MARY C. NEAL
Einmal Himmel und zurück
Der wahre Bericht einer Ärztin
über ihren Tod, den Himmel, die Engel
und das Leben, das folgte
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Jochen Winter
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
TO HEAVEN AND BACK
im Verlag Waterbrook Press, USA
Allegria ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
Alle Rechte vorbehalten.
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ISBN: 978-3-8437-0524-0
© der deutschen Ausgabe 2013 by
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© der Originalausgabe 2012 by Mary C. Neal
Übersetzung: Jochen Winter
Lektorat: Marita Böhm
Umschlaggestaltung: FranklDesign, München
Titelabbildung: Mark D. Ford
Fotos im Innenteil: © Mary C. Neal
Satz: Keller & Keller GbR
eBook (2): LVD GmbH, Berlin
Ich widme dieses Buch Gott.
Du hast mir das Leben geschenkt,
und ich lebe zu deiner Ehre.
Das ist der Beginn eines neuen Tages.
Gott hat mir diesen Tag geschenkt,
damit ich ihn nach meinem Willen nutze.
Ich kann ihn vergeuden
oder mich in seinem Licht entfalten
und anderen Menschen Beistand leisten.
Aber was ich mit diesem Tag mache, ist wichtig,
denn ich habe dafür
einen Tag meines Lebens eingetauscht.
Mit dem morgigen Tag wird der heutige
für immer vorbei sein.
Ich hoffe, nicht den Preis zu bereuen,
den ich dafür gezahlt habe.
Anonym
Vorwort
Die besten und schönsten Dinge
in dieser Welt können nicht gesehen,
ja nicht einmal gehört werden,
sondern müssen mit dem Herzen gefühlt werden.
Helen Keller
Gott und seine Engelsboten sind heute in unserer Welt präsent und aktiv, und ihre Teilnahme und Wirkung sind sowohl gewöhnlich in ihrer Häufigkeit als auch ungewöhnlich in ihrer Einzigartigkeit. Obwohl ich meines Erachtens ein ganz normales Leben führe, hatte ich das Privileg, von Gott in sichtbarer und deutlich fühlbarer Weise berührt zu werden. Eine dieser Erfahrungen begann am 14. Januar 1999, als ich mit meinem Mann den Urlaub in Südamerika verbrachte. Während einer Kajakfahrt wurde ich fast eine Viertelstunde lang unter Wasser gedrückt und ertrank. Ich starb und stieg zum Himmel auf. Nach einem kurzen Aufenthalt dort oben gelangte ich wieder in meinen Körper. Mit zwei zerschmetterten Beinen und ernsten Lungenproblemen kehrte ich in mein irdisches Leben zurück. Mehr als einen Monat war ich im Krankenhaus, noch länger an den Rollstuhl gefesselt und über sechs Monate außerstande, die Arbeit in meiner Praxis für orthopädische Chirurgie auszuüben.
Viele haben meinen Unfall als schrecklich und tragisch bezeichnet. Ich bezeichne ihn als das größte Geschenk, das mir je zuteilwurde. Die Ereignisse um meinen Unfall und meine Genesung waren nicht weniger als ein Wunder. Nicht nur hatte ich das Privileg, den Himmel zu erleben, sondern auch in den Wochen nach meiner Rückkehr die Intensität der Welt Gottes wahrzunehmen und mehrere Gespräche mit Jesus zu führen.
Durch diese Erfahrungen gewann ich Einblick in viele wichtige Fragen wie »Was geschieht, wenn wir sterben?«, »Warum sind wir hier?« und »Weshalb widerfahren guten Menschen schlimme Dinge?«.
Außerdem verstand ich die Aussage des Apostels Paulus in 1. Korinther 13, dass von den drei Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe die Letztere am größten und beständigsten ist. Ich hatte bereits meine Gründe, an Wunder zu glauben, doch jene Reise zum Himmel und zurück verwandelte meinen Glauben in Wissen und meine Hoffnung in Wirklichkeit. Meine Liebe aber blieb unverändert und dauerhaft.
