Herausgeber:
Stern
Gruner + Jahr AG & Co KG,
Druck- und Verlagshaus,
Am Baumwall 11, 20459 Hamburg
www.stern.de
Die Geschichte der Atomkraft
aus: stern EXTRA Nr. 1/2011
eBook-ISBN: 978-3-652-00264-6
Der Wettlauf um die Bombe
von Tilman Müller
Die Welt am atomaren Abgrund
von Bettina Sengling
Der Siegeszug der Kernkraft – bis zum GAU
von Katja Gloger
Zeit des Aufbruchs
von Walter Wüllenweber
Außer Kontrolle
von Bettina Sengling
Fukushima und die Folgen
von Marc Goergen, Janis Vougioukas
Kaum ist um 1900 die Radioaktivität entdeckt und bald darauf die Kraft, die in Atomen schlummert, grübeln Forscher und Politiker, welch mächtige Waffen sich nun herstellen ließen. Ausgerechnet Albert Einstein gibt das Signal zum Endspurt in der nuklearen Rüstung. Bis 1945 Hiroshima ein Inferno erlebt
Als der Countdown beginnt, kauert Robert Oppenheimer mit bleichem Gesicht auf dem Boden, 9000 Meter südlich vom sogenannten Ground Zero in der Wüste New Mexicos. „Herr, diese Dinge liegen schwer auf dem Herzen“, murmelt er noch in äußerster Anspannung, dann dringt blitzendes Licht durch seine Augenlider. Ein gewaltiger Feuerball steigt empor, darunter eine Wolke, die sich rasend schnell über dem Testgelände ausbreitet. Sekunden später erreicht ihn eine enorme Druckwelle, kurz darauf ein ohrenbetäubendes Donnern aus dem weit entfernten Gebirge.
Der Star-Physiker erschrickt. Die auflodernde Hitze ist kaum auszuhalten. Einen Moment lang befürchtet er gar, von „dieser glänzend purpurroten Wolke, die schwarz war von radioaktivem Staub“, verschlungen zu werden. Immer höher steigt die Feuersäule, gleißend hell und viele Male intensiver als die Mittagssonne. Es ist 5.30 Uhr, als sie in mehreren Tausend Meter Höhe die Form eines blauviolett glühenden Pilzes annimmt. An diesem Morgen des 16. Juli 1945 beginnt das Atomzeitalter – und die Menschheit ist an einem Punkt angelangt, von dem aus es keine Umkehr mehr gibt.
Oppenheimer ist unmittelbar nach dem geglückten Test zu aufgewühlt, um eine Erklärung abzugeben. Seit drei Jahren bereits leitet er dieses nervenaufreibende Projekt. Fast hätte der Test noch verschoben werden müssen, weil ein Regenschauer angekündigt war, der den radioaktiven Fallout in unverantwortlich hoher Konzentration in die nahe gelegenen Städte getragen hätte. Doch dann zog das Unwetter vorbei, und die auf einem 30 Meter hohen Stahlturm platzierte Bombe mit dem apfelsinengroßen Plutoniumkern wurde gezündet. Minuten später gibt es Freudentänze in der Wüste. Berühmte Kernphysiker wie Enrico Fermi, Hans Bethe oder Edward Teller klopfen sich auf die Schultern.
Am späten Vormittag dieses 16. Juli spricht Oppenheimer mit einem Reporter der „New York Times“. Die Wirkung der Explosion, sei „erschreckend“ gewesen, sagt er, „nicht ohne Bedrückung“. Und nach kurzer Pause fügt er – Amerika steht im Krieg – patriotisch hinzu: „Viele Jungs, die noch nicht erwachsen sind, werden ihr das Leben verdanken.“
Der erste Atombombentest der Welt ist eine Show der Superlative, Resultat einer Geheimaktion namens „Manhattan Project“, für das insgesamt 125 000 Menschen tätig sind. Die Zentrale, der etwa 100 Zulieferbetriebe zuarbeiten, befindet sich in Los Alamos, einem abgelegenen Ort auf einem 2100 Meter hohen Plateau im Gebirge New Mexicos, den die Wissenschaftler „Standort Y“ nennen. Tausende arbeiten dort hinter Stacheldraht in hastig aufgebauten Laborbaracken, später in einer riesigen Industrieanlage. Atomaren Sprengstoff – Uran 235 und Plutonium – beziehen sie aus dem „Standort X“ in Oak Ridge am Tennessee- Fluss sowie aus einem Nuklearkomplex mit dem Codenamen „W“ nahe Richland im Bundesstaat Washington.
