Die ewige Stadt und ihre Besucher
Aus dem Italienischen
von Ingeborg Walter
C.H.Beck
Erasmus von Rotterdam, François Rabelais, Michel de Montaigne, Thomas Hobbes, Diego Velázquez, Christine von Schweden, Marquis de Sade, Nikolai Gogol, Aby Warburg … Wer heute nach Rom kommt, steht in einer langen Tradition berühmter Besucher. Achtzehn historische Begegnungen mit Rom hat Roberto Zapperi aufgegriffen, um uns ein lebendiges Bild der Stadt im Laufe der Jahrhunderte zu präsentieren. Ein tiefgründiges Rombuch von einem der besten Kenner seiner Geschichte.
Wer heute nach Rom kommt, steht in einer langen Tradition berühmter Besucher, von denen manche viele Jahre oder ihr Leben lang dort blieben. Ihre Erinnerungen, Tagebücher und Briefe vermitteln ein lebendiges Bild der Stadt im Laufe der Jahrhunderte. Rom war eine Stadt der Päpste mit ihrem spirituellen Anspruch und ihrer weltlichen Macht und ein Sehnsuchtsort der Europäer, wo sich die Spuren der Antike und die moderne Pracht auf einzigartige Weise mischten. Doch zeigte Rom dem aufmerksamen Besucher auch andere Seiten: das bunte Leben von Volk und Klerus, von Künstlern, Frauen und Juden, Kurtisanen und Verbrechern. Ein vielfarbiges Kaleidoskop von Romerfahrungen öffnet sich dem Leser.
Roberto Zapperi lebt als Privatgelehrter in Rom. Er war 1998 Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin, 2001 Warburg-Professor in Hamburg und 2008 Gastprofessor an der ETH Zürich. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei C.H.Beck sind u.a. von ihm erschienen: Das Inkognito (42002; bsr 2010), Der wilde Mann von Teneriffa (2004), Das Bildnis der Geliebten. Geschichten der Liebe von Petrarca bis Tizian (2007 zusammen mit Ingeborg Walter), Abschied von Mona Lisa. Das berühmteste Gemälde der Welt wird enträtselt (2010) sowie Eine italienische Kindheit (2011).
Vorwort
1. Erasmus von Rotterdam und Papst Julius II. Roms innerer Widerspruch
2. Francisco Delicado: Juden und Huren in Rom
3. François Rabelais und die Farnese
4. Michel de Montaigne und das Spektakel der Gewalt
5. Zwerg Adam aus Polen
6. Thomas Hobbes und die Kirche als Staat
7. Johannes Faber und die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung
8. Velázquez und der Sklave, der Maler sein wollte
9. Königin Christine von Schweden und Kardinal Decio Azzolino. Eine seltsame Liebesgeschichte
10. Montesquieu über die römischen Sitten
11. Mengs, Winckelmann und das schöne römische Modell
12. Der Marquis de Sade und die Statue der heiligen Cäcilia
13. Thomas Jenkins und der römische Antikenmarkt
14. Sterben in Rom. Goethe und sein Sohn August
15. Gogol und das Volk von Rom
16. Émile Zola in der Hauptstadt des Königreichs Italien
17. Sigmund Freud oder Hannibal in Rom
18. Aby Warburg und der Faschismus
Literaturhinweise
Personenregister
Wie die Leser meiner «Erinnerungen» wissen, bin ich in Sizilien geboren, lebe aber seit einem Menschenalter in Rom. Hier wohne ich im obersten Stockwerk eines Hauses an den Hängen des Gianicolos, des höchsten Hügels von Rom, und genieße deshalb aus dem Fenster meines Arbeitszimmers den Blick auf bedeutende Teile des alten Roms. Links sehe ich das Kapitol, nicht weit rechts davon die großen Bögen der Maxentius-Basilika, noch weiter rechts die Ruinen der antiken Kaiserpaläste auf dem Palatin und in direkter Linie, ziemlich nahe, die kleine Cestius-Pyramide bei der Porta Ostiense. Doch mein Blick fällt nicht nur auf die Ruinen des antiken Roms. Am äußersten linken Rand meines Blickwinkels erscheint die Kirche Santa Maria in Aracoeli auf dem Kapitolshügel, Kuppeln und Glockentürme von Kirchen ragen überall auf, und hinter den Ruinen des Palatins erheben sich hoch in den Himmel die Statuen auf der Fassadenbrüstung von San Giovanni in Laterano, der Bischofskirche von Rom. Mir gegenüber sehe ich greifbar nahe den Aventin mit den Kirchen Santa Sabina und San Bonifacio e Alessio, die Villa des Malteserordens und dahinter den gewaltigen Komplex von Sant’Anselmo aus dem 19. Jahrhundert, der das Internationale Seminar der Benediktiner beherbergt. Konvente und Villen verschiedener Orden und Kongregationen umgeben mein Haus. Dies ist die Stadt, von deren jüngerer Vergangenheit mein Buch handelt. Eine jahrtausendealte Stadt, in der neben den Überresten aus ihrer ältesten Zeit Hunderte von Kirchen stehen – so viele, dass man sie kaum zählen kann! Diese einzigartige Stadt wurde seit dem Untergang des Römischen Reichs über die Epochen hinweg von der katholischen Kirche geprägt, deren Zentrum sie bis heute ist und die Rom bis in die Gegenwart hinein einen unauslöschlichen Stempel aufgedrückt hat.
