C.H.Beck
Vor knapp einem Vierteljahrhundert führten die Volksbewegungen in den ostmitteleuropäischen Staaten und in der DDR sowie der Zusammenbruch der Sowjetunion zum Ende des Kalten Krieges und zur Überwindung der Spaltung Europas. Der damalige Bundeskanzler Kohl nutzte die Gunst der Stunde zur Vereinigung Deutschlands, wobei allerdings die entscheidende Mitwirkung des Auswärtigen Amts und Hans-Dietrich Genschers als damaligem Außenminister in der öffentlichen Aufmerksamkeit vielfach ausgeblendet wurde. Dieses Buch des Doyens der deutschen Geschichtswissenschaft erhellt aus den erst jetzt zugänglichen Quellen die enormen Schwierigkeiten, die außenpolitisch – etwa in Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion – überwunden werden mussten, um auch durch den Ausbau der EG und die Schaffung der Europäischen Währungsunion zur internationalen Akzeptanz der deutschen Einheit und der Zugehörigkeit zur NATO zu kommen.
Gerhard A. Ritter, geb. 1929, ist Professor em. für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. als Honorary Fellow des St. Antony’s College, Oxford, und mit dem Preis des Historischen Kollegs 2007.
Von ihm ist bei C.H.Beck erschienen: Über Deutschland. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte (22000); Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats (22007) sowie Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk! Geschichte der deutschen Einigung (2009).
Vorwort
Einleitung
I. Gorbatschows Neues Denken und die deutsche Frage 1985–1989
II. Die deutsche Einigung und die vier Hauptsiegermächte bis zur Konferenz von Ottawa im Februar 1990
1. Reformbewegungen in Polen, Ungarn und der DDR bis zum Fall der Mauer
2. Kohl geht in die Offensive
3. Die Reaktion der Sowjetunion auf den Mauerfall und Kohls Zehn-Punkte-Programm
4. Premierministerin Thatcher lehnt eine deutsche Einigung ab
5. Präsident Mitterrands Furcht vor einer deutschen Einheit und sein Bemühen um Stabilisierung der DDR
6. Das Ringen um eine neue Europa- und Deutschlandpolitik in den Vereinigten Staaten
7. Die Sowjetunion und der Versuch zur Neubelebung der Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland
8. Die Krise in der DDR und das Angebot der Währungsunion
9. Die Sowjetunion akzeptiert die deutsche Einheit
10. Das Scheitern der Wiederbelebung der Entente cordiale und die Zustimmung Frankreichs und Großbritanniens zur deutschen Einheit
11. Die Weichenstellung von Ottawa und das Ende der Modrow-Regierung
III. Die deutsche Einheit in der internationalen Politik
1. Der deutsch-amerikanische Schulterschluss von Camp David und die Frage der polnischen Grenze
2. Erste Diskussionen über den militärisch-politischen Status eines vereinigten Deutschlands
3. Die Regierung de Maizière als neuer außenpolitischer Akteur – 4. Erste Kontakte der neuen DDR-Führung mit der Sowjetunion
5. Der Beginn der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen
6. Die Europäische Gemeinschaft und die deutsche Vereinigung
7. Bemühungen um eine Annäherung zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik
8. Der Sonderweg von DDR-Außenminister Meckel
9. Das Ringen um die sowjetische Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands
10. Die Fortsetzung der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen
11. Der Wandel der NATO
IV. Die deutsche Einigung
1. Der Durchbruch in Moskau und im Kaukasus Mitte Juli 1990
2. Die DDR-Außenpolitik im Juli/August 1990 und die Abwicklung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten
3. Die letzte Phase der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und der Vertrag zur Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einheit
V. Schlussbetrachtungen
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis
Quellen und Literatur
Zeittafel
Personenregister
Dieses Buch versucht aufgrund der Auswertung der in den letzten drei Jahren veröffentlichten Dokumentenbände zur deutschen Vereinigung und der Öffnung der Akten des Auswärtigen Amtes für die Forschung ein die bisherigen Darstellungen korrigierendes und differenzierendes Bild der internationalen Politik der deutschen Vereinigung 1989/90 zu zeichnen. Insbesondere für die Politik Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion, aber auch für die Außenpolitik der DDR-Regierung de Maizières, konnten die bisherigen Ergebnisse der Forschung wesentlich ergänzt werden. Für die bundesdeutsche Politik konnte die bisher stark auf die Rolle des Bundeskanzlers Kohl und des Bundeskanzleramtes konzentrierte Sicht durch die Herausarbeitung des bedeutenden Einflusses von Außenminister Genscher und des Auswärtigen Amtes korrigiert werden.
Der Verfasser dankt dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, insbesondere dessen Leiter Ludwig Biewer, seinem Stellvertreter Johannes Freiherr von Boeselager und den Archivarinnen Mareike Fossenberger und Andrea König für die äußerst hilfsbereite und kompetente Unterstützung.
Das Buch wurde zunächst als Aufsatz für die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte geplant und durch die Übersendung einiger Dokumentenbände durch den Chefredakteur der Zeitschrift Hans Woller unterstützt. Als sich jedoch bald herausstellte, dass durch die Verarbeitung des neuen Materials der Aufsatz viel zu umfangreich werden würde, haben Hans Woller und Thomas Schlemmer die Anregung gegeben, daraus ein kleines Buch zu machen. Ich danke dem Verlag C.H.Beck für die Aufnahme der Schrift in sein Programm, meiner Lektorin Christine Zeile für hilfreiche Anregungen und Frau Christin Hörnig für die schwierige Aufgabe, eine elektronische Fassung aus dem handschriftlichen Entwurf des Manuskripts zu machen.
Für anregende Gespräche über das Thema des Buches und die Übersendung der Fahnen seiner inzwischen erschienenen Schrift über die Alliierten in Berlin danke ich Armin Mitter. Ich bin weiter Anthony J. Nicholls für die Übersendung eines Manuskripts über die britisch-deutschen Beziehungen 1989/90, Andreas Hilger für die Einsicht in die Fahnen des von ihm inzwischen herausgegebenen Dokumentenbandes «Diplomatie für die deutsche Einheit» und Ilko-Sascha Kowalczuk für wertvolle Korrekturvorschläge nach seiner Durchsicht meines Manuskripts zu großem Dank verpflichtet.
Berlin, Juni 2012 |
Gerhard A. Ritter |
Dieses Buch zur internationalen Politik, die zur deutschen Einheit führte, versucht vor allem der Rolle des bundesdeutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher und des Auswärtigen Amtes gerecht zu werden.
