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Werner Thuswaldner
Das Jubiläum

Werner Thuswaldner

Das Jubiläum

Roman

O T T O  M Ü L L E R  V E R L A G

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1203-0
eISBN 978-3-7013-6203-5

© 2013 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
Coverbild: Theo Stadtmüller/fotocommunity;
Die Figurengruppe „Die Claque“ (1987) stammt von
Guido Messer, www.guido-messer.de

Inhalt

Das Jubiläum

Ich sah halbwegs entspannt zum Fenster hinaus und beobachtete den Himmel. Das bedeutete nicht, dass ich mich langweilte, denn immer noch hätte mich eine Attacke meines Erzfeindes, Universitätsdozent Brauchwasser, treffen können. Ich musste ihn wenigstens am Rand meines Gesichtsfelds im Blick behalten. Jetzt brauchte ich aber nur noch zuzuhören. Meinen Bericht über die Mitteilungsblätter, die gerade in Druck gegangen waren, hatte ich bereits hinter mir. Das war stets ein Gang über dünnes Eis, denn Brauchwasser lauerte darauf, mir einen Fehler nachweisen zu können. Diesmal hielt er seinen Mund.

Die Kumuluswolken türmten sich, wie von Riesenhand über den Himmel geschoben, blendend weiß, wo sie von der Sonne beschienen waren und tief schwarz an der Unterseite. Durch das bevorstehende Gewitter erhoffte ich mir ein Ende der Schwüle und der Spannung in der Luft. Ich spürte den atmosphärischen Druck leibhaftig auf meinen Schultern, und meine Atemnot nahm zu. Draußen im Gastgarten des Wirtshauses fuhr der Wind in die Kronen der Kastanienbäume.

Noch immer war der Tagesordnungspunkt ‚Weihnachtsbriefmarke‘ an der Reihe. Die Frage, welches Motiv diesmal abgebildet werden sollte, musste entschieden werden. Der Streit zwischen dem Universitätsassistenten Kammerlander und dem Universitätsdozenten Brauchwasser drehte sich im Kreis. Nicht zum ersten Mal stellte ich mir vor, radikal Schluss zu machen, aufzustehen, den Raum zu verlassen, vor dem Haus ein Taxi zu rufen, zum Flughafen zu fahren und dann über den Wolken ein paar Mal durchzuatmen.

Keiner der beiden Kontrahenten gab nach. Kammerlander pumpte sich mit den Armen auf wie ein Maikäfer, Brauchwasser, der zunächst nur an den Hirschhornknöpfen seines offenen Hemds drehte, aus dem schwarzes Brusthaar quoll, fing an, als seine Erregung zunahm, seine Frisur zu zerstören. Die ungewöhnlichen Knöpfe deutete ich so, dass Brauchwasser zu seiner Herkunft aus dem hintersten Kleinarlertal stand. Wenn er an ihnen drehte, setzte er vielleicht ein aus heidnischer Zeit stammendes Zauberritual in Gang. Stieg sein Zornpegel noch weiter an, zog er an seinem Kinnbart, wie um ihn zu verlängern. Manchmal war in seiner Aussprache ein Röchellaut zu hören, wie er typisch für den Dialekt im Kleinarlertal war.

Der eine bestand darauf, dass die Kirche St. Nikola auf der Briefmarke abgebildet werden sollte, Brauchwasser beharrte auf der Wiedergabe eines Notenblatts. Er hatte das Faksimile, das Faksimile der Handschrift Nummer VII, dabei und wiederholte immer wieder:

„Wir müssen präsentieren, was wir haben, und keine Fiktion. Wir müssen die Menschen mit der Nase auf die Wahrheit stoßen.“

Ich fragte mich, welche Vorstellung Brauchwasser davon hatte, wie im Allgemeinen Briefmarken angefeuchtet wurden.

Kammerlander ereiferte sich:

„Was sollen die Menschen mit Noten? Die Noten sagen ihnen gar nichts. Die Kirche St. Nikola ist wichtig. Wir müssen die Erinnerung an sie aufrechterhalten. Die Kirche darf nicht zu einer Idee verkümmern. Ohne Kirche wären wir nichts. Das leuchtet wohl allen ein.“

Er zielte damit in eine Wunde, das wurde mir später klar, als mir Dora Lintschnig einen Blick in Brauchwassers vertracktes Seelenleben tun ließ.

Kammerlander ließ bewusst offen, ob er die konkrete Kirche meinte, die vor hundert Jahren abgerissen worden war, oder ob er auf die alles beherrschende katholische Kirche anspielte. Kammerlander führte Diskussionen meist um ihrer selbst willen und kämpfte aus purem Vergnügen oft für eine Sache, hinter der er gar nicht stand. Brauchwasser dagegen verfocht seine Meinung mit vollem Ernst.

Ich musste mich strikt neutral verhalten und durfte ja nicht durch meinen Gesichtsausdruck verraten, was ich von den Beteiligten dachte. Wäre das an den Tag gekommen, sie hätten mich von jetzt auf gleich hinausgeworfen.

Präsident Stockklausner mischte sich nie in den Streit zwischen Kammerlander und Brauchwasser ein. Ich war sicher, dass er mit den Gedanken anderswo war. Wenn überhaupt. Er trug nämlich stets eine dunkle Brille, die es ihm ermöglichte, zwischendurch ein kleines Schläfchen einzulegen. Ich konnte mir auch denken, dass Stockklausner, während die Kontrahenten übereinander herfielen, sich der Vorstellung hingab, er säße, erfüllt von der eigenen Bedeutung, im Bundesrat und verfolge eine lebhafte Debatte. Stockklausner gelang es stets schon allein mit seiner imposanten Erscheinung Präsenz zu beweisen und als ein Mann zu gelten, der wichtig war und immer mitdachte. Inzwischen freilich hatte seine Körperfülle bedrohliche Ausmaße angenommen. Er wurde von einigen, die es an Respekt vor ihm mangeln ließen, gerade heraus dick genannt. Offenkundig aß er viel zu viel. Er hatte sich mit seiner Verabschiedung aus dem Bundesrat noch nicht abgefunden. Jedenfalls schien er mir noch immer nicht als Ganzer in der Gesellschaft angekommen zu sein, obwohl er schon zwei Jahre ihr Präsident war. Stockklausner, so vermutete ich, betrachtete in seinem konkreten Fall die Bezeichnung ,Präsident‘ als einen Scherztitel. Auf seinem Briefpapier stand daher nicht ,Präsident‘, sondern ,Bundesrat‘, allerdings mit demwenn auch sehr klein gedruckten – Zusatz ,a. D.‘. Keiner konnte übersehen, dass er sich mit dem Posten, den seine Partei für ihn als Trostpflaster ausgesucht hatte, unterfordert vorkam. Jedenfalls war er unglücklich. Dora Lintschnig hatte es mir erklärt: Hätte man Stockklausners Unglück anhand einer Statistik-Torte dargestellt, wäre daraus hervorgegangen, dass zwei Drittel aus dem Schmerz über seine Entfernung aus dem Bundesrat herrührten und ein Drittel vom Tod seiner Frau vor einem Jahr.

