hauptabteilung Aufklärung« (HVA) registriert ihn als »A. Horn« und versorgt ihren IM mit falschen Pässen. Damit reist er im Ausland umher und »tippt« für die Stasi interessante Personen.

Einen weit wichtigeren Auftrag bekommt »Horn« im Januar 1980. Er soll versuchen, den Chef des Bereichs »Aufklärung Emigration« im Bundesnachrichtendienst »einzukaufen«. Der Generalbundesanwalt: »Der Anwerbungsplan der HVA sah vor, dass Dieter Vogel den Bereichsleiter Dr. Keil unter ›falscher Flagge‹ (CIA) ansprechen sollte.«

All das meldete der Doppelagent brühwarm seinem CIA-Verbindungsführer. Der informierte den befreundeten BND und von dort floss die Nachricht über einen Stasi-Spion im Geheimdienst West in die DDR zurück.

Die Operation »Dr. Keil« wird abgebrochen und Dieter Vogel am 12. August 1980 beim Besuch in Ost-Berlin verhaftet.

Allein aus diesem komplizierten Doppelagentenspiel ließen sich sicher genügend Gründe finden, Dieter Vogel für immer verschwinden zu lassen. Vorsichtshalber hält ihn die Stasi auch im Bautzener Knast noch unter Kontrolle; zwei »Zelleninformatoren« berichteten regelmäßig über den Häftling.

Dennoch gelingt es Dieter Vogel, im Zuge seiner Mehrfachagententätigkeit erlangte Informationen über Stasi-Maulwürfe im BND in den Westen zu schmuggeln. Er vertraut sie einem Mit-Gefangenen an, der später abgeschoben wird.

In mindestens zwei Fällen erweisen sich diese Informationen nach der Wende als Treffer.

Bei zwei weiteren Personen, auf die Dieter Vogel hingewiesen haben soll, wurde nach 1990 nicht mehr ermittelt.

Einer dieser Männer, BND-Oberregierungsrat Jochen St., Deckname »Gandner«, verschwindet Ende Dezember 1980 spurlos im Forstenrieder Park bei München. Der aus Thüringen stammende und für »Beschaffung« zuständige Beamte hatte nach einem Telefonanruf eine Jahresabschlussfeier beim Dienst überstürzt verlassen. Sein VW wurde unverschlossen aufgefunden.

Der andere, Paul F., Regierungsrat und »Anbahner« sowie »Verbindungsführer« für den Sektor Sowjetunion und Polen im BND, ertrinkt während einer Urlaubsreise am 16. Juni 1981 bei einem abendlichen Spaziergang nahe der Lappensiedlung Skoganvarre in Nordnorwegen in einem See. Der als guter Schwimmer bekannte 48-Jährige hatte seinem Arbeitgeber BND zwar gemeldet, dass er für 1 530 Mark eine 25-tägige Busreise durch Skandinavien gebucht hatte, den Abstecher nach Norwegen aber verschwiegen.

»Selbstmord aus persönlichen Gründen« hieß es im ersten, »ein bedauerlicher Unfall« im zweiten Fall.

Die Akten sind längst geschlossen. So wie bei Dieter Vogel.

Quellen:

· Gespräche mit Zeitzeugen

· Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Anklageschrift gegen Generaloberst a. D. Markus Wolf, Karlsruhe 16.9.1992

· Schlomann, Friedrich W.: »Die Maulwürfe – Noch sind sie unter uns, die Helfer der Stasi im Westen«, München 1993

· Schlomann, Friedrich W.: »Operationsgebiet Bundesrepublik – Spionage, Sabotage und Subversion«, München 1984

· Kahl, Werner: »Spionage in Deutschland heute«, München 1986

· »Berliner Zeitung«, Berlin, 26.9.2003

· »Der Spiegel«, Hamburg, 5/1969, 32/1981, 4/1982

· »Die Welt«, Hamburg, 18.12.1968, 20.12.1968, 23.12.1968, 28.12.1968, 10.7.1969

· »Berliner Morgenpost«, Berlin, 20.12.1968, 10.1.1969, 4.5.1982, 20.5.1982, 9.12.1990, 11.12.1990, 22.5.1994, 29.5.1994, 10.7.1995

· »BZ«, Berlin, 20.12.1968

· »BILD«, Hamburg 10.7.1969, 20.4.1970, 3.5.1982

· »Der Tagesspiegel«, Berlin 11.1.1991

· »Bunte«, München 5.8.1982

Der gefälschte Held

Früher sagte man »lässig«, wenn das gemeint war, was heute »cool« heißt. Und Hansen war verdammt lässig. Eiskalt fummelt er nur mit seinen flinken Fingern die Zahlenkombination des Safes heraus, die Mini-Stabtaschenlampe zwischen den Zähnen und die Ohren gespitzt. Immerhin spielt die Szene mitten im Feindesland. In Würzburg, bei der »Concordia-Handelsgesellschaft«, die in Wirklichkeit ein Stützpunkt der amerikanischen »Military Intelligence Division« ist.