Einer der Gründe für meine Rückkehr zur Erde bestand darin, anderen diese Geschichte zu erzählen und ihnen zu helfen, den Weg zurück zu Gott zu finden. In meiner ersten Genesungsphase wurde ich aufgefordert, sie mit kleinen Gruppen in meiner Gemeinde zu teilen, und die wiederum teilten sie mit ihren Freunden und Familienmitgliedern. So verbreitete sich die Geschichte in weiten Teilen des Landes, und die Empfänger berichteten mir immer wieder, wie nachhaltig ihr Leben dadurch beeinflusst werde. Bei dem anschließenden Erfahrungsaustausch wurde mir bewusst, dass sie eigentlich nicht mir gehört, sondern Gott, und weitergegeben werden soll. Auf diese Weise hat sie schon viele Menschen inspiriert, zu Diskussionen angeregt und oft zu einer erneuerten Beziehung mit Gott geführt. Sie hat die Angst vor dem Tod verringert und die Leidenschaft für ein erfülltes und sinnvolles Leben vergrößert, den Glauben vertieft und Hoffnung auf die Zukunft geweckt.
Noblesse oblige:
Mit dem Privileg kommt die Verantwortung
Fürwahr, Gott gibt nicht jedem von uns eine Lampe an die Hand, damit wir sie unter dem Bett oder im Hinterzimmer verstecken, sondern damit wir ihr Licht in die Welt ausstrahlen lassen. Ein ums andere Mal vertreibt es Dunkelheit und Leere. Schließlich überkam mich das Gefühl, dass die Niederschrift meiner Geschichte sich lohnen würde, wenn deren Lektüre auch nur eine Person Gott näherbringen könnte. Also begann ich, den Bericht über meine Beobachtungen und Erfahrungen zu notieren.
Allerdings habe ich nicht wissen können – selbst dann nicht, als ich an der Endfassung des Manuskripts arbeitete –, dass auch mein dringendes Bedürfnis, es zum Abschluss zu bringen, auf Gottes Eingriff in mein Leben zurückging. Denn die Geschichte war damit noch nicht zu Ende …
Einleitung
Höre, Gott, mein Schreien und merke auf mein Gebet!
Vom Ende der Erde rufe ich zu dir,
denn mein Herz ist in Angst,
du wollest mich führen auf einen hohen Felsen.
Psalm 61,2-3
Die schmale zweispurige Straße in den entlegenen Bergen Mexikos war durch den Regen der vergangenen Nacht völlig durchnässt. Zu fortgeschrittener Stunde waren wir immer noch mehrere Stunden von der Hauptstraße entfernt, als unser klappriger Kombi von der Fahrbahn abkam und sofort in den zähen Schlamm des Seitenstreifens sank. Zu unserer Reisegruppe zählten neben mir, fünfzehnjährig, ein Missionarsehepaar, ein weiterer Teenager und ein Säugling. Die durchdrehenden Räder fanden keine Bodenhaftung, und so sackte der Wagen schnell bis zu den Achsen ein. Ebenso schnell übermannte uns die Angst, da wir wussten, dass es beinahe unmöglich wäre, ihn mit eigenen Kräften aus dem Morast zu ziehen oder weit genug zu gehen und Hilfe zu holen.
Auf einen derartigen Zwischenfall waren wir nicht vorbereitet. Der Säugling bräuchte bald Nahrung, und die Außentemperatur würde merklich fallen, sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Wir mussten den Wagen unbedingt auf diese einsame Straße zurückbringen, über die wir im Laufe des Sommers häufig gefahren waren, ohne je ein anderes Fahrzeug zu sehen. Also besannen wir uns ausschließlich auf unsere Aufgabe und versuchten immer wieder, die Räder freizulegen. Der Schlamm schien grenzenlos tief zu sein, und unsere Anstrengungen wirkten allzu schwach. Bei der mühseligen Arbeit begannen wir, inbrünstig und zielgerichtet zu beten, Gott möge »Felsbrocken unter uns legen«, und siehe da …
Kaum waren uns diese Worte über die Lippen gekommen, sahen wir fassungslos einen rostigen alten Pick-up, der uns ratternd entgegenkam. Der Fahrer war falsch abgebogen und versuchte, den Weg zur Hauptstraße zu finden. Als wir ihm von unserer misslichen Lage erzählten, bot er liebenswürdig an, uns bis zur nächsten Stadt mitzunehmen. Das Führerhaus war für uns alle zu klein, also kletterten wir übermütig auf die Ladefläche und setzten uns auf die Fracht … die aus Felsbrocken bestand. Ihr Anblick erfüllte uns mit Freude, denn wir wussten, dass unsere Gebete erhört worden waren.