Dora Lintschnig, die einmal ein Volkskundemuseum voller Trachten und heidnischem Krimskrams geleitet hatte, sorgte in den Sitzungen stets für Stabilität. Es wäre völlig falsch gewesen, sie wegen ihres rosa Gesichts und dem präzise geflochtenen Zopf, der ihren Kopf zusammenhielt, für bieder zu halten. Sie strahlte Autorität aus, die aus einer mir unerklärlichen Quelle kam. Ich ahnte, dass sie möglicherweise Zugang zu einer Anderswelt hatte, von der ich nicht das Geringste wusste. Wenn sich die Situation in den Sitzungen zuspitzte und der Streit zwischen Brauchwasser und Kammerlander zu eskalieren drohte, sagte sie leise ,Kinder, Kinder‘ vor sich hin und schon schalteten die Kontrahenten ihre Emotionen um einen Gang zurück.

Alle Bewegungen Stockklausners hatte sie genau im Blick. Es war für jeden offensichtlich, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Ihr Mitgefühl schien sich immer dann zu vergrößern, wenn Präsident Stockklausner aus einem Röhrchen eine Tablette nahm, sie in den Mund steckte, schluckte und gehörig viel Bier hinterher goss. Dora Lintschnig sagte nie viel. Sie ließ, wie sie betonte, der Wissenschaft den Vortritt. Und die Wissenschaftler nützten ihre Narrenfreiheit in vollen Zügen aus. Aber Dora Lintschnigs Position in der Gesellschaft war dennoch unangefochten, weil die Gesellschaft außer der Wissenschaft auch jemanden brauchte, der einerseits vertraut mit Bereichen der Spiritualität war und andrerseits die Verbindung zu einem großen Publikum aufrecht erhielt, das gemeinhin als ,Volk‘ bezeichnet wurde. Von Dora Lintschnig wurde angenommen, sie wisse aufgrund lebenslangen Trainings, was das Volk von je her gedacht und gewollt habe.

Der Platz links von Präsident Stockklausner war leer wie so oft. Hier sollte Manfred Zwicker sitzen. Manfred Zwicker war von Beruf Philanthrop und Mäzen, außerdem Ehrenmitglied vieler Vereine. Nie fiel ein Wort der Kritik über seine nicht selten unentschuldigte Abwesenheit, denn er schaffte für die Gesellschaft Geld herbei. Keiner fragte, aus welchen Quellen. Wenn Manfred Zwicker anwesend war, fühlte ich mich an jene Stunden in der Schule erinnert, während denen wir vom angereisten Inspektor als stummem Beobachter kontrolliert wurden. Diese Sitzungen verliefen ungewöhnlich diszipliniert. Jeder versuchte, sich von der besten Seite zu zeigen. Sogar Präsident Stockklausner strengte sich dann an, nicht nur einen wachen Eindruck zu machen, sondern wirklich munter in die Runde zu blicken.

Manchmal nahm auch der stets braun gebrannte, auf sportliches Aussehen Wert legende Hans Harreiter an den Sitzungen teil. Er wurde von der offiziellen Tourismus-Organisation des Landes entsandt und war ein ehemaliger Schirennläufer, dessen Bild die meisten von seiner Werbung für eine Bank her kannten. Harreiter war einst, wie sich das für Sportgrößen eingebürgert hatte, für seine herausragenden Leistungen auf der Schipiste mit einem Hotel beschenkt und zusätzlich mit einem Posten in der amtlichen Touristik versorgt worden. Freilich musste er vorher einen dreiwöchigen Betriebswirtschaftskurs machen. Und die Lehrsätze, die er da eingetrichtert bekommen hatte, ersparte er uns in keiner Sitzung. Er sprach von Marketingstrategien, davon, wie die Touristenströme gelenkt werden müssen, von Statistiken, von tausenden Hotelbetten, die er derart intensiv belegen wollte, dass sie während einer Wintersaison möglichst nie auskühlen sollten. Eines seiner Lieblingswörter war ,Effizienzsteigerung‘. Die anderen hörten sich seine Ausführungen mit gesenktem Kopf an, so als würden sie den Lärm eines vorbeifahrenden Güterzugs abwarten, und machten sich zum Schein Notizen. Für sie begann die eigentliche Sitzung erst, wenn Harreiter gegangen war. Zum Glück kam er immer zu spät, sonderte seinen Sermon ab und ging dann wieder – zum nächsten dringenden Termin, wie er betonte.

In den Gesprächspausen war das penetrante Summen einer Fliege zu hören. Wenig später lief sie auf dem Tisch umher. Sie nahm ihren Weg von Kammerlander zu Präsident Stockklausner, der an der Stirnseite saß, wo sie kurz ihren Rüssel in eine kleine Bierpfütze steckte, und von dort weiter zu Brauchwasser. Sie war gewiss als eine Art Vermittlerin mit chiffrierten Botschaften zwischen den Kontrahenten unterwegs. Mich und Dora Lintschnig sparte sie aus. Ich versuchte, sie mit einer weit ausholenden Handbewegung zu fangen, doch Brauchwasser hielt mich zurück, indem er seine Hand beschwichtigend auf meinen Arm legte. Damals wusste ich noch nichts über seine spezielle Beziehung zu Fliegen.

Auf einem Zettel vor mir standen nur die Wörter ,Kirche St. Nikola‘ und ,Handschrift VII‘. Brauchwasser legte bedrohlich seine Stirn immer wieder in Falten. Er konnte es so extrem, dass ich dachte, er wolle uns diese Begabung absichtlich vorführen. Seine Faltenstirn erinnerte an Waschbretter, wie sie die Frauen früher zum Schrubben verwendet hatten.

