Der glückliche Tod

Fußnoten

  1. Vgl. auch Brigitte Sändig: Albert Camus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1995. (Anm. d. Übers.)

  2. Anspielung auf die Essaysammlung L’Envers et l’endroit (dt. Licht und Schatten). (Anm. d. Übers.)

  3. Vgl. Roger Quilliot: La Mer et les prisons. Paris 1956, S. 87.

  4. H. Coulet: Le Roman jusqu’ à la révolution Bd. I. Paris 1967.

  5. André Malraux’ Roman La Condition humaine (dt. unter dem Titel Conditio humana und später unter dem Titel So lebt der Mensch erschienen). (Anm. d. Übers.).

  6. Der sich aufdrängende Vergleich mit Caligula müsste in einer umfassenden Untersuchung behandelt werden.

  7. In dem vorangehenden Manuskript ist er hinzugefügt.

  8. Es handelt sich um die Mutter von Camus.

  9. Es handelt sich um seine Großmutter.

  10. Es handelt sich um ihn selbst und seinen Bruder Lucien.

  11. Es handelt sich um seinen Onkel Sintès.

  12. Anspielung auf L’Exil et le royaume (dt. Das Exil und das Reich) und L’Envers et l’endroit (dt. Licht und Schatten). (Anm. d. Übers.)

  13. dt. Das Missverständnis. (Anm. d. Übers.)

  14. Bürgerliche Illustrierte. (Anm. d. Übers.)

Die Veröffentlichung dieser Werkhefte geschieht nicht ohne Bedenken. Albert Camus war sehr selbstkritisch, er entschloss sich nicht leicht, eine Arbeit zu publizieren. Warum, so könnte man fragen, werden dann jetzt ein von ihm zurückgestellter Roman, Vorträge und Aufsätze, die er nicht in die Sammelbände Actuelles aufgenommen hat, und sogar Arbeitsunterlagen und Rohentwürfe veröffentlicht?

Aus einem einfachen Grund: Wer einen Schriftsteller liebt oder über sein Werk arbeitet, möchte meist alles von ihm kennenlernen. Diejenigen, die die ungedruckten Texte des Autors verwahren, sind der Meinung, es wäre unrecht, diesem Wunsch nicht nachzukommen und all denen, die Wert darauf legen, nicht die Lektüre beispielsweise des Romans Der glückliche Tod oder der Reisetagebücher zu ermöglichen.

Die Wissenschaftler, die für ihre Untersuchungen und Analysen, teils noch zu Lebzeiten Camus’, die wenig bekannten oder noch unveröffentlichten frühen Schriften oder späteren Texte konsultiert haben, sind der Ansicht, dass durch die Lektüre dieser Arbeiten das Bild des Autors nur ausdrucksvoller und reicher werden kann.

Als Herausgeber für die Cahiers Albert Camus zeichnen Jean-Claude Brisville, Roger Grenier, Roger Quilliot und Paul Viallaneix.

Die Cahiers werden sich nicht auf die Veröffentlichung ungedruckter oder gegenwärtig schwer zugänglicher Texte beschränken, sondern auch ein Forum für Arbeiten sein, die

 

Die Herausgeber

Erster Teil Der natürliche Tod

I

Kurz vor der Villa mündete die Straße in einen kleinen Platz mit Bänken und Grünanlagen. Frühe rote Geranien zwischen grauer Aloe, das Blau des Himmels, das Weiß der Umfassungsmauern – das alles wirkte so frisch und so jung, dass Mersault einen Moment den Schritt verhielt, bevor er den Weg einschlug, der von dem Platz zu Zagreus’ Villa hinunterführte. Vor der Schwelle des Hauses blieb er stehen und zog seine Handschuhe an. Er öffnete die Tür, die der Krüppel stets unverschlossen hielt, und machte sie ganz natürlich hinter sich wieder zu. Er ging durch den Flur bis zur dritten Tür links, klopfte an und trat ein. Zagreus war selbstverständlich da, er saß, mit einem Plaid über den Stümpfen seiner Beine, in einem Sessel dicht am Kamin, genau an dem Platz, den Mersault zwei Tage zuvor eingenommen hatte. Er las, und das Buch lag auf seiner Decke, während er Mersault, der neben der wieder geschlossenen Tür stehen geblieben war, aus seinen