War das die Antwort auf unsere zielgerichteten Gebete? Hatte Gott, wiewohl mit einem Sinn für Humor, in unser Leben eingegriffen und unsere Gebete beantwortet? War der Fahrer des Pick-ups ein Engel oder ein anderer Bote Gottes? Handelte es sich um ein Wunder? Vielleicht war es einfach nur Glück oder Zufall. Als Zufall bezeichnet man ein unerwartetes, nicht vorhersehbares Ereignis. Glück wiederum ist das Ergebnis des Zusammentreffens besonders günstiger Umstände. Ich für meinen Teil nenne den Vorgang ein Wunder: ein außergewöhnliches Geschehen, das dem Werk Gottes zuzuschreiben ist.
Die Bibel beschreibt zahlreiche Situationen, in denen Engel von Gott ausgesandt werden, um Notleidenden zu helfen, wenn ringsum Chaos herrscht, wenn ihr Leben bedroht ist – oder im Augenblick des Todes. Wunder gibt es offenbar überall auf der Welt; Katholiken und Protestanten berichten darüber ebenso wie Muslime und Hindus. Dem Koran zufolge ist ein Wunder der »übernatürliche Eingriff in das Leben eines Menschen«. Die katholische Kirche sieht darin »Gottes Werk«, normalerweise mit einem bestimmten Zweck, etwa die Bekehrung eines Menschen zum Glauben.
Zyniker hingegen behaupten, dass Wunder den Naturgesetzen widersprechen und daher nicht geschehen können. Doch nach Auffassung derer, die dem Glauben anhängen wie ich, kann man ein Wunder auf andere Weise betrachten.
Situation 1
Ein Ball wird aus der Höhe fallengelassen und fällt zu Boden. Er gehorcht den Gesetzen der Natur.
Situation 2
Ein Ball wird aus der Höhe fallengelassen und fällt zu Boden. Eine Hand erscheint und fängt ihn auf. Der Ball erreicht niemals den Boden. Er hat den Gesetzen der Natur gehorcht, aber die Hand griff ein. Wäre es die von Gott, hätten wir einen göttlichen Eingriff beobachtet, ohne dass den Gesetzen der Natur widersprochen worden wäre.
Ich glaube, dass Gott auf jener schmalen Straße in Mexiko unseren Schrei aus tiefem Herzen hörte und beschloss, zu unseren Gunsten einzugreifen. Obwohl seine Antwort nicht so ausfiel, wie wir es erwartet hatten, gab er uns eine spezifische Antwort auf unser spezifisches Gebet: Er legte Felsbrocken unter uns.
Im Laufe der Jahre habe ich – wie die meisten Menschen – meine Spiritualität hinterfragt. Ich habe mir Gedanken gemacht über die Wirklichkeit Gottes, seine Rolle in meinem Leben, warum so viele schlimme Dinge geschehen dürfen und was es mit dem Leben nach dem Tod auf sich hat. Ungeachtet dieser Fragen und Zweifel war ich seit jener Erfahrung im Teenageralter Zeugin unzähliger erhörter Gebete und göttlicher Eingriffe.