Die wichtigste Quellenbasis für die deutsche Einigungspolitik bildet eine über 1600 großformatige Seiten umfassende, ausgezeichnete Sonderedition «Deutsche Einheit» aus den Akten des Bundeskanzleramtes.[1] Dabei handelt es sich vor allem um Gespräche, Briefe und die Aufzeichnung von Telefonaten des Bundeskanzlers mit europäischen und amerikanischen Staatsmännern sowie um Vertragsentwürfe, Berichte und Analysen seiner engsten Mitarbeiter. Diese Quellen werden ergänzt durch die Tagebuchaufzeichnungen von Horst Teltschik[2], dem engsten Berater des Kanzlers in Fragen internationaler Politik sowie Teilen des zweiten und dritten Bandes der Erinnerungen von Helmut Kohl.[3]
Diese einseitige Quellengrundlage hatte die Konsequenz, dass Bundeskanzler Kohl gleichsam überlebensgroß, nicht nur als der entscheidende, sondern fast als der einzige wichtige Akteur des Einigungsprozesses auf deutscher Seite erscheint. Dieses Bild ist für die Innenpolitik der Vereinigung durch die Herausarbeitung der zentralen Rolle des Bundesfinanzministeriums unter der Leitung von Theodor Waigel für die Vorbereitung und Durchsetzung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion[4], die Analyse der Bedeutung des Bundesarbeitsministeriums unter Norbert Blüm für die Sozialpolitik der Vereinigung[5] und die von Innenminister Schäuble für die Entstehung des Einigungsvertrages[6] ergänzt und modifiziert worden. Eine solche Korrektur für die Außenpolitik der deutschen Einigung, in die Kohl in sehr viel stärkerem Maße unmittelbar involviert war und die letzte Entscheidungsgewalt beanspruchte und durchsetzte, steht dagegen noch aus. Die hier im Mittelpunkt stehende Rolle Hans-Dietrich Genschers und des Auswärtigen Amtes blieb bisher trotz der teilweise sehr «diskreten» Erinnerungen von Genscher[7] und dem zusammen mit einem Journalisten verfassten Buch des Leiters des Ministerbüros von Genscher, Frank Elbe, vor allem über die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen[8] vergleichsweise blass. Aufgrund der in den letzten drei Jahren erfolgten Publikation bisher verschlossener Quellen und der Öffnung des Zugangs zu den Akten des Auswärtigen Amtes in Deutschland ist es heute möglich, ein sehr viel umfassenderes und differenzierteres Bild der Außenpolitik der deutschen Einheit zu zeichnen.
Zu den neu zugänglichen Quellen gehört die Veröffentlichung eines Bandes mit britischen Dokumenten zur deutschen Einheit[9], der Aufschluss über die Gespräche der britischen Premierministerin Thatcher und des französischen Staatspräsidenten Mitterrand zur Verhinderung oder Bremsung der deutschen Einheit gibt und zeigt, dass das Foreign Office, Außenminister Douglas Hurd und auch die britischen Botschafter in Bonn und Ost-Berlin, Sir Christopher Mallaby und Nigel H. R. A. Broomfield, die gegen die deutsche Einheit gerichtete Politik ihrer Regierungschefin durch eine konstruktivere Politik zu ersetzen versuchten und Großbritannien schließlich auf eine von den Vereinigten Staaten vorgegebene gemeinsame Linie des Westens festlegten.
Von französischer Seite wurde zum Teil als Antwort auf das Bild eines der deutschen Einheit sehr kritisch gegenüberstehenden französischen Präsidenten François Mitterrand 2011 eine Edition von Akten des französischen Außenministeriums vorgelegt[10], die im Wesentlichen Telegramme der französischen Botschaften – besonders aus Ost-Berlin und Bonn –, Aufzeichnungen über Gespräche mit dem Botschafter der Bundesrepublik in Paris sowie einige Analysen zur Deutschlandpolitik, vor allem des Zentrums für Analyse und Planung, enthält. Sie zeigen, wie genau die Entwicklung der DDR vom Quai d’Orsay beobachtet wurde. Leider durften aber Protokolle über die Gespräche Mitterrands mit anderen Staatsmännern, die im Präsidentenarchiv lagern, nicht publiziert werden und auch über die Gespräche von Außenminister Roland Dumas mit seinen Kollegen findet sich nur wenig.
Für die sowjetische Politik liegt ebenfalls seit 2011 eine vom Institut für Zeitgeschichte veröffentlichte, durch wesentliche weitere Dokumente ergänzte und editorisch gut erschlossene Übersetzung der zentralen sowjetischen Dokumente zur Deutschlandpolitik Gorbatschows von 1986 bis 1991 vor.[11] Dieser Band wird – leider nur für den Zeitraum ab Juni 1989 – ergänzt durch die Ende 2011 erfolgte Veröffentlichung zentraler Akten des Auswärtigen Amtes zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90 durch Andreas Hilger.[12] Von den 49 abgedruckten, gut kommentierten Dokumenten behandeln auch insgesamt fünf Gespräche Genschers mit Bush, Thatcher, Mitterrand, dem US-Außenminister Baker und dem DDR-Außenminister Markus Meckel. Den Kern bilden Aufzeichnungen von 22 Gesprächen Genschers mit dem sowjetischen Außenminister Eduard A. Schewardnadse. Schließlich wurde 2010 von Ines Lehmann[13] eine umfangreiche Dokumentation über die Außenpolitik der DDR 1989/90 vorgelegt, die vor allem auf den in der «Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur» in Berlin liegenden Papieren des von April bis August amtierenden DDR-Außenministers Markus Meckel, des Chefs seines Planungsstabes Ulrich Albrecht, aber auch der allerdings sehr selektiven Einsicht in die damals noch nicht generell zugänglichen Akten des Auswärtigen Amtes beruht, aus denen allerdings nicht zitiert werden durfte.
Einen entscheidenden Impuls für die weitere Forschung kann schließlich die 2009 erfolgte Öffnung der Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes zur deutschen Einheit geben. Die insgesamt 271 Aktenbände, die ich durch die Einsicht in einige Dokumentenbände vor allem zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen der Zeit von 1986 bis Mitte 1989[14] ergänzen durfte, erweitern und modifizieren das sich aus den publizierten Bänden ergebende Bild der deutsch-sowjetischen Beziehungen und bilden eine sehr viel breitere Grundlage für eine Darstellung der deutschen Politik gegenüber den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, der Europäischen Gemeinschaft, aber auch der deutsch-deutschen Beziehungen 1989/90. Eine Bemerkung sei vorausgeschickt: Bei den in Dokumentenbänden veröffentlichten oder im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zugänglichen Quellen handelt es sich oft um Aufzeichnungen über Gespräche zwischen führenden Staatsmännern, die nicht als Wortprotokoll auf Tonband aufgenommen wurden[15] und trotz des Bemühens um exakte Wiedergabe die Akzentsetzungen des Protokollanten widerspiegeln.