Das Buch beginnt mit einem Kapitel über Erasmus von Rotterdam, der meines Wissens der Erste war, der den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der spirituellen und der weltlichen Gewalt der Päpste, der sich in Rom in besonderer Weise manifestierte, erkannte. Er kam Anfang des 16. Jahrhunderts aus den Niederlanden in die ewige Stadt, und wie er sind auch viele andere Fremde aus ganz Europa über Jahrhunderte nach Rom gereist. In den achtzehn Kapiteln dieses Buchs erzähle ich von den Erlebnissen und Eindrücken einiger dieser Besucher. Sie sind sehr unterschiedlich und nicht immer persönlicher Natur, aber jedes dieser Zeugnisse beleuchtet einen Aspekt des römischen Lebens in der Zeit zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert. In den Erfahrungen und Reflexionen dieser Gäste Roms, die zu verschiedenen Zeiten in die ewige Stadt kamen und kürzer oder länger hier weilten, nimmt die Präsenz der päpstlichen Kurie und das, was dies für das Leben ihrer Einwohner bedeutete, immer großen Raum ein. Rom war und blieb die Stadt der Päpste, auch nachdem es die Hauptstadt Italiens geworden war.
Während der Arbeit an diesem Buch haben mich verschiedene Personen großzügig unterstützt. Von diesen möchte ich vor allem Philine Helas, Margherita Palumbo und Giuliana Scudder nennen. Ich möchte auch nicht verschweigen, dass mir die große Berliner Privatbibliothek von Horst Bredekamp sehr nützlich gewesen ist, denn ohne die Bücher, die ich dort entdeckte, wären einige Kapitel dieses Buchs nicht geschrieben worden. Allen danke ich hier aufs Wärmste. Ein besonderer Dank gilt wie immer meiner Frau, Ingeborg Walter, mit der ich jede Seite dieses Buchs diskutiert habe. Ihr guter Rat hat das Buch, das ich den Lesern jetzt vorlege, an vielen Stellen verbessert.
Rom, im September 2012
Seit dem Niedergang des Römischen Reichs war Rom Mittelpunkt und Antriebskraft der katholischen Christenheit. Mit der Zeit wurde es aber auch die Hauptstadt eines Staates, nämlich des Kirchenstaats, den der Papst wie ein weltlicher Souverän regierte. Dieser Kontrast bedingte und prägte die Geschichte der ewigen Stadt zutiefst. Der niederländische Geistliche und Humanist Erasmus von Rotterdam war am Anfang des 16. Jahrhunderts der Erste, der diesen inneren Widerspruch erkannte und aufs Schärfste kritisierte.
Als Erasmus im März des Jahres 1509 nach Rom kam, war er wenig mehr als vierzig Jahre alt. Er befand sich im Gefolge des schottischen Prinzen Alexander Stuart, dessen Präzeptor er war. Sein Italienisch war passabel – er sprach es mit einem starken nördlichen Akzent –, umso besser aber beherrschte er Latein und Griechisch. 1466 in Rotterdam als Sohn eines Geistlichen, der im Konkubinat lebte, geboren, war er auf den Namen Erasmus getauft worden und hatte ebenfalls früh die geistliche Laufbahn eingeschlagen. In Rom ging ihm der Ruf voraus, ein großer Humanist zu sein. Dieser gründete sich auf seine Sammlung antiker Sprichwörter mit dem Titel Adagia, die er kurz vorher beim venezianischen Verleger Aldo Manuzio, dem Fürsten aller Drucker, veröffentlicht hatte. Erasmus wurde deshalb in Rom von den prominentesten Humanisten der Stadt herzlich willkommen geheißen und gefeiert. Tommaso Inghirami, der Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, stellte ihm sofort deren reichen Bestand an alten Handschriften zur Verfügung. Die Nachricht von der Ankunft des großen Gelehrten aus dem Norden erreichte auch die römische Kurie, so dass verschiedene Kardinäle seine Bekanntschaft machen und ihn ehren wollten; darunter vor allem Kardinal Raffaele Riario, ein Verwandter des herrschenden Papstes Julius II., aber auch Kardinal Giovanni de’ Medici, der künftige Papst Leo X., sowie der venezianische Kardinal Domenico Grimani.
Der durchaus herzliche Empfang genügte indessen nicht, um Erasmus den Aufenthalt in Rom angenehm zu machen, und dies aus verschiedenen Gründen. Die ganze Stadt war eine einzige Baustelle. Papst Julius II. hatte umfassende Bauarbeiten im Vatikan begonnen, angefangen vom Neubau von Sankt Peter, mit dem er den Architekten Donato Bramante beauftragt hatte. Dazu kamen der Umbau der vatikanischen Paläste und die Neugestaltung des Belvederehofs mit einem höherliegenden, neuen Garten, wo die antiken Statuen aufgestellt werden sollten, darunter der Laokoon, der 1506 ausgegraben worden war. Die architektonischen Eingriffe betrafen darüber hinaus die Kirchen SS. Apostoli, S. Pietro in Montorio und S. Maria del Popolo. Der Bau eines großen Palastes, der die Gerichte aufnehmen sollte, wurde begonnen, aber nicht zu Ende geführt. Große städtebauliche Projekte wie die neue Via Giulia waren ebenfalls dabei, verwirklicht zu werden. Nicht minder ehrgeizig waren die Ausschmückungsarbeiten, die Julius II. im Vatikan veranlasste, darunter die Freskierung des Deckengewölbes der Sixtinischen Kapelle, mit der er Michelangelo beauftragte, und die Ausmalung der neuen päpstlichen Gemächer im Vatikan durch Raffael.
