Klaus Blume // DIE DOPINGREPUBLIK
Eine (deutsch-)deutsche
Sportgeschichte
ISBN 978-3-86789-560-6
1. Auflage
© 2012 by BEBUG mbH / Rotbuch Verlag, Berlin
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Rotbuch Verlag
Alexanderstraße 1
10178 Berlin
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www.rotbuch.de
VORWORT |
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1. KAPITEL |
BETROGENE BETRÜGER |
2. KAPITEL |
DER GEDOPTE FAHNENTRÄGER |
3. KAPITEL |
DER SIMULIERTE ANTI-DOPING-KAMPF |
4. KAPITEL |
ROTE HILFE FÜR DEN ROTEN BULLEN |
5. KAPITEL |
WIENER BLUT |
6. KAPITEL |
SPORTREPORTER – SEISMOGRAPHEN DES JOURNALISMUS? |
7. KAPITEL |
FREIBURGER SCHOKOLADE |
8. KAPITEL |
KALTER KRIEG IN DER TURNHALLE |
9. KAPITEL |
MIT DEM KLASSENFEIND ZUM KLASSENZIEL |
10. KAPITEL |
DIE DREIGESTREIFTE WELT |
11. KAPITEL |
OLYMPISCHE ÖKONOMIE |
12. KAPITEL |
DIE RHEINISCHE MAFIA |
13. KAPITEL |
DER DFB – EIN DOPINGPARADIES |
14. KAPITEL |
SPORTPFLICHT FÜRS VATERLAND |
GLOSSAR
Warum Dopingmittel nicht freigeben?
Was kosten Dopingmittel?
Wer verdient am Dopinghandel?
Warum erfolgt die Einigung im deutschen Sport so zögernd?
Warum dauern Dopingprozesse so lange?
Warum kommt Freiburg nicht zur Ruhe?
Warum finden Dopingfahnder nie etwas?
Warum gibt es kein deutsches Anti-Doping-Gesetz?
Warum werden 33 Jahre alte Rekorde nicht gebrochen?
Wie abhängig sind Sportler von ihren Sponsoren?
REGISTER
Doping – und noch immer kein Ende? Es sieht danach aus. Denn erst im Jahr 2020 können wir mit Sicherheit sagen, wer bei den Olympischen Spielen im Sommer 2012 in London tatsächlich auf ehrliche Weise Olympiasieger geworden ist. Erst dann werden die bis dahin hoffentlich stets aufs Neueste verfeinerten Nachweismethoden endgültig zutage fördern, was die eingefrorenen Dopingproben an verbotenen leistungsfördernden Mitteln enthalten haben – oder ob in London möglicherweise unerwartet wenig oder vielleicht gar nicht manipuliert worden ist.
Sie hoffen jetzt, das alles gehe an der deutschen Olympiamannschaft einfach so vorbei? Ein leider weitverbreiteter Irrglaube, ein leicht zu erschütterndes Vorurteil, denn Doping gehört auch zum hiesigen Sportleralltag dazu. So wie Frühstücken, Trainieren und Duschen. Das untermauert eine Umfrage, die vor fünf Jahren unter 586 anonym gebliebenen deutschen Leistungssportlern in allen olympischen Disziplinen durchgeführt worden ist. Deren Auswertung ergab, dass mindestens ein Viertel dieser Athleten sich während ihrer sportlichen Laufbahn gedopt haben. Die Autoren dieser in Tübingen erarbeiteten Studie kommen allerdings unter Berücksichtigung einer erheblichen Zahl zusätzlicher Informationen zu dem Ergebnis, dass fast die Hälfte der Beteiligten zu leistungssteigernden Mittel gegriffen haben muss. Ein ebenso reales wie erschreckendes Ergebnis. Ja, kann das denn sein: Doping in Deutschland? Hat sich dieses Thema in den Jahren 1990 und 1991, also mit der Wiedervereinigung, nicht ganz von allein erledigt? Auch das ist so ein weitverbreiteter Irrtum, mit dem dieses Buch aufräumen möchte. Und auch gleich noch mit dem nächsten unsinnigen Vorurteil, dass nämlich die westdeutschen Sportler die »Guten« gewesen seien, während die ostdeutschen eher in einem anderen Licht gesehen wurden – na ja, nicht ganz so … Musste in damaligen Zeiten doch einmal ein schwarzes Schaf aus der lammfrommen westdeutschen Herde aussortiert werden, – dann allenfalls, weil die ostdeutschen Erfolge es verblendet haben. Oder?
Hätte es sich wirklich so zugetragen, gäbe es zum Beispiel den aktuellen Dopingskandal um die Universitätsklinik Freiburg nicht. Er wäre gar nicht erst entstanden. Oder er wäre längst als Missverständnis ad acta gelegt worden. Doch Sportärzte dieser badischen Universitätsklinik haben ja schon im Dritten Reich die Fitnessmaximierung deutscher Olympiaathleten auf die Spitze getrieben; Erfahrungen, die sie – warum auch? – der jungen Bundesrepublik auf keinen Fall vorenthalten wollten. Freiburg verstand sich schließlich als westdeutsche Antwort auf das ostdeutsche Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig. Vor allem in Sachen Forschung und Doping, was hervorragend funktionierte. Trotzdem ist im Dopingfall Freiburg auch fünf Jahre nach Beginn der ersten Untersuchungen – und damit bei Drucklegung dieses Buches – noch immer keine Anklage erhoben worden. Und es ist fraglich, ob diese unendliche Geschichte jemals einen befriedigenden Abschluss finden kann. Angesichts einer solchen Ausgangslage stellte Winfried Hermann, der Grüne Sportpolitiker aus Stuttgart, bereits 2010 fest: »Eigentlich ist das Thema Korruption im Sport mindestens genauso wichtig wie das Thema Doping. Dass wir aber, im Unterschied etwa zur Bekämpfung des Dopings, bei der Korruptionsbekämpfung im Sport ganz am Anfang stehen und es eigentlich kaum Strukturen und kaum Maßnahmen gibt, um Korruption im Sport aufzudecken. Und schon gar nicht gibt es Strukturen, die das sozusagen wirksam verhindern.« Was David Howman, der Generaldirektor der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA), mit Blick auf den Weltsport, für ebenso wichtig hält. Schließlich gehe es bei diesem komplexen Thema um nichts anderes als um »Geldwäsche, Erpressung und Korruption im Zusammenhang mit Sportmanipulationen«. Es geht also nicht etwa um irgendeinen Regelverstoß, bei dem es nur einer Ermahnung von Sportfreund zu Sportfreund bedarf, sondern um hochkriminelle Vorgänge.