Wenn sich die Sitzung in die Länge zog, ließ meine Aufmerksamkeit nach, und ich fing an, auf das Papier vor mir zu kritzeln. Es reizte mich immer wieder, die Unterschrift Franz Xaver Grubers, des Komponisten unseres Lieds, nachzumachen. Das war nicht ganz einfach, weil sich nach dem Namen ein eigenwilliges Gebilde anhängte. Der Schreiber wollte offensichtlich der biederen Signatur im letzten Moment sichtlich Individualität verschaffen.

Präsident Stockklausner tat so, als ginge ihn der Streit zwischen Kammerlander und Brauchwasser, weit über den Dingen stehend, nicht das Geringste an. Er drückte aus, dass er für banales Gezänk nicht erreichbar war und vermied es, sich zu bewegen, weil dies bei dieser Hitze unweigerlich mit einem Schweißausbruch verbunden gewesen wäre. Sichtlich von Dora Lintschnig angeregt, fing auch ich an, mich um Stockklausner zu sorgen, beobachtete, in welchen Abständen er eine Tablette in den Mund schob und fürchtete, dass er tatsächlich einschlafen könnte. Die Lautstärke der beiden Kontrahenten nahm zu. Jetzt warteten sie nicht mehr darauf, bis einer sein Argument zu Ende formuliert hatte. Sie redeten gleichzeitig und immer schneller.

Als Kreibich, der Wirt, seinen Kopf zur Tür herein steckte und fragte, ob alles in Ordnung sei, verstummten die beiden sofort. Kreibich wechselte leere Biergläser gegen volle aus und verschwand wieder. Er bestand darauf, dass Bier getrunken wurde. Wie selbstverständlich schien er uns alle für Trunkenbolde zu halten. Niemand sträubte sich dagegen. Mir war das viele Bier zuwider. Gegen seinen Übereifer war ich aber machtlos.

Ich sah Dora Lintschnig an, mit einem Blick, der sie ermuntern sollte, in dieser Pattsituation ihre Chance zu nützen, sich entweder auf die eine oder auf die andere Seite zu schlagen, um so eine Entscheidung zu erzwingen. Aber Dora Lintschnig fürchtete sich viel zu sehr davor, Partei zu ergreifen. Dass sie litt, drückte sie mit gelegentlichen Seufzern zur Decke aus, als erwarte sie die Lösung von oben.

Präsident Stockklausner schien aufzuwachen. Er nahm kurz seine Brille ab und sagte leise:

„Übrigens, das Motiv für die nächste Weihnachtsmarke wird das Schulhaus von Arnsdorf sein.“

Brauchwassers Gesicht verzerrte sich und seine rechte Hand erstarrte im Krampf.

Dora Lintschnig stimmte sofort zu:

„Ja, das Schulhaus von Arnsdorf ist ein gutes Motiv. Es ist so wichtig für unser Lied. Gerade jetzt, wo dort drei neue Busparkplätze für Besucher dazugekommen sind.“

Man konnte bei ihr nicht sicher sein, ob sie es ernst oder ironisch meinte.

„Aber vergessen Sie nicht“, sagte Präsident Stockklausner zu mir, „dass der Schriftzug Friedenslied für die Welt unbedingt drauf stehen muss.“

Ich nickte. Im Raum war es dunkel, fast finster geworden. Auf einmal wurde er durch einen Blitz grell erhellt, und im selben Moment krachte ein Donner so stark, dass das Haus zitterte.

„Noch etwas?“, fragte Präsident Stockklausner. Er nahm die gewaltige atmosphärische Entladung gleichsam als überirdische Bestätigung und freute sich darüber. Zugleich mit dem Donner fing es an zu schütten.

„Allfälliges“, sagte ich. Dora Lintschnig meldete sich. „Wir müssen über den gemeinsamen Ausflug der Gesellschaft sprechen. Eine Busreise, schlage ich vor. Am liebsten nach Fügen in Tirol.“

Ich wusste, dass der gemeinsame jährliche Ausflug schon mehrmals nach Fügen gegangen war. Niemand, nicht einmal Brauchwasser, meldete sich zu Wort.

Dora Lintschnig zuliebe waren diese Ausflüge stets Busreisen, die nicht länger als zwei Tage dauerten. Sie saß immer vorne beim Chauffeur und gab Erklärungen zu den Bräuchen in der betreffenden Gegend ab. Mit dem Arm zeigte sie auf versteinerte Ritter, auf Höhlen in Felswänden und auf Abgründe, die meist ,Teufelsgraben‘ oder ‚Jungfernsprung‘ hießen.

„Fügen wird vorgemerkt. Der Ausflug kommt auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung, weil auch die anderen befragt werden müssen“, entschied Stockklausner, zündete sich eine Virginia an und hob die Zusammenkunft auf.

Von Stockklausners Gelassenheit hätte ich lernen können. Denn es kam vor, dass meine Geduld in den Sitzungen zu Ende ging, und dann spürte ich, wie rasch der Unmut in mir zunahm. Wenn ich dann in der Runde von einem Gesicht zum anderen sah, spürte ich eine unbändige Lust, auf Kammerlander loszugehen und womöglich mit der Faust in sein Gesicht zu schlagen. Jedes Mal erschrak ich über meine Aggression. Hätte sie auf Brauchwasser gezielt, wäre sie zu erklären gewesen. Brauchwassers knochige Visage eignete sich jedoch nicht dafür. Aber warum Kammerlander, der mir viel harmloser als Brauchwasser erschien? Es lag wohl an der Art des Gesichts. Kammerlanders Kopf war von einem dichten Gewusel aus Locken bedeckt, er hatte runde Brillen und runde Bäckchen. Bei seinen Augen fiel mir der gute alte Basedow ein. Doch so genau ich Kammerlander auch studierte, ich fand nicht heraus, was mich immer wieder maßlos gegen ihn aufbrachte. Vielleicht war es nur die Neugier darauf, welches Geräusch der Vorgang auslösen würde. Ein wenig besorgt fragte ich mich, wie es um die Kontrolle über mich selbst bestellt sei.

Ich hatte mir auf den Zettel ,Schulhaus von Arnsdorf‘ notiert und den Namen eingerahmt. Dazu schrieb ich das Wort ,Fügen‘ mit einem Fragezeichen. Außerdem fügte ich hinzu: ,Friedenslied für die Welt‘. Dieser Slogan war der ganze Stolz Präsident Stockklausners, die wichtigste Hervorbringung während seiner Amtszeit. Er glaubte, ihn selbst geprägt zu haben. In Wirklichkeit habe ich ihn ihm suggeriert, zwei Wochen nach meiner Anstellung als Sekretär. Dazu auch noch das Schlagwort ,Globalisierung‘. Es war meine Art, mich bei ihm dafür zu bedanken, dass er mir, gegen Brauchwassers Widerstand, den Dienstvertrag gegeben hatte.