Doch nicht nur der betäubende Baulärm störte Erasmus, noch mehr irritierte ihn die Kriegsstimmung, die in Rom herrschte. Am 23. März 1509 schloss Julius II. mit König Ludwig XII. von Frankreich, Kaiser Maximilian I. und dem König von Aragon, Ferdinand dem Katholischen, ein Bündnis, die Liga von Cambrai. Sein Ziel war, die von Venedig besetzten Städte und Territorien in der Romagna, die zum Kirchenstaat gehörten, zurückzugewinnen. Am 26. April belegte Julius II. Venedig deshalb mit dem Bann. Im Zusammenhang mit diesen Kriegsvorbereitungen bat Kardinal Riario Erasmus um ein Gutachten über die päpstlichen Ansprüche gegenüber Venedig. Ein solches Gutachten ist nicht erhalten, und man muss sich auch fragen, was Erasmus wohl hätte schreiben können, war er doch im Jahr zuvor in Venedig sehr herzlich aufgenommen worden. Ihm war jeder Krieg zuwider, und dies umso mehr, wenn ihn das Oberhaupt der Kirche führte.
Leider ist kein Brief aus Rom von Erasmus erhalten, doch lässt sich Briefen aus späterer Zeit entnehmen, dass er hier zu der Erkenntnis kam, wie heidnisch und wenig christlich die Stadt geworden war. Beispielhaft dafür schien ihm eine Predigt, die er am Gründonnerstag in der Sixtinischen Kapelle hörte. Der Prediger begann mit einem Lobpreis auf den Papst, der der Zeremonie beiwohnte, und wandte sich dann nach ein paar kurzen Bemerkungen über den Kreuzestod Christi ausführlich dem Opfertod des Sokrates und anderer Persönlichkeiten zu, um am Ende den Triumph des Kreuzes mit dem Triumph Scipios und Cäsars zu vergleichen. Diese Predigt muss Erasmus an den triumphalen Einzug Julius’ II. in das zurückeroberte Bologna erinnert haben. Er war 1506 dabei gewesen, als der Papst in die besiegte Stadt einzog, und schrieb darüber mit flammenden Worten: «Ich habe mit meinen eigenen Augen in Bologna gesehen, wie Julius, der römische Pontifex, Zweiter dieses Namens, herrliche Triumphe feierte, die sich ganz und gar mit den Triumphen von Pompeius und Cäsar vergleichen lassen. Aber was haben die Triumphe eines Pompeius und eines Cäsar mit der Autorität Petri zu tun?» Es ist zwar wahr, dass Julius II. selbst den Vergleich seiner Person mit Cäsar nicht förderte, aber er blieb ein gern gebrauchter Topos in den Lobreden seiner Höflinge, die ihre Schmeicheleien mit dem hochtönenden Hinweis auf antike Ähnlichkeiten würzten. Erasmus’ Kritik traf aber dennoch einen entscheidenden Punkt, die Tatsache, dass der Papst oft und gerne Kriege führte.
Erasmus verließ Rom schon im Juli 1509 wieder und kehrte nie mehr in die ewige Stadt zurück. Aber die vier Monate, die er hier verbrachte, genügten ihm, um sich ein zutreffendes, genaues Bild von der Persönlichkeit des herrschenden Papstes zu machen. Er informierte sich auch später noch über ihn, wie einige Briefe aus England zeigen, wohin er kurz darauf zurückkehrte. In einem bat er einen Freund um Nachrichten vom Papst, er wollte wissen, ob Julius II. immer noch die Rolle des Julius Cäsar spiele. Neben seinen Korrespondenten auf dem Kontinent versorgten ihn auch zwei in England weilende Italiener mit Nachrichten, der aus Lucca stammende Andrea Ammonio, Sekretär am königlichen Hof, und der Agent der Republik Venedig, Pietro Carmeliano, die beide über die politischen und militärischen Ereignisse in Italien bestens unterrichtet waren. Auf der Basis seiner eigenen römischen Erfahrungen und der später gesammelten Nachrichten verfasste Erasmus zwei Schriften über Papst Julius II., und zwar in Latein, der Sprache, die er wie kein anderer beherrschte. Es handelt sich um den Dialog Julius exclusus e coelis, geschrieben 1513 in Cambridge und anonym 1517 publiziert, und die kurz darauf entstandene, mit dem Dialog eng verbundene Schrift Sileni Alcibiadis. Ausgehend von einem antiken Sprichwort, entwickelt sich diese zu einer kleinen politischen Abhandlung. Sie wurde 1515 in Basel von Johannes Froben in einer neuen Ausgabe der Adagia veröffentlicht. Julius II. starb am 20. Februar 1513, im selben Jahr, in dem Erasmus seinen Dialog schrieb. Hierin stellt er sich vor, wie die Seele des verstorbenen Papstes vor den Pforten des Paradieses erscheint. Diese aber sind versperrt und werden vom Pförtner, dem heiligen Petrus, bewacht, der die Seele einem strikten Verhör unterzieht. Julius II. tritt hier im glänzenden päpstlichen Ornat auf, angetan mit der Tiara und in reich mit Gemmen, Edelsteinen und dem goldenen Eichenwappen der Della Rovere verzierte Gewänder gehüllt, im gleichen Prunk also, in dem er 1506 in das unterworfene Bologna eingezogen war, was Erasmus nie vergessen hatte. Der Dialog hebt mit einer Reihe von