Deutsche Sportler, Trainer, Wissenschaftler, Ärzte und Funktionäre mischen in Sachen Korruption und Doping kräftig mit. Weil so etwas nicht auszuschließen ist, werden es die folgenden Kapitel anhand verschiedener Fälle klar aufzeigen. Denn ein Land wie dieses Deutschland, das einst sogar Hans Grebe, einen Assistenten des KZ-Arztes von Auschwitz, Josef Mengele, zum Präsidenten seines Sportärztebundes berufen hat, darf sich über derartige Verdachtsmomente nicht beschweren. Erst recht kein Land, das – ob in Ost oder West – die Sportlermanipulation immer meisterlich beherrscht hat. Ein Land obendrein, über dessen Ostseehäfen heutzutage ganz offensichtlich jene Wachstumshormone von mafiaähnlich organisierten Banden nach Mitteleuropa hineingeschmuggelt werden, die aus dem Zwischenhirn Verstorbener extrahiert worden sind. Und dieses Land setzt sich auch ganz aktuell dem Verdacht aus, die Causa Doping eher sorglos zu behandeln.
Im Osten sei skrupellos gedopt worden, im Westen naiv hinterhergelaufen? Von wegen! Greifen wir als Gegenargument dafür nur einmal ein Beispiel aus den 1970er-Jahren heraus, als Eigen- und Fremdbluttransfusionen noch nicht als Doping galten und deshalb auch (noch) nicht verboten waren. Im Jahr 1977 wurde in einer Sachverständigenanhörung im Sportausschuss des Deutschen Bundestags das Thema Transfusionen heftig diskutiert. Als Ziel galt dabei ganz klar die Leistungsverbesserung westdeutscher Athleten. Schließlich hatte man von Staats wegen endlich eine Methode entdeckt, die zwar nicht allzu moralisch, aber de jure wenigstens eine Zeitlang legal war. Prof. Wildor Hollmann, der einst als Sportarzt des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) ausgewiesen wurde, erörterte damals: »Bezüglich der Eigenblutrücktransfusion nimmt man dem betreffenden Sportler etwa ein bis zwei Liter Blut ab, lässt ihn anschließend circa vier Wochen weitertrainieren; dann hat sich das Blut regeneriert; dann wird ihm ein Konzentrat des abgenommenen Blutes in Form der roten Blutkörperchen zurückinfundiert.« Ich habe dieses Protokoll ganz bewusst in aller Ausführlichkeit zitiert, weil es sich dabei im Prinzip genau um jene Methode handelt, für die der Internationale Sportgerichtshof (CAS) in Lausanne Jan Ullrich im Frühjahr 2012 verurteilt hat. Zwar hat man Jan Ullrich die Anwendung nicht nachweisen können, ihm jedoch unterstellt, dass er es hätte tun können, um ihn für zwei Jahre zu sperren – nachträglich und sechs Jahre nach seinem Rücktritt. Das Sportgericht sah diese Vorwürfe als erwiesen an und erkannte dem Radprofi alle Siege seit dem 1. Mai 2005 ab.
Und wie war das mit dem Vertuschen von Dopingfällen im Osten wie im Westen? Sie wurden hüben wie drüben, wenn irgend möglich, unter den Teppich gekehrt. In der Wendezeit passierte das dann sogar in trauter deutsch-deutscher Zweisamkeit. Denn die Euphorie der deutschen Sportvereinigung wollte doch 1990 niemand stören, auch nicht der damalige Anti-Doping-Arbeitskreis, ein Vorläufer der heutigen Doping-Kontrollkommission. Es galt also bei einem konkreten Dopingfall die unausgesprochene Regel, nur nicht nervös zu werden und immer schön eine Lösung im Sinne des Sports im Auge zu behalten. Das hatte man schließlich jahrzehntelang gelernt – hüben wie drüben, auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze.
Als in jenen spannungsgeladenen Zeiten ausgerechnet ein westdeutscher Bobfahrer bei einer Dopingkontrolle aufgeflogen war, hielt die gesamtdeutsche Kommission den Fall unter Verschluss – wie man es eben gewohnt war. Was sonst? Gelernt ist eben gelernt. Später hörte ich von einem früheren Kommissionsmitglied, der Deutsche Bob- und Schlittensportverband (DBSV) habe den Fall seinerzeit so geregelt, dass er nicht weiterverfolgt werden konnte – aber gleichfalls auch so, dass die Presse und damit erst recht die Öffentlichkeit keinen Wind davon bekam. Deutsch-deutsche Gründlichkeit in der neuen deutschen Dopingrepublik! Und wenn, trotz aller Bemühungen, doch etwas durchgesickert wäre, begehrte ich zu wissen. Dann, so mein Gewährsmann, hätte man sich eben auf die auch heute noch überaus beliebte Einzeltätertheorie berufen. Man hätte sich herausgeredet, der Dopingsünder sei: überehrgeizig, aber labil, ein wenig aus der Spur geraten, aber noch kein hoffnungsloser Fall. Was gelogen wäre, denn schon zur Wendezeit hatten alle, die sich dopten, längst ein regelrechtes Expertennetzwerk in ihrem breiten Athletenrücken, auf das sie zurückgreifen konnten. Damals wurden im Westen meistens Dopingsubstanzen eingesetzt, die als klassische Medikamente legal erhältlich waren. Auch heute noch bestehen die meisten Dopingmittel aus rezeptpflichtigen Medikamenten. Das heißt, damals wie heute müssen diese Präparate in aller Regel über Mediziner und über Apotheken beschafft werden.
Inzwischen hat sich die Dopingsituation entscheidend verschärft, denn es werden nun vielfach Substanzen eingesetzt, die noch gar keine klinische Zulassung erhalten haben. Also müssen wir davon ausgehen, dass in einer ganzen Reihe heutiger Dopingfälle medizinisch geschultes Personal eingebunden wird – sowohl bei der Beschaffung wie bei der Anwendung. Darüber hinaus muss es zusätzlich Fachleute geben, die dafür sorgen, dass ein von ihnen gedopter Athlet bei einer Kontrolle nicht positiv getestet wird. Schon deshalb war und bleibt die Theorie vom Einzeltäter ein Märchen, an das (fast) kein Staatsanwalt mehr glaubt. Nur der in die Irre geführte Sportfan.