Brauchwasser wurde abgeholt. Seine Frau wartete nach jeder Sitzung draußen vor der Tür, wie um ihn abzufangen, wie aus Sorge, er könnte ihr entwischen. Sie war eine vorzeitig gealterte, knochige, bleiche, ausgezehrte Frau mit tiefliegenden Augen. Hätte jemand gesagt, sie sei Brauchwassers Mutter, ich hätte es geglaubt; eine jener überfürsorglichen, strengen Mütter, die ihren Söhnen nichts durchgehen lassen und sie gnadenlos an sich binden. In dem schlecht beleuchteten Vorraum hätte man sie auf den ersten Blick auch für einen Mann halten können.

Mir fiel ihr bohrender Blick auf. Gewiss forderte sie damit widerspruchslosen Gehorsam. Wahrscheinlich fixieren auf diese Weise Schlangen das Kaninchen. Dieser Blick dürfte Roland Brauchwasser vor fünfzehn Jahren getroffen und bis auf den Grund seiner Seele durchdrungen haben. Mit der Folge, dass er, wie mir Dora Lintschnig später erzählte, aus seiner geistlichen Bahn geworfen wurde. Sein Schicksal folgte nicht dem Klischee, nach dem ein Priester abweicht, weil er der Sinnlichkeit einer Frau erliegt. Von Sinnlichkeit nämlich konnte im Fall dieser Frau keine Rede sein. Aber vielleicht hatte ich, wie ich einräumen musste, nicht die entsprechenden Antennen dafür. Jedenfalls brachte sie ihn dazu, dass er abtrünnig wurde und aus dem Priesterseminar floh.

Kammerlander blieb nach der Sitzung auf seinem Platz. Er hatte wie so oft ein feines, spöttisches Lächeln aufgesetzt und schien mit dem Verlauf der Zusammenkunft recht zufrieden zu sein. Jetzt wartete er auf ein Wort der Anerkennung, wie gut er sich auch diesmal mit Brauchwasser geschlagen habe. Ihm ging es immer darum, sich ein wenig zu produzieren. Er betrachtete die Sitzungen als willkommene Auftrittsgelegenheit. Sein Interesse, seine Empörung, sein Engagement, alles war vorgetäuscht, und die Auseinandersetzungen mit Brauchwasser bloße Scheingefechte. Ich hielt ihn für phäakisch veranlagt. Er war einer, der seine Tage mit dem kleinstdenkbaren Energieaufwand gestaltete.

Aus dem Fenster sah ich, wie Präsident Stockklausner mit seinem breitkrempigen Strohhut gelassen durch die herabstürzenden Wassermassen zum Auto ging. Im heftigen Wind bogen sich die jungen Bäume, doch er schien es nicht nötig zu haben, seinen Strohhut festzuhalten. Ich dachte, er nützt die Windstöße so geschickt aus, dass ihm der Hut nur noch fester auf den Kopf gedrückt wird. Die Blitze zuckten jetzt fast pausenlos hintereinander, und ein Donnerkrachen ging ins nächste über. Präsident Stockklausner folgte seinem Weg so unbekümmert, als würde die Sonne scheinen. Ähnlich mag Moses beim Auszug aus Ägypten seinem Volk voran geschritten sein. Stockklausner holte mit seinen Beinen aus wie ein Patriarch, dachte ich, allerdings einer, der ein letztes Gefecht führte, um seine Position als Patriarch zu behaupten.

Neben mir stand Dora Lintschnig. Auch sie blickte Stockklausner nach. Sie seufzte. Ich wusste damals schon, wie dieser Seufzer zu deuten war. Als die Frau Stockklausners vor einem Jahr gestorben war, hatte sich ihm die Lintschnig angeboten, zweimal die Woche bei ihm vorbeizuschauen, um nach dem Rechten zu sehen und ihm zu helfen, über das Ärgste hinwegzukommen. Sie habe, wie sie mir einmal anvertraute, dezente Signale ausgesandt, die leicht so zu deuten gewesen seien, dass sie gegen eine vertraulichere Partnerschaft nichts einzuwenden gehabt hätte. Aber Präsident Stockklausner habe sich zu keiner klaren Antwort durchringen können. Der massige Mann und die zarte Frau hätten ein bizarres Paar abgegeben. Aber wäre Dora Lintschnig der Depression Stockklausners gewachsen gewesen? Hätte er sie nicht mit sich in die Tiefe gezogen? Dora Lintschnig schwankte in ihrem Fürsorgedenken für Stockklausner nicht und hoffte, dass die wechselseitige Zuneigung eines Tages doch noch deutlichere Formen annehmen würde.

 

Als ich mich um die Stelle bewarb, wusste ich nicht, worauf ich mich einließ. Es war nicht mehr als ein Versuch ohne großes Risiko. Ich war neugierig, ob ich den Anforderungen einer regelmäßigen Beschäftigung gewachsen sein würde und wollte wissen, was es hieß, in einer Hierarchie meinen Platz zu finden. Das Inserat war aber auch zu vage formuliert: Gesucht war ,ein(e) Sekretär(in)‘. Ich brauchte eine Beschäftigung und konnte nicht mit Qualifikationen glänzen, die den herkömmlichen Berufsschemata entsprachen. Dazu musste einer Betriebswirtschaft studiert haben oder besser noch Jura, denn Juristen fühlten sich zu jeder Zeit fähig, sofern es nicht um medizinische Aufgaben ging, sämtliche Spitzenpositionen in der Gesellschaft zu besetzen. Das Staunen über diese Art von Universalismus hatte ich mir damals schon abgewöhnt.

Die Ausschreibung stammte von einer Gesellschaft, die sich mit dem Weihnachtslied Stille Nacht! Heilige Nacht! befasste. Es machte mich neugierig, weil das Inserat von den üblichen Stellenangeboten abwich. Im Internet fand ich heraus, dass es der Gesellschaft um ,das populärste Lied der Welt‘ ging, gesungen in dreihundertdreißig Sprachen, ferner um die beiden Urheber, den Textdichter Joseph Mohr und den Komponisten Franz Xaver Gruber. Außerdem liege es der Gesellschaft am Herzen, über die Umstände der Entstehung des Lieds und über seine Verbreitung zu informieren.