Es war seit der Kanzlerschaft Adenauers Gemeinplatz aller führenden Politiker in der Bundesrepublik, dass der Schlüssel zur deutschen Einheit in Moskau liegt. Die neue Ostpolitik der Regierung Brandt, die von der Regierung Helmut Schmidts und auch von der sozialliberalen Koalition unter Kohl und seinem die Kontinuität dieser Politik garantierenden Außenminister Genscher fortgesetzt wurde, hatte zwar zunächst zum Abbau von Spannungen mit Warschau, Moskau und Ost-Berlin geführt und Vertrauen geschaffen. Sie hat die Bundesrepublik aber dem ursprünglichen Ziel dieser Politik, einen Wandel in der DDR durch Annäherung zu bewirken und damit auch zur Lösung der deutschen Frage beizutragen, um keinen Schritt näher gebracht. Im Gegenteil, mit der einseitigen Konzentration auf die Beziehungen zu der nicht nur jede deutsche Einheit, sondern auch innere Reformen ausschließenden Führung der SED, hat sie unter Vernachlässigung oppositioneller Kräfte die DDR stabilisiert und die kommunistischen Führungskader in ihrer starren Haltung bestärkt.[1]
Eine Chance zur Änderung dieser unbefriedigenden Situation bot sich seit März 1985 durch die Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär des ZK der Sowjetischen Kommunistischen Partei. In klarer Erkenntnis der Stagnation der Sowjetunion und ihrer mangelnden Anpassung an die Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution und damit an den internationalen Wettbewerb setzte er sich für eine umfassende Wandlung des sowjetischen Systems durch Perestroika, dem Versuch einer Verbindung von Marx und Markt, und eine gestärkte Öffentlichkeit (Glasnost) ein. Diese Politik, die auch mit einer Verlagerung der Machtzentren von der Führung der Kommunistischen Partei auf staatliche Instanzen verbunden war[2], ist letztlich am Wiederaufflammen der lange unter der Decke schmorenden Nationalitätskonflikte und dem Fehlschlag der Wirtschaftsreformen gescheitert.[3] Der Versuch hat jedoch einen grundlegenden Wandel der Machtverhältnisse, das Ende des Kalten Krieges und die Überwindung der Spaltung Europas und Deutschlands bewirkt. Das war von Gorbatschow, der wie der «Zauberlehrling»[4] in Goethes berühmtem Gedicht die von ihm ausgelösten Prozesse nicht mehr kontrollieren konnte, und seinen engsten Mitarbeitern nicht beabsichtigt worden.
Die Politik der Perestroika beruhte auf der Einsicht, dass die Krise der Sowjetunion nur durch den massiven Abbau des militärisch-industriellen Komplexes überwunden werden könne. Das hatte entscheidende Konsequenzen für die Außenpolitik. Die Begrenzung der Rüstungen wurde zu einem zentralen Anliegen der sowjetischen Politik. Ein Ergebnis dieser neuen Politik, die statt der bloßen Koexistenz unterschiedlicher politischer Systeme langfristig auf die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Staaten unterschiedlicher Systeme vor allem in Europa setzte, war der Rückzug sowjetischer Truppen im Frühjahr 1989 aus Afghanistan und damit der Abbau einer kostspieligen Hypothek, die die Manövrierfähigkeit der Sowjetunion bisher begrenzt hatte. Ein entscheidendes Element des Neuen Denkens in der Außenpolitik war die Aufgabe der Breschnew-Doktrin, also der notfalls gewaltsamen Verhinderung eines Systemwechsels in einem kommunistischen Staat im sowjetischen Einflussbereich. Damit wurde die freie Wahl eines eigenen politischen Weges für jedes Land, wie sie vor allem in Polen und schließlich auch von Ungarn gefordert wurde, zur offiziellen Politik der im Warschauer Pakt zusammengeschlossenen sozialistischen Staatengemeinschaft.
Es war klar, dass eine Politik der Rüstungsbegrenzung nicht ohne die Vereinigten Staaten umgesetzt werden konnte. Aber auch Westeuropa erhielt für die Sowjetunion einen neuen Stellenwert. Zum einen zur Beeinflussung der Vereinigten Staaten, zum anderen aber wegen der Befürchtung, dass die Sowjetunion durch die zunehmende wirtschaftliche Integration in der Europäischen Gemeinschaft in eine Randposition gedrängt werden könnte. Dagegen entwickelten Gorbatschow und Schewardnadse das allerdings immer etwas vage bleibende Konzept eines «Gemeinsamen Europäischen Hauses», einer gesamteuropäischen Friedensordnung, in der auch der Antagonismus der militärischen Blöcke der NATO und des Warschauer Paktes überwunden werden sollte.[5] Die Schwäche dieser Konzeption lag darin, dass sie letztlich mit der Spaltung Deutschlands und dem Fortbestehen der unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Systeme in der Bundesrepublik und der DDR unvereinbar war.