Sie werden sich fragen, warum bei der Zusammenführung der deutschen Sportverbände das alles nicht unterbunden worden ist. Ganz einfach, weil es niemand unterbinden wollte. Im Juni 1990, als die sportpolitischen Weichen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess gestellt wurden, ging es nämlich nicht um Moral, sondern um Medaillen – und ums Geld. Um nichts anderes! So entstand, Stück für Stück, die neue deutsche Dopingrepublik, eine perfekt funktionierende Schattengesellschaft! Dafür sorgte in erster Linie ein buchstäblich unheimliches Quartett, dessen Mitglieder – außerhalb des Sportbetriebes – so gut wie niemand kannte und was die Mauscheleien der vier hinter den Kulissen aufs beste begünstigte. Diese grauen Eminenzen waren Erich Schaible, Ministerialdirektor im Bundesinnenministerium (BMI), Emil Beck, erfolgreichster Fechttrainer der Sportgeschichte und meisterhafter Strippenzieher auf allen Sponsorenbühnen, Helmut Meyer, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), und Helmut Weinbuch, der allgewaltige Direktor des mächtigen Deutschen Ski-Verbandes (DSV), ein Mann, der beim Spiel hinter den Kulissen sogar Emil Beck leicht und lässig in den Schatten stellen konnte. Diese vier Männer statteten den deutsch-deutschen Sport mit allem aus, von dem sie schon immer geträumt hatten: mit dem Know-how der ost- und westdeutschen Dopingexperten und dem Geld der westdeutschen Republik. Und zugleich auch mit deren bereits vorhandenen sportpolitischen Strukturen, bei denen Werte wie Ethik, Fairness, Teamgeist oder gar Moral längst abhandengekommen waren. Dieser ganze altmodische Kram, der nur dazu dient, der Öffentlichkeit als Sand in die Augen gestreut zu werden.
In Wirklichkeit rechneten Ministerien und Sportverbände in Westdeutschland ihre jeweilige Medaillenausbeute bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften schon seit Jahrzehnten wie ein Wirtschaftsunternehmen hoch, begründeten die von ihnen entwickelten Prognosen dann mit wissenschaftlicher Präzision, um einen möglichst großen Batzen der öffentlichen Zuwendungen zu erhalten. Helmut Meyer, den sie im deutsch-deutschen Sport nur »Leistungs-Meyer« nannten, weil er einst dem Bundesausschuss Leistungssport (BAL) mit großem Geschick vorgestanden hatte, verstand von diesem Geschäft mehr als jeder andere. Vor allem weitaus mehr, als jeder DDR-Sportfunktionär sich erträumte – und so nahmen die Dinge im Sommer 1990 denn ihren unseligen Lauf – bis zum heutigen Tage.
Dass dabei ein großer Teil öffentlicher Zuwendungen – also Steuergelder – immer wieder in jenen Sportverwaltungen landet, die dann mittels extra dafür bestellter Sportpädagogen der allzu hörigen Öffentlichkeit vorgaukeln, es gehe beim Hochleistungssport weniger um Medaillen als vielmehr um die Vorbildwirkung, ist ein Teil dieses abgefeimten Spiels. Weil diese sogenannte Vorbildwirkung aber immer wieder mit viel Trommelwirbel und noch viel mehr Tschingderassa in Szene gesetzt wird, glauben nach wie vor alle jene Eltern daran, die ihre Kinder gutgläubig in Sportvereine schicken. Auf dass man ihnen dort die – richtigen? – Werte vermittele. Was leider allzu oft nur ein frommer Wunsch bleibt …
Denn im Hochleistungssport geht es nicht um Moral, sondern um die Wahl der richtigen Waffen. Oder mit anderen Worten: Es geht um die entsprechende pharmazeutische Aufrüstung und somit um den bewussten und vorsätzlichen Betrug. Man kann so etwas auch als offene Zielprojektion bezeichnen, um sich einer modernen sportpsychologischen Definition zu bedienen, muss es aber nicht. »Moral«, so dozierte der Berliner Sportpsychologe Eugen König einmal, »ist das Opium des Sports.« Und lehnt sich damit – offensichtlich – bewusst an Karl Marx’ umstrittene These von der Religion als Opium fürs Volk an. Panem et circenses – Brot und Spiele, was sonst. Weil auch König über einen gesellschaftlichen Sektor spricht, in dem es in Wirklichkeit ziemlich rücksichtslos darum geht, physiologische Grenzen immer weiter zu verschieben, in dem alle Mittel der Technik und der Wissenschaft als rechtens erachtet werden, um zum Erfolg zu gelangen.
Denn zu keiner Zeit, also auch nicht bei den angeblich ach so romantischen Olympischen Spielen der Antike, ging es um den Grundsatz: Ich will gewinnen, weil ich die Regeln des sportlichen Wettkampfes achte. Eine geradezu lächerliche Vorstellung! Es ging vielmehr – und das zu jeder Zeit – um die Beachtung der bis heute mit Verve gelebten These: Ich will auch dann gewinnen, wenn ich dabei die Regeln des sportlichen Wettkampfes missachten muss. Und das will, bitte, vorher auch geübt sein – und zwar bis zur Perfektion! Der Betrug von Anfang an als Vorsatz? Gott ja, was will man machen, wenn es nun einmal sein muss? Doch Betrug bleibt Betrug! Auch wenn er im Sport erfolgt, schrumpft er deshalb nicht zur Bagatelle. Ich weiß, dass mit dieser These viele nicht einverstanden sind. Aber vielleicht hilft Ihnen diese Überlegung: Fälscht jemand sein Geschäftsergebnis, um sich einen Kredit zu ergaunern, gilt er qua Gesetz als Betrüger. Wenn es ganz hart kommt, muss er deshalb sogar ins Gefängnis. Fälscht jemand – unter Zuhilfenahme eines leistungsfördernden Medikaments, das als Dopingmittel eingestuft und nachgewiesen worden ist – sein sportliches Ergebnis, was dann? Dann handelt es sich nicht um eine Bagatelle, sondern ebenfalls um Betrug. Und damit um einen kriminellen Vorgang.
Womit wir wieder beim Thema dieses Buches angelangt sind: bei der deutsch-deutschen Dopingrepublik. Warum, so fragen sich heutzutage viele Menschen, war die Vergangenheitsbewältigung des deutschen Sports bei der Wiedervereinigung nur so schwierig? Eigentlich hätte die Sache doch von vornherein klar sein müssen: Einem DDR-Dopingexperten, der sogar Minderjährige geschädigt hat, dürften im gesamtdeutschen Sport nie wieder Minderjährige anvertraut werden. Das wurde jedoch in der Praxis ganz anders gehandhabt, denn die westdeutschen Sportfachverbände wollten nur eines: Sieger! Aus dieser Logik heraus betrachtet, ist ein ehemaliger Dopingtrainer – ob Ost- oder Westdeutscher – auch kein unmoralischer Mensch, sondern ganz einfach nur ein guter Trainer, einer, der den sportlichen Erfolg nicht aus den Augen verliert, einer, der ihn nicht nur anstrebt, sondern obendrein auch garantieren kann. Vor allem bei den Olympischen Spielen. Denn dort geht es um Medaillen – und nicht nur um die Teilnahme, wie der Volksmund ständig ahnungslos plappert. Das wirkliche olympische Motto, erstmals offiziell 1924 bei den Sommerspielen von Paris als olympisches Leitmotiv zitiert und seitdem strikt beibehalten, lautet nämlich: Citius, altius, fortius – was Pierre de Coubertin, der französische Reformer der olympischen Bewegung, in diese drei Worte übertragen hat: »Schneller, höher, weiter«. Das stattdessen vom Volksmund gern verwandte angebliche olympische Motto »Dabei sein ist alles« steht nicht nur im krassen Gegensatz zum eigentlichen Olympiawahlspruch, es steht auch nirgendwo offiziell in der Olympischen Charta.