Das 2,5 Milliarden Dollar teure Kernwaffenprogramm ist das bis dahin größte Industrie- und Wissenschaftsprojekt der Welt. Sein Finanzvolumen entspricht 1945 dem der gesamten Automobilindustrie der USA. Stolz spricht der amerikanische Präsident Harry Truman gar von „der größten Leistung organisierter Wissenschaft in der Geschichte“. Die Amerikaner feiern Oppenheimer als ihren Prometheus, nach dem Titan der griechischen Mythologie, der den Menschen das Feuer gab.
Begonnen hatte die Entschlüsselung der neuen, weltbewegenden Kraft in einem einfachen Labor. Genauer: in der Schublade von Henri Becquerel. In die hinein hatte der Physiker 1896 eine lichtdicht verpackte Fotoplatte gelegt und dazu einige kleine Brocken Urangestein. Einige Tage später stellte er fest, dass die Platte da, wo die Mineralien lagen, geschwärzt war. Becquerel war überrascht: Gibt es außer Licht noch eine andere, geheimnisvolle Strahlung?
Zur Zeit seines Zufallsfundes sind von den heute 118 bekannten Elementen des Periodensystems erst 72 entdeckt, ihre Atomstruktur wird erst viel später entschlüsselt. Doch Becquerel ist sofort klar, dass er auf eine bislang unbekannte Strahlung gestoßen sein musste. Er führt noch einige Experimente durch, dann überlässt er die Strahlenforschung einer jungen, aus Polen stammenden Physikerin an der Pariser Sorbonne-Universität namens Marie Curie. Sie findet die Materie spannend, zumal sie auf der Suche nach einem Thema für ihre Doktorarbeit ist. Mit ihrem Mann, dem Physiker Pierre Curie, entdeckt sie 1898 in einem Mineral namens Pechblende (Uraninit) zwei bislang vollkommen unbekannte Elemente, die noch wesentlich intensiver strahlen als die Uranbrocken Becquerels. Zudem gelingt es ihr, die Strahlung zu messen. Dabei verwendet sie erstmals einen Begriff, der bis heute in aller Munde ist: Radioaktivität.
Eines der neuen Elemente nennt die damals 31-Jährige nach ihrem Heimatland „Polonium“, das andere „Radium“ (von lateinisch radius, Strahl). Polonium belegt im Periodensystem Rang 84. Radium, Ordnungszahl 88, ist noch um ein Vielfaches radioaktiver als Polonium, gibt Wärme ab und besitzt eine starke Leuchtkraft. Als die Forscherin einmal nachts in ihr Labor im Pariser Quartier Latin kommt, merkt sie, dass es „ein bläuliches Licht ausstrahlt“.
Die Curies machen ihre bahnbrechenden Experimente unter jämmerlichen Bedingungen in einem Schuppen, der zuvor von Studenten für Obduktionen genutzt wurde. „Eine Kreuzung zwischen Stall und Kartoffelkeller“, nennt ein Besucher ihr Labor nahe der Sorbonne, „wenn dort keine chemischen Apparate auf dem Arbeitstisch gewesen wären, hätte ich das Ganze für einen Witz gehalten.“ Im Hof lagern Tonnen von Pechblende aus den Bergwerken im tschechischen Jáchymov (Sankt Joachimsthal). In jahrelanger Knochenarbeit gelingt es dem Paar, daraus ein Zehntel Gramm reines Radium zu gewinnen und dessen Atomgewicht zu bestimmen. „Die Unmittelbarkeit, mit der die Strahlung auftritt, ist ein Rätsel, Gegenstand höchsten Erstaunens“, schreiben Marie und Pierre Curie, die sich dem Ideal der Aufklärung verpflichtet fühlen und fest davon ausgehen, mit ihrer Arbeit dem Wohl der Menschheit zu dienen.