Die Bundesrepublik spielte in dieser Politik zunächst so gut wie keine Rolle. Vor allem aufgrund des Nachrüstungsbeschlusses des Deutschen Bundestages im November 1983 wurden die politischen Beziehungen zur Bundesrepublik Anfang 1984 eingefroren.[6] Nach dem Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 27.3.1986 bemerkte Gorbatschow, dass «der Kurs, den politischen Dialog mit Kohl zu begrenzen», richtig war und weiter verfolgt werden sollte. Diese Linie gegenüber der BRD halte «auch die DDR im Zaum». Die «Abreibung für Kohl» würde zudem von den westlichen Führern gut geheißen. Man müsse «dem Kanzler noch eine Lektion erteilen» und «die Positionen von Brandt und Schmidt» berücksichtigen. Allerdings müsse man die Sachzusammenarbeit in anderen Bereichen – gedacht war vor allem an Wirtschaft und Wissenschaft – fortsetzen und auch bedenken, «dass die BRD eine gewaltige Macht ist» und man mit ihr als «Faktor auf der europäischen und weltpolitischen Ebene rechnen» müsse.[7]
Die Aufweichung der harten Position gegenüber der Bundesrepublik erfolgte in einem dreistündigen Gespräch vom 21.7.1986 zwischen Gorbatschow und Außenminister Genscher, das auf diesen einen «tiefgreifenden Eindruck» machte.[8] In der sowjetischen Aktenpublikation nur in zwei Dokumenten kurz erwähnt[9], wird es in den Akten des Auswärtigen Amtes ausführlich wiedergegeben.[10] Gorbatschow kritisierte den Gegensatz zwischen den friedfertigen Erklärungen der Bundesrepublik und ihren politischen Taten. Genscher wies auf die Gemeinsamkeit der Interessen am Abbau von Rüstungen, die im Mittelpunkt des Gespräches standen, hin. Er ging positiv auf Gorbatschows Konzept der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung und der Entwicklung kooperativer Strukturen zur Überwindung des Gegensatzes zwischen den militärischen Blöcken ein und betonte, dass innerhalb des NATO-Bündnisses wie auch in der Europäischen Gemeinschaft die Bundesrepublik sich intensiv für die Verbesserung der West-Ost-Beziehungen einsetze. Er betonte die Unverletzlichkeit der Grenzen, bemerkte aber, dass man sich nicht das «Gemeinsame Europäische Haus» als «geteilt» vorstellen könne. Zwar könnten sich darin «unterschiedliche und gegensätzliche Gemeinschaften» einrichten, aber die Grenzen zwischen ihnen – eine deutliche Anspielung auf die deutsch-deutsche Grenze und die Berliner Mauer – müssten ähnlich wie zwischen der Bundesrepublik und Österreich offen sein. Gorbatschow berichtete von einem Gespräch, das er auf einer Reise durch die Bundesrepublik 1975 mit einem Tankwart geführt habe, der ihn an Stalins Worte «die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt», erinnert habe; worauf er erwidert habe, dass nicht die Sowjetunion, sondern Churchill Deutschland gespalten habe und die Bundesrepublik vor der DDR gegründet worden sei. Genscher konterte mit dem Hinweis, dass das stalinsche Zitat fortfahre, dass auch das Deutsche Reich weiter bestehen bleibe.[11] Genscher bemerkte, dass die Frage schließlich durch die Geschichte und «alle Deutschen» beantwortet werden müsse, dass man aber jetzt daran arbeiten sollte, den bestehenden Grenzen ihre Bedeutung zu nehmen. Als Ergebnis des Besuches, der durch ausführliche Gespräche Genschers mit Schewardnadse ergänzt wurde, meinte Gorbatschow, dass man eine «neue Seite» in den gegenseitigen Beziehungen aufschlagen solle. Schewardnadse, der die Unterredung Genschers mit dem sowjetischen Parteiführer als «ein großes Gespräch über große Politik» bezeichnete[12], sprach davon, dass man ein «neues Fundament» legen sollte. Konkrete Ergebnisse des Besuches waren die Unterzeichnung eines Rahmenabkommens über die wirtschaftlich-technische Zusammenarbeit, die Paraphierung weiterer Abkommen der zuständigen Ressorts über Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie, in der Agrarforschung, im Gesundheitswesen und in der medizinischen Wissenschaft sowie Absprachen über regelmäßige Konsultationen der Außenminister und Konsultationen über politische Fragen und Fragen der Rüstungskontrolle auf der Ebene der Abteilungsleiter.
In der Bewertung des Besuches durch den Leiter der politischen Abteilung 2 des Auswärtigen Amtes Gerold von Braunmühl wird vor «Euphorie» gewarnt und festgestellt, dass die Sowjetunion weiterhin ein «harter und schwieriger Gegner» bleibe und die Bundesrepublik hinsichtlich der Wandlungsfähigkeit der Substanz sowjetischer Innen- und Außenpolitik keine «sehr großen Erwartungen» hegen dürfe. Immerhin habe aber die Sowjetunion die bisherige «Ungleichbehandlung» gegenüber der Bundesrepublik aufgegeben bzw. erheblich nivelliert. Man habe die Bundesrepublik als Europäer angesprochen und umworben und damit auch die Erwartung verbunden, dass die Westeuropäer auf die Vereinigten Staaten einwirken. «Fortschritte in der Rüstungskontrolle, insbesondere im konventionellen Bereich, sind ohne uns nicht zu machen und Vorstellungen eines ‹Systems der internationalen Sicherheit› … können zumindest in Europa auch nicht ohne uns entwickelt werden.»[13]
Die Hoffnungen auf eine grundlegende Verbesserung der bilateralen Beziehungen wurden jedoch zunächst enttäuscht. Die sowjetischen Vertreter bemängelten, dass die Verträge nicht genügend mit konkretem Inhalt gefüllt wurden. Sie wollten zudem in der Hoffnung auf einen SPD-Sieg das Ergebnis der schließlich die christlichliberale Koalition bestätigenden Bundestagswahl vom 25. Januar 1987 abwarten. Vor allem aber hatte das als ein Schlag ins Gesicht von Gorbatschow empfundene Interview Kohls für das amerikanische Magazin Newsweek vom Oktober 1986, in dem Kohl die propagandistische Meisterschaft des sowjetischen Generalsekretärs mit der des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels verglich, die Beziehungen belastet.[14] Die in einem vertraulichen Hintergrundgespräch gemachten Äußerungen Kohls waren ein auch von diesem später bedauertes «Kommunikationsdesaster».[15] Sie entsprachen aber auch der zunächst von starkem Misstrauen gegenüber Gorbatschow geprägten Haltung Kohls und dessen Skepsis über die Erfolgsaussichten des sowjetischen Reformprogramms. Die scharfe Reaktion der sowjetischen Diplomatie auf Kohls Interview schloss jedoch weitere Kontakte Schewardnadses mit Genscher, der von Anfang an Gorbatschow sehr viel positiver beurteilte und dessen Eintreten für die Abrüstung man in der Sowjetunion mit Wohlwollen registrierte, nicht aus. Auch wollte man die Bundesrepublik nicht allein der DDR überlassen. In Moskau war man sich Ende 1986 der Schwäche der Position Honeckers, für den die Perestroika eine Abweichung vom Leninismus bedeutete, bewusst. So bemerkte Gorbatschow in einem Gespräch mit Beratern am 29.9.1986: «Alle sozialistischen Länder sind verwundbar – wir können sie alle verlieren. Die DDR ist stärker als die anderen, aber einer Vereinigung mit der BRD kann sie nicht widerstehen, d.h. auch auf Kosten des Sozialismus.»[16]
