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Verschlußakte DDR

Fälle aus MfS, Polizei und NVA

Klaus Behling | Jan Eik

Mordwaffe Makarow

Obwohl die geltende Gesetzeslage die Nennung von Täter-Namen im Zusammenhang mit den Aktivitäten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR erlaubt, hat sich der Verlag auch in diesen Fällen für eine Abkürzung der Namen entschieden. Der Grund dafür liegt darin, dass die gegenwärtige Rechtspraxis eine eventuelle Behinderung der verlegerischen Tätigkeit in dieser Frage nicht völlig ausschließt.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Tatort DDR

Kriminelle bei der Stasi

Spurensuche

Macht verdrängt das Gesetz

Der Millionenmann

Treu ergebene Genossen

Der Glanz des Geldes

Berlin 102, Rathausstraße 7

Konspirative Geldquellen

Das Sicherheitsnetz

Das Verbrechen wird vertuscht

Außer Kontrolle

Die Stasi fürchtet den Prozess

Alles wieder im Griff

Missbraucht und fallengelassen

Ideal und Wirklichkeit

Liebesdienste gegen blaue Fliesen

Ein Einzelschicksal?

Eine Selbstanzeige

»Vaterliebe« und Jugendwerkhof

Der Weg nach unten

In den Fängen der Stasi

Rehabilitiert

Die Krone der operativen Arbeit

Das Mata-Hari-Modell

Die Stasi und die Homosexuellen

Der Fall des Grenzoffiziers Mario Heinze

Mordwaffe »Makarow«

Zwei Leichen im Wald

Ermittlungsansatz »E 067«

»Primel« und »Vergissmeinnicht«

Hans Helmut, José und Julio

Tickets in den Tod

Das Geständnis

So geschah der Doppelmord

Nachspiel

Tod in Wandlitz

Die Verhöre

Der Prozess

Das Urteil

Hintergründe

Kunsträuber

Ein Stückchen Kapitalismus

Der Tellerwäscher legt sich ein Hobby zu

Der erfolgreiche Geschäftsmann

Ein steiler Aufstieg

Dunkle Wolken

Die Organe sind wachsam

Der Absturz

Erstens kommt es anders

Ein Untersuchungsausschuss und seine Berichte

Epilog: Untergang im Chaos

Editorische Notiz zur Anonymisierung

Quellen und Anmerkungen

Prolog

Erpresser im Staatsauftrag, Schieber mit Diplomatenpass, geheime Waffenhändler oder Urkundenfälscher und Bigamisten – Kriminalität gehört zum Alltagsgeschäft im Ministerium für Staatssicherheit der DDR.

In diesem Milieu gedeiht neben dem stattlich sanktionierten, auch das ganz private Verbrechen, vom brutalen Mord über zwielichtige Zuhälter bis hin zum Millionen-Betrug. Es sind Ausnahmeerscheinungen, aber es sind Taten, die in der von gegenseitigem Misstrauen und konspirativer Arbeitsmethoden geprägten Geheimdienstatmosphäre überhaupt erst möglich werden.

Sie sollen niemals herauskommen. »Heiße Herzen und saubere Hände« sind angesagt. Um dieses Trugbild zu erhalten wird geltendes Recht gebrochen, den Tätern Vertuschung gegen Schweigen angeboten und Willkür praktiziert. Eine Spurensuche.

Tatort DDR

Irgendwie läuft irgendwann und irgendwo stets irgendetwas dumm. Pechvögel, Hasenfüße, Geldgeier, Unglücksraben, Frauenhelden, Pleitegeier, Glücksritter, Schatzsucher, Schwarzbauer oder Schnapsdrosseln – Kriminelle in der DDR sind immer auch ganz arme Würstchen.

Jedenfalls scheint es so, wenn Inspektor Wernicke mit »Blaulicht« oder später dann Hauptmann Fuchs über den »Polizeiruf 110« an ihre Fernseh-Tatorte gerufen werden und besorgt die von Folge zu Folge grauer werdende Häupter schütteln: Eigentlich dürfte es doch Kriminelle in der Deutschen Demokratischen Republik gar nicht geben!

Für gute Marxisten ist Kriminalität ohne gesellschaftliche Ursachen nicht vorstellbar. Diese Ursachen sehen sie in der kapitalistischen Ausbeutung. Verschwindet sie durch den Sozialismus, hat auch die Kriminalität keinen Raum mehr. Es sei denn, sie betrifft Relikte aus vor-sozialistischen Zeiten. Anders gesagt: Kriminalität kann in dieser Sichtweise nur der Widerstand der zum Teufel gejagten Ausbeuter oder ein Zeichen für ein noch nicht genügend ausgeprägtes Klassenbewusstsein sein.1

Die Geschichte des Strafrechts der DDR ist deshalb sowohl durch Kontinuität zur Vergangenheit, als auch durch Neuorientierungen geprägt.

Bis 1968 galt in der DDR – mit einigen Einschränkungen und Ergänzungen – das Strafgesetzbuch von 1871. Die zusätzlichen Regelungen betreffen dabei vor allem den verstärkten strafrechtlichen Schutz der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Dafür stehen zum Beispiel die Wirtschaftsstrafverordnung von 1948 und das Gesetz zum Schutze des Volkseigentums von 1952. Die darin enthaltenen hohen Strafandrohungen von mindestens einem Jahr Zuchthaus spiegeln die von Stalin getragene Auffassung wieder, nach der jeder Angriff gegen das Volkseigentum auch ein Angriff gegen die Grundlagen des Sozialismus sei. Überdies führt seine unsinnige These von der ständigen Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus zu einer sich verstärkenden Repression und zur künstlichen Unterscheidung zwischen Klassenfeinden und anderen.

Diese simple Sicht funktioniert schon bald nicht mehr. Bereits in den fünfziger Jahren beginnen die Rechtstheoretiker der DDR Verbrechen nicht mehr nur als Ausdruck des Klassenkampfes zu sehen. Das laue Lüftchen der Entstalinisierung aus Moskau trägt zu den neuen Überlegungen bei.

Nun steht die Unterscheidung zwischen »Freunden und Feinden der DDR« im Mittelpunkt der Betrachtungen. Straftaten werden nicht mehr ausschließlich als Ausdruck des Klassenkampfes gesehen. Man geht nun davon aus, dass selbst loyale DDR-Bürger, also »Freunde«, mit dem Gesetz in Konflikt geraten können. Kriminalität wäre nun also auch das einmalige Straucheln eines ansonsten ehrlichen Bürgers.