Mit unbewegtem Gesicht faltete Mersault den Brief wieder zusammen, und in diesem Augenblick reizte der Rauch seiner Zigarette seine Augen, während etwas Asche auf den Umschlag fiel. Er schüttelte das Papier, legte es deutlich sichtbar auf den Tisch und wendete sich Zagreus zu. Dieser schaute jetzt auf den Briefumschlag, und seine kurzen kräftigen Hände hielten weiter das Buch umschlossen. Mersault bückte sich, drehte den Schlüssel der Kassette, entnahm ihr die Bündel, von denen man durch die Umhüllung aus Zeitungspapier nur den Schnitt erkennen konnte. Seine Waffe unter dem Arm, füllte er mit der einen Hand in aller Ruhe seinen Koffer. Es waren weniger als zwanzig Bündel zu hundert Scheinen vorhanden, und Mersault stellte fest, dass er einen zu großen Koffer mitgenommen hatte. Ein Bündel von hundert Scheinen ließ er in der Kassette. Nachdem er den Koffer geschlossen hatte, warf er seine halb aufgerauchte Zigarette ins Kaminfeuer, nahm den Revolver in die rechte Hand und näherte sich dem Krüppel.

Zagreus sah jetzt zum Fenster hinaus. Man hörte ein Auto mit einem mahlenden Geräusch langsam an der Haustür vorüberfahren. Regungslos schien Zagreus die ganze unmenschliche Schönheit dieses Aprilmorgens in sich aufzunehmen. Als er den Revolverlauf an seiner rechten Schläfe fühlte, wendete er nicht einmal den Blick. Doch Patrice, der ihn anschaute, sah, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. Er selbst schloss darauf die seinen. Er trat einen Schritt zurück

II

Der Sommer füllte den Hafen mit Stimmenlärm und Sonne. Es war halb zwölf Uhr vormittags. Der Tag strömte sein Innerstes aus, um die Quais mit dem ganzen Gewicht seiner Hitze zu erdrücken. Vor den Lagerschuppen der Handelskammer von Algier nahmen ‹Schiaffinos› mit schwarzem Rumpf und rotem Schornstein Kornsäcke an Bord. Ihr feiner Staubduft vermischte sich mit den kompakten Teergerüchen, die eine heiße Sonne zur Entfaltung brachte. Vor einer kleinen Baracke, wo es nach Firnis und Anisette roch, saßen Männer und tranken, während arabische Akrobaten in roten Trikots vor dem sonnenblitzenden Meer auf den glühend heißen Steinplatten ihre Körper verrenkten. Ohne sie zu beachten, betraten die Säcke schleppenden Hafenarbeiter die beiden schwingenden Planken, die vom Quai auf das Deck der Frachtdampfer führten. Oben angekommen, hoben sie

Auf der Planke machten die Männer plötzlich entgegen der Ordnung Halt. Einer von ihnen war zwischen die Bohlen gefallen, die nahe genug beieinanderlagen, um ihn festzuhalten. Doch sein Arm war hinter ihm eingeklemmt, zerquetscht durch das ungeheure Gewicht des Sackes, und er schrie vor Schmerz. In diesem Augenblick trat Patrice Mersault aus seinem Büro. Schon auf der Schwelle verschlug ihm die Sommerhitze den Atem. Er sog mit weit offenem Mund den Teergeruch ein, der ihn in der Kehle kratzte, und blieb bei den Hafenarbeitern stehen. Sie hatten den Verletzten befreit. Auf den Planken mitten im Staub hingestreckt, die Lippen bleich vor Schmerz, ließ er seinen gebrochenen Arm vom Ellbogen ab herunterhängen. Ein Knochensplitter war durch das Fleisch gedrungen, sodass eine hässliche Wunde entstand, aus der das Blut sickerte. Die Tropfen liefen am Arm entlang und fielen dann, einer nach dem andern, mit einem leichten Zischen auf die glühenden Steine, wo sie verdampften. Mersault starrte regungslos auf dieses Blut, als jemand seinen Arm ergriff. Es war Emmanuel, der ‹Kleine für die Botengänge›. Er wies auf einen Lastwagen, der mit lautem Kettengerassel und Geknatter auf sie zukam. «Wollen wir?» Patrice begann zu laufen. Der Lastwagen fuhr an ihnen vorbei. Und sogleich rannten sie ihm nach, verschlungen von Lärm und Staub, keuchend und blind, gerade noch klar genug, um zu fühlen, wie sie durch diese wilde Lauferei hineingerissen