heftigen Vorwürfen an, aufgrund derer Sankt Peter der Seele den Eingang ins Paradies verwehrt. Diese Vorhaltungen enthalten all das, was dem Papst bereits zu Lebzeiten in den zehn Jahren seines Pontifikats von seinen Gegnern vorgeworfen worden war: Plebejische Herkunft, Korruption, schamlose Simonie, seine sexuellen Praktiken, die Konkubine samt seiner Tochter, Sodomie, Trunkenheit, die sich im Verkehr mit den Kurtisanen zugezogene Syphilis, der völlige Mangel an Glauben. Das meiste davon ist auch hinreichend bewiesen, Zweifel sind nur bezüglich der Sodomie, d.h. der Homosexualität, angebracht, die er, wenn überhaupt, nur während der Kardinalszeit praktiziert haben mag. Der heilige Petrus nimmt jedoch keine Entschuldigung entgegen, sondern schleudert unerbittlich Julius seine Laster ins Gesicht: Er sei «notorisch niederträchtig, ein Trinker, Mörder, Simonist, Giftmischer, Eidbrecher, Dieb, von Kopf bis Fuß verseucht mit monströsen Lastern, ohne auch nur die geringste Scham zu empfinden». Doch der heikelste Aspekt dieser Verderbtheit war für Erasmus politischer Art: Der Stellvertreter Christi auf Erden musste seiner Vorstellung nach mit der Heiligen Schrift in der Hand ein fester, zuverlässiger Führer der Gläubigen sein und sich nicht um die Aufgaben eines Staatsoberhauptes kümmern. Es ist ein Urteil, gegen das kein Einspruch möglich ist: Einem Papst, der Krieg führt, kann nicht verziehen werden, weshalb der heilige Petrus sich, was diesen Punkt betrifft, zu einer besonders heftigen Invektive hinreißen lässt: «Bis jetzt habe ich nur von den Taten nicht eines Oberhaupts der Kirche, sondern eines weltlichen Fürsten gehört, nicht nur eines weltlichen, sondern auch eines heidnischen, eines Fürsten, der noch verwerflicher ist als die Heiden! Du rühmst dich damit, Verträge gebrochen, Kriege angezettelt und Metzeleien angerichtet zu haben. Das ist Satans Macht, nicht die eines Papstes. Wer gewählt hat, der Stellvertreter Christi zu sein, muß sich so gut wie eben möglich dessen Vorbild anpassen.»
Abb. 1: Raffael, Bildnis Julius’ II., London, National Gallery
Erasmus hatte keine Gelegenheit, Raffaels berühmtes Porträt von Julius II. in S. Maria del Popolo, der bevorzugten Kirche des Papstes, zu sehen (es entstand erst 1512), wo es nach dessen Willen an allen Feiertagen ausgestellt wurde (Abb. 1). Er hätte in diesem Bild das Idealporträt des wahren Papstes erkennen können, so wie er es im Dialog Julius exclusus skizziert hatte: ein milder, melancholischer und ins Gebet versunkener Engelpapst, der wenig mit dem realen Julius II. zu tun hatte, wie er sich einem aufmerksamen Beobachter darstellen musste. Vielleicht sah dieses Porträt aber ein anderer, der Julius II. ebenso kritisch gegenüber stand wie Erasmus: Michelangelo, der im März 1508 den Auftrag des Papstes angenommen hatte, das Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle auszumalen, eine Arbeit, die er im September 1512 abschloss. Wenige Monate zuvor, kurz nach der Schlacht von Ravenna (11. April 1512), in der das spanisch-päpstliche Heer eine vernichtende Niederlage erlitt, schrieb der Künstler ein Sonett, das die Lage auf den Punkt brachte:
Aus Helmen läßt man Helm und Schwert hier schweißen,
Und Christ’ s Blut ist’ was die Kassen füllt.
Aus Kreuz und Dornen werden Speer und Schild,
Selbst Christus würde die Geduld hier reißen,
Weil hier Blut mehr als die Sterne gilt
Und Haut und Haar nicht Romas Habgier stillt.
Hier trifft er nicht das Heil, das er verheißen.
Doch herzukommen sollt’ er sich verbeißen.
Ein trostloser Kommentar zur Lage der heiligen Stadt, die der kriegerische Papst in einen Exerzierplatz verwandelt hatte, um ohne Rücksicht auf Kosten den Gegenschlag gegen die siegreichen Franzosen vorzubereiten. In seiner Storia d’Italia fällt der politische Denker und Geschichtsschreiber Francesco Guicciardini (1483–1540) ein ähnliches Urteil. Er beschreibt Julius II. als einen alten, kühnen Kämpfer, der persönlich seine Truppen kommandiert und sich als Heerführer allen Anstrengungen und Gefahren des Kriegs unterzieht: «Er hat von einem Papst nur das Kleid und den Namen», ist sein knapper Kommentar. Er bezieht sich dabei auf eine Episode, die zu den bezeichnendsten im Leben dieses Kriegerpapstes zählt, die Belagerung von Mirandola, bei der er als erster am 19. Januar 1511 den Fuß in den Ort setzte, nachdem er sich mithilfe einer Leiter über die Mauern hatte heben lassen. Doch zurück zu Michelangelos Sonett, das Erasmus sicher nicht missfallen hätte. Es endet mit dem sarkastischen Gruß: «Euer Michelangelo in der Türkei», wobei die Türkei für Rom steht.