Als ich während einer Kajakfahrt in Südamerika ertrank, wurde mir die große Freude, das Privileg und Geschenk zuteil, zum Himmel und zurück zu reisen. Ich hatte Gelegenheit, mit Engeln zu sprechen und eine ganze Reihe von Fragen zu stellen. Dabei gewann ich tiefe Einblicke. Dieses Abenteuer führte dann unter anderem dazu, dass ich Menschen zuhören konnte, die von ihren eigenen spirituellen Begegnungen und Nahtoderfahrungen berichteten. Ihre Geschichten beginnen meistens mit den Worten: »Ich hab noch nie davon erzählt, denn ich dachte, keiner würde mir glauben, aber jetzt ist der Moment gekommen …«
Ist Gott heute in unserer Welt anwesend? Geschehen weiterhin Wunder? Sind wirklich Engel um uns? Hält Gott seine Versprechen? Gibt es einen triftigen Grund dafür, durch den Glauben zu leben? Ich würde jede dieser Fragen mit einem klaren Ja beantworten – und bin überzeugt, dass Sie zu dem gleichen Schluss kommen, wenn Sie von den Wundern lesen, die ich gesehen und am eigenen Leib erfahren habe.
1
Die frühen Jahre
Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über
euch habe, spricht der Herr: Gedanken des
Friedens und nicht des Leides, dass ich euch
gebe Zukunft und Hoffnung.
Jeremia 29,11
Ich bin in einer ganz normalen Stadt in Michigan, im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, geboren und aufgewachsen. Mit meinen Eltern Bob und Betty, den zwei Brüdern Rob und Bill, meiner Schwester Betsy und einem kleinen Dackel namens Trinka wohnte ich in einem Viertel der Mittelschicht. Mein Vater war von Beruf Allgemeinchirurg und meine Mutter Hausfrau.
Ich verlebte eine angenehme Kindheit, die in mancher Hinsicht idyllisch war. Ich hatte nicht immer, was ich wollte, aber es fehlte mir nie etwas, was ich brauchte. Vor allem aber fühlte ich mich von meiner Familie stets geliebt, denn das ist das Wichtigste für jedes Kind. Der Bach, der durch den hinteren Teil unseres Anwesens floss, bescherte mir vielerlei aufregende Erfahrungen und Abenteuer. Ich verbrachte unzählige Stunden in und an diesem Bach mit Schwimmen, Bootfahren, Angeln, Schlittschuhlaufen – und mit Erkundungen.
Ich erfuhr vieles über Schnecken, Würmer und Blutegel. Ich sah, was passiert, wenn ein Hund den Speck vom Angelhaken frisst, und lernte, einer nach dem Finger schnappenden Schildkröte nicht ins Auge zu schauen. Meine beste Freundin und ich legten im Frischwasser eine raffiniert ausgeklügelte Farm für Venusmuscheln an, nur um dann später herauszufinden, dass Perlen von Austern gebildet werden und nicht von Venusmuscheln. Das alles bereitete mir großes Vergnügen und nährte meine Vorliebe dafür, tief in die natürliche Welt einzudringen.
Meine Familie besuchte die örtliche presbyterianische Kirche und gehörte einer Konfessionsgemeinschaft an, in der mein Großvater, Urgroßvater und Ururgroßvater die geistlichen Weihen empfangen hatten. Unsere hohe Kirche aus traditionellem Stein überragte stolz den Stadtplatz. Während die Fassade eher nüchtern und nicht sehr einladend wirkte, wölbte sich das Innere mit seinen großen herrlichen Buntglasfenstern zum Himmel. Die abgenützten Kirchenbänke waren aus massivem dunkelbraunem Holz gefertigt.
Wir, meine Geschwister und ich, ließen die Sonntagsschule und den Konfirmationsunterricht, die Gottesdienste und gelegentlichen Versammlungen der Jugendgruppe über uns ergehen, aber diese Aktivitäten erschienen mir im Grunde eintönig und langweilig. Obwohl ich bereitwillig mitmachte, hatten sie offenbar kaum Einfluss auf mein Leben. Während der Kindheit und Jugend entwickelten wir gewiss nie eine Beziehung zu einem lebendigen, liebevollen Gott. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich Gott oder Jesus Christus in meinen Alltag oder meine Gedankenwelt hätte einbinden sollen. Gott war so etwas wie eine »Sonntagssache«, und zu Hause sprachen meine Eltern nie über Spiritualität oder Religion. In vielerlei Hinsicht aber dienten sie ihren Kindern als Vorbilder für ein christlich geführtes Leben.