Die SED bekämpft zunächst dieses neue Denken, weil sie dahinter die Theorie vom allmählichen Erlöschen des Klassenkampfes vermutet. Und auf den will und kann sie als Macht- und Disziplinierungsmittel nicht verzichten. Auf dem 30. Plenum des Zentralkomitees der Partei wird aus genau diesem Grund die »Freund-Feind-Theorie« als »revisionistisch« gegeißelt – dennoch setzt sie sich durch. Der Grund dafür liegt darin, dass sie den Weg zur integrativen anstelle der repressiven Konfliktlösung eröffnet.

In den folgenden Jahren wird deshalb nun differenziert. Die DDR-Juristen unterscheiden künftig zwischen »solchen Straftaten, die eine schwere Missachtung der Gesetze der DDR darstellten«2 und »Verletzungen der Gesetzlichkeit, die als einzelne Entgleisung im Verhalten eines Bürgers anzusehen ist«.3

Niemand soll aus der Gesellschaft wegen seiner Verfehlung ausgestoßen werden. Walter Ulbricht verkündet am 17. Juni 1962 in milder Väterlichkeit: »Das ökonomische und politisch-moralische Fundament unseres Arbeiter- und Bauernstaates steht fest. Deshalb sind auch die Möglichkeiten, Menschen, die unsere Gesetze verletzen, zu erziehen, anstatt zu strafen, heute bei weitem größer als – sagen wir einmal – vor zehn Jahren.«4

Bereits am 24. Mai 1962 hatte der Staatsrat der DDR festgestellt, dass die Mehrzahl der in der DDR begangenen Straftaten nicht auf einer feindlichen Einstellung gegenüber dem »Arbeiter- und Bauernstaat« beruhe.5

In der Praxis scheint diese Betrachtung zögerlicher als erhofft zu greifen. Als Defa-Regisseur Kurt Maetzig vor dem Hintergrund des neuen Denkens im DDR-Recht den Film »Das Kaninchen bin ich« dreht – die Geschichte eines übereifrigen Richters, der sich in die Schwester eines von ihm als »Feind« verurteilten Bagatelltäters verliebt – wird sein Werk 1963 einfach verboten.

Trotzdem setzt sich die Betrachtung der kriminellen Täter als Menschen mit Anspruch auf Hilfe durch. Das mag dazu beigetragen haben, dass sich die Kriminalität in der DDR immer in Grenzen hielt.

Umgerechnet auf 100 000 Menschen sinkt die Zahl der Straftäter von 878 im Schnitt der fünfziger Jahre über 776 und 739 zwischen 1960 bis 1969 und 1970 bis 1979. In den achtziger Jahren gibt es nur noch durchschnittlich 703 Täter pro Jahr. In absoluten Zahlen heißt das, dass die echten Kollegen von Hauptmann Fuchs in den Kinderjahren der DDR durchschnittlich 157 466 Mal an den Tatort mussten, in der DDR-Pubertät der sechziger bis siebziger Jahre 132 741 Delikte verfolgten, dann 124 802 Mal Ganoven jagten und in den achtziger Jahren nur noch 117 159 Fälle zu verfolgen hatten.6 Die jährliche Mordstatistik schwankte dabei zwischen 110 und 180 Verbrechen in den siebziger und achtziger Jahren.7

Mit der sozialistischen Kriminalität findet sich die DDR-Gesellschaft ab, schließlich lebt man in einer Übergangsperiode und wenn erst die Verheißungen des Kommunismus Alltag sind, wird sie schon ganz von selbst verschwinden. Und immerhin zeigt ja die Kriminalstatistik schon mal in der Tendenz nach unten.

Kriminelle bei der Stasi

Damit niemand den Weg in diese lichte Zukunft stört, leistet sich die DDR ein Ministerium für Staatssicherheit.

Wie viele Menschen dort beschäftigt sind, weiß angeblich nicht einmal Partei- und Landesvater Erich Honecker. Nirgendwo wurde »jemals die personelle Stärke des Ministeriums für Staatssicherheit festgelegt«, mault er nach seinem Sturz.8 Das hat für den ersten Mann der DDR die bittere Folge, »dass ich die Anzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter, einschließlich des Wachregimentes ›Feliks Dzierzynski‹ so ungefähr auf 35 000 Mitarbeiter schätzte. Über die Anzahl 85 000 hauptamtlicher und 100 000 ehrenamtlicher Mitarbeiter war ich sehr überrascht.«9

Die Überraschung teilt er mit seinen abtrünnigen Untertanen, die schließlich annähernd 100 000 haupt- und noch einmal weit über 100 000 – nun ja – »ehrenamtliche« Stasi-Mitarbeiter ausmachen.

Allein die Zahl der ständig beschäftigen Soldaten, Unteroffiziere, Offiziere und Generäle des Ministeriums für Staatssicherheit entsprach 1989 damit nahezu exakt der Einwohnerzahl solcher Städte wie Görlitz mit 100 147 Frauen, Männern und Kindern, Dessau mit 101 262 gemeldeten Bewohnern oder Jena mit 105 825 Menschen.

Hunderttausend Leute jeweils, die Größenordnung also, in der auch die Kriminalstatistik die Zahl der Delikte ausweist – vom Karnickeldiebstahl bis zum Mord.

Das legt die Vermutung nahe, dass eine gewisse, relativ stabile Anzahl krimineller Delikte auch innerhalb der geheimen Armee des Armeegenerals Erich Mielke durchaus an der Tagesordnung gewesen sein müsste.

Die Öffentlichkeit hat darüber zu Lebzeiten der DDR nichts erfahren, Statistiken, die sie ausweisen könnten, gibt es nicht.

Ein vager Hinweis auf den Umfang krimineller Delikte im MfS lässt sich jedoch in der Zahl der im Hause durchgeführten Parteiverfahren und der dabei verhängten Strafen finden.