1903 erhält das Paar zusammen mit Becquerel für die Erforschung der Radioaktivität den Nobelpreis für Physik. Die Curies zählen nun zu den Berühmtheiten ihrer Zeit. Journalisten aus aller Welt interessieren sich plötzlich für ihre sechsjährige Tochter Irène und den Hauskater Didi. In einem Brief an die Familie in Polen berichtet Marie Curie: „Gestern hat mich ein Amerikaner schriftlich um die Erlaubnis gebeten, ein Rennpferd nach mir zu benennen.“
Auch in anderer Hinsicht fordert der Erfolg seinen Tribut. Nach einem Selbstversuch, bei dem er eine Stelle seines Unterarms zehn Stunden der Strahlung einer Radiumprobe aussetzt, notiert Pierre Curie: „Nach 52 Tagen bleibt eine Wunde zurück, die einen ins Graue spielenden Ton annimmt, der darauf schließen lässt, dass eine tiefere Verwundung vorliegt.“ Er erwähnt auch die „entzündeten Fingerspitzen“ seiner Frau sowie Schmerzen, „die nach zweimonatiger Dauer nicht verschwunden“ sind. Kurz vor der Nobelpreisverleihung erleidet Marie eine Fehlgeburt. Dauernd fühlt sie sich erschöpft, hat Depressionen, wird mehrfach an den Augen operiert und muss oft nach plötzlichen Zusammenbrüchen im Bett bleiben. Dass ihre Leiden etwas mit der hohen Strahlendosis zu tun haben, will die immer dünner werdende Forscherin nicht wahrhaben. Ohnehin ist sie überzeugt, dass große wissenschaftliche Entdeckungen Opfer erfordern.
Ihr Mann macht sich mehr Gedanken. Wiederholt beobachtet er, dass Versuchstiere sterben, nachdem sie mit Radium in Berührung kamen. Im Januar 1905 schreibt er, „dass das Radium in verbrecherischen Händen sehr gefährlich werden könnte, und hier stellt sich die Frage, ob es für die Menschheit vorteilhaft ist, die Geheimnisse der Natur zu erkennen, ob sie reif genug ist, sich diese Erkenntnisse nutzbar zu machen, oder ob diese Erkenntnisse ihr nicht schädlich sind“.
Den Atomphysiker Ernest Rutherford t reiben ähnliche Sorgen um. Berühmt ist seine Warnung, dass bei Experimenten mit der gewaltigen radioaktiven Energie „irgendein Narr in einem Labor versehentlich das Universum in die Luft jagen“ könnte. Im britischen Cambridge entdeckt er die verschiedenen Typen der Strahlung und unterscheidet zwischen Alpha-, Beta- und Gammastrahlung. Aber präzisieren kann er seine allgemeinen Befürchtungen nicht. Sein Schüler, der Chemiker Frederick Soddy, spekuliert in einem Vortrag 1904 in London: „Wahrscheinlich besitzt jede schwere Materie – latent und in der Struktur des Atoms gebunden – eine ähnliche Energiemenge wie Radium. Was für ein Mittel das wäre bei der Gestaltung des Weltschicksals, wenn sie sich erschließen und kontrollieren ließe! Der Mann, der den Hebel umlegt … besäße eine Waffe, mit der er, wollte er es, die Erde zerstören könnte.“
Diese Vision greift der Schriftsteller H. G. Wells später auf und schildert in seinem Science-Fiction-Roman „The World Set Free“ (Befreite Welt) erstmals den Horror eines Nuklearkriegs. Seine Atombomben sind kleine Kugeln, die aus Flugzeugen per Hand abgeworfen werden und am Boden „Schwaden leuchtenden radioaktiven Dampfes“ erzeugen, „die sich über viele Meilen hinziehen und alles, womit sie in Berührung kommen, töten und verbrennen“.
Im Frühjahr 1906 wird Pierre Curie von seinen eigenen düsteren Vorahnungen eingeholt. Seine Schmerzen verschlimmern sich. Nachts findet er kaum Schlaf, ins Labor schleppt er sich nur noch stark humpelnd – die damals unbekannte Strahlenerkrankung zerfrisst bereits seine Gebeine. Am 19. April taumelt der 46-Jährige auf dem Weg zu einer Verabredung über eine belebte Kreuzung an der Pariser Pont Neuf, verliert das Gleichgewicht und gerät unter ein schwer beladenes Pferdefuhrwerk. Er ist sofort tot.