Genscher hat in einer Unterredung mit Schewardnadse am Rande einer Wiener KSZE-Folgekonferenz am 4.11.1986 versucht, das von Kohl nicht autorisierte «Goebbels-Interview» unter Hinweis auf dessen Distanzierung von seinen angeblich falsch wiedergegebenen Äußerungen in einem Interview für die Welt am 2.11.1986 zu entschärfen.[17] Knapp drei Monate später forderte er in einer vielbeachteten, von manchen Zeitgenossen als moderne Spielart der Appeasement-Politik und des «Genscherismus» kritisierten Rede in Davos am 1.2.1987 den Westen zur Zusammenarbeit mit Gorbatschow auf: «Nehmen wir Gorbatschow ernst, nehmen wir ihn beim Wort.»[18]
Eine deutliche Entspannung der deutsch-sowjetischen Beziehungen wurde schließlich durch den Besuch von Bundespräsident Weizsäcker in Moskau vom 6. bis 11. Juli 1987 bewirkt. In einem Gespräch vom 7. Juli, das in den sowjetischen Dokumenten[19] wie auch in den Akten des Auswärtigen Amtes ausführlich dokumentiert wird, standen bilaterale Fragen im Mittelpunkt. Gorbatschow beschwerte sich darüber, dass die neue Seite, die man nach dem Besuch von Genscher aufschlagen wollte, unausgefüllt geblieben sei und selbst die Entwicklungen der 1970er-Jahre in Gefahr gerieten.[20] Die Sowjetunion sei sich des Gewichtes und des Potenzials der Bundesrepublik und ihrer Möglichkeiten, «sich an den Veränderungen zum Besseren der Gesamtlage in der Welt und in Europa» zu beteiligen, bewusst und zu einem «ernsthaften, dauerhaften und fundierten politischen Dialog» mit ihr bereit.[21] Weizsäcker griff Gorbatschows Gedanken eines «Gemeinsamen Europäischen Hauses» positiv auf, unterstrich die deutsche Unterstützung der Perestroika und des Wunsches enger Zusammenarbeit der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft mit der Sowjetunion. Es war dann Gorbatschow, der Äußerungen in der Bundesrepublik, dass die «deutsche Frage» offen sei und dass die Vereinbarungen von Jalta und Potsdam «unrechtmäßig» wären, mit scharfer Kritik als eine Abwendung von den Ostverträgen ansprach. Man habe Zweifel daran, ob die Führung der BRD gesonnen sei, sich konsequent an den Moskauer Vertrag zu halten, «oder ob sie die Linie verfolgt, ihn mit ihrer praktischen Politik auszuhöhlen». Weizsäcker betonte die Vertragstreue der Bundesrepublik, wies aber auf die Zugehörigkeit der Deutschen zu einer Nation hin, die als «Motor auf dem Weg des Fortschritts in Europa» und nicht als «Quelle von Störungen oder Hindernissen» angesehen werden sollte. Gorbatschow wollte sich auf philosophische Diskussionen über den Begriff der Nation nicht einlassen, unterstrich aber den politischen Aspekt, dass es zwei deutsche Staaten mit unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnung gibt und jeder seinen «Beitrag zur Sache Europas und des Friedens leisten» könne.[22] Im deutschen Protokoll, aber nicht im sowjetischen Bericht wird ergänzt, dass Gorbatschow eingeräumt habe, «daß über die Lage in Europa und in der Welt in hundert Jahren die Geschichte entscheiden werde». Er habe aber auch ganz deutlich gemacht, wie er sich unsere Rolle heute vorstellt. «Wenn Sie einen anderen Weg einschlagen, dann ist das sehr gefährlich. Hier muß volle Klarheit bestehen.»[23]
Genscher hat aus dem Hinweis auf die Geschichte in der Nachbetrachtung mit dem von Gorbatschows Äußerungen enttäuschten Bundespräsidenten gefolgert, dass Gorbatschow zwar einen langen Zeitraum vorsehe, «im Grunde habe er damit aber gesagt, die deutsche Frage sei offen. Das sei die eigentliche Botschaft.»[24] Eine derart optimistische Wertung findet in den zeitgenössischen Analysen dieses Gespräches jedoch keine Stütze. Im Protokoll einer Sitzung des Politbüros vom 16.7.1987 betonte Gorbatschow, dass man den Deutschen zu verstehen gegeben habe, «dass wir mit einer Revision der Ergebnisse des Krieges nicht einverstanden sind».[25] In der insgesamt durchaus positiven Bewertung des Besuchs im Auswärtigen Amt wird das Aufwerfen der deutschen Frage durch den Gastgeber einerseits als Reaktion auf bundesdeutsche Diskussionen, die Frage der Wiedervereinigung zur Sprache zu bringen und Spekulationen über das Ausspielen der deutschen Karte durch die Sowjetunion interpretiert. Darin sah man ferner auch eine Antwort auf Ratschläge zur Aufgabe des Wiedervereinigungsanspruchs zum Beispiel in der Wochenschrift Die Zeit. «Den einen sollte eine Lektion erteilt, die anderen sollten ermuntert werden. Gorbatschow machte klar, daß auch im Zuge des ‹Neuen Denkens› bezüglich Wiedervereinigung keine Änderung erwartet werden darf. Dies geschah eindeutig und ohne taktische Winkelzüge.» Die «schroffe sowjetische Klarstellung» habe immerhin den Vorzug, «daß sie weiteren Spekulationen darüber, die SU werde in nächster Zeit die deutsche Karte ausspielen, den Boden entzieht».[26]
Schewardnadse hat später in seinem 1993 veröffentlichten Buch «Die Zukunft gehört der Freiheit» ausgeführt, dass er schon 1986 über die deutsche Einheit nachgedacht habe[27] und der außenpolitische Berater Gorbatschows Anatolij Tschernjajew deutet an, dass auch Gorbatschow die Trennung der großen deutschen Nation «auf immer und ewig als unnatürlich» empfunden habe.[28] Obwohl es offenbar in den Institutionen der KPdSU seit etwa 1986 Diskussionen über eine mögliche deutsche Vereinigung gab, findet sich jedoch in den Quellen kein Hinweis darauf, dass vor dem Fall der Mauer am 9.11.1989 von führenden sowjetischen Politikern eine Aufgabe der DDR oder eine Einheit Deutschlands ernsthaft in Erwägung gezogen wird.