Die Stasi besaß den Charakter einer weltanschaulichen Eliteformation. Im Jahr 1987 waren 81,1 Prozent aller MfS-Angehörigen Mitglieder der SED. Im DDR-Durchschnitt besaß dagegen nur jeder fünfte Berufstätige das rote Parteibuch mit dem Händedruck im Emblem.10

Wie überall in der DDR hatte die SED auch im Ministerium für Staatssicherheit gegenüber ihren Mitgliedern eine umfassende Disziplinierungskompetenz. Ideologische Abweichungen von der Parteilinie wurden ebenso geahndet wie dienstliche oder rein private Verfehlungen. Deshalb bestrafte »die Partei« auch Kriminalität von MfS-Mitarbeitern zusätzlich zu den staatlichen Sanktionen.11

Wurde ein Stasi-Angehöriger kriminell, setzte die SED gegebenenfalls ihre im eigenen Statut postulierte »innerparteiliche Demokratie« außer Kraft, um die Tat auch innerhalb des MfS geheim zu halten. Die Parteistrafe erfolgte per Beschluss der »Kreis-Partei-Kontroll-Kommission« (KPKK) in Abstimmung mit der staatlichen Leitung und dem Zentralkomitee der SED, ohne Hinzuziehung der Mitglieder der entsprechenden SED-Grundorganisation.

Die Strafe bewegte sie sich im Rahmen der vom SED-Statut vorgegebenen Möglichkeiten bis hin zum Ausschluss aus der Partei. Allerdings wurde sie in der Regel nicht mit parteilichen Verfehlungen, sondern einfach mit dem kriminellen Delikt begründet.

So muss zum Beispiel Millionen-Betrüger Günter W. (siehe »Erstes Kapitel: Der Millionenmann«) laut Beschluss der KPKK vom 10. November 1981 sein SED-Mitgliedsbuch mit der Nummer 1099293 wegen »Diebstahl sozialistischen Eigentums« abgeben.12 Anderen Straftätern ergeht es ähnlich.

Vor diesem Verfahrenshintergrund erlaubt die Zahl der durchgeführten Parteiverfahren die Vermutung, dass sie indirekt auch Auskunft über die Kriminalität innerhalb der Stasi geben.

Insgesamt fanden zwischen 1959 und 1989 mehr als 5000 Parteiverfahren statt. Dabei wurden 743 Genossen aus der SED ausgeschlossen und weitere 307 gestrichen (beide Zahlen ohne das Jahr 1986, für das keinen Angaben vorliegen). Nach relativ wenigen Strafen Ende der sechziger Jahre ist ab Mitte der siebziger Jahre ein stetiges Anwachsen der Zahl der Parteistrafen festzustellen, Anfang der achtziger Jahre erreicht sie ihren Höhepunkt und stabilisiert sich dann auf jeweils über 300 Fälle pro Jahr.13

Wie viel echte Kriminalität verbirgt sich hinter diesen Zahlen? Das ist allenfalls zu vermuten.

Zum einen gibt es seit Anfang der fünfziger Jahre die Tendenz, die Disziplinierungsaktivitäten der SED innerhalb des MfS dort einzuschränken, wo sie dessen geheimpolizeiliche Tätigkeit – und damit das bevorzugte Feld kriminellen Handelns – direkt berühren. Das wird mit dem konspirativen Charakter der Stasi-Tätigkeit und dem im MfS herrschendem Prinzip der militärischen Einzelleitung begründet. Damit können kriminelle Delikte von Stasi-Mitarbeitern gezielt dem Zugriff der SED entzogen und ohne großes Aufsehen unter den Tisch gekehrt werden.

Mit der Direktive 1/56 legt der damalige Stasi-Minister Ernst Wollweber bereits im Februar 1956 Grenzen für Kritik und Selbstkritik innerhalb der Parteiorganisation des MfS fest. Das ist ein einmaliger Vorgang in der DDR-Administration. Alle ihre außerhalb des MfS existierenden Strukturen bleiben von der Allmacht der SED und deren Direktionsrechten durchdrungen. Nur bei der Stasi wird der Vorrang dienstlicher (»operativer«) Belange vor den Disziplinierungskompetenzen der SED festgeschrieben.

Danach gibt es dort nun schriftliche Festlegungen über erlaubte und verbotene Diskussionsgegenstände, die den Eifer der SED bei der »Erziehung der Genossen« drastisch einschränken. Dennoch bleibt die Sanktion von Straftaten stets auch von einer strengen »Parteistrafe« – meist Ausschluss oder zumindest Streichung – begleitet, die ihrerseits wiederum zur Entfernung des Delinquenten aus dem MfS führt.14

Beim Heranziehen der Parteistrafen für die Bewertung des Umfangs von Kriminalität im MfS ist weiterhin zu berücksichtigen, dass natürlich ein Teil der Disziplinarmaßnahmen auch durch rein parteiinterne Verfehlungen verursacht gewesen sein dürfte. Überdies gab es einen Anteil von knapp 20 Prozent Nicht-SED-Mitgliedern, der damit auch nicht von Parteistrafen berührt werden konnte.

Doch selbst unterstellt, dass die Stasi kein repräsentatives Abbild der sozialen Struktur der ostdeutschen Bevölkerung war, spricht allein ihre Größe als relativ homogene Gruppe für ein messbares kriminelles Potential.

Im Vergleich zur Deliktdichte unter der »normalen« Bevölkerung mit gut 700 Taten pro 100 000 Einwohnern ab dem Mauerbau 1961 dürfte die Kriminalität von Stasi-Mitarbeitern im jährlichen Durchschnitt eher im unteren dreistelligen Bereich, geschätzt bei etwa 200 bis 300 jährlicher Taten, gelegen haben.

Das mag als geringfügiges Randproblem erscheinen. Es gewinnt aber an Brisanz, wenn man bedenkt, dass es gerade die Stasi war, die sich als Elite der DDR fühlte. Im MfS trafen Tausende von Leuten auf ein System eingespielter illegalen Praktiken, die oftmals auch DDR-Gesetzen widersprachen. Das ließ manche straucheln.

Spurensuche

Wenn im Gesamtrahmen der Kriminalität bei der Stasi durch deren militärische Strukturen die strikte Überwachung und die Durchsetzung eines rigiden Kadavergehorsams im Vergleich zur normalen Bevölkerung auch einige Deliktgruppen ausscheiden, werden gerade dadurch andererseits manche andere Verbrechen erst möglich. Dürften sich also kaum viele MfS-Genosse des »Rowdytums« oder »asozialen Verhaltens« schuldig gemacht haben, spielen bei ihnen immer wieder Taten wie »unerlaubter Waffenbesitz« oder »Befehlsverweigerung« eine Rolle. In den letzten Jahren führt der wachsende Druck auch zu zunehmend mehr Delikten, die im Zusammenhang mit Trunksucht und Eheproblemen stehen.