Doch wie ist dieses Motto trotzdem entstanden? Bei den Olympischen Sommerspielen 1908 in London ermahnte der amerikanische Bischof Ethelbert Talbot aus Pennsylvania die Teilnehmer: »Das Wichtigste im Leben ist nicht der Triumph, sondern der Kampf. Die Hauptsache ist nicht gewonnen, sondern gut gekämpft zu haben. Teilnehmen ist wichtiger als Siegen.« Es war die private Meinung eines Theologen, ausgesprochen in einer von Unruhe geprägten Zeit, in einer Zeit, die von Königsmorden und auch schon von Kriegsdrohungen überschattet wurde. Es war aber auch eine Aussage, die das wirkliche olympische Motto citius, altius, fortius zu keiner Zeit ernsthaft in Frage gestellt hat. Aber nur um dieses knallharte Motto geht es im Sport – nicht nur bei Olympia. Demnach steht Moral im Spitzensport heutzutage also auch für die Wahrung der jeweiligen Chancengleichheit – notfalls mit Hilfe aller unerlaubten Mittel. Denn die sich weiterhin hartnäckig haltende Mär, jeder Tellerwäscher könne zum Millionär aufsteigen, und jeder Athlet, wenn er nur enthaltsam und gesund lebe und hart genug trainiere, könne zum Olympiasieger avancieren, bleibt eine schön erzählte Geschichte. Und ein wunderschönes unrealistisches Märchen dazu.
Das Gleiche gilt auch für das Märchen vom gesunden Volkssport. Was heißt denn hier überhaupt gesund? Gerade im Volkssport boomt doch das Geschäft mit den illegalen Substanzen, mit anabolen Steroiden, mit der zusätzlichen Testosteron-Zufuhr. Im Internet wird bereits für zwei (!) Euro eine Ampulle Testosteron angeboten. Günstiger geht es gar nicht! Sollte man da nicht zugreifen? Natürlich werden Sie kräftiger, wenn Sie fleißig trainieren und zusätzlich dieses Teufelszeug schlucken oder spritzen. Ihre Stimmungsschwankungen, Ihre übersteigerten Aggressionen, Ihre ständigen Ängste, die von unerklärlichen Depressionsschüben abgelöst werden, müssen Sie ganz einfach verdrängen. Denken Sie immer daran: Sie wollen doch kräftiger und schöner werden! Von diesem Weg sollten Sie sich auch nicht von irgendeinem Arzt abbringen lassen, der Sie vor einem Infarkt oder einem Schlaganfall warnen will. Denn wir wollen schließlich alle mehr scheinen, als wir sind.
Obendrein ist uns die Jugend doch längst auf den Fersen. Das Internationale Olympische Komitee (IOC), dieser in Lausanne ansässige Verein mit dem Ziel ungeahnter Gewinnmaximierung, hat nämlich in weiser Voraussicht auch noch die Olympische Jugendspiele erfunden: 2010 ging es für die Sommerathleten in Singapur und 2012 in Innsbruck für die Wintersportler los. Zweifelsohne ein zukunftsweisender, wirtschaftlicher Schritt – und ein unverantwortlicher in Sachen Dopingbekämpfung, ganz und gar kontraproduktiv. Denn solche Sportveranstaltungen bringen die Doper von morgen hervor. Schließlich sollen die jungen Leute für ihr Land Medaillen holen, unterstützt von leider allzu vielen ehrgeizigen Eltern, die gar zu gern einen Olympiasieger in ihrer Familie haben wollen. Auch solche Träume kann die deutsche Dopingrepublik wahr werden lassen.
Oder künftig nicht mehr? Ausgerechnet während des allgemeinen Jubels um die Olympischen Sommerspiele im August 2012 verfügte das Verwaltungsgericht Berlin, das Bundesinnenministerium (BMI) dürfe seine Zielvorgaben für deutsche Spitzensportler ab sofort nicht mehr wie ein Betriebsgeheimnis schützen, sondern müsse diese öffentlich machen. Demnach hat das deutsche Team in London die ministeriellen Zielvorgaben deutlich verfehlt. Gemäß den gemeinsamen Vorgaben des Ministeriums und des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) wurden insgesamt 86 Medaillen erwartet, davon 28 aus Gold.
Gewonnen wurden aber insgesamt nur 44 Medaillen, davon 11 aus Gold. Ist das schlimm? Eher nicht, denn hätten die deutschen Sportler wirklich 86 Medaillen gewonnen, hätte sie sich damit in unmittelbarer Nähe der chinesischen und der russischen Sportler befunden – beides Mannschaften, die sich unentwegt nach dem Dopinghintergrund ihrer sportlichen Erfolge befragen lassen müssen. Stattdessen aber wird nun aufgrund der enttäuschenden Medaillenausbeute von London ein heftiges Feilschen um die künftige Unterstützung aus Steuergeldern einsetzen. Es ist allerdings noch immer unbekannt, wie viel dem deutschen Steuerzahler eigentlich eine Olympiamedaille kostet. Wie viel von diesem Betrag wird zum Beispiel in den verschlüsselten Haushaltspositionen des Verteidigungsministeriums versteckt? Experten haben hochgerechnet, dass der deutsche Spitzensport dem Steuerzahler alles in allem weit mehr als 200 Millionen Euro pro Jahr kostet. Oder mehr? Oder weniger? Wir wissen es nicht. Denn das gilt in Berlin und Bonn noch immer als ein zu beschützendes Betriebsgeheimnis.
Das gilt jedoch nicht mehr für die ministerielle Vorgabe für die Olympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi: Dort geht es für das deutsche Team um 40 Medaillen, davon 17 aus Gold. Koste es, was es wolle.
»Doping ist der Kunstdünger menschlicher Leistung.«
Werner Schneyder, Kabarettist, Journalist und Autor
Vier Dopingfälle, die sich am Ende als falsch herausstellten, haben die Nation jahrelang in Atem gehalten: Der Fall Katrin Krabbe, die sogenannte Zahnpasta-Affäre um Olympiasieger Dieter Baumann, das »versuchte mögliche Doping« des Jan Ullrich, wie es beim Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne hieß, und die unendliche Geschichte um die fünfmalige Eisschnelllauf-Olympiasiegerin Claudia Pechstein. Letzterer Fall wird immer wieder aufs Neue befeuert, entweder durch die Blutaffäre am Olympiastützpunkt Erfurt oder durch die Sportlerin selbst.