In den folgenden Monaten und Jahren ist die deutsche Frage immer wieder von bundesdeutschen Politikern bei Gesprächen in Moskau angeschnitten worden. Franz Josef Strauß führte in einem aufschlussreichen Gespräch mit Gorbatschow am 29.12.1987 aus, dass wir «die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands» nicht forcieren. «Es können zehn, fünfzig oder hundert Jahre vergehen. Aber wir wissen, dass sich der Schlüssel zur Lösung dieses Problems in Moskau und nicht in Washington befindet.»[29] Schon vor dem Besuch von Strauß hatten sich die bilateralen Beziehungen, vor allem aufgrund der bundesdeutschen Unterstützung eines Abkommens über die weltweite Abschaffung der auf dem Land stationierten nuklearen Mittelstreckenraketen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern, entspannt. Es war der Sowjetunion natürlich bekannt, dass sich insbesondere Genscher, aber schließlich auch der zunächst zögerliche Kohl, gegen erhebliche Widerstände in der CDU/CSU für die doppelte Nulllösung und auch für den Verzicht auf die im Besitz der Bundeswehr befindlichen 72 Pershing-Ia-Raketen, deren atomare Sprengköpfe allerdings im amerikanischen Gewahrsam waren, in der Bundesrepublik eingesetzt hatten.[30]
In dem von langer Hand vorbereiteten, endlich am 24.10.1988 zustande gekommenen Besuch des Kanzlers in Moskau sprach Kohl pflichtbewusst die deutsche Frage als ein Problem an, in dem man nicht übereinstimme. «Wir Deutschen sagen, daß die Teilung nicht das letzte Wort der Geschichte ist … Vielleicht muß man sehr lange warten … Wenn wir sagen, dass die Nation eine Einheit ist, dann haben wir eine Chance im Blick, die sich vielleicht in einigen Generationen eröffnen kann.» Gorbatschow bemerkte dazu, dass die Geschichte so entschieden hat, dass die Realität der Teilung entstanden ist. «Wenn man sagt, dass die Frage der Vereinigung offen sei, wenn man sie auf dem Niveau des politischen Denkens der 40er und 50er Jahre lösen möchte, dann ruft dies nicht nur bei uns, sondern auch bei ihren Nachbarn im Westen eine Reaktion hervor. Einerseits werden die Realitäten anerkannt, andererseits wird andauernd die Vergangenheit wiederbelebt. Kann man einer Regierung trauen, wenn sie Ansprüche an ihre Nachbarn aufrechterhält?»[31]
Der Gegenbesuch Gorbatschows in der Bundesrepublik Mitte Juni 1989 wurde zu einem Triumphzug des sowjetischen Generalsekretärs, der von der deutschen Bevölkerung begeistert als Reformer der Sowjetunion und Mann des Friedens empfangen wurde. In der «Gemeinsamen Erklärung» der Bundesrepublik und der Sowjetunion vom 13. Juni[32] einigten sich die beiden Staaten zur Überwindung der Spaltung Europas auf ein umfassendes Programm der Zusammenarbeit zur Sicherung des Friedens und des Abbaus von Rüstungen, zum Schutz der Umwelt, zur Verwirklichung der Menschenrechte, zum stufenweisen Aufbau der gesamteuropäischen Zusammenarbeit und der verstärkten wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technologischen Kooperation. Im deutschen Interesse war insbesondere die ausdrückliche Respektierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Staaten. Nach Gorbatschow, der auch die Einwirkung Europas auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen hervorhob, spielten auf «dem europäischen Kontinent offenkundig die Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD eine Schlüsselrolle». Von ihnen hinge «die Zukunft Europas» ab.[33] Die neue, ausgesprochen positive Bewertung der Beziehungen zur Bundesrepublik beruhte nicht zuletzt darauf, dass es Außenminister Genscher, der in einem längeren Gespräch den amerikanischen Außenminister Baker für seine Position gewann, mit der schließlich auch von Kohl gewährten Unterstützung gelang, auf der NATO-Gipfelkonferenz in Brüssel vom 29./30. Mai 1989 den drohenden Beschluss zur Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenraketen, die wegen ihrer Reichweite besonders die DDR, Polen und die CSSR gefährdet hätten, bis 1992 zu verschieben[34] und damit – wie sich später zeigen sollte – endgültig zu verhindern.
Die Frage der deutschen Einheit wurde in den Diskussionen nur am Rande mit der Bemerkung Kohls, dass er keinen Sinn darin sehe «über diese Sache von morgens bis abends zu streiten», angesprochen.[35] Im Übrigen betonte der Bundeskanzler, der die Reformunwilligkeit Honeckers scharf kritisierte und sie für die Spannungen in der DDR verantwortlich machte, dass er kein Interesse an der Destabilisierung der DDR habe.[36] In seinen Memoiren erwähnt Kohl, dass er bei einem gemeinsamen, nur von einem Dolmetscher begleiteten Spaziergang am Rhein auf den Fluss gezeigt und zu Gorbatschow gesagt haben soll: «Schauen Sie sich den Fluss an, der an uns vorbeiströmt. Er symbolisiert die Geschichte; sie ist nichts Statisches. Sie können diesen Fluss stauen, technisch ist das möglich. Doch dann wird er über die Ufer treten und sich auf andere Weise den Weg zum Meer bahnen. So ist es auch mit der deutschen Einheit. Sie können ihr Zustandekommen zu verhindern suchen. Dann erleben wir beide sie vielleicht nicht mehr. Aber so sicher wie der Rhein zum Meer fließt, so sicher wird die deutsche Einheit kommen – und auch die europäische Einheit … Michael Gorbatschow hörte sich meine Überlegungen an, widersprach mir nicht mehr.»[37]
Hans-Dietrich Genscher hat in einem 1993 geschriebenen Vorwort zu dem vom Leiter seines Ministerbüros mitverfassten Buch über den diplomatischen Weg zur deutschen Einheit ausgeführt, dass die Chance der deutschen Vereinigung keine Laune des Schicksals, sondern «die Frucht einer mühevollen, langfristig angelegten und mit langem Atem verfolgten Politik der Überwindung der Spaltung Europas mit dem Ziel, damit auch die deutsche Teilung zu beenden», gewesen sei.[1] Diese Wertung hält der Überprüfung nicht stand. Gewiss hat die deutsche Politik mit der Ablehnung der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR, dem Beharren auf dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und dem Festhalten an der gemeinsamen Staatsbürgerschaft der Menschen beider deutscher Staaten gegen erhebliche Widerstände von Teilen der Politik, der Wissenschaft und der öffentlichen Meinung die Option auf eine Wiedervereinigung bewusst offen gehalten. Eine operative Politik zur Schaffung der Einheit hätte aber bis zum Frühjahr 1989 nur Misstrauen erweckt und keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Aber auch danach hat die Bundesrepublik – anders als die Vereinigten Staaten – die Chancen, die in den Wandlungsprozessen in Polen und Ungarn und schließlich auch im Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung in der DDR lagen, lange nicht erkannt und erst unmittelbar vor dem Fall der Mauer eine operative Politik zunächst zur Reform der DDR und bald auch zur Gewinnung der deutschen Einheit entwickelt. Diese hat sie dann allerdings mit großem Geschick flexibel gegen widerstrebende Interessen der alten Machteliten der DDR und gegen Widerstände in der Sowjetunion aber auch in Frankreich und Großbritannien zum Erfolg geführt.