Nicht berücksichtigt sind bei dieser Betrachtung die vielen kleinen Vorteile, die sich die MfS-Mitarbeiter ganz einfach durch den Gebrauch ihrer Macht sicherten. Niemand wäre auf die Idee gekommen, an Erpressung oder Nötigung auch nur zu denken, wenn der Stasi-Ausweis z. B. bei der Beschaffung von rarem Baumaterial oder begehrten Wochenendgrundstücken »half« oder das Haus eines Ausreisewilligen zum günstigen Einheitswert von 1936 an einen Stasi-Offizier verkauft wurde.

Damit hatten die Stasi-Angehörigen in der DDR-typischen Grauzone der gängigen Lebenshaltung des »privat geht vor Katastrophe« durchaus ihren Platz. Wie in ganz normalen DDR-Betrieben auch, ist dabei das Abrutschen in kriminelle Verhaltensweisen oft nur noch ein kleiner Schritt.

In der Gesamttendenz dürfte die Kriminalität im MfS in ihren Schwerpunkten jedoch der der übrigen Bevölkerung entsprochen haben. An erster Stelle stehen dabei dann Straftaten gegen das sozialistische Eigentum, gefolgt von Straftaten gegen die Persönlichkeit, Straftaten gegen das persönliche und private Eigentum und schließlich Straftaten gegen die allgemeine Sicherheit. Die bei der übrigen Bevölkerung umfangreich repräsentierte Deliktgruppe der Straftaten gegen die staatliche Ordnung nach den Paragraphen 210 bis 250 Strafgesetzbuch hat hingegen im MfS kaum eine Rolle gespielt.

Durch die konspirative – sprich unkontrollierte und unkontrollierbare – Arbeitsweise der Stasi einerseits und deren umfängliche Ausstattung mit »Volkseigentum« andererseits, bestanden für »Straftaten gegen das sozialistische Eigentum« im MfS beste Voraussetzungen. Nur dort, sowie in höheren Partei- und NVA-Strukturen, gab es einen umfangreichen Zugriff vieler Mitarbeiter z. B. auf Wohnungen und deren Ausstattung, Autos und Konsumgüter einschließlich solcher aus dem Westen.

Aus ihrem elitären Selbstverständnis heraus, betrachteten viele Stasi-Mitarbeiter die private Nutzung dieser Möglichkeiten als »ihr gutes Recht«. Delikte wie Vorteilsnahme, Diebstahl, Betrug oder Untreue wurden ohne jegliches Unrechtsbewusstsein praktiziert. Kamen sie ans Licht, zog die Stasi-Führung in der Regel ihre Nutzung für die interne Disziplinierung einer Bestrafung vor. Dieses Milieu machte viele kleine Taten nicht nur möglich, sondern ließ sie auch als durchaus akzeptiert und tolerierbar erscheinen.

Anders bei Straftaten gegen die Persönlichkeit wie u. a. vorsätzliche Tötung oder Körperverletzung, Vergewaltigung, Nötigung, Missbrauch zu sexuellen Handlungen, Raub und Erpressung. Für 1989 verzeichnet hier die Kriminalstatistik DDR-weit 13.071 Taten.15 Hier zählen schwere Fälle im Dunstkreis der Geheimdienste, wie auch insgesamt auf dem »Tatort DDR«, zu den absoluten Ausnahmen. Sie sind immer individuellen Taten, die in der Persönlichkeit der Täter begründet liegen.

Allerdings werden sie sowohl vor der Öffentlichkeit, als auch intern, strikt geheim gehalten. Die abschreckende Wirkung von Urteilen bis hin zur Todesstrafe wird nicht genutzt. Im Gegensatz zu vollstreckten Todesurteilen gegen Geheimdienstangehörige wegen Spionage, wie z. B. in den Fällen Silvester M. (16. Mai 1956), Gert T. (10. Dezember 1979), Winfried B. (18. Juli 1980) und Werner T. (26. Juni 1981), finden sich in den nach 1989 bekannt gewordenen Listen über erfolgte Hinrichtungen keine Hinweise auf die Vollstreckung der Todesstrafe an den verurteilten Mördern Helmut Sch. (NVA-Nachrichtendienst) und Wolfgang M. (MfS).

Bei geringfügigeren Taten aus diesem Bereich – z. B. im Zusammenhang mit Eifersuchtsauseinandersetzungen oder aufgrund abnormer persönlicher Dispositionen – steht stets das Interesse der Stasi im Mittelpunkt, keine »Schädigung des Ansehens des Organs in der Öffentlichkeit« zuzulassen. Das führt zwar ebenfalls zum Verbergen solcher Delikte, nicht jedoch zum Verzicht auf strafrechtliche Sanktionen. Sie gehen in aller Regel mit einer fristlosen Entlassung der Täter aus dem MfS und deren nachfolgenden, langfristigen Überwachung einher.

Straftaten gegen das persönliche und private Eigentum liegen im Gesamtspektrum der DDR-Kriminalität mit 11659 Delikten im Jahr 1989 weit unter den 18079 Taten gegen das sozialistische Eigentum.16 Auch im MfS könnten in diesem Bereich Diebstahl, Betrug, Untreue und Sachbeschädigung eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben. Die Gründe dafür liegen in der starken sozialen Isolation der Stasi-Mitarbeiter bis in den persönlichen Bereich hinein, ihrer im Vergleich zur übrigen DDR überdurchschnittlichen Bezahlung und materiellen Ausstattung und in den anderen Bürgern nicht zugänglichen Zugriffsmöglichkeiten auf begehrte Waren und Dienstleistungen.