In Belcourt angekommen, sprang Mersault zusammen mit dem singenden Emmanuel ab. Er sang laut und falsch. «Du musst verstehen», sagte er immer zu Mersault, «es drängt einfach aus der Brust herauf. Wenn ich vergnügt bin. Wenn ich bade.» Das stimmte. Emmanuel sang, wenn er schwamm, und seine durch den Druck von außen her rau gewordene und auf dem Meer kaum hörbare Stimme bestimmte dann den Takt der Bewegungen seiner kurzen muskulösen Arme. Sie bogen in die Rue de Lyon ein. Mersault schritt kräftig aus, er war sehr groß und wiegte seine breiten sehnigen Schultern. An der Art, wie er den Fuß auf den Gehsteig setzte, den er entlangzuschreiten gedachte, wie er mit einer gleitenden Hüftbewegung der Menge auswich, die ihn zuweilen umgab, spürte man, dass sein Körper überraschend jung und kraftvoll und durchaus imstande war, seinen Besitzer bis an die äußersten Grenzen physischer Lust zu tragen. Wenn er sich nicht bewegte, ließ er ihn auf der einen Hüfte ruhen, mit einer leicht affektierten Geschmeidigkeit wie jemand, der durch Sport den richtigen Stil gelernt hat. Seine Augen blitzten

«Geschieht ihm recht», meinte Mersault.

«Oh, man soll sich nicht kleinkriegen lassen im Leben. Er

«Was würdest du tun?», fragte Emmanuel.

«Ich würde mir eine kleine Hütte kaufen, mir ein bisschen Vogelleim auf den Nabel schmieren und eine Fahne draufsetzen. Und dann würde ich warten und sehen, von welcher Seite der Wind kommt.»

Mersault verzehrte in Ruhe sein Mahl, bis Emmanuel auf den Gedanken kam, dem Wirt seine berühmte Geschichte von der Marneschlacht vorzusetzen.

«Uns, die Zuaven, haben sie als Tirailleurs eingesetzt …»

«Du ödest uns an», erklärte Mersault ruhig.

«Der Kommandeur befahl: ‹Angriff!› Und wir alle hinunter, es war da so eine mit Bäumen bestandene Schlucht. Er hatte uns gesagt, wir sollten angreifen, aber vor uns war kein Mensch. Wir sind also marschiert und immer weiter vorgegangen. Dann aber gab es auf einmal Maschinengewehrfeuer. Sie schossen mitten in uns hinein. Alles purzelte nur so übereinander. Es gab so viele Verwundete und Tote, und auf dem Grund der Schlucht war so viel Blut, dass man in einem Kanu hätte hinüberfahren können. Da waren welche, die schrien: ‹Mama!› Es war fürchterlich.»

Mersault stand auf und knüllte seine Serviette zusammen. Der Wirt ging und notierte sein Mittagessen mit Kreide hinten auf der Küchentür. Das war sein Rechnungsbuch. Wenn einer protestierte, hob er die Tür aus den Angeln und schleppte die Rechnung auf seinem Rücken herbei. In einer Ecke saß René, der Sohn des Wirtes, und aß ein weiches Ei. «Der Arme», sagte Emmanuel, «er geht an der Schwindsucht zugrunde.» Das stimmte. René war gewöhnlich still und ernst. Er war nicht allzu sehr abgemagert, doch seine Augen glänzten. Gerade war ein Gast dabei, ihm zu erklären,

«Sag mal, Mersault, du bist doch ein gebildeter Mann», sagte der Wirt.