Meine Mutter war liebevoll, stets hilfsbereit und eine aktive Freiwillige in etlichen gemeinnützigen Organisationen. Mein Vater zeigte tiefes Mitgefühl mit jenen, die vom Schicksal weniger begünstigt waren, und ein hohes Maß an Selbstlosigkeit in seiner Tätigkeit als Chirurg. Oft folgte ich meinem Vater, wenn er seine Patienten im Krankenhaus untersuchte oder wenn er am Wochenende in die Notaufnahme gerufen wurde. Ich stellte fest, dass sein Leben dem Dienst an den Mitmenschen gewidmet war, denen er immer freundlich und respektvoll begegnete, dass er sich nicht vom Drang nach Geld leiten ließ und die Gefühle und Bedürfnisse der anderen über die seinen stellte.
Als ich mich dem Teenageralter näherte, wurde ich unabhängiger und begann, meine eigenen Ansichten zu vertreten. Ich fand heraus, dass mein Vater trotz seiner ausgeprägten Fähigkeit zu gemeinsamen Unternehmungen nicht sehr gut darin war, seine Gefühle mit mir zu teilen oder über Themen zu diskutieren, die ich als wichtig oder schwierig empfand. Ungeachtet seiner Schwächen verehrte ich ihn – und war fassungslos, als im Frühjahr 1970 die Ehe meiner Eltern zerbrach und meine Mutter ihn aufforderte, das Haus zu verlassen.
Zu jener Zeit galt eine Scheidung noch immer als Skandal, und so war ich schockiert, als meine Eltern sich im Herbst 1971 endgültig trennten. Ich war in der siebten Klasse und wurde schnell zu einer ebenso verwirrten wie wütenden Jugendlichen. Konfrontiert mit der Scheidungsanzeige in der Zeitung konnte ich nicht länger verleugnen, dass meine aus den 1950er-Jahren stammende Vorstellung von einer typisch amerikanischen Familie zerstört worden war. Während dieser Phase erschien mir die Teilnahme am Gottesdienst als eine der wenigen Konstanten in meinem Leben.
Meine zwei älteren Geschwister waren bereits auf dem College, während mein Bruder und ich weiterhin mit der Mutter im Haus unserer Kindheit lebten. Jeden Sonntagmorgen fuhr mich mein Vater zum Frühstück im örtlichen Schnellimbiss und anschließend zum Gottesdienst. Nach wie vor beschämt und wohl auch wütend über die Scheidung meiner Eltern, weigerte ich mich, mit ihm zusammen in die presbyterianische Kirche zu gehen. Also besuchten wir stattdessen den Frühgottesdienst in der Episkopalkirche. Hinterher unternahmen wir gewöhnlich einen Spaziergang und kehrten dann zu seiner Wohnung zurück, um den Tag mit einem Abendessen – Brathähnchen mit grünen Bohnen – zu beschließen. Das war die einzige Speise, die er je zuzubereiten wusste. Obwohl ich seine Grenzen erkannte, hielt ich weiterhin an dem Wunsch fest, dass er nach Hause und unsere Familie zu dem Ideal meiner erinnerten Kindheit zurückkehre.
Meine Mutter war jung, attraktiv und interessant, weshalb ich ihr den Wunsch, mit einem anderen Mann auszugehen, nicht hätte missgönnen sollen. Ich tat es trotzdem und versuchte, solche Techtelmechtel auf jede erdenkliche Weise zu stören. Immerhin war Mack der erste Typ, der es nach dem Auszug meines Vaters ernst mit ihr meinte. Als ich jedoch eines Abends nach Hause kam, fiel mir auf, dass er tatsächlich alle von mir gerade gebackenen Plätzchen (von denen kein einziges für ihn bestimmt war) aufgefuttert hatte. Wutentbrannt sagte ich ihm meine Meinung – und war dann äußerst entzückt, ihn nie wiederzusehen.