Dennoch berichten Zeitzeugen ohne jegliches Unrechtsbewusstsein von Übergriffen auf privates Eigentum, wie z. B. den Diebstahl aus privaten Fischreusen oder Einbrüche auf Wochenendgrundstücken, um dort »zu feiern«, und stellen sie völlig unbefangen als Beweis für ihre »Unverletzlichkeit« in ihrem damaligen sozialen Status dar. Gelegentlich werden solche Übergriffe, wie z. B. die unter Nutzung des Stasi-Status erfolgte private Wegnahme zuvor vom Opfer gestohlener, rarer Baumaterialien, auch als »unbürokratisches Wiederherstellen der Ordnung« oder Rückgängigmachen von Verfehlungen des nachmaligen Opfers interpretiert. Das Prinzip, dabei bereits geschehenes Unrecht durch erneutes Unrecht »wieder gutzumachen« wird von den Protagonisten nicht als problematisch gesehen.

Ein geradezu typisches Deliktfeld, auf dem mit der Macht der Stasi das Vertuschen von Taten aus den eigenen Reihen erfolgte, sind Straftaten gegen die allgemeine Sicherheit. In der Kriminalstatistik der DDR schlagen sie 1989 mit insgesamt 8 894 Fällen zu Buche, wobei der Schwerpunkt auf Verkehrsdelikten liegt. Insbesondere die »Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls« (2 936 Fälle) und die »Verkehrsgefährdung durch Trunkenheit« (2 222 Fälle)17 durch MfS-Angehörige werden der öffentlichen Strafverfolgung nahezu vollständig entzogen. Dazu dienen nicht nur Sonderregelungen bei der Aufnahme derartiger Delikte, die das Agieren der Polizei bei Beteiligung von »Angehörigen der bewaffneten Organe« reglementieren, sondern auch »Gewohnheitsrechte«. So wagt es kaum ein Volkspolizist, einen Verkehrsgefährder anzuzeigen, der sich mit seinem Stasi-Ausweis legitimiert oder gar einen personengebundenen Sonderausweis, bei Pkw‹s »Freifahrtschein« genannt, vorweisen kann.

Aus Zeitzeugenberichten ist überdies bekannt, dass andere Delikte dieses Bereichs, wie z. B. unbefugter Waffen- und Sprengmittelbesitz unter MfS-Angehörigen verbreitet sind, jedoch so gut wie nie zu strafrechtlichen Sanktionen führen. Entsprechende Angaben scheinen glaubhaft.

Durch privilegierte Reisemöglichkeiten ins Ausland, u. a. auch als Besatzung von Sonderflugzeugen der Regierungsstaffel und getarnte Regierungsexperten auf verschiedenen Fachgebieten, intensive Kontakte zu sowjetischen Militärs und Geheimdienstangehörigen und – in weit begrenzterem Umfang – auf interne West-Importe z. B. bei Jagdwaffen, ist der Zugriff auf solche Dinge wesentlich einfacher möglich als für die übrigen DDR-Bürger. Als »elitäres Hobby« wird er innerhalb des MfS allgemein toleriert und spielt nur dann eine Rolle, wenn er im Zusammenhang mit anderen kriminellen Delikten steht. Auch hierbei steht der »Schutz des guten Rufes des MfS« stets im Mittelpunkt.

Macht verdrängt das Gesetz

In seinem Selbstverständnis sieht sich das Ministerium für Staatssicherheit, im internen Sprachgebrauch »das Organ« genannt, als übergesetzlicher Wahrer der sozialistischen Gesetzlichkeit.

In der Grauzone zwischen »offiziellem« gesetzwidrigen Handeln im Auftrag der Stasi und den im DDR-Recht definierten Straftatbeständen hat immer auch persönliche Kriminalität von MfS-Angehörigen ihren Platz. Wie ihr Arbeitgeber auch, fühlen sich viele von ihnen allein aufgrund ihres sozialen Status von den Gesetzen des »einfachen Volkes« ausgenommen. Das wird seitens der Stasi-Führung durch besonders hohe »politische, moralische und ethische Anforderungen« an die Kader kompensiert. Sie sind mit rigiden Überwachungsmaßnahmen bis hinein in den privaten Bereich verbunden.

Diese Handlungsweise ist es aber auch, die in den vorhandenen Ausnahmefällen den Boden für kriminelles Handeln bereitet. Kommt es dann dazu, ist internes Vertuschen stets wichtiger, als öffentliche Aufklärung.

Dieses Bestreben innerhalb der Stasi unterstützt die wachsende Rolle »Gesellschaftlicher Gerichte« in der DDR seit Ende der sechziger Jahre. Nach Erlass des entsprechenden Gesetzes über diese Gesellschaftlichen Gerichte vom 11. Juni 1968 entwickeln sie sich zu internen Regelungsmechanismen für Verfehlungen, deren Ahndung dadurch automatisch innerhalb der das Gericht tragenden Wirtschafts- oder Verwaltungseinheit erfolgt. Das Gesetz definiert die Gesellschaftlichen Gerichte als »gewählte Organe der Erziehung und Selbsterziehung der Bürger.«18 Sie werden u. a. dann tätig, wenn die Schuld des Täters nicht erheblich gesellschaftswidrig und eine wirksame erzieherische Einwirkung zu erwarten ist. Damit sind sie durchaus ein positiver Reformansatz bei der Modernisierung der Rechtsprechung, der weit über die vordergründig feststellbare Entlastung der traditionellen Gerichte hinausgeht.

In einem totalitär organisierten Apparat wie dem der Stasi verkommt dieser positive Ansatz jedoch zu einem bloßen Instrument noch rigiderer Machtausübung. Die Gesellschaftlichen Gerichte geben ihrem Träger ganz offiziell ein Handlungsspielraum, dessen Dimension er weitgehend selbst bestimmen kann. Überdies werden nach Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches am 1. Juli 1968 Bagatelldiebstähle und einige andere Verstöße gegen bisherige Strafbestimmungen wie Hausfriedensbruch, Beleidigung und Verleumdung nicht mehr als Straftaten, sondern nur noch als Verfehlungen gewertet. Auch dies erweitert das Spektrum der Stasi bei der »internen Lösung« ihrer hausinternen Kriminalität.

Um seinen Einfluss auf bereits öffentlich gewordene Taten zu sichern, bedient sich das MfS des umfangreichen Netzes von »inoffiziellen Mitarbeitern« unter den rund 1200 Richtern und etwa 600 Rechtsanwälten der DDR. Sie sorgen nicht nur für die Durchführung der Verfahren nach Stasi-Vorgaben und die entsprechenden laufenden Informationen dazu, sondern analysieren auch die öffentliche Aufmerksamkeit und dienen als »Vorwarnsystem«, wenn sich irgendwo Komplikationen abzeichnen. Dieser Spitzelpool wird von einem ausgefeilten Melde- und Berichtssystem der Polizei und der Justiz ergänzt.