Keine andere Wettkämpferin jemals zuvor hat die Republik in zwei derart gegensätzliche Lager gespalten wie die blonde blauäugige Sportlerin aus Neubrandenburg. Eine Frau mit Ausstrahlung und einer nicht auslotbaren sportlichen Perspektive, so jemand polarisiert zwangsläufig. Während die einen sie am liebsten von der Bildfläche verschwinden lassen wollten und riefen: »Fangt sie, richtet sie, diese Hexe – einen Scheiterhaufen für Katrin Krabbe!«, verehren die anderen sie bis heute als Lichtgestalt des Sports aus dem hohen Norden unseres Landes, die finstere Mächte davon abzuhalten versuchten, auch künftig all die kleinen Fixsternchen des Sprints, ob aus Jamaika oder Kalifornien, aus Nigeria, Russland oder der Ukraine, ohne erkennbare Mühe zu überstrahlen. Ihr damaliger Trainer Thomas Springstein sprach im Juni 1992 sogar aus, was damals womöglich viele in den neuen Bundesländern dachten: Die bösen Wessis wollen den guten Ossis mit der strahlenden Katrin Krabbe auch noch die letzte charismatische Sportlerin wegnehmen. Springstein äußerte sich 1992 im Gespräch mit der in Bonn erscheinenden Wochenzeitung Rheinischer Merkur folgendermaßen: »Die wollen uns eben plattmachen, sonst gar nichts.«
Das war seinerzeit der eigentliche Ärger, der um den Fall Krabbe herum entstand: Es ist damals zu jener Emotionalisierung gekommen, die ausgerechnet eine solche Causa überhaupt nicht vertragen konnte und das Ganze noch viel schlimmer gemacht hat. Es war ein Kampf, der vor allem unter den Journalisten der überregionalen westdeutschen Tageszeitungen mit Leidenschaft und sogar mit Verbitterung ausgefochten wurde. Auf der einen Seite haben Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Der Spiegel vereint gegen das blonde Sprintwunder aus Mecklenburg-Vorpommern gekämpft, auf der anderen Seite verteidigte Bild vehement ihren in der Tat hochkarätigen Vertragspartner Katrin Krabbe mit (fast) allen journalistischen Mitteln. Der international geschätzte und inzwischen verstorbene Heinz Vogel, ehedem Chefredakteur des renommierten Fachblatts Leichtathletik, folgerte 1993 daraus: »Pech für Katrin Krabbe, dass sie ebenso mächtige Gegner wie Freunde hat.«
Aber jetzt erst einmal zu den Fakten dieses obskuren Falls: Die Sprint-Weltmeisterin von 1991 in Tokio war am 5. August 1992 wegen der vermeintlich verbotenen Einnahme des Kälbermastmittels Clenbuterol zu einer sogenannten »Sportordnungswidrigkeit« – also nicht wegen eines Dopingvergehens! – zu einer insgesamt dreijährigen Sperre verurteilt worden. Eine einjährige Sperre verhängte der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV), zwei Jahre zusätzlich der Internationale Leichtathletik-Verband (IAAF). Letzteres geschah hauptsächlich durch internes Intervenieren allerhöchster deutscher Funktionäre, die sich zuvor, wie der inzwischen verstorbene DLV-Präsident Helmut Meyer, stets in Krabbes Erfolgen gesonnt hatten.
Es war schlimm, was sich seinerzeit im Deutschen Leichtathletik-Verband zugetragen hat. Dass zum Beispiel die von den Sprinterinnen Katrin Krabbe, Grit Breuer, Manuela Derr und Silke Möller im südafrikanischen Trainingscamp abgegebenen Urinproben nie und nimmer zu einer Dopinganklage ausgereicht hätten, wurde von den leitenden Damen und Herren jenes Verbandes zunächst erst einmal kräftig vertuscht, um alle Welt zu täuschen. Was damals für wen, und vor allem zu welchem Zweck, eingefädelt wurde, ist bis zum heutigen Tage nicht geklärt. Vor allem auch nicht die Frage, warum man auf einmal gegen die bis dato sorgfältig abgeschirmte und geschützte Katrin Krabbe vorging. Am 15. Juni 1992 schrieb Der Spiegel, Trainer Springstein habe seinen Sprinterinnen, ohne deren Wissen, Anabolika verabreicht. Das seien die Erkenntnisse eines Fuldaer Geschäftsmannes namens Theo König. Im ZDF jedoch wehrte sich der vom Spiegel zitierte Herr König kurz darauf: »Das Wort Doping ist gegenüber dem Spiegel nicht gefallen, es ist auch nicht von mir gesagt worden, dass Thomas Springstein die Sprinterinnen gedopt hat. Von Doping, wie es jetzt im Spiegel steht, ist nicht gesprochen worden.« So stand also Aussage gegen Aussage. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Fest steht nur, dass Theo König seine Geschichte zuvor – also bevor er sie an den Spiegel verkauft hat – zwei anderen Hamburger Großverlagen, einer Fuldaer Zeitung und obendrein einer Nachrichtenagentur anbot. Für angeblich jeweils 50.000 D-Mark – was damals recht viel Geld war. Doch überall wurde Königs Angebot ausgeschlagen. Und weil sein Plan nicht funktionierte, wollte König sein angeblich alles entlarvendes Material dann auch noch an Thomas Springstein veräußern. Als ich davon erfuhr, sprach ich Springstein darauf an. Im Juni 1992 sagte er dazu: »Ich habe mich in der Tat mit Herrn König getroffen. Er hat uns einen Deal angeboten, für den er viel Geld haben wollte. Wir sind jedoch nicht darauf eingegangen.« Dieser Deal sollte so aussehen: Springstein sollte öffentlich zugeben, seinen Athletinnen – ohne deren Wissen – Anabolika verabreicht zu haben. Dann würden diese vom Dopingverdacht freigesprochen, und König würde Springstein im Gegenzug einen hochdotierten Trainerjob in Südafrika besorgen.
Doch in wessen Auftrag handelte jener Theo König aus Fulda? Er konnte ja, als in diesem windigen Business weitgehend Unbekannter, kaum auf eigene Rechnung derartige Geschäfte anbieten. Schließlich ging es bei Katrin Krabbe, der »Grace Kelly der Tartanbahn« (wie der Schweizer Blick 1992 schrieb), immerhin um die »Weltsportlerin des Jahres 1991«, also um einen der absoluten Superstars des Weltsports. Vielleicht handelte König, was seinerzeit schon die nicht verstummenden Gerüchte andeuteten, im Auftrag des Hauses Adidas – vielleicht um eventuell die Verbindungen der Neubrandenburgerin zum amerikanischen Konkurrenten Nike zu unterminieren? Denn der Konzern Nike hatte, gewissermaßen im Vorfeld der Krabbe-Affäre, bereits Ende 1991 bestätigen müssen, Sportler in seinen Diensten zu systematischem Doping angehalten zu haben. Doch man bemühte sich in den USA, die Sache einzudämmen. Dem Bremer Weser-Kurier teilte Nike dann im Januar 1992 mit, Doping unter Nike-Athleten gäbe es ab sofort nicht mehr.