Die von Reformkräften in der kommunistischen Partei ausgehende Transformation des politischen Systems in Ungarn führte schließlich am 2. Mai 1989 zur Ankündigung des Abbaus der Grenzsperren mit Österreich und am 11.9.1989 zur Öffnung der Grenze für Ostdeutsche. Eine entscheidende Triebkraft der Entwicklung war der Beitritt Ungarns zur Genfer Flüchtlingskonvention im März 1989, die als Stärkung rechtstaatlicher Verfahren eine Vorbedingung dafür war, dass das hoch verschuldete Land neue Kredite aus dem Westen erhielt. Ungarn war damit verpflichtet, Flüchtlinge, die in ihrem Herkunftsland Verfolgungsmaßnahmen zu erwarten hatten, nicht mehr auszuliefern. Tatsächlich ist am 12. Juli 1989 letztmals ein nach Ungarn geflüchteter Bürger der DDR an die Stasi übergeben worden. Am 27. Juni wurde vom ungarischen Außenminister Gyula Horn und seinem österreichischen Kollegen Alois Mock der Stacheldrahtzaun zwischen den beiden Ländern symbolisch zerschnitten. Bei einem «paneuropäischen Picknick» an der ungarisch-österreichischen Grenze am 19. August wurde demonstrativ ein Grenzübergang geöffnet, durch den etwa 800–900 Ostdeutsche nach Österreich fliehen konnten.[2]
Die Entwicklung in Ungarn ist von der Bundesregierung genau beobachtet worden[3] und nach einem Geheimtreffen von Kohl und Genscher mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Németh und seinem Außenminister Horn im Schloss Gymnich bei Bonn[4] am 25.8.1989 durch Kreditgarantien des Bundes, Baden-Württembergs und Bayerns in Höhe von insgesamt einer Mrd. DM und durch Eintreten für weitere Hilfen durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank unterstützt worden. Auch nach dem Fall der Mauer hat Genscher in seinen Gesprächen in Washington und im Kreis der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft darauf hingewiesen, dass durch die Veränderungen in der DDR Entwicklungen in Polen und Ungarn nicht in den Hintergrund geraten dürften und die Reformen in Mittel- und Osteuropa breiteste Unterstützung brauchten.[5]
Auch bei der Vermittlung der Ausreise der in die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau geflüchteten Bürger der DDR in die Bundesrepublik war die Bundesregierung – vor allem Genscher – erfolgreich tätig geworden. Damit ging die Bundesrepublik über ihre bisherige, noch am 8. August 1989 von ihrer Ständigen Vertretung in Ost-Berlin praktizierten Haltung, die Schließung der Vertretung zur Verhinderung der Aufnahme weiterer Flüchtlinge und Versuche, diese zur Rückkehr in die DDR ohne Zusicherung ihrer Ausreise zu bewegen, hinaus. Nun wird die von der DDR geforderte Schließung der bundesdeutschen Botschaften in Warschau, Prag und Budapest abgelehnt und mit dieser offensiveren Politik die Ausreise der Flüchtlinge in die Bundesrepublik erreicht. Genscher hatte für das Einlenken der DDR in der Frage der Prager Botschaftsflüchtlinge sogar die Unterstützung Schewardnadses gewonnen.[6]
In Polen hatten nach der erneuten Zulassung der Solidarność und der Bildung eines Runden Tisches aus Vertretern der Opposition und der Regierung im Juni 1989 halbfreie Wahlen stattgefunden, die mit einem Erdrutschsieg der Opposition endeten, und im August 1989 zur Bildung einer von der bisherigen Opposition dominierten Regierung unter Tadeusz Mazowiecki führten. Mit dem seit Langem mit Problemen der Deutschlandpolitik eng vertrauten neuen Außenminister Krzysztof Skubiszewski konnte die Ausreise der Flüchtlinge aus der Botschaft in Warschau problemlos geklärt werden.[7] Die Entwicklung in Ungarn, vor allem aber in Polen, war eine Inspiration und entscheidende Unterstützung für die Bürgerrechtsbewegung in der DDR[8], die durch die Massenflucht ihrer Bürger im Ausland und im eigenen Lande delegitimiert wurde.