Durch ihre Untersuchungshaftanstalten in allen fünfzehn Bezirken der DDR mit 1917 Haftplätzen in insgesamt 866 Zellen19 kann die Stasi Prozesse dort stattfinden lassen, wo es ihr genehm ist. Das macht die im § 14 III der Strafprozessordnung (StPO) von 1952 festgelegte Zuständigkeitsregelung möglich: »Örtlich zuständig ist auch das Gericht, in dessen Bereich der Beschuldigte auf Anordnung eines staatlichen Organs untergebracht ist.« Diese Regelung war während des Dritten Reiches am 6. Mai 1940 durch die Nazis in die StPO eingeführt und in deren DDR-Neufassung übernommen worden. Sie macht durch die Verlegung von Häftlingen eine »legale« Umgehung des Prinzips des gesetzlichen Richters und dadurch überdies die Isolation des Beschuldigten von seinem privaten Umfeld möglich.20

Solcherart Regelungen dienen zwar vorwiegend der Einflussnahme auf politische Prozesse, sind aber auch beim Vertuschen von Kriminalität in den eigenen Reihen hilfreich.

Trotz vager gesetzlicher Grundlagen agiert das MfS neben der Polizei und der Zollverwaltung als strafprozessuales Untersuchungsorgan. Als solches erwähnt wird es erstmals im Rechtspflegeerlass des Staatsrates vom 4. April 1963. Da sich faktisch jede Tat auch mit dem Problem der »Staatssicherheit« verbinden lässt, kann das MfS bei Bedarf jedes Verfahren an sich ziehen. Entpuppt sich also z. B. ein Mitarbeiter als simpler Ladendieb, kann allein durch seine Stasi-Zugehörigkeit die Sicherheit der DDR als bedroht angesehen werden, weil er vor der Öffentlichkeit die Unfehlbarkeit der Stasi als Ganzes angetastet hat.

Die Tatsache, dass nach § 88 der DDR-Strafprozessordnung, nur die die Untersuchung führenden Abteilungen der Hauptabteilung IX und die Abteilungen IX der Stasi-Bezirksverwaltungen strafprozessuale Befugnisse hatten, wurde mit einem Trick umgangen. Waren andere MfS-Abteilungen tätig, besaßen »die eingesetzten operativen Mitarbeiter vorübergehend den rechtlichen Status von Angehörigen der Untersuchungsorgane«.21

Damit hat die Stasi die Möglichkeit, jegliches Abfließen von Informationen über Verfehlungen eigener Mitarbeiter zu verhindern und entsprechende Untersuchungen innerhalb der einzelnen Diensteinheiten konspirativ durchführen zu lassen. Bekannt gewordene Fälle von Kriminalität innerhalb des MfS belegen, dass diese Möglichkeiten auch umfänglich genutzt werden.

Kommt es schließlich zur Verurteilung, setzt sich bei Bedarf die komplette Isolierung des Delinquenten in der Strafhaft fort.

Obwohl es in der DDR keine gesetzliche Grundlage für den Strafvollzug durch die Stasi gibt – er obliegt dem Ministerium des Innern und bei Militärpersonen dem Ministerium für Nationale Verteidigung – schafft sie sich dazu entsprechende Möglichkeiten.

Zunächst gibt es in den von der Stasi verwalteten U-Haftanstalten nur einzelne Arbeitskommandos, in denen Strafgefangene den inneren Betrieb im Gefängnis besorgen.

Mit Befehl 17/86 von Erich Mielke vom 3. Oktober 1986 wird dann erstmals der Strafvollzug durch das MfS erwähnt. Absurderweise beruft sich dieser Befehl auf die »gesetzlichen Bestimmungen über den Strafvollzug«, obwohl diese einen solchen durch das MfS überhaupt nicht vorsehen. Dennoch gibt es keinen öffentlichen Aufschrei, z. B. von den Abgeordneten der Volkskammer, denn in der DDR hat man sich längst daran gewöhnt, dass die Macht über dem Gesetz steht. So widerspricht auch in diesem Fall niemand dieser Kompetenzanmaßung der Stasi.

Mit diesem Befehl verschafft sich Erich Mielke auf jeden Strafgefangenen, der die Stasi interessiert, Zugriff. Laut Befehl sind sie nämlich dann in die Stasi-Arbeitskommandos einzuweisen, »wenn dies aus Gründen der Gewährleistung der Konspiration und Geheimhaltung, der Wahrung der Sicherheitserfordernisse, des Schutzes der Person oder aus anderen politisch-operativen Gründen notwendig ist.«22

Dies betrifft insbesondere Strafgefangene, die »dem MfS oder anderen Schutz- und Sicherheitsorganen angehörten, in staatlichen Organen, Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen sowie gesellschaftlichen Organisationen politisch-operativ zu beachtende Funktionen innehatten (oder) bedeutsame Geheimnisträger sind [...]«23 Innerhalb dieses Personenkreises sind auch aktuelle oder frühere Familienangehörige betroffen, wenn sich diese in Haft befinden. Weiterhin sichert sich die Stasi den Zugriff auf Personen, die »bedeutsame IM sind oder waren (oder) aus anderen politisch-operativen Gründen nicht in Strafvollzugseinrichtungen des MdI einzuweisen sind.«24 Überdies können jegliche andere Strafgefangene in die Untersuchungshaftanstalten der Stasi zur Verbüßung der Strafhaft eingewiesen werden, »wenn dies für den spezifischen Arbeitseinsatz in den Abteilungen XIV erforderlich« ist.25

Damit hat sich die Stasi unter Missachtung der geltenden Gesetze der DDR ein geschlossenes System geschaffen, das es ihr nicht nur ermöglicht, Untersuchungen von Kriminalität in den eigenen Reihen zu verbergen und darauf folgende Prozesse in ihrem Sinne zu steuern, sonder darüber hinaus Verurteilte dann auch noch auf Jahre oder Jahrzehnte unter eigener Zuständigkeit zu isolieren. Das gleiche Schicksal können Familienangehörige der Täter erleiden, die durch Mitwisserschaft oder aktive Tathilfe ebenfalls ins Stasi-Visier geraten. Praktizierter Willkür jeglicher Intensität gegenüber Opfern und Tätern ist damit ebenso Tür und Tor geöffnet, wie der Möglichkeit, Straftaten je nach Opportunität zu ahnden oder zu vertuschen.