Es ging in jenen Jahren um vieles, um geschäftliche, sportpolitische und sogar um politische Interessen – alles auf dem Rücken Katrin Krabbes. Am 15. Februar 1992 hatte der DLV seine Spitzensprinterinnen Katrin Krabbe, Grit Breuer und Silke Möller zwar wegen »Verfälschens von Urinproben« (Verbandsverlautbarung) für einen Monat suspendiert, doch hinter den Kulissen gärte es trotzdem weiter. Intrigen und Grabenkämpfe beherrschten die Tage. Viele in der Verbandsspitze wollten Katrin Krabbe unbedingt zu Fall bringen, obwohl Prof. Manfred Donike die DLV-Führungsspitze bereits am 16. März 1992 intern aufgeklärt hatte: »Der Urin ist in charakteristischen Parametern so unterschiedlich, dass er nicht von einer der vier in Frage kommenden Athletinnen stammen kann. Der Urin stammt infolgedessen von einer Frau, die ebenfalls mit der Trainingsgruppe Springstein trainiert oder zum Umfeld zählt. Zum Umfeld zählen in dem Falle auch vor allem die Personen, die in Südafrika waren.« Aber eben nicht Krabbe & Co. Was nun?
Während der Olympischen Sommerspiele 1992 in Barcelona wurde bekannt, in einem weiteren Trainingslager seien Dopingproben von Krabbe und Breuer positiv auf das bis dahin im Sport unbekannte Kälbermastmittel Clenbuterol getestet worden. Ihr Trainer Thomas Springstein bestätigte sogar ohne Umschweife die Verwendung dieses sonst nur in der Tiermast verwendeten Mittels – warum auch nicht? Es stand zum damaligen Zeitpunkt ja noch nicht auf der Dopingverbotsliste. Dennoch wurde das Duo Krabbe/Breuer »wegen einer Sportwidrigkeit durch Medikamenten-Missbrauch« für zwölf Monate vom Deutschen Leichtathletik-Verband gesperrt. Donike raufte sich die Haare, doch was hätte er schon unternehmen können? Juristische Möglichkeiten hatte er nicht. Zumal es im Verband nun endgültig drunter und drüber ging. Der ehemalige DLV-Präsident August Kirsch, in der Zunft als »dummer August« verspottet, machte sich beim internationalen Verband für einen erneuten Prozess gegen Krabbe & Co. und andere stark. Dass er damit seinem eigenen Verband kräftig in den Rücken fiel, begriff damals niemand, zumal Kirsch zwischen 1985 und 1988 in seiner ehemaligen Funktion als Direktor des Bundesinstituts für Sportwissenschaft in Köln eine verbotene Testosteron-Versuchsreihe an deutschen Kaderathleten initiiert hatte …
Der nächste Knall erfolgte drei Jahre später vor der Kammer für Kartellsachen beim Oberlandesgericht München. Dort wartete Katrin Krabbes Anwalt, Thomas Summerer, am 25. Januar 1995 im Prozess gegen den Deutschen sowie den Internationalen Leichtathletik-Verband nämlich mit einem ganz besonderen Coup auf: »Wir legen ein Sachverständigengutachten vor, aus dem hervorgeht, dass das von Katrin Krabbe eingenommene Mittel Clenbuterol keinerlei anabole Wirkung zeitigt. Deshalb stand es auch auf keiner Dopingliste, deshalb hat Prof. Donike auch abgeraten, es auf die DLV-Dopingliste zu setzen. Gleichwohl hat Prof. Donike nach Clenbuterol-Spuren im Urin von Katrin Krabbe gesucht.« Das alles hätten die Beklagten ohne Not vermeiden können. Denn bereits in einem internen – nur engsten Vertrauten zugänglichen – Schriftsatz des Deutschen Leichtathletik-Verbandes vom 18. März 1992 stand zu lesen, Donike warne ebenso dringend wie ernsthaft davor, das Kälbermastmittel Clenbuterol zum Ausgangspunkt einer Dopingjagd auf Katrin Krabbe zu machen. Erstens stehe das Mittel nicht auf der Dopingliste und zweitens sei dessen anabole Wirkung unter Wissenschaftlern überaus umstritten. Doch niemand wollte auf den inzwischen verstorbenen Dopingfahnder aus Köln hören … und so kam es, alles in allem, zu einer Schadensersatzzahlung an Katrin Krabbe in Höhe von etwa 700.000 Euro.
Inzwischen ist es still geworden um den ehemaligen Weltstar Katrin Krabbe; sie ist mit dem früheren Weltklasseruderer Michael Zimmermann, einem Anwalt, verheiratet und erzieht ihre zwei Söhne. Aber weil sie das vor Gericht erstrittene Geld nicht ordnungsgemäß versteuert hat, wurde sie 2009 – so damals der Neubrandenburger Nordkurier – zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Ihr Mann erhielt eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten. Danach meldeten beide Insolvenz an. Und Trainer Thomas Springstein? 2002 wurde er – man höre und staune – von seinen Kollegen zum deutschen »Leichtathletik-Trainer des Jahres« gekürt. Am 20. März 2006 wurde er jedoch wegen des Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz sowie der Weitergabe von Dopingmitteln an Minderjährige in einem besonders schweren Fall zu einer 16-monatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. In Deutschland mochte ihm nun niemand mehr eine Chance geben. Seitdem verliert sich seine Spur in Litauen …
Und der Fall Dieter Baumann? Nach der Affäre um Katrin Krabbe ein Revanche-Foul am Superstar des Westens? In seinem Buch Lebenslauf rechnet der Sieger im 5000-Meter-Lauf bei den Olympischen Sommerspielen von 1992 in Barcelona gnadenlos mit den Spitzenfunktionären des Deutschen Leichtathletik-Verbandes ab. Wobei die ganze Angelegenheit von Anfang an obendrein eine politische Dimension besaß. Baumann erinnert sich nämlich ganz genau an jenen 18. November des Jahres 1999. Er schreibt: »Meine Gedanken schweifen zum gestrigen Abend mit Helmut Digel. Der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes war erst vor wenigen Wochen einem Ruf an das Tübinger Sportinstitut gefolgt. Hier hatte er seine wissenschaftliche Karriere begonnen, von hier aus will er sein sportpolitisches Gewicht in die Waagschale werfen. Er will es mit mir zusammen tun, auch als väterlicher Freund. So sehe ich ihn. Geeint hat uns dasselbe Anliegen, dieselbe Sorge: die grassierende Doping-Seuche. Wir saßen im Ratskeller im Herzen der Tübinger Altstadt, in einer verborgenen Nische, wo wir uns ungestört unterhalten konnten. Digel war wie immer. Voller Tatendrang, ständig neue Ideen gebärend, mit einem Hang zum Besserwissen, aber auch in der Lage, zuzuhören.«
Erst einige Tage zuvor war Baumann von einem Athletentreffen auf der kanarischen Insel Lanzarote zurückgekehrt. Natürlich hätten sie dort, wie immer, über das Thema Doping gesprochen. Die Mannschaft, das brauche er Digel nicht zu erzählen, sei in dieser Frage gespalten. »Unsere Bemühungen, die Kontrollen so optimal, so unvorhersehbar wie möglich zu gestalten«, erinnert sich Baumann in seinen Aufzeichnungen, »stieß nicht überall auf Gegenliebe.« Wo aber dieser Riss durch die Mannschaft lief, sei schwierig auszumachen gewesen. Wer waren die Befürworter einer Freigabe? Wer waren die Gegner? Später, als Winfried Hermann, Bundestagsabgeordneter der Grünen aus Tübingen, zu Baumann und Digel stieß, kam das Gespräch auf Baumanns Zukunft nach dessen aktiver Laufbahn. Hermann, zu jener Zeit sportpolitischer Experte seiner Fraktion, fragte, ob Baumann nicht Anti-Doping-Beauftragter der rot-grünen Bundesregierung werden wolle? Ein Plan, der als gut gehütetes Geheimnis galt, in welches zuvor nur wenige Vertraute eingeweiht worden waren. Schon in den Wochen vor jenem Treffen im Tübinger Ratskeller wurde nämlich in der Bundestagsfraktion der Grünen über einen »Ombudsmann Baumann« gesprochen. Getragen und bestellt von der damaligen Bundesregierung. Auch ich war damals von Abgeordneten der Grünen eingeweiht worden. Zudem hatte sich der für den Sport zuständige SPD-Innenminister Otto Schily – ein ehemaliger Grüner – zuvor schon intensiv mit Baumann über das französische Anti-Doping-Gesetz beraten. Baumann sagte mir damals: »Ich persönlich halte viel davon. Für mich ist Doping ein klarer Straftatbestand. Nicht der Ruf nach dem Staatsanwalt macht den Sport kaputt, Doping macht den Sport kaputt.« Die Weichen für einen Anti-Doping-Beauftragten Baumann schienen unwiderruflich gestellt.