Der nächste Mann, der mit viel Geschick Mamas Aufmerksamkeit fesselte, war George. Er stand dem Country Club vor, wo meine Brüder arbeiteten, und sie erzählten ihm von unserer Mutter. Nachdem sie ihn gedrängt hatten, endlich bei ihr anzurufen, entwickelte sich zwischen George und Mama eine innige Beziehung. Obwohl die Trennung meiner Eltern seit langem vollzogen war, fand ich die Vorstellung, dass meine Mutter einen »Freund« hatte, unerträglich. Zu seiner Ehre muss gesagt werden: Er war lustig, freundlich, sanftmütig, verständnisvoll und äußerst geduldig. Außerdem war er der beste und ausdauerndste Rückenkratzer, den die Menschheit je kannte, was – wie ich hinzufügen könnte – eine sehr erfolgreiche Methode war, meinen Widerstand zu brechen. Er liebte meine Mutter und liebte ihre Kinder. So hielt sie ungefähr ein Jahr nach dem ersten Rendezvous eine Familiensitzung ab und bat uns um die Erlaubnis, George zu heiraten. Es war unmöglich, ihr dieses Glück zu verweigern. Doch tief im Innern blieb ich gespalten. George war zwar ein anständiger Mann und in meinen Augen sicherlich ein vernünftiger Stiefvater, aber ich betete weiterhin täglich für die Rückkehr meines Vaters und des Lebens, das ich gekannt hatte.
Bis zu dem Moment im Jahre 1973, da der Pfarrer George und Mama offiziell zu »Mann und Frau« erklärte, bat ich inständig darum, meine Vater möge eintreffen, um die Hochzeitszeremonie zu unterbrechen und seine Familie zurückzuverlangen. Als dies nicht geschah, zog ich den Schluss, dass Gott sogar meinen verzweifeltsten Gebeten kein Gehör geschenkt und sie ganz gewiss nicht beantwortet hatte.
In meiner Enttäuschung verwarf ich sogar den Gedanken ans Beten. Ich war nur ein winziges Geschöpf auf einem Planeten mit über vier Milliarden Menschen. Wenn es tatsächlich einen Gott gab, warum sollte er dann meinen Gebeten lauschen oder sie erhören? Ich gelangte zu der Überzeugung, dass meine Vorstellungen von einem allgegenwärtigen Gott, der sich um jedes Individuum kümmert, ein kindischer und dummer Aberglaube waren, und beschloss, meinen Weg ohne ihn fortzusetzen.
Mit fünfzehn Jahren war ich eine kluge, versierte, selbstbewusste junge Frau. Ich glaubte zu wissen, was für mich am besten sei, und hielt mich für reif genug, meine Zukunft ohne göttliche Einwirkung selbst zu gestalten. Damals blieb mir verborgen, dass Gott meine flehentlichste Bitte nicht nur gehört hatte, sondern auch in einer Weise beantwortet, die größer und erfüllender war, als ich es mir je hätte vorstellen können. Durch die Heirat meiner Mutter bescherte Gott mir nämlich einen Stiefvater, der in seiner liebevollen, sanften und anmutigen Art unerschütterlich war. Als Erzieher brachte er mir wichtige Lektionen über Freude, Freundschaft und Verantwortung bei. Er lebte vor, wie eine liebevolle, auf gegenseitiger Achtung gründende Ehe auszusehen hat, und übte so einen der wichtigsten Einflüsse auf mein Leben aus.
Gott verspricht, dass er Pläne für uns bereithält, um uns Hoffnung und eine Zukunft zu geben, und dieses Versprechen hat er gehalten. Die Ankunft von George in meinem Leben war gewiss nicht die Lösung, für die ich gebetet hatte, sondern die weitaus bessere.
2
Außer Kontrolle geraten
Die Zukunft gehört denen,
die an die Schönheit ihrer Träume glauben.
Eleanor Roosevelt
Ungeachtet dessen, dass George stabilisierend wirkte, war mein Leben, als ich auf die Highschool kam, noch immer von Schmerz und Chaos geprägt. Die meisten meiner Freunde frönten dem Alkohol- und Drogengenuss, und ich geriet außer Kontrolle. In einer kühlen Märznacht – am Geburtstag meiner Mutter – holten John, Linda und ein weiterer Freund mich in dem nagelneuen Chevrolet Impala ab, der Johns Bruder gehörte. Obwohl die Tinte auf Johns Führerschein noch frisch war, ermunterten wir ihn, auf dem Weg zur Party in einer nahe gelegenen Stadt über einige »Achterbahnhügel« zu fahren.