Die Angaben im Inserat klangen so, als sollte ich mich von ihnen angesprochen fühlen. Sie waren aber zu rudimentär. Ich konnte mir nicht vorstellen, wozu und wie das populärste Lied der Welt noch populärer gemacht werden sollte. Was konnte ein Sekretär dazu beitragen? Das Lied lag ja bereits seit zweihundert Jahren fix und fertig vor. Wie sollte man tagaus, tagein, das ganze Jahr über mit einem einzigen Lied das Auslangen finden können? Oder war das eine Anstellung womöglich nur für die Weihnachtszeit?

Es schien mir immerhin ein Tätigkeitsfeld mit kultureller Ausrichtung zu sein. Es ging um Musik, und darin lag der größte Reiz für mich. Wann gab es schon einmal ein Angebot dieser Art? Wurden doch hauptsächlich Verkaufsgenies, Softwareentwickler und Friseure gesucht. Und allzu rigoros kam mir die Herausforderung auch nicht vor. Ich würde mit Menschen zu tun haben, die sich zur Musik hingezogen fühlten wie ich. Das eine Lied, dem sich die Gesellschaft widmete, würde man freilich vorbehaltlos lieben müssen, dachte ich.

Der offizielle Titel lautete ,Internationale Gesellschaft zur Erforschung des Liedes Stille Nacht!‘. International bezeichnete sich die Gesellschaft, was ich damals noch nicht wusste, weil ein ehemaliges Mitglied vor vielen Jahren nach Amsterdam ausgewandert war und vergessen hatte, sich von der Gesellschaft abzumelden. Damit hatte man ohne eigenes Zutun einen verlässlichen Gewährsmann im Ausland platziert und wiegte sich in der Gewissheit, international vernetzt zu sein. Kontakt gab es zu dem Auswanderer keinen, weil niemand seine Adresse kannte.

Die Kurzform lautete: ,Die Gesellschaft‘. Mir war das nicht unrecht. Denn wenn mich jemand fragte, wer mein Arbeitgeber sei, antwortete ich: die Gesellschaft. Das konnte vieles heißen.

Universitätsdozent Brauchwasser und Präsident Stockklausner richteten beim Bewerbungsgespräch abwechselnd Fragen an mich. Es war eine Art Aufnahmeprüfung. Im Inserat war nur von ,gediegenem Bildungshintergrund‘ die Rede gewesen, außerdem sollte man, wie es in dem vierzeiligen Text hieß, ,kommunikativ‘ sein. Ich hatte mich darauf vorbereitet und extra ein paar Jahreszahlen und Fakten auswendig gelernt.

Am Tag des Gesprächs fühlte ich mich gar nicht gut. Meine Nerven waren in den Wochen davor von Stefanie derart strapaziert worden, dass ich ernsthaft überlegte, eine Psychotherapeutin aufzusuchen. Es wäre für mich nur eine Frau in Frage gekommen, weil ich dachte, dass ein Psychotherapeut zu meinen Problemen mit Stefanie keinen Zugang gefunden hätte.

Vor mir waren schon einige Kandidatinnen und Kandidaten an der Reihe gewesen. Präsident Stockklausners Fragen waren allgemein, er wollte ein entspanntes Gespräch führen. Er sagte, das Lied verdiene unsere Anteilnahme und die Gesellschaft müsse für Anfragen jeder Art gerüstet sein. Brauchwasser funkte mit Spezialfragen dazwischen, von der Art:

„Wie heißt der Vulkan, der 1814 in Indonesien ausgebrochen ist?“

Mir war weder dieser Vulkan geläufig noch die Verbindung, die zwischen ihm und dem Lied bestehen sollte. Später las ich über diesen Vulkan – es war nicht der Krakatau –, der massenhaft Material in die Atmosphäre geschleudert hatte, so dass der Himmel davon bedeckt war. Die Staubmengen schirmten für Jahre das Sonnenlicht ab, auch in unseren Breiten fielen die Ernten mager aus. Die Menschen litten Hunger, brauchten Trost, ein Weihnachtslied stillte zunächst den dringendsten Bedarf an Verlangen nach Hoffnung.

All das ergaben meine späteren Recherchen, aber im Moment wusste ich gar nichts. Brauchwasser gebärdete sich, als hätte er an mir einen unverzeihlichen Mangel festgestellt. Grund genug, mich abschätzig anzuschauen. Auch wollte er wissen, auf welcher Tonart man für das Lied in allen Veröffentlichungen bestehen sollte.

„Nun? D-Dur, Es-Dur oder C-Dur? Sagen Sie schon.“

Ich fühlte mich an Fernsehshows erinnert, in denen es um Millionen ging. Nur waren die Moderatoren dort auf Liebenswürdigkeit, ja sogar auf Humor getrimmt. Stockklausner winkte ab. Zum Singen wurde ich nicht aufgefordert, entgegen meiner Erwartung. Eine Gesangsprüfung vermied Brauchwasser. Später wurde mir klar, warum.

Ich machte mich schon auf eine Absage gefasst, als mich Präsident Stockklausner bat, kurz vor die Tür zu gehen. Als ich wieder eintreten durfte, rauchte Stockklausner eine Virginia. Er schüttelte mir die Hand und sagte, dass man mich als Sekretär anstellen werde. Ich sah, dass seine Backen von dünnen blauen Adern durchzogen waren. Er überreichte mir eine Liste, auf der meine Aufgaben standen:

Öffentlichkeitsarbeit

Redaktion der Mitteilungsblätter
Sitzungsprotokolle

Betreuung der Homepage

Führungen (speziell mit in- und ausländischen Journalisten)

Korrespondenz

Beantwortung von schriftlichen Anfragen

Kontakt mit Gesellschaften ähnlicher Art im In- und Ausland

Brauchwasser gab mir nicht die Hand. Von da an wusste ich, dass ich mich vor ihm in Acht nehmen musste. Er war unterlegen, und ließ es mich spüren. In den Sitzungen warf er mir Hassblitze zu. Die sahen ein wenig gefährlich aus, denn sie kamen aus gelblichen Augen. Ich vermutete mit meinen laienhaften medizinischen Kenntnissen Gallenprobleme. Weil er andere nicht ebenso hasserfüllt ansehen konnte wie mich, musste er ständig umschalten.