Doch dann, am Tag nach dem Treffen im Ratskeller in der Tübinger Haaggasse, geschieht am 19. November 1999 das Unfassbare: Der Deutsche Leichtathletik-Verband suspendiert Baumann mit sofortiger Wirkung. Analysen einer am 19. Oktober vorgenommenen Trainingskontrolle und einer Kontrollprobe am 12. November hätten jeweils einen Wert von über 20 Nanogramm im Urin des Athleten ergeben, ein Ergebnis, das weit über dem erlaubten Grenzwert liegt. Als ich Baumann an diesem grauen Novembertag morgens gegen neun Uhr anrufe, klingt seine Stimme belegt und unsicher. Mühselig reiht der sonst so eloquente Sportler Worte zu Sätzen wie diesem: »Ich kann das gar nicht artikulieren. Ich hoffe, du verstehst das. Ich glaube, ich bin damit ein bisschen überfordert.« Und dann, ganz und gar schwäbisch: »Ich glaub’ ich bin nicht ganz knuschper« – will sagen: Ich bin ja wohl nicht mehr ganz dicht!
Baumann war zuvor vom damaligen DLV-Generalsekretär Jan Kern über die positiven Tests informiert worden. Danach habe er Digel angerufen. Der habe eingeräumt, die Ergebnisse »schon die ganze letzte Woche gekannt« zu haben, dass der Verband jedoch den formalen Weg habe einhalten müssen. Weinerlich habe Digel ihm gestanden: »Es ist für mich die Hölle. Schon seit einer Woche kann ich nicht mehr schlafen.« Negativ ist auch die Rolle, die der jetzige DLV-Präsident Clemens Prokop, der Direktor des Amtsgerichts Regensburg, damals gespielt hat. Prokop, der im Jahr darauf mit der Arbeit Die Grenzen des Doping-Verbots promovierte, schlug als Rechtswart allen Ernstes Baumann vor, den Fall zu vertuschen, wenn dieser im Gegenzug seine Laufbahn beenden würde. Baumann damals mir gegenüber: »Ich war wie vom Donner gerührt.« Doch der Sportler ging nicht darauf ein.
Es ist der Super-GAU des deutschen Sports! Ausgerechnet der Vorzeigeathlet, der Olympiasieger im 5 000-Meter-Lauf, der Anti-Doping-Kämpfer par excellence – ein Betrüger? Prof. Wilhelm Schänzer, der Leiter des Kölner Instituts für Biochemie, bestätigte mir am Telefon, man habe nach langer, sehr langer Suche in Zahnpastatuben der Familie Baumann Rückstände des anabol wirkenden Medikamentes Nandrolon gefunden. Schänzer: »Die Substanz wurde in die Tube injiziert. Dafür muss es einen Täter geben. Die Manipulation könnte im Hause selbst oder von einem Dritten vorgenommen worden sein.«
Aber warum befand sich die Substanz ausgerechnet in den Reisetuben der von Baumanns Kindern? Die Sache bekam obskure Züge. Also beantragte der Europameister bei der Staatsanwaltschaft Tübingen Ermittlungen wegen eines angeblichen Zahnpastaanschlags und erstattet ordnungsgemäß Anzeige. Als Grundlage nunmehr kriminaltechnischer Ermittlungen erwiesen sich auch Stasi-Dokumente, in denen über Gift in Zahnpastatuben berichtet wurde. Aber auch das führte nicht weiter. Die Staatsanwaltschaft stellte zwar fest, dass die Zahnpastatuben der Baumanns das Anabolikum Norandrostendion enthielten, aber sie konnte keinen Tatverdächtigen ermitteln. Bis heute.
Dennoch entwickelte sich die Causa Baumann zum Politthriller: Denn erneut legten detaillierte Stasi-Unterlagen zum Fall des 1983 auf ungeklärte Weise ums Leben gekommenen Profifußballspielers Lutz Eigendorf eine Spur zum bislang ungeklärten Fall Baumann. Die Stasi-Hauptabteilung XXII in Ostberlin hatte in den 1980er-Jahren mehrere Varianten der Giftbeimischung aufgelistet, darunter als »Kontaktmittel an bzw. in Körpersprays, Cremes, Parfüms«. Handschriftlich hatte man hinter der stark ätzenden Trifluoressigsäure notiert: »Glasröhrchen im hinteren Teil der Z.-Tube!!«. Für Baumanns Heidelberger Anwalt Michael Lehner zumindest ein Indiz dafür, dass in der DDR das Wissen für einen Anschlag mit Hilfe von Zahnpastatuben vorhanden gewesen sei. Gestützt wurde Lehners Vermutung durch IM-Akten einer Expertin für Zahnheilkunde, die einst am Geheimlabor FKS in Leipzig mit Hormonpräparaten, so auch mit Norandrostendion, geforscht hat.