Erasmus war sich der Heftigkeit seiner Attacke auf den Papst bewusst. Er zögerte tatsächlich lange, bevor er sich entschloss, den Dialog zu veröffentlichen, und als er es dann tat, veröffentlichte er ihn anonym und stritt seine Autorschaft immer entschieden ab. Diese hartnäckige Leugnung hat bei einigen Forschern Zweifel über seine Autorschaft genährt, doch ist diese in der Forschung inzwischen mit überzeugenden Argumenten bestätigt worden. In seiner zweiten Schrift gegen Julius II., Sileni Alcibiadis, wandte Erasmus eine andere Taktik an. Er publizierte sie als Teil der Adagia, ohne seine Verfasserschaft zu leugnen, nennt jedoch nie den Namen des Papstes, gegen den sie gerichtet war. Diese Vorsichtsmaßnahme war sehr erfolgreich, denn sie verlieh der Schrift einen mehr theoretischen Charakter, der dem anonym veröffentlichten Dialog mit dem Namen des Papstes im Titel größtenteils fehlt. Die Anklagepunkte gegen Julius II. sind auch hier die gleichen, aber die Schrift enthält einen neuen, ja überraschenden Aspekt, eine völlig neue, radikale Kritik an der Institution des Kirchenstaats, die kühn schon Überlegungen späterer Zeiten vorwegnimmt. Erasmus legt den Finger hier auf einen fundamentalen Widerspruch, der diesem staatlichen Gebilde innewohnt. Wie ist es möglich, fragt er sich, dass die Kirche Christi ein Staat ist, und seine Antwort lautet: «Christus sagte ausdrücklich, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei; scheint es dir ziemlich, dass der Nachfolger Christi einen weltlichen Staat akzeptiert, ja nicht nur akzeptiert, sondern ihm hinterherläuft und seinetwillen Himmel und Erde in Verwirrung bringt?» Der Widerspruch zwischen der spirituellen, religiösen Berufung der Kirche Christi und dem Staat, der aus ihr hervorging, wird besonders deutlich, wenn es um den Krieg geht, ein Thema, für welches das Pontifikat von Julius II. wie kein anderes Anlass zur Reflexion bot. Hier setzt Erasmus’ Kritik an, und sie kommt in ihrer Radikalität zu Bildern von großer Eindringlichkeit. «Was hat die Mitra mit dem Helm zu tun, was das bischöfliche Pallium mit dem Panzer des Mars? Was die Segnungen mit den Kanonen? Was hat der mildeste Hirte zwischen bewaffneten Briganten zu suchen? Was hat das Priestertum mit dem Krieg zu tun? Warum hat derjenige, der die Schlüssel zum Himmelreich besitzt, es nötig, Bollwerke mit Katapulten zu zerstören? Wie kann einer, der das Volk mit einem Friedensgruß grüßt, Kriege führen?» Die Antwort auf diese dramatischen Fragen ist erbarmungslos: «Wenn du dem Papst einen weltlichen Staat gibst, nötigst du ihn zugleich, Geld anzuhäufen, du gibst ihm eine Leibwache wie die, welche den Tyrannen umgibt, Milizen voller Eisen, Spione, Pferde, Maultiere, den Krieg, die Gemetzel, die Triumphe, die Aufstände, die Schlachten: In einem Wort, alle Instrumente und alle Apparate für die Verwaltung eines Staates.» Es folgt eine minuziöse Aufzählung der Aufgaben eines Staatsoberhaupts, doch hier wird der Bezug auf die konkrete historische Situation, die das Pontifikat von Julius II. vor Augen geführt hatte, schwächer. An seine Stelle tritt eine höhere Vision, die von der konkreten Lage abstrahiert und die Zukunft der päpstlichen Institution ins Auge fasst. «Den Papst und die Kardinäle vom Gebet abzuhalten, das sie mit Gott verbindet, von der Kontemplation, die sie unter die Engel versetzt, von den blumigen Wiesen der Heiligen Schrift, wo Glückliche wandeln, von dem apostolischen Amt der Evangelisierung, die sie Christus ähnlich macht, um sie in solche Sümpfe zu tauchen: Das soll Deiner Meinung nach das Verständnis der päpstlichen und der Kardinalswürde sein?» Die grundsätzliche Frage, die Erasmus aufgrund seiner religiösen Überzeugungen aufwarf, wird aber der historischen Dimension dieses Papstes nicht ganz gerecht. Was die konkrete, geschichtliche Wirklichkeit betrifft, so bleibt das Urteil Machiavellis gültig, der das Wirken Julius’ II. unter rein politischen Gesichtspunkten betrachtete. Im Fürsten beschreibt er Julius II. als den Erben Papst Alexanders VI., der eine Politik der Restauration der politischen Macht im Kirchenstaat verfolgte, wobei Julius II. jedoch nicht wie der Borgia-Papst und die auf ihn selbst folgenden Päpste hauptsächlich die Versorgung seiner Verwandten im Auge gehabt habe, sondern einzig die Wiederherstellung der Macht des Staats und seines Oberhaupts. «Er unternahm es, Bologna zu erobern, die Macht von Venedig zu brechen und die Franzosen aus Italien zu vertreiben; und dies gelang ihm und gereicht ihm um so mehr zur Ehre, als er alles nur zum Vorteil der Kirche und nichts zum eigenen unternahm.» Ein Ehrentitel Julius’ II. war in Machiavellis Augen auch seine kluge Politik gegenüber den Orsini und den Colonna, den zwei größten Adelsgeschlechtern Roms, die er zu zügeln wusste, indem er es vermied, Mitglieder dieser Familien zu Kardinälen zu ernennen. Ihre Mitgliedschaft im Kardinalskollegium war immer schon für sie ein Mittel gewesen, um die Macht des Papstes zu beschneiden und seine Politik in ihrem Sinn zu beeinflussen.