«Ja, schon gut», sagte Patrice. «Ein andermal.»

«Du hast aber eine Saulaune heute Morgen.»

Er bewohnte das Zimmer, in dem seine Mutter gelebt hatte. Sie hatten lange in dieser kleinen Drei-Zimmer-Wohnung gehaust. Als er allein war, hatte Mersault zwei Zimmer an einen befreundeten Fassbinder vermietet, der mit seiner Schwester zusammenlebte, und das beste für sich selbst behalten. Seine Mutter war mit 56 Jahren gestorben. Da sie schön war, hatte sie gemeint, kokett auftreten, gut leben und brillieren zu können. Gegen die vierzig bekam sie eine furchtbare Krankheit. Sie musste auf Kleider und Schminke verzichten, Spitalkittel tragen, hatte ein durch grauenhafte Beulen verunstaltetes Gesicht und war wegen ihrer geschwollenen kraftlosen Beine fast zur Unbeweglichkeit verdammt. Schließlich wurde sie auch noch halb blind und tastete verzweifelt in einem farblosen Raum umher, den sie völlig verkommen ließ. Der Schlag war kurz und heftig. Es war eine nicht beachtete Zuckerkrankheit, die sie durch ihre unbedachte Lebensweise gefördert und verschlimmert hatte. Er hatte seine Studien aufgeben und Arbeit suchen müssen. Bis zum Tod seiner Mutter hatte er immer noch gelesen und nachgedacht. Und zehn Jahre lang ertrug die Kranke dieses Leben. Das Martyrium hatte so lange gedauert, dass man sich in ihrer Umgebung an ihre Krankheit gewöhnt hatte und vergaß, dass sie bei einer ernstlichen Verschlimmerung ihr erliegen könnte. Eines Tages starb sie. In der Nachbarschaft bemitleidete man Mersault. Man versprach sich viel von der Beerdigung im Gedanken an das tiefe Gefühl das Sohnes für

Er erwachte mit einem Mund, der noch von Schlaf erfüllt war, und schweißbedeckt. Es war sehr spät. Er kämmte sich, lief eilig hinunter und sprang in eine Tram. Um zwei Uhr fünf war er in seinem Büro. Er arbeitete in einem großen Raum, dessen vier Wände mit 414 Fächern bedeckt waren, in denen sich Akten häuften. Das Zimmer war weder schmutzig noch schäbig, machte aber zu jeder Tagesstunde den Eindruck einer Urnenhalle, in der die toten Stunden verwesten. Mersault überprüfte Seefrachtbriefe, übersetzte die Proviantlisten englischer Schiffe und empfing von drei bis vier Uhr Kunden, die Stückgut versenden wollten. Er hatte sich um diese Arbeit bemüht, obwohl sie eigentlich nicht zu ihm passte. Doch anfangs hatte er darin etwas wie einen Zugang zum Leben gesehen. Hier gab es lebendige Gesichter, Kunden, Abwechslung und einen frischen Luftzug, in dem er endlich sein Herz schlagen fühlte. Auf diese Weise entrann er den Gesichtern der drei Stenotypistinnen und dem Bürochef, Monsieur Langlois. Die eine der Stenotypistinnen war ganz hübsch und seit kurzem verheiratet. Die andere lebte bei ihrer Mutter, und die dritte war eine energische, würdevolle alte Dame, deren blumenreiche Sprache und deren Zurückhaltung in Bezug auf «ihre Schicksalsschläge», wie Langlois es nannte, Mersault schätzte. Langlois hatte zuweilen mit ihr scharfe Auseinandersetzungen, bei denen jedoch stets die alte Madame Herbillon die Oberhand behielt. Sie verachtete Langlois, weil seine verschwitzte Hose ihm am Hinterteil klebte und wegen der Panik, die ihn in Gegenwart des Direktors und manchmal auch am Telefon befiel, wenn er den Namen eines Advokaten oder eines großen Tiers mit Adelsprädikat hörte. Der Unglückliche bemühte sich vergebens, die alte Dame milder zu stimmen oder sogar für sich einzunehmen.