„Marie, die in jedem Bereich ihres Lebens nach Perfektion strebte, reagierte auf den Tod ihres Mannes mit Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen“, schreibt ihre Biografin Barbara Goldsmith. Mehr denn je flüchtet sie sich in ihre Arbeit. Kurz nach dem Unfall von Pierre, den sie trotz ständiger Leiden fast 30 Jahre überlebt, wird sie zur ersten Professorin in der Geschichte der Sorbonne berufen. Ihr Curie-Institut ist bald die führende Adresse für die Gewinnung und Zertifizierung von Radium für industrielle wie medizinische Zwecke. Deutlich zeigt sich ihre Vorrangstellung beim Internationalen Kongress für Radiologie 1910 in Brüssel, wo „Curie“ zur Standardmesseinheit für Radioaktivität bestimmt wird. Im Jahr darauf ist sie bei der Solvay-Konferenz in Belgiens Hauptstadt die einzige Frau neben 23 männlichen Koryphäen, unter ihnen der junge Albert Einstein und ein früherer Schüler ihres verstorbenen Gemahls namens Paul Langevin.
Während der Konferenz erhält die Französin ein Telegramm aus Stockholm. Zum zweiten Mal wird ihr ein Nobelpreis zugesprochen, diesmal in Chemie. Doch die außerordentliche Ehrung ist überschattet von einer Sexaffäre. Nur Eingeweihte wissen, dass Marie Curie seit Kurzem die heimliche Geliebte von Monsieur Langevin ist. Der gut aussehende Mann, verheiratet, vier Kinder, ist einige Jahre jünger als Marie, hat für seine Seitensprünge nahe der Sorbonne extra ein Apartment angemietet, und manch einer in Paris wundert sich, warum die berühmte Witwe auf einmal modische Roben mit koketter Rose an der Taille trägt.
Über die Liaison erbost, heuert Langevins Gattin einen Privatdetektiv an, der im Apartment ihres Mannes auf einige Liebesbriefe stößt. „Mein Paul“, schreibt da Marie, „ich umarme Dich zärtlich; ich werde versuchen zu meiner Arbeit zurückzukehren, obwohl es schwierig ist, wenn sich das Nervensystem in solchem Aufruhr befindet.“ Und just als in Brüssel die hochkarätige Konferenz tagt, sind die amourösen Bekenntnisse in einem Pariser Journal nachzulesen.
Madame Curie ist am Boden zerstört. Doch als das Nobel-Komitee ihr nahelegt, wegen des Skandals nicht zur Verleihung nach Schweden zu kommen, kontert sie couragiert, ihr Privatleben habe nichts mit ihrer wissenschaftlichen Leistung zu tun. Erhobenen Hauptes nimmt sie den Preis von König Gustav entgegen. Mehr und mehr wird die Entdeckerin der Radioaktivität zum wandelnden Mythos.
Als sie nach dem Ersten Weltkrieg erstmals in die USA reist und Präsident Warren Harding ihr im Weißen Haus einen großartigen Empfang bereitet, ist Radium längst zu einem fragwürdigen Kultprodukt geworden, das 1920 pro Gramm astronomische 120 000 Dollar kostet und gegen Magenkrebs, Herzbeschwerden oder Impotenz eingesetzt wird. In Nachtclubs treten Frauen auf, die – abgesehen von den leuchtenden Radiumpartikeln an ihren Kostümen – unsichtbar sind. Amerikanische Lebensmittelchemiker kommen auf die verrückte Idee, dem Hühnerfutter minimale Radiummengen beizumischen, „damit die Hennen hart gekochte Eier legen“. Selbst ein seriöses Fachblatt wie das „American Journal of Clinical Medicine“ verkündet: „Die Radioaktivität beugt Geisteskrankheiten vor, hält den Alterungsprozess auf, löst edle Gefühle aus und steigert die Lebensfreude.“
Strahlenschutz ist damals absolut kein Thema. Dabei häufen sich spektakuläre Todesfälle, nicht zuletzt in den USA. Der Industrielle Eben Byers stirbt qualvoll an Kieferkrebs, nachdem er vier Jahre lang „Radithor“ zu sich genommen hatte, ein Getränk, das Radiumsalze enthielt und angeblich die sexuelle Lust steigerte. Arbeiterinnen der US Radium Corporation im Staat New Jersey, die in den 20er Jahren Zeiger und Indizes von Millionen von Armbanduhren durch Bemalung mit einer dünnen Radiumschicht zum Leuchten bringen, klagen über Menstruationsbeschwerden und Depressionen; einige der Schwerkranken ziehen vor Gericht, doch für viele kommt jede Hilfe zu spät.