Doch das alles brachte Baumann nicht weiter. Was folgte, waren Sperren; durch den Deutschen und den Internationalen Leichtathletik-Verband. Aber nachdem er wieder laufen durfte, war Baumann bei den Europameisterschaften 2002 im Münchner Olympiastadion noch einmal dabei – und gewann hinter dem Spanier José Manuel Martinez überraschend die Silbermedaille über 10 000 Meter. Doch die Idee eines regierungsnahen Ombudsmannes im Anti-Doping-Kampf hatte sich mit dem Dopingfall Baumann ein für alle Mal erledigt. Aber jemand wie Baumann lässt sich natürlich nicht mundtot machen.
So zieht er nun mit seinem Kabarettprogramm Körner, Currywurst und Kenia ebenso erfolgreich durch die Lande wie mit seinem Einmann-Theaterstück Brot und Spiele. Die Grundlage dafür bildet die tragische Figur des von Siegfried Lenz 1959 erfundenen Langstreckenläufers Bert Buchner. Eine Figur, die Baumann liebt. Aber natürlich läuft er trotz allem noch immer; so erfüllte er sich am 24. Juni 2011 mit dem 100-Kilometer-Lauf von Biel in der Schweiz einen langgehegten Traum. »Warum tust du dir das noch an?«, wollte ich wissen. Seine Antwort: »Weißt du, für einen Langstreckenläufer ist Biel nun einmal die Nacht der Nächte.« Klar, einer wie Baumann kann sich vor eigenen Plänen und Ideen kaum retten: »Irgendetwas mit Jan Ullrich schwebt mir vor. Also, wie der Reinhold Beckmann den 2006 in der ARD vorgeführt hat – vor allem aber, wie Ullrichs Berater so etwas überhaupt geschehen lassen konnten –, also mit ihm muss ich unbedingt reden und richtig lange Gespräche führen.« Denn kein anderer Radsportler wurde in Deutschland derart gnadenlos verdammt, aber zugleich so hemmungslos verehrt wie eben dieser Jan Ullrich: als Olympiasieger, als Weltmeister, vor allem aber als einziger deutscher Triumphator der Tour de France, damals, im Sommer 1997. In Deutschland wurde er gleich zweimal zum »Sportler des Jahres« gekürt, 1997 sowie 2003, und in aller Welt verehrt. Im fernen fußballverrückten Uruguay haben sie ihm zu Ehren sogar eine Briefmarke herausgegeben: »Ganador TdF97« (Gewinner der Tour de France 1997). Zehn Jahre, von 1996 bis 2006, dauerte der weltweite Ullrich-Hype an. Aber es gab auch Kritik. Ja ja, den Winter über viel zu viel Kuchen und viel zu wenig Training – dafür hatten viele seiner Fans ja noch Verständnis. Doch Amphetaminpillen in der Disco? Das sahen nicht wenige schon als grenzwertig an. Und als er dann noch Blutbeutel beim Arzt seines Vertrauens hinterlegte, im fernen Madrid, da spielte im Jahre 2006 Ullrichs Partner, der Staatskonzern Deutsche Telekom, nicht mehr mit. Und viele seiner Fans wandten sich mit Grausen enttäuscht ab. Ullrich reagierte darauf mit seinem Rücktritt. Ein Unvollendeter. Was hätte einer mit seinem Talent, gedopt oder nicht, noch alles erreichen können? Doch was dieser am weiten Radsportfirmament inzwischen verglühte Stern wirklich durfte, vor allem, was nicht, das bestimmte schon 1996 ein anderer: Teamchef Walter Godefroot aus Belgien. Und mit ihm zusammen noch einige andere Herren, vorzugsweise aus der Vorstandsetage dieses besagten Kommunikationskonzerns von internationalem Zuschnitt.
Ein Geständnis konnte es auch deshalb nicht geben, weil es keinen Betrogenen gab: »Ich habe in meiner ganzen Karriere niemanden betrogen und auch keinen geschädigt.« Das bleibt bis heute das Mantra des Jan Ullrich. Denn wer ist im Radsport eigentlich der Betrogene und wer der Betrüger? Wenn alle im Peloton zu verbotenen Medikamenten greifen – und nur so ist Ullrichs Aussage wohl zu interpretieren –, ist schlussendlich die Chancengleichheit wiederhergestellt. Nur die Wahl der jeweiligen Waffen bleibt dann noch jedem selbst überlassen.
Aber gab es überhaupt eine Ära Ullrich? Im Bund Deutscher Radfahrer (BDR) wird so getan, als habe es die so nie gegeben. Allen voran ist dabei dessen Präsident, der einst glühende Ullrich-Fan Rudolf Scharping – in einem anderen Leben glückloser SPD-Kanzlerkandidat. Auch für Ullrichs ehemaligen Partner, die Deutsche Telekom, ist dessen Name längst zum Unwort degradiert geworden. Fragen nach ihm werden stets mit dem inzwischen standardisierten Hinweis beantwortet, man beschäftige sich »schon seit Jahren nicht mehr mit Radsport«. Eine Aussage, die viele ehemalige Fans noch immer in Wallung bringt. Denn gerade die Telekom hatte Ullrich einst zum Volkshelden stilisiert, hatte Bilder geschaffen, von denen viele Menschen noch heute träumen. Was sich für den Konzern gelohnt hat, denn die öffentliche Aufmerksamkeit, die Ullrich mit seiner Mannschaft dem Unternehmen einst verschafft hat, bezifferten die Bonner damals auf einen Werbewert von rund 200 Millionen Euro!
2006 wollte Jan Ullrich wieder bei der Tour de France starten, durfte es jedoch wegen neuer Dopingvorwürfe nicht; erst am 10. Februar 2012 gab es endlich das Ende dieses Dopingfalls. An jenem Tag hat der Internationale Sportgerichtshof in Lausanne Ullrich verurteilt: Der 38-Jährige wurde von den Richtern des Dopings schuldig gesprochen, sein dritter Platz bei der Tour de France 2005 aberkannt. Ullrichs Verstrickung in die Dopingaffäre um den spanischen Mediziner Eufemiano Fuentes sei klar bewiesen. Obwohl es keine einzige positive Dopingprobe gibt. Nun hat man den Indizienweg gewählt; vor einem ordentlichen Gericht hätte er womöglich zu einem anderen und schnelleren Urteil geführt als vor den Welt-Sportrichtern in der Schweiz. Vor allem das hat hierzulande zu Empörung und Frustration bei den Fans geführt. Nun kehrt Jan Ullrich zurück in den Radsport. Erst einmal bei Jedermann-Rennen, in gar nicht allzu ferner Zeit vielleicht auch als Berater eines deutsch-amerikanischen Spitzenteams, das künftig sogar an der Tour de France um den Sieg kämpfen will.
Claudia Pechstein hingegen will niemanden beraten und sich erst recht nicht von irgendjemanden beraten lassen. Schließlich will die 40-Jährige auch nicht hinnehmen, als erste