Machiavelli kam auf diese Weise zu einem historischen Urteil über das Pontifikat Julius’ II., ohne die von Erasmus aufgeworfene Frage überhaupt zu berühren. Und dies nicht von ungefähr, denn das Problem der Doppelnatur der Kirche als zugleich spiritueller und weltlicher Macht lag jenseits der historischen Kontingenz. Für Rom bedeutete diese Situation jedoch, dass es unter einer doppelten Regierung stand, einer weltlichen und einer geistlichen, mit gravierenden Folgen für das Leben der Stadt. Dieser Kontrast sollte erst in neuerer Zeit eine Lösung finden, als nämlich mit der Einigung Italiens die Päpste den Kirchenstaat verloren und Rom 1870 die Hauptstadt des neuen Königreichs wurde.
Über den spanischen Autor Francisco Delicado ist nur sehr wenig bekannt, und dies Wenige lässt sich fast ausschließlich seinen Werken entnehmen. Er wurde gegen 1480 in Martos, einem andalusischen Städtchen in der Provinz Cordoba, geboren. Während des Pontifikats von Julius II. (1503–1513) kam er nach Rom, aber schon seit 1502 litt er an Syphilis. In Rom frequentierte er zwei Kongregationen, die in Santa Maria in Aquiro, dann jene in Santa Maria della Pace, wo er bei einem alten Pfarrer Italienisch lernte. Er wurde Pfarrer der Kirche Santa Maria in Posterula – wann wissen wir nicht –, die nach der Eingliederung Roms 1870 ins Königreich Italien abgerissen wurde. Sie lag in der Nähe der berühmten Locanda dell’Orso, wo viele Fremde von mehr oder weniger hohem Rang abstiegen. Danach lebte er lange im Rione Ponte, zwischen der Engelsbrücke und der Via dei Banchi, dem lebhaften Geschäftsviertel des damaligen Roms. Seine Syphilis zwang ihn zu einem gewissen Zeitpunkt, seine Pfarrei zu verlassen und sich im Hospital S. Giacomo degli Incurabili mit dem damals üblichen Guajak- oder Pockholz behandeln zu lassen; 1526 war er offenbar wieder gesund. Während seines Aufenthalts im römischen Hospital verfasste er einige kleine Schriften und schrieb 1524 den Roman in Dialogform Retrato de la Lozana Andaluza (in der deutschen Übersetzung: Lozana, die Andalusierin). Während der verheerenden Plünderung Roms 1527 durch die kaiserlichen Soldtruppen, die die Stadt in Schutt und Asche legten, befand er sich immer noch in Rom. Dann verließ er am 12. Januar 1528 die ewige Stadt im Gefolge der kaiserlichen Truppen, um sich in Venedig niederzulassen. Hier veröffentlichte er schon im Februar eine kleine Schrift über die Behandlung der Syphilis mit Guajak, in der er sich erstmals als Vikar eines Örtchens im Bistum Plasencia in der Estremadura bezeichnet. Es handelte sich um eine kleine Pfründe, die ihm wahrscheinlich der Bischof von Plasencia, Gutierez Vargas de Carvajal, verliehen hatte. 1530 brachte er schließlich den Roman Retrato de la Lozana Andaluza heraus. In Venedig betätigte er sich beim bekannten venezianischen Verleger Giovanni Antonio Nicolini als Korrektor und Revisor spanischer Bücher, darunter auch des berühmten Ritterromans Amadis de Gaula. Danach ist nichts mehr über ihn bekannt, wahrscheinlich ist er kurz nach der Veröffentlichung seines Romans gestorben.
Delicados Roman spielt in Rom. Hierhin verschlägt es, nach Wanderungen durch viele Länder rund um das Mittelmeer, zu Beginn des Pontifikats Leos X. (1513–1521) die schöne Lozana, Hauptfigur der Geschichte, die wie der Autor aus Andalusien stammt. Verwaist und ohne die Unterstützung ihres ehemaligen Geliebten ist sie allein und mittellos, ausgestattet allein mit großer Schönheit, beträchtlicher Unternehmungslust und lebhaftem Verstand. Nach der Ankunft in Rom begibt sie sich sofort auf die Suche nach einer Bleibe und findet sie im Rione Sant’Angelo, wo die meisten Juden in Rom lebten. Hier lernt sie einige jüdische Frauen kennen, vor allem Weißnäherinnen, aber auch solche, die Tinkturen, Salben und andere Wässerchen für die weibliche Schönheitspflege zubereiten. Von ihnen lernt Lozana schnell diese Kunst, aber sie ist den Frauen suspekt. Sie möchten wissen, ob auch sie eine Jüdin ist und falls ja, ob sie zum Katholizismus konvertiert ist oder nicht. Sie selbst haben es nicht getan, verdächtigen Lozana aber, eine Konvertierte zu sein. Beatriz sagt zu ihrer Freundin Teresa Hernandez: «Ich möchte nur wissen, ob es eine Bekehrte ist, damit wir ohne Scheu sprechen können», worauf Teresa antwortet: «Wenn sie eine wäre, wird sie sich als gute Christin ausgeben.» Sie beschließen, eine dritte Freundin zu beauftragen, Lozana auszuhorchen: «Lassen wir Teresa von Cordoba sprechen; sie hat eine gute Zunge und wird alles aus ihr herausziehen.» Aber dann hat Beatriz noch eine andere Idee, um der Sache auf den Grund zu gehen, und sie schlägt vor: «Laßt mich nur machen. Wir wollen ihr sagen, daß wir Hormigos oder Alcuzcuzu machen wollen. Kann sie das, so werden wir deutlich sehen, ob sie zu uns gehört, und ob sie sie mit Wasser oder mit Öl macht», und fügt noch hinzu: «Es gibt nichts Schlimmeres als eine dumme Bekehrte.» Diese strenggläubigen jüdischen Frauen wollen wissen, wie es um die Religion von Lozana bestellt ist, bevor sie sie in ihren Kreis aufnehmen. Sie trauen vor allem den konvertierten Juden nicht, denn sie fürchten, von ihnen wegen ihres Glaubens denunziert zu werden. Lozana wird also auf die Probe gestellt, die sie glänzend besteht, sodass Beatriz zufrieden kommentiert: «Wahrhaftig, sie gehört zu uns.»