Achterbahnhügel sind genau so, wie man sie sich vorstellt, sie ähneln denen in einem Vergnügungspark. Bei genügend schneller Fahrt hinab hüpft einem der Magen bis zum Hals. Die winterlichen Straßen waren vereist und die neuen Vinylsitze im Auto weich und rutschig, während wir anfingen, über die Hügel zu schweben. Linda bestand darauf, dass wir die Sitzgurte anlegen, aber das klickende Geräusch beim Anschnallen war noch nicht verhallt, als John die Kontrolle über den Wagen verlor. Wir prallten gegen einen Baum, drehten uns im Kreis und hörten sofort das schreckliche krachende Geräusch, mit dem der Kofferraum vom Insassenraum abriss. Der Wagen wurde auf die gegenüberliegende Straßenseite geschleudert, wo durch den Aufprall gegen einen zweiten Baum der vordere Teil mit dem Motor wegbrach. Der Insassenraum, in dem wir vier uns noch immer befanden, überschlug sich dann mehrmals auf einer Böschung, bis er schließlich mit der Oberseite nach unten zum Stehen kam. Obwohl wir, durch die soeben festgeschnallten Sitzgurte gehalten, umgedreht in der Luft hingen, wurde keiner von uns ernsthaft verletzt.
Während des Sturzes in den Abgrund hörte ich Gott laut und deutlich zu mir sagen: »Ich bin bei dir.« In diesem Augenblick schwand meine Angst, deshalb konnte ich sogar durch das zersplitternde Seitenfenster die Schönheit der sich drehenden Bäume und Sträucher bewundern. Das war meine erste fühlbare Erfahrung der Gegenwart Gottes in meinem Leben. Was ich gehört und empfunden hatte, beglückte mich, aber ehrlich gesagt war ich zugleich ziemlich geschockt. Allmählich dämmerte mir, dass der Glaube an Gott vielleicht doch nicht so »kindisch und dumm« war, wie ich gedacht hatte. Nun war Gott für mich real und präsent, und offenbar verfolgte er einen genaueren Plan für mein Leben als ich.
Nach diesem Unfall war mein Leben als Teenager weiterhin verwirrend, obwohl es mir sinnvoller und reichhaltiger erschien als vorher. Ich fing an, mein Verhalten, meine Freunde und meine Entscheidungen unter die Lupe zu nehmen, und hielt den Zeitpunkt für gekommen, mein Leben ernster zu nehmen sowie einige Änderungen vorzunehmen. Ich hatte keine Lust mehr, mit den Freunden am Freitagabend »herumzuhängen«, und dachte intensiver über meine Zukunft und meine Prioritäten nach. Ich besann mich auf meine Ziele und darauf, wie ich meinen Platz in der Welt finden könnte.
Ich besuchte weiterhin die Gottesdienste sowohl in der presbyterianischen Kirche wie auch in der Episkopalkirche. Außerdem ging ich mit meiner Freundin Merry Ann manchmal zur Oakland Road Christian Church. Obwohl ich in der presbyterianischen Kirche als Säugling getauft und später konfirmiert worden war, beschloss ich, bei einem der sogenannten Altarrufe in der Oakland Road Christian Church die Taufe durch Untertauchen zu vollziehen. Allein schon der Gedanke daran bringt mich zum Kichern, weil ich ziemlich introvertiert bin. Bei der Vorstellung, auf den öffentlichen Altarruf zu reagieren und in ein in die Vorderwand des Altars eingelassenes Plexiglasbecken, das mit Wasser gefüllt ist, getaucht zu werden, brechen die meisten meiner Freunde in schallendes Gelächter aus. Trotzdem tat ich genau das. Dabei muss der Heilige Geist auf mich herabgekommen sein, denn als ich wieder auftauchte, fühlte ich mich leicht wie eine Feder. Ich war voller Energie, euphorisch, ja ekstatisch. Gereinigt und neugeboren wurde ich zu einem neuen Menschen.
Gottes Versprechen, »ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!« (2. Korinther 5,17), hatte sich erfüllt.