Die Bundesregierung hat lange gezögert, auf die neuen Entwicklungen in Osteuropa und in der DDR adäquat zu reagieren. Noch am 5. September 1989 beschrieb Kohl in einer Rede im Deutschen Bundestag, das «Verhältnis der beiden deutschen Staaten in Deutschland zueinander» als «ein wesentliches Element der Stabilität in Europa. Angesichts mancher Stimmen» könne er nur «warnend sagen: Wer diese Stabilität gefährdet, muß wissen, welche Folgen dies für alle Beteiligten hätte».[9] Wenige Tage später hat Kohl dann auf dem Bremer Parteitag der CDU vom 11. bis 13.9.1989, auf dem er den geplanten Putsch gegen seine Führungsrolle in der Partei und der Bundesregierung auch durch die sensationelle Nachricht von der Öffnung der ungarischen Grenze niederschlagen konnte, in einer emotionalen Botschaft, aber ohne Entwicklung konkreter Vorschläge das Deutschlandthema aufgegriffen und damit versucht, es für die 1990 fälligen Bundestagswahlen zu besetzen.[10] Es ist aber kennzeichnend, dass trotz der dramatischen Entwicklungen in Polen, Ungarn und auch in der DDR im Bundestag zwischen dem 14. September, als die Flüchtlingsbewegung aus der DDR in einer aktuellen Stunde diskutiert wurde, und dem 8. November keine Debatte über deren Konsequenzen für die Deutschlandpolitik stattfand.[11]
Erst Anfang November lässt sich angesichts der Forderung der DDR nach massiver finanzieller Unterstützung der Bundesrepublik zur Durchsetzung einer neuen liberaleren Reiseregelung[12] dann ein konzeptioneller Wandel der Deutschlandpolitik des Bundeskanzlers feststellen. In einer Regierungserklärung vom 8. November deutete Kohl seine Bereitschaft an, einen «Weg des Wandels» in der DDR zu unterstützen, machte aber eine umfassende Hilfe von einer grundlegenden Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der DDR abhängig: «Die SED muß auf ihr Machtmonopol verzichten, muß unabhängige Parteien zulassen und freie Wahlen verbindlich zusichern.»[13]
Mit dem Fall der Mauer einen Tag später war – wie wir heute wissen – das Schicksal des zweiten deutschen Staates besiegelt. Gorbatschow, die Vertreter der Sowjetunion in der DDR, aber auch die Bundesregierung, wurden offensichtlich vom Mauerfall völlig überrascht. Obwohl die Westberliner Senatsverwaltungen schon erste Vorbereitungen zur Bereitstellung der erforderlichen Transport- und Aufnahmekapazität getroffen hatten, hatten sie jedoch den Ansturm von Bürgern aus Ost-Berlin und der DDR erst im Dezember – nach der Verabschiedung eines von der SED-Spitze erörterten neuen Reisegesetzes – erwartet.[14] Kohl, der am 9. November 1989 mit einer achtzigköpfigen Delegation auf eine lange vorbereitete wichtige Reise zur grundlegenden Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen gestartet war, war ebenfalls von der Form der Öffnung der Mauer durch die spontane Aktion der Ost-Berliner und deren unerwartet frühen Zeitpunkt überrumpelt. Günter Schabowski, seit 1986 Mitglied des Politbüros und seit 1985 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, hatte im Internationalen Pressezentrum der DDR in der Mohrenstraße in einer live übertragenen Pressekonferenz auf eine Frage des Chefkorrespondenten der italienischen Nachrichtenagentur ANSA Riccardo Ehrman geantwortet, dass der Entwurf eines neuen Reisegesetzes «sofort, unverzüglich» in Kraft trete und damit den Sturm auf die Grenzübergänge in Berlin ausgelöst.[15] Genau zu diesem Zeitpunkt hat Kohl eine Unterredung in Warschau mit dem berühmten Gründer und Vorsitzenden der unabhängigen polnischen Gewerkschaft Solidarność Lech Walesa beendet. Aus diesem Gespräch ging die tiefe Besorgnis von Walesa über die dramatische Zuspitzung der Situation in der DDR hervor. «Er frage sich, was geschehen werde, wenn die DDR die Grenzen voll öffne und die Mauer abreiße – müsse dann die Bundesrepublik Deutschland sie wieder aufbauen?»[16]
Auf die Nachricht von der Öffnung der Mauer hat Kohl am 10. November seine Polenreise für einen Tag unterbrochen und ist über Hamburg und von dort mit einer amerikanischen Militärmaschine nach Berlin geflogen. In einer von der SPD initiierten Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus, in der der Berliner Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD) zum Ärger von Kohl vom «Volk der DDR» sprach und damit die Zweistaatlichkeit Deutschlands betonte, wurde Kohl ausgepfiffen.[17]
Am 10.11. appellierte Gorbatschow über seinen Bonner Botschafter Kwizinskij in einer von Teltschik dem Bundeskanzler während der Veranstaltung übermittelten Botschaft, alles zu unternehmen um ein Chaos und einen Sturm empörter Menschen auf die Einrichtungen der Sowjetunion in der DDR zu verhindern. Offenbar war Gorbatschow von den Geheimdiensten der Sowjetunion und der DDR, die eine militärische Intervention sowjetischer Streitkräfte und der NVA in Betracht zogen, alarmiert worden. Kohl gelang es Gorbatschow zu beruhigen.[18]
Tatsächlich war die Friedfertigkeit der Revolution in der DDR eine entscheidende Vorbedingung ihres Erfolges. Gorbatschow hatte am gleichen Tag auch in einer Botschaft an die Staats- bzw. Regierungschefs der drei Westmächte[19] die Befürchtung geäußert, dass eine «chaotische Situation … mit unvorhersehbaren Konsequenzen» eintreten könne. Er appellierte an Kohl, Maßnahmen zur Stabilisierung der Situation zu ergreifen und drängte auf eine Kontaktaufnahme der Botschafter der Vier Mächte in Berlin. Gorbatschow betonte die Tiefe und Ernsthaftigkeit der in der DDR stattfindenden Veränderungen. Es gebe aber Stimmen in der Bundesrepublik, die die Emotionen hochpeitschten und in unverantwortlicher Weise die Nachkriegsrealität der Existenz zweier deutscher Staaten ablehnten und damit den dynamischen Prozess der Demokratisierung und Erneuerung in der DDR unterminierten.[20]
Vom Auswärtigen Amt wurde einen Tag nach dem Mauerfall als Sprachregelung den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik mitgeteilt[21], dass die DDR-Bevölkerung mit «Würde und Besonnenheit» reagiert habe, dass es keine Panik und keine Übergriffe gebe und dass der weitere Ablauf der Ereignisse in der Hand der Deutschen in der DDR liege. «Der Respekt vor ihrem Freiheitswillen» gebiete es, «daß wir nicht vorwegnehmen, was sie wollen, wie sie es wollen und wann sie es wollen». Die Menschen in der DDR würden die Tagesordnung ihrer Entscheidungen und auch ihr Verhältnis zur Bundesrepublik, die fest in die westliche Wertegemeinschaft eingebunden sei, bestimmen. «Die Reformen in der DDR und den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas brauchen stabile Rahmenbedingungen», zu denen das Bekenntnis der Bundesrepublik «zu Buchstaben und Geist» der von ihr geschlossenen Verträge, «des Moskauer Vertrages, des Warschauer Vertrages, des Vertrages mit der CSSR und des Grundlagenvertrages mit der DDR gehören». Aus dieser Sprachregelung wird deutlich, dass man der Sowjetunion keinen Vorwand zur militärischen Intervention geben, einen stabilen Rahmen für weitere Reformen der DDR schaffen, sowie den Verbündeten und Nachbarn der Bundesrepublik die Furcht vor einer schnellen deutschen Vereinigung nehmen wollte.
In der DDR war es in den letzten Wochen vor dem Mauerfall zu großen, zunächst vom Sicherheits- und Staatsapparat gewaltsam unterdrückten Massendemonstrationen gekommen, auf die der Besuch des «Vaters» der Perestroika Gorbatschow zu den Feiern zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR in Ost-Berlin am 7.10.1989 wie ein politischer Katalysator wirkte.[22] Parallel dazu waren seit September 1989 neue unabhängige, das Machtmonopol der SED bekämpfende Vereinigungen, wie das Neue Forum und die Sozialdemokratische Partei der DDR (SDP), gegründet worden.
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