Die jüdischen Frauen, die mit Lozana sprechen, sind historisch dokumentiert, denn sie sind alle in der 1526 durchgeführten römischen Volkszählung registriert. Es handelt sich also um Frauen, die Delicado gekannt haben muss, so wie er auch die jüdischen Gebräuche kannte, von denen in den Gesprächen die Rede ist, im konkreten Fall die Regeln für die Zubereitung des Couscous. Diese Kenntnis lässt den berechtigten Verdacht aufkommen, dass auch er Jude war, wenn auch ein zum Katholizismus bekehrter. Zu diesem Punkt gibt es noch einen weiteren Hinweis im Roman. An einer Stelle fragt Lozana Beatriz, seit wann sie und ihre Gefährtinnen in Rom leben, und die Antwort ist: «Seit man die Inquisition einsetzte, teure Señora»; und auf die Frage Lozanas, ob es Juden in Rom gebe, antwortet ihr Beatriz, es gebe viele und sie seien alle gute Freunde, mit denen sie Lozana bekannt machen wollten. Lozana fragt noch, ob die Juden auch mit Christen verkehrten – die Antwort ist ja – und wie man die Juden erkenne. Ihr wird erklärt, sie trügen einen gelben Stern, doch nur die Männer, nicht die Frauen.
An dieser Stelle muss an die tragische Vertreibung der Juden aus Spanien erinnert und gefragt werden, warum Delicado nicht auf das diesbezügliche Edikt König Ferdinands des Katholischen von 1492 anspielt, sondern vielmehr auf die Einrichtung der Inquisition. Delicado kam aus Andalusien, der spanischen Provinz, in der besonders viele Juden lebten. Die Inquisition war schon 1478 im Königreich Kastilien, zu dem Andalusien gehörte, eingeführt worden und zwar mit dem Ziel, die verbreitete Rückkehr der konvertierten Juden zu ihrem alten Glauben zu bekämpfen. Die kastilische Inquisition, an deren Spitze der fanatische Dominikaner Tomás de Torquemada stand, erreichte trotz der erbitterten Verfolgung solcher Rekonversionen den erhofften Erfolg nicht. In der Folge wurde fünf Jahre später, 1483, nachdem die Inquisition in Andalusien eine noch größere Verbreitung solchen Verhaltens festgestellt hatte als in anderen Landesteilen, ein Edikt zur Vertreibung aller Juden aus dieser Provinz erlassen. Aber der Erfolg blieb auch jetzt aus. So kam es dazu, dass 1492 die Juden aus ganz Spanien ausgewiesen wurden. Alle die sich taufen ließen, durften bleiben, und viele blieben in der Tat auch. Sie mussten aber bald einsehen, dass die Taufe nicht ausreichte, um ihren gewohnten Tätigkeiten nachgehen und öffentliche oder kirchliche Ämter bekleiden zu können. Die bisherige religiöse Diskriminierung wandelte sich schnell in eine tiefere des Bluts und der Rasse. Schon Anfang des 16. Jahrhunderts wurde es für einen Juden praktisch unmöglich, in einem Spanien, in dem die «limpieza de sangre», die Reinheit des Bluts, zur Obsession geworden war, unbehelligt zu leben.
Delicado wusste also, wovon er sprach, als er auf die Gründung der Inquisition verwies, die in Rom noch nicht existierte. Sie wurde erst 1542 von Papst Paul III. eingeführt, um dem Eindringen der Reformation in Italien entgegenzuwirken. Die Lage der Juden in Rom war während des Pontifi kats von Julius II., als Delicado, wie er selbst angibt, nach Rom kam, sogar besonders günstig, denn der Leibarzt des Papstes, Samuele Zarfati, war ein Jude. Auch während des Pontifi kats Leos X. blieben sie unbehelligt. Die Denkschrift der beiden venezianischen Benediktiner Vincenzo Querini und Tommaso Giustiniani, die dem Papst 1513 vorschlugen, das spanische Vorbild der Judenvertreibung auf die ganze Christenheit auszudehnen, stieß auf taube Ohren. Die besonders von spanischen Forschern geäußerte Vermutung, Delicado sei ein zum Christentum übergetretener Jude, der deshalb so viel über die in Rom lebenden Juden wusste, wird auch durch seine präzise Kenntnis der römischen Synagogen erhärtet, die er nach ethnischen Kriterien unterscheidet. Er spricht von der katalanischen, deutschen, französischen, römischen, italienischen und spanischen Synagoge und weist auch auf die Feindseligkeit der römischen Juden gegenüber den spanischen hin. Delicado muss ein aus Andalusien stammender jüdischer Flüchtling gewesen sein, der ein sicheres Refugium in Rom gefunden hatte, weil er zum Christentum übergetreten war; ob schon in Spanien oder erst in Rom, ist unbekannt. Sicher ist, dass er sich in Rom sogar das Priestergewand überstreifte und einer Pfarrei vorstand, wenn auch einer kleinen und unbedeutenden, und enge Verbindungen zu seinen ins sichere Rom geflohenen jüdischen Landsleuten unterhielt, ohne jedoch ihren jüdischen Glauben zu teilen oder auch nur Sympathie für sie aufzubringen. Er stellt sie nie in ein günstiges Licht. Delicado war ein Dichter, für den nur die unverzichtbaren Werte der Literatur galten. Deshalb beschreibt er die Juden so, wie er sie sah, inmitten ihrer Tätigkeiten und Geschäfte.