Die finsteren MID-Agenten haben einen Maulwurf in ihren Reihen, ohne ihn enttarnen zu können. Das Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik hat ihn geschickt.

Als der Defa-Thriller »For eyes only« am 19. Juli 1963 im Ost-Berliner Filmtheater »Kosmos« Premiere feiert, gibt es reichlich Beifall: Ein Held ist geboren, der »sozialistische Kundschafter«.

Dieser Held leistet in 103 Minuten auf 2818 Filmmetern saubere Arbeit. Nicht so wie sein West-Kollege 007, der seit gerade einmal sechs Monaten über feindliche Leinwände flimmert. Mit der Lizenz zum Töten. Die hat For-eyes-only-Hansen, gespielt von Alfred Müller, natürlich nicht. Wenn bei ihm mal ein konkurrierender Agent sterben muss – und so was kommt ja im Gewerbe vor – erledigen das die Finsterlinge aus dessen eigenen Reihen, kommandiert von einer ebenso schönen wie kühlen Dame.

Harry Thürk, Bestsellerautor und Szenarist des schwarz/weißen Streifens in Totalvision: »Wir haben das damals so gemacht, wie wir uns das Geheimdienstleben vorstellten. Weder ich, noch Regisseur János Veiczi kannten sich da besonders gut aus.«

Dafür, dass die Klischees stimmten, sorgte ein unauffälliger Dauergast am Set. Harry Thürk: »Ein Unterfeldwebel aus dem MfS. Eingegriffen hat er selten, nur die ganze Zeit zugesehen.«

Der Schriftsteller und der Regisseur wissen, dass sie eine »wahre Geschichte« auf die Leinwand bringen sollen. Trotzdem bauen sie die Story nach bewährten Spannungsmustern. Da darf dann die Verfolgungsjagd Richtung Grenze ebenso wenig fehlen wie eine Prise Sex. Ein schaumgummigepolsterter Büstenhalter verschwindet diskret in der Handtasche der Agenten-Sekretärin, als sie sich auf ein Rendez-vous vorbereitet. Was James Bond sicher mit einem Testosteron-Schub quittiert hätte, lässt Stasi-Hansen völlig kalt, dafür sorgt Erich Mielkes Zensor dann doch mit einem »wertvollen Hinweis«.

Auch sonst benimmt er sich im Feindesland so, wie es sich in der Ost-Berliner Normannenstraße gehört.

»Hansen«-Vorbild Horst Hesse hat gegen die Räuberpistole nichts einzuwenden. Harry Thürk: »Wir wurden einmal kurz mit ihm bekannt gemacht. Es schien so, als habe er nicht viel zu erzählen – oder dürfe es nicht. Der Mann benahm sich wie ein Automat.«

Vielleicht wird deshalb ein etwa vier Jahre später produzierter Dokumentarfilm mit Horst Hesse auch nur für den internen Dienstgebrauch verwendet. Er trägt die Stasi-Propagandaparole »Kühler Kopf, heißes Herz, saubere Hände« als Titel.

Gut zehn Jahre nach der Rückkehr Horst Hesses in die DDR hat die Stasi wohl nun endgültig die Rolle gefunden, die der »Kundschafter des Friedens« künftig für sie spielen soll. Es ist die eines Vorbildes, nicht mehr und nicht weniger. Auf die kalt-kriegerischen Auseinandersetzungen mit der BND-Vorgängerin »Organisation Gehlen« kann dabei nun verzichtet werden.

Das sah kurz nach der öffentlichen Präsentation Horst Hesses im Sommer 1956 noch ganz anders aus.

»Wer nicht schweigt, wird erschossen«, heißt damals die erste reißerische Spionage-Serie über die Abenteuer »Hansens« im Feindesland. Sie erscheint in der »National-Zeitung« dem Parteiorgan der National-Demokratischen Partei der DDR. Geschrieben hatte sie der 25-jährige, hoffnungsvolle Nachwuchs-Journalist Diethelm Schröder, der wenig später, im Oktober 1956, als angeblicher Flüchtling gen Westen verschwindet. Dort macht er Karriere und sitzt ab 1974 beim »Spiegel« in Hamburg. Als »Schrammel« hält Diethelm Schröder an der Elbe für die Stasi Augen und Ohren offen. Das bringt ihm im November 1992 eine Bewährungsstrafe von 21 Monaten Haft ein.

Für spätere Autoren der Hesse-Hansen-Story läuft es nicht so dramatisch. Dennoch werden die Propagandatrommeln um den angeblichen Super-Agenten des MfS bis zum Ende der DDR gerührt.