 

Brauchwasser holte zum großen Schlag gegen mich aus, als die ersten, von mir verantworteten Mitteilungsblätter der Gesellschaft erschienen. Er wartete eine erweiterte Vorstandssitzung ab und gebärdete sich dort ärger als Rumpelstilzchen. Es stimmte, ja, ich hatte mir erlaubt, am Erscheinungsbild der biederen Mitteilungsblätter einiges zu ändern. Der Titel störte mich. Damit machte sich die Gesellschaft mit jedem beliebigen Verein gemein. Stattdessen schrieb ich in eleganter Schrift darüber: ,Das Lied‘. Viel kleiner gesetzt stand darunter: ,Mitteilungsblätter der Gesellschaft…‘.

Brauchwasser war im Impressum als Verantwortlicher vermerkt. Aber er hatte bloß seinen eigenen Artikel – er handelte von einem Auftakt nach einer Generalpause – abgeliefert und sich dann um nichts gekümmert, trotz meiner andauernden Nachfragen. Nun knallte er die Blätter auf den Tisch. Sein sonst ständig bleiches Gesicht nahm Farbe an, und er presste mit erstickter Stimme das Wort ,Skandal‘ heraus. Bei den nächsten Sätzen klang er ein bisschen weniger verkrampft, dafür umso lauter:

„Diese Eigenmächtigkeit schreit zum Himmel! Wer hat den neuen Titel abgesegnet? Ich hafte mit meinem Namen. Soll ich lächerlich gemacht werden? Und dann die vielen Fehler… Ich konstatiere Unfähigkeit!“

Kreibich steckte seinen Kopf zur Tür herein und zog ihn schnell wieder zurück.

Brauchwasser hielt ein Doppelblatt der Mitteilungsblätter in die Runde, darauf etliche mit dickem rotem Filzstift angestrichene Stellen.

„So viele Fehler in einer Ausgabe – das hat es noch nie gegeben! Ich stelle den Antrag: Entweder verzichtet die Gesellschaft künftig auf meine Mitarbeit oder dieser Sekretär wird umgehend entfernt.“

Ich sah mich schon meine wenigen Sachen im Büro in eine Tasche stecken, den Schlüssel von außen umdrehen und dann in den Briefkasten werfen. Mit Stefanie gescheitert, als Sekretär gescheitert.

Es herrschte betretenes Schweigen, bevor Stockklausner um Wortmeldungen bat. Mir war heiß. Ich spürte, wie die Demütigung vor allen Leuten ihre Wirkung tat. Es fühlte sich an, als würde sich eine ätzende Flüssigkeit in meinem Inneren ausbreiten. Ich sah schwarz vor Augen und fasste den Vorsatz: Brauchwasser sollte damit rechnen, dass ihm dieser Auftritt noch leidtun würde. Ich plante ganz einfach, es ihm heimzuzahlen. Nicht umgehend, nicht innerhalb der nächsten Tage, nicht im nächsten Jahr, aber todsicher irgendwann, womöglich zu einer Zeit, da er schon lange nicht mehr damit rechnete.

Dora Lintschnig meldete sich.

„Die Fehler sind bedauerlich. Fehler können passieren, aber nicht in dieser Häufigkeit. Das muss in Zukunft besser werden. Der neue Titel aber überrascht mich – aufs Angenehmste, muss ich sagen. Etwas Verzopfteres als ‚Mitteilungsblätter‘ gibt es nicht. Dagegen: ‚Das Lied‘, das lässt aufhorchen. Hier wird ein Anspruch erhoben, und zwar zu Recht. Der neue Titel hat meine ausdrückliche Zustimmung.“

Stockklausner nickte. Zwicker hob die Hand.

„Ich schließe mich meiner Vorrednerin an. ,Das Lied‘, das ist ein griffiger Titel. Und im Übrigen bin ich der Meinung, verzeihen Sie, dass man in dieser Art nicht den Stab über jemand brechen kann.“

Stockklausner bedankte sich und bat mich dann, für einen Augenblick den Raum zu verlassen. Ich ging und überlegte kurz, ob ich warten, oder sofort einen Schlussstrich ziehen sollte. Ohne einen markanten Abgesang wollte ich auf keinen Fall die Bühne verlassen. Nein, ich musste die Herausforderung, die Brauchwasser mit seiner ganzen Erscheinung für mich darstellte, annehmen. Ich studierte die Maserung der Holzvertäfelung im Vorraum, feine Spuren von Harz. Dann ging ich ein paar Schritte hinaus in den Gastgarten, wo vor Kurzem Hagel eine Wüstenei angerichtet hatte. Blumenbeete sahen aus, als hätte ein Riese sie platt gedrückt. Zentimeterdick war der Boden mit dem Laub der Kastanien bedeckt.

Inzwischen hatte sich der beschleunigte Herzschlag, den ich im Hals spürte, schon ein wenig beruhigt. Als ich nach einer Viertelstunde wieder hinein ging, flog die Tür des Sitzungszimmers auf und Brauchwasser stürmte heraus. Er donnerte irgendeine Unflätigkeit gegen mich und schüttelte die Faust. Genaueres verstand ich nicht. Brauchwassers Frau tauchte in diesem Moment aus einer dunklen Ecke auf. Er raste an ihr vorbei, sie lief ihm nach.

Dora Lintschnig holte mich ins Sitzungszimmer. Präsident Stockklausner ermahnte mich, die Texte möglichst fehlerfrei zu redigieren. Ich hätte zur Entlastung sagen können, dass diese Fehler ein Erbe meiner Vorgängerin, Melanie Homolka, waren. Ich hatte einige von ihr vorbereitete Beiträge, die offensichtlich noch nicht korrigiert worden waren, einfach übernommen. Ich lernte einzusehen, dass in der Gesellschaft, im Unterschied zum sonst üblich gewordenen Sprachgebrauch, noch immer Wert auf Rechtschreibung gelegt wurde.

Brauchwasser war in den nächsten drei Wochen wie vom Erdboden verschluckt. Es wäre eine große Erleichterung für mich gewesen, hätte er seine Ankündigung, wegen mir aufhören zu wollen, wahr gemacht. Das änderte nichts an der Tatsache, dass mich seit der ominösen Sitzung ein auf ihn fokussiertes Hassgefühl begleitete, wie ich es vorher nicht gekannt hatte. Zeitweise erfasste es mich total. Kein ausschließlich unangenehmer Zustand, im Gegenteil. Möglicherweise war bei dieser Emotion ein guter Teil an vorweggenommener Genugtuung dabei. Sie zu erreichen, sah ich als lohnenswertes Ziel. Freilich würde, um es zu verwirklichen, einiges an Geschick und Einfallsreichtum nötig werden.