Der Umgang mit Straftaten im MfS ist Teil eines perfektionierten politischen Unterdrückungssystems, das die SED zur Aufrechterhaltung ihrer Macht braucht, nutzt und initiiert hat. Der Stasi dient es dazu, den eigenen Dreck unter den Teppich zu kehren, um nach außen das selbstgeschneiderte Image einer Elite zu erhalten, in der es keinerlei kriminelle Entgleisungen gab.

Dieses Bild ist falsch und verlogen.

Der Millionenmann

Ein Routinejob, nichts weiter. Konspirative Wohnungsdurchsuchungen sind für die Ermittler der Stasi-Hauptabteilung IX Alltagsarbeit. Unter dem Befehl von Generalmajor Rolf Fister sind sie für MfS-interne Untersuchungen zuständig.

Diesmal geht es um die Inventur in einer der geheimen Stasi-Wohnungen. Sie trägt den einfallslosen Decknamen »NB«. Dieser deutet auf die Adresse hin, die Niederbarnimstraße im Ost-Berliner Stadtbezirk Friedrichshain. Knapp sechs Kilometer vom Dienstsitz in der Freienwalder Straße entfernt, eine viertel Stunde Fahrt. Da werden im feuchtkalten Januar 1981 nicht einmal die Autos richtig warm.

Die Aktion startet an einem Donnerstag. Es ist der 29. des Monats und wie immer in solchen Fällen verschaffen sich die Stasi-Offiziere unauffällig Zugang zu den Räumen. Auch die Nachbarn bemerken nichts von den fremden Besuchern.

Die Wohnung ist topmodern eingerichtet. Alles vom Feinsten, wie es hinter der grauen Fassade kaum zu vermuten gewesen wäre. Der alte Kachelofen ist zum Dekorationsstück geworden und gibt dem Wohnzimmer eine anheimelnde, gemütliche Atmosphäre.

Doch als die Ermittler in die Backröhre schauen, finden sie keine brutzelnden Bratäpfel, sondern eine verschlossene Stahlkassette.

Sie ist schwer wie ein Koffer und wird mit in der Freienwalder Straße genommen und dort ohne große Probleme geknackt.

Nun gehen den Männern doch noch die Augen über: In der Kassette befinden sich 160 000 West-Mark und 21,3 kg Feingold. Schlagartig wird aus dem Routinejob nun ein streng geheimer Vorgang. Dass die Männer dem wohl größten Wirtschaftsverbrechen in der Geschichte der DDR auf die Spur gekommen sind, ahnen sie in diesem Moment noch nicht.

Schnell wird ermittelt, welcher Genosse die Wohnung für die Treffen mit seinen inoffiziellen Mitarbeitern belegt hat. Es ist Oberstleutnant Günter W. von der Hauptabteilung XVIII, verantwortlich für die Überwachung der DDR-Volkswirtschaft. Seit zehn Jahren geht er in der Niederbarnimstraße ein und aus. Verwaltet wird das geheime Quartier von seiner Mitarbeiterin, Oberleutnant Ursula Schmidt.1

Die Sache soll möglichst schnell geklärt werden. Deshalb werden die beiden Offiziere schon am nächsten Tag zur Klärung dieses Sachverhaltes« in eine andere konspirative Stasi-Wohnung »zugeführt« und dort verhört. Was die Ermittler dort erfahren, lässt sie aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.

Nach knapp zwei Wochen, am 12. Februar 1981, schreiben sie ihren ersten »Bericht über Ergebnisse der Untersuchung zu festgestellten Manipulationen des Gen. Oberstleutnant W. und der Gen. Oberleutnant Schmidt«.2 Er landet direkt auf dem Schreibtisch Erich Mielkes. Der hat zwar schon manches erlebt, doch in diesem Aktenstück geht es um Millionen von Ost- und West-Mark, Gold, Schmuck und Edelsteine, die offenbar einer seiner »Tschekisten« beiseite schaffen wollte. Was steckt dahinter? Verrat, Vorbereitung der Fahnenflucht gar, oder doch nur ein kriminelles Vergehen. Erich Mielke muss manches zwei- und dreimal halblaut vor sich hin brabbeln, bevor er überhaupt erahnt, in welches Wespennest seine hausinternen Ermittler da gestochen haben.

Voller Stauen liest der Minister: »An Wertgegenständen einschließlich Devisen wurden sichergestellt: 86 Kg 534 gr Feingold (davon 1,885 gr Dentalgold).« Allein das ist ein Vermögen wert: »Bei dem gegenwärtigen internationalen Goldpreis Kg = 34000 DM stellt dieses Gold einen Wert von 2852156,- DM dar. Bei dem gegenwärtigen DDR-Goldaufkaufpreis wird für 1 Gramm Feingold 220,- Mark gezahlt. Danach hat dieses Gold gegenwärtig einen Wert von 19 037 480 Mark.«3

Knapp 20 Millionen DDR-Mark, wieviel ist das? Bei rund 800 Mark liegt der Monatslohn eines Arbeiters im »Arbeiter- und Bauernstaat« – für diese Summe müssten etwa 23 800 Leute einen Monat lang arbeiten, etwa das ganze Leunawerk »Walter Ulbricht«! Erich Mielke wiegt bedächtig den Kopf. Das ist viel. Natürlich könnte man im Sozialismus auch viel dafür kaufen. Zum Beispiel fast 272 Einfamilienhäuser, die damals in der DDR mit 70 000 Mark pro Stück kalkuliert werden. Der Minister klappt die Akte zu. Das kann nicht sein, das kann gar nicht alles ein einzelner Mensch zusammengerafft haben, wir sind doch nicht beim kapitalistischen Klassenfeind!

Doch dann gibt er sich einen Ruck und liest weiter. Das Gold ist nämlich längst nicht alles, was seine geheimen Ermittler entdeckt haben; 1626 105 West-Mark und stolze 2 202 875 DDR-Mark in bar sind auch noch dabei. Und dann die vielen kleineren Summen: Zum Beispiel 24 187 US-Dollar, 4 520 Schweizer Franken, 2 161,10 englische Pfund, 4 350 belgische Frank oder gar die 3 807 Rubel und 81 050 Zloty – Erich Mielke schwant, dass seine Leute einem ganz dicken Fisch auf die Schliche gekommen sind.