Das beredteste Zeugnis für diese Haltung ist die Figur des Trigo, eines «gerissenen Juden». Auch er ist historisch dokumentiert. Der kastilische Trödler Semaio Trigo wohnte, wie wir aufgrund der römischen Volkszählung von 1526 wissen, im Rione Ponte als Vorstand eines Haushalts mit weiteren fünf Personen. Delicado präsentiert ihn als einen geschickten Kaufmann, der nur Seidenstoffe verkauft, nicht zu verwechseln mit dem Trödler nebenan, der nur Lumpen und Kerzenstummel feilbietet. Trigo ist es gelungen, sich Protektion an hohem Ort zu verschaffen, weshalb er von der Pflicht befreit ist, den gelben Stern, das Kennzeichen der Juden, zu tragen, wie es eine alte päpstliche Bulle vorschrieb. An ihn wendet sich nun Lozana, um mit seiner Hilfe und Garantie für sich eine Mietwohnung mit dem nötigen Mobiliar zu finden. Man hat ihr geraten, gleich mit Gold zu winken, und als Trigo dieses magische Wort hört, ist er wie elektrisiert und bietet Lozana sofort seine Dienste an. Diese zeigt ihm das Schmuckstück, das sie verkaufen möchte, und Trigo verspricht, einen Käufer dafür zu finden. Nun beginnt das große Feilschen, was Trigos Interesse und Sorge verrät, den höchstmöglichen Preis für seine Vermittlung herauszuschlagen. Die Verhandlungen enden mit der Gewährung eines mageren Vorschusses in der Erwartung eines guten Käufers, der sich nie zeigen wird. Delicado beschreibt Trigo also letztlich als den klassischen Betrüger, und es fällt dabei nicht ins Gewicht, dass er ein Jude ist wie er selbst. Nach dem gelungenen Coup ist Trigo auch gleich bereit, sich mit dem Anliegen Lozanas zu befassen und ihr eine Unterkunft zu beschaffen, die er ihr mit den Worten vorstellt: «Sie ist vollkommen in Ordnung und für sechs Monate bezahlt.» Er fügt noch hinzu, dass er ihr sofort jemanden schicken wird, der die von Trigo vorgestreckte Miete und dazu das Abendessen bezahlt. In der Tat erscheint kurz darauf ein Herr, der als «Kämmerer» bezeichnet wird und tatsächlich alle Kosten übernimmt, weil er Lozanas Liebesdienste in Anspruch nimmt. Als erfahrener Zuhälter schickt Trigo noch viele andere betuchte Herren zu Lozana, sodass diese durch ihn in den Kreis der ehrenwerten römischen Kurtisanen eintritt. Wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit und ihrer vornehmen Manieren ist die Nachfrage nach ihrer Gesellschaft sehr groß.
Neben den Juden interessieren Delicado also auch die Kurtisanen, denn sie sind Teil eines komplexen Ganzen, jenes «babylonischen» Roms, in dem jeder tut, was er will: «In Rom herrscht Freiheit. Jeder tut, was ihm beliebt, mag es gut oder schlecht sein. Wenn irgend jemand in Gold oder Seide gekleidet oder ganz nackt und barfuß, essend, lachend oder singend spazierengehen will, wird ihm niemand sagen, mag es noch so viele Augenzeugen haben: Ihr tut gut oder Ihr tut schlecht. Die Freiheit bedeckt aber viele Übel. Glaubt Ihr, man nennt umsonst Rom Babylon oder vielmehr wegen der Unordnung, die diese Freiheit verursacht? Seht Ihr nicht, daß man Rom eine Kurtisane nennt, weil es der Mantel ist, in den sich die Sünder hüllen? Daran sind besonders, um die Wahrheit zu sagen, die Fremden schuld; die Eingeborenen haben aber wenig vom alten Charakter, und so kommt es, daß Rom die Prostituierte und Konkubine der Fremden wird; wenn man ‹wehe› sagt, tut man recht.» In Delicados Sicht ist ganz Rom ein Bordell, im wahren wie im übertragenen Sinn. Das römische Volk respektiert kein Gesetz und keine Regeln; Diebstahl und Betrug sind an der Tagesordnung, jeder arrangiert sich, wie er kann, während die Justiz sich nur zeigt, wenn Steuern einzutreiben sind, selbst von den ärmsten Kurtisanen. Rom ist ein Freudenhaus, denn die Prostituierten, die aus ganz Europa nach dort strömen, sind ungleich