Der Eindruck, wie von der Flutwelle eines übermächtigen Gefühls erfasst zu werden, dauerte nie lang. Ich fragte mich, ob sich dieser Zustand kultivieren und vielleicht bewusst herbeirufen ließe. Es gelang meist, indem ich mir die Szene der Vorstandssitzung imaginierte, als Brauchwasser seine Attacke führte. Manchmal genügte es, mir seine Visage vorzustellen. Die Kontrolle durch den Verstand ging mir nicht ganz verloren. Der Verstand musste dafür aufgeboten werden, um an einem wirksamen Racheplan zu arbeiten.

Ich begann sofort, ein Dossier über Brauchwasser für mich anzulegen. Natürlich nicht im Büro, sondern zu Hause. Sein Charakter war, wie ich bald herausfand, im Internat eines Priesterseminars – Tanzenberg in Kärnten – verbogen worden. Anstalten dieser Art waren dafür berüchtigt, dass sie ihren Zöglingen in der Pubertät Schuldgefühle aufbürdeten, von denen die Kandidaten ein Leben lang niedergedrückt wurden. So kamen Figuren heraus, die dann ein Ventil suchten, um sich an der nächsten Generation für die erlittene Deformation zu revanchieren.

Es gab also eine Erklärung für Brauchwassers Verhalten. Er konnte gar nicht anders. Wäre vermutlich gern ein anderer gewesen. Warum begnügte ich mich nicht mit dieser Feststellung? Warum konnte ich nicht großmütig sein? Den Gedanken wehrte ich ab. Sollten doch andere großmütig sein. Jene, die sich Großmut leisten konnten. Warum durften diese katholischen Missgestalten widerspruchslos wüten?

Auch die Art, wie Brauchwasser das R rollte, verriet ihn als Priesterseminaristen. Die kamen jeweils aus den entlegensten Tälern des Landes und gaben sich Mühe, das Standarddeutsch zu erlernen, was ihnen aber nur unzulänglich gelang. Jahrelang war Brauchwasser nun schon Dozent. Seine Universitätskarriere war ins Stocken geraten. Andere hatten ihn überholt. Der Fachbereich Musik war verstopft mit hoffnungsvollen Anwärtern auf höhere Posten. Krampfhaft suchten sie alle auf abgegrasten Feldern nach Forschungsprojekten, mit denen sie sich profilieren konnten. Es mangelte Brauchwasser an Protektion.

Der ersten großen Herausforderung musste ich mich stellen, als ich den Auftrag bekam, eine Pressekonferenz vorzubereiten. Sie sollte das Ziel haben, den Slogan Friedenslied für die Welt tief im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern. Ich wusste nur vom Hörensagen, was eine Pressekonferenz war. Ja, die Medienvertreter würden kommen, Fernsehkameras, Mikrofone, kritische Fragen, Antworten, das alles kannte ich aus dem Fernsehen. Aber selbst mittendrin zu stehen, das war doch etwas anderes.

Alle in der Gesellschaft erwarteten die Pressekonferenz mit Spannung. Präsident Stockklausner verbarg seine freudige Erregung am besten. Universitätsdozent Brauchwasser dagegen sah sich schon im Mittelpunkt des öffentlichen Auftritts, als jener, der auf die angetretenen Journalisten den meisten Eindruck machen würde. Ich nahm mir vor, mich ganz bescheiden damit zu begnügen, die vorbereiteten Unterlagen zu verteilen. Freilich hätte ich für einen Eklat sorgen können mit der Erklärung, ich sei es, der den Anstoß gegeben hatte; dass also das Urheberrecht für den Slogan Friedenslied für die Welt, genau betrachtet, bei mir lag. Ohne es hinauszuposaunen, war ich unbändig stolz darauf. Die anderen merkten nicht, wie sie einer Spur folgten, die ich ihnen vorgegeben hatte, obwohl ich noch nicht lang im Dienst der Gesellschaft war.

Jetzt plapperten sie alle die neue Devise nach, die ich geprägt hatte. Friedenslied für die Welt, das war eine Eingebung, die mich mitten in der Nacht überkommen hatte. Das Unternehmen brauchte dringend eine bessere Reputation, fand ich. Denn als ich mit meiner Arbeit für die Gesellschaft anfing und anderen davon erzählte, sahen sie mich entweder mit großen Augen an oder sie lächelten mitleidig. In ihren Augen hatte ich mich da einem abseitigen, einem durch und durch kleingeistigen und provinziellen Vorhaben verpflichtet. Ich gestand weder ihnen noch mir ein, dass ich die Stelle vor allem deswegen angetreten hatte, weil mir neben der, wie ich dachte, leicht zu erledigenden Arbeit jede Menge Zeit für mich selbst blieb. Zeit, die ich brauchte, um ernsthaft mit einer Selbsttherapie anzufangen. Schreibend wollte ich meine Partnerschaft mit Stefanie ,bewältigen‘. Dass Probleme, wie ich sie mit Stefanie hatte, bewältigt werden mussten, hatte ich aus der Lektüre des Magazins Psychologie. Aber was ,bewältigen‘ oder Formulierungen wie ,an sich arbeiten‘ genau bedeuteten, hatte ich nicht herausgefunden. Statt den Skeptikern gegenüber einzuräumen, dass das Thema, mit dem sich die Gesellschaft befasste, anfechtbar war, holte ich aus, um von seiner Ernsthaftigkeit und den universellen Aspekten, die in ihm steckten, zu schwärmen. Zum Teil glaubte ich wirklich daran.

Ich sah in dem ganzen Unterfangen eine Möglichkeit, überregional, wenn nicht sogar global, etwas für Österreich herauszuholen. Ja, nicht weniger als eine erhebliche Steigerung des Ansehens. Denn was mir von Jugend an zu schaffen machte, war mein Leiden an der Nichtigkeit Österreichs. Ein weitgehend selbst verschuldetes Herabsinken von einer ernstzunehmenden Kraft in Europa, ja in der Welt, zu reiner Unscheinbarkeit. Die Vorstellung hatte mir mein Vater eingebläut, der ein leidenschaftlicher Historiker gewesen war und immer wieder mit theatralischer Attitüde, meist in Zitaten, von einem größeren Österreich geschwärmt hatte. Keine Besucher gingen weg, ohne dass ihnen eingeschärft worden wäre, dieses alte Österreich habe mit seinen politischen und kulturellen Leistungen das Herz im Herzen Europas gebildet.