Die Auflistung der Werte scheint endlos: »Brillanten, Schmuck wie Armbänder, Ketten, Armreife und Ringe zum durch Gutachter geschätzten Industrieabgabepreis von 2 379 430,- Mark und einem Endverbraucherpreis von 4 045 031,- Mark [...] Gold- und Silbermünzen im durch Gutachter geschätzten Gesamtwert von 646 504,- DM [...]«4

Dabei konnten die Ermittler den ganzen Kleinkram noch nicht einmal berücksichtigen: »Die in Wohnungen, Garagen und anderen Objekten sichergestellten elektronischen Geräte, Teppiche sowie Spirituosen werden gegenwärtig listenmäßig erfaßt und es können dazu noch keine Wertangaben getroffen werden.«5

Ein Vermögen von gut sechseinhalb Millionen West-Mark und mehr als zwei Millionen Ost-Mark also, das die Genossen vorsorglich auch schon einmal auf die DDR-Werte bei Gold, den Pretiosen und Münzen umgerechnet haben. Da käme dann ungefähr ein Batzen von insgesamt knapp 30 Millionen Mark heraus, denn auch bei der Stasi weiß man, dass der offizielle Umrechnungskurs von 1:1 zwischen Ost- und West-Mark in der Praxis eine Lachnummer ist.

Und das alles gehört angeblich einem Offizier und seiner Mitarbeiterin, die jahrelang für die Stasi »eigenverantwortlich Sonderaufgaben gelöst« haben?

Erich Mielke befiehlt nicht nur strengste Geheimhaltung der ganzen Sache, sondern auch umfänglich Aufklärung.

Zuerst muss natürlich geklärt werden, was das für Genossen sind, die solch eine unvorstellbare Geldmenge zusammenraffen konnten. Schließlich hat die Stasi doch alles im Griff, noch dazu im eigenen Hause. So ist als erstes die Kader-Abteilung gefragt, denn immerhin gibt es ja Personalakten. Und dann natürlich die Stellungnahmen der Genossen selbst.

Was Erich Mielke daraus erfährt, ist typisch für Karrieren in seinem Ministerium, die er lieber »Werdegang« nennt.

Treu ergebene Genossen

»Ich habe den Beruf eines Tschekisten auf der Linie Abwehr erlernt. Des weiteren bin ich Staatsdiplomwirtschaftler und Finanzökonom«, schreibt Günter W. in seinen Angaben zum Tathergang.6

Wichtig ist ihm dabei offenbar nur sein »erlernter« Beruf, denn die exakte Bezeichnung seiner akademischen Ausbildung scheint der »Sonderoffizier« selbst nicht so richtig zu kennen.

Einen Hochschulabschluss »Staatsdiplomwirtschaftler«, gelegentlich schreibt er auch »Staatsdiplomwissenschaftler«, gibt es in der DDR nicht.

Laut Kaderakte hat der damalige Hauptmann 1965 bis 1969 jedoch ein Fernstudium an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft Potsdam-Babelsberg absolviert und als »Diplom-Staatswissenschaftler«, dem üblichen Titel für DDR-Funktionäre jeglicher Couleur, abgeschlossen.

Die fachliche Ausbildung ist bei der Stasi wohl ohnehin eher für die Statistik und die Akten wichtig. Die Hochschulreife kann der am 12. Juni 1935 geborene Günter W. nicht nachweisen. Seine Schulbildung war lückenhaft. 1941 bis 1953 drückte er mit kriegsbedingten Unterbrechungen die Schulbank, das Abitur schaffte er nicht.

Trotzdem will sich auch Günter W. mit akademischen Würden schmücken. Deshalb legt er sich die klangvollen Decknamen »Dr. Peter Berger« und »Dr. Fred Burkert« zu. Damit folgt er dem Vorbild vieler seiner Stasi-Genossen bis in die höchsten Führungsspitzen, die ebenfalls gern den selbst verliehenen Doktortitel vor ihre Alias-Namen setzen. Nur Erich Mielke selbst verzichtet darauf. Er bevorzugt den Proletarier-Kult und lässt seine untergebenen »Doktoren« von der Sekretärin gern schon einmal zum »Arbeiter Mielke« bestellen und dann stramm stehen.

Doch zurück zu Günter W. Weil es mit dem Studieren nicht klappt, wird er erst einmal Hilfssachbearbeiter bei der Deutschen Notenbank in Berlin. Doch bald naht die Erlösung: Am 15. August 1955 stellt ihn »das Organ« als »operativen Mitarbeiter« ein. Die Stasi hat ihn zum Mitarbeiter erwählt, bewerben kann man sich dort nicht.

Nun hat der junge Mann endlich eine Tätigkeit gefunden, bei der nicht mehr Bildung und Fachkenntnis, sondern politisches Wohlverhalten zählt.

Stolz berichtet Günter W.: »Seit 1955 bin ich Mitarbeiter des MfS. Ich wurde Mitarbeiter des MfS aus Überzeugung für die Sache des Sozialismus, für die DDR und für den Aufbau des Kommunismus im soz. Lager und darüber hinaus. Im Laufe der Jahre meiner Tätigkeit habe ich viele verantwortliche, geheime, vertrauliche Aufgaben und spezielle Aufträge gelöst und mit Erfolg. Ich habe Agenten liquidiert und Feinde enttarnt.«7

Bevor das jedoch richtig losgehen kann, muss doch noch ein Zeugnis her, denn immerhin ist der neue Mann ja für die Offizierslaufbahn vorgesehen.

Ab Oktober 1955 schickt die Stasi deshalb ihren gerade geworbenen Mitarbeiter auf einen zweijährigen Lehrgang an der hauseigenen »Juristischen Hochschule« in Potsdam-Eiche. Studienerfolg garantiert. Pünktlich zum »Tag der Republik« 1957 wird Günter W. Unterleutnant und 1960 bis 1965 folgt ein Fernstudium als Finanzökonom an der Hochschule für Ökonomie, Berlin-Karlshorst.

Die Stasi-Chefs vertrauen ihrem Genossen Günter W., lassen ihn stetig Karriere machen und setzen nun »den qualifizierten Kader« auch für streng geheime Operationen ein.