Das Lied schien mir zu diesen Leistungen dazuzugehören. Als ich mehr darüber wusste, sagte ich zu meinen Gesprächspartnern:

„Wo immer man das Thema anpackt, wird es spannend. Und es ist, nicht zu vergessen, ein Welt umspannendes Thema.“

Es tat mir weh, dass alles, was ich für die Gesellschaft überlegte und tat, mit Rücksicht auf Roland Brauchwasser geschehen musste. Er war es nicht wert, aber er hatte mich auf seiner Abschussliste. Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich bei der Gesellschaft nicht die geringste Chance gehabt. Was hatte er gegen mich? Brauchwasser war voller Komplexe. Auf unerklärliche Weise fühlte er sich von mir durchschaut. Ich machte ihm, ohne dass ich etwas unternahm, die Erbärmlichkeit seiner Existenz bewusst.

Ständig grübelte ich nach, wie ich meine Behauptung von der außerordentlichen Bedeutung des Lieds mit Fakten untermauern könnte. Erstes Ergebnis meiner gedanklichen Bemühungen war dann der Slogan Friedenslied für die Welt. Er wurde rasch und widerspruchslos in den Sprachschatz der Gesellschaft übernommen, nicht einmal Brauchwasser, der sonst an allem etwas auszusetzen hatte, äußerte irgendwelche Bedenken. Ich selbst betrachtete den Vorgang nicht ohne Sorge. Denn worauf gründete sich das Schlagwort? Wie war ich vorgegangen?

Ich las den Text der sechs Strophen dutzende Male, konnte aber nicht behaupten, den Sinn wirklich erfasst zu haben. Es erging mir so wie mit dem Spanischen. Einen spanischen Text verstand ich einigermaßen. Was ich begriff, war nicht mehr als eine Ahnung, nicht die exakte Botschaft. Ich ging damals den sechs Strophen mit Akribie auf den Grund, fragte mich nicht, ob dies Dichtung sei oder vielleicht nur ein misslungenes literarisches Gebilde. Vielmehr war ich entschlossen, mit den anderen die Ergriffenheit, die davon auszugehen schien, zu teilen. Ich fahndete nach Begriffen, an die ich mich halten konnte. Und da kam tatsächlich in der dritten und in der fünften Strophe das Wort ,Welt‘ vor. Die stille und die heilige Nacht, hieß es da, habe der ganzen Welt Heil gebracht. Daraus ging für mich der universale Anspruch des Lieds hervor. Die fünfte Strophe war zwar kaum zu verstehen, doch sinngemäß hieß es darin, dass der liebe Gott der ganzen Welt versprochen habe, sie nicht zu vernichten, sondern sie zu schonen.

Diese Zeilen enthielten also ,die Welt‘ und außerdem beträchtliches Trostpotenzial. Das Wort ,Friede‘ tauchte zwar in keiner der sechs Strophen auf, doch mir schien, es geisterte im Hintergrund herum, weshalb es nicht schaden könne, es aus seiner vagen Existenz herauszuholen und in meinem Slogan zu fixieren.

Erst allmählich begriffen die Mitglieder, welche Steigerung ihrer eigenen Bedeutung der neue Slogan mit sich brachte. Das sollte der Öffentlichkeit mitgeteilt werden.

Der Hauptgrund, warum es zu diesem Slogan kommen musste, war: Ich wollte mich damit bei Stockklausner für seine Loyalität und für seine väterlichgroßzügige Art mir gegenüber bedanken. Mir wäre es durchaus recht gewesen, hätte er geglaubt, den Slogan selbst erfunden zu haben. Ich fühlte, dass es nötig war, Stockklausners Position gegenüber Brauchwasser zu stärken. So viel zur Hauptabsicht. Außerdem gab es eine nicht unwichtige Nebenabsicht: Ich wollte herausfinden, wie weit ich mit Methoden sanfter Lenkung kommen konnte. Es ging darum, anderen etwas ins Bewusstsein zu pflanzen, von dem sie dann annahmen, es sei schon immer da gewesen.

In dem Text, den ich für die Pressekonferenz vorbereitet hatte, formulierte ich meine Überlegungen ganz anders. Darin hieß es:

„Das Lied wird in mehr als dreihundertvierzig Sprachen rund um den Erdball gesungen. Es gehört der ganzen Welt und kann als ein positives Beispiel für die Globalisierung gelten. Es richtet sich ja explizit an die ganze Welt, und zwar in Form einer Friedensbotschaft. Daher hat sich unsere Gesellschaft der Devise verschrieben: ,Stille Nacht! Heilige Nacht! – Friedenslied für die Welt.‘“

In der Pressemappe befanden sich außer einem Porträt der Gesellschaft und Notizen über ihren Sinn und Zweck, mein erklärender Text sowie das Lied mit den Noten und eine CD mit der offiziellen Version.

Brauchwasser war schon eine halbe Stunde vor Beginn der Pressekonferenz da. Er sah aus wie aus dem Ei gepellt und musste extra beim Friseur gewesen sein, vermutlich weil er mit Fernsehaufnahmen rechnete. Als erstes kontrollierte er meine Unterlagen und bemängelte, dass kein Geschenk für die Journalisten dabei war. Zumindest ein Kugelschreiber hätte dazugehört. Es sei wichtig, den Journalisten das Gefühl zu geben, sie seien privilegiert und man bemühe sich um ihr Wohlwollen. Der Fruchtsaft und das Mineralwasser, das ich organisiert hatte, schienen offensichtlich nicht zu genügen.

„Und wo ist der Kaffee?“, fragte Brauchwasser und seufzte.

Damals wusste ich noch zu wenig über die Bedürfnisse von Journalisten. Später vergaß ich nie mehr auf all die Annehmlichkeiten, die ihnen geboten werden mussten. Journalisten wollten umschwänzelt und in ihrer Selbstüberschätzung bestätigt werden. Man verachtete sie zwar, doch sie mussten im wörtlichen Sinn in Kauf genommen werden, wenn man der Öffentlichkeit etwas mitteilen wollte. Warum sie so wenig geachtet wurden, noch weniger als Politiker, war mir klar, nachdem ich das Wenige gesammelt hatte, was über unsere Pressekonferenz veröffentlicht worden war.