Hanser Berlin E-Book
Antje Vollmer
Lars-Broder Keil
Stauffenbergs Gefährten
Das Schicksal der unbekannten
Verschwörer
Hanser Berlin
ISBN 978-3-446-24281-4
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2013
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Sandra und Johann Joß
Inhalt
Vorwort
Richard von Weizsäcker (*1920) über seine Begegnungen mit Beteiligten am militärischen Widerstand
»Diese völlig unsinnigen Befehle, dieser tägliche Wahnsinn«
Friedrich Karl Klausing (1920–1944)
»So fragt nicht mehr nach mir, sondern laßt mich damit ausgelöscht sein«
Erich Fellgiebel (1886–1944)
»Man muss eben mal seinen Kopf riskieren«
Heinrich Graf zu Dohna-Tolksdorf (1882–1944)
»Der Kampf für den Glauben ist Tradition in unserer Familie«
Albrecht Graf von Bernstorff (1890–1945)
»Der Nationalsozialismus richtet sich gegen alles, wofür ich eingetreten bin«
Margarethe von Oven (1904–1991)
»Einen Mittelweg gab es nicht«
Hans-Ulrich von Oertzen (1915–1944)
»Aber reiten muß ich selber«
Kurt Freiherr von Plettenberg (1891–1945)
»Ich fürchte den Tod nicht, denn ich habe einen guten Richter«
Georg Schulze-Büttger (1904–1944)
»Als Soldat gehörte ich jetzt nicht mehr unter diese Leute«
Randolph Freiherr von Breidbach-Bürresheim (1912–1945)
»Ihr müßt nicht bitter gegen das Schicksal werden - alles geht wie es vorgezeichnet ist«
Hans Bernd Gisevius (1904–1974)
»Was habe ich eigentlich mit diesen Generälen gemein? Und jetzt soll ich für sie sterben?«
Ewald Heinrich von Kleist (*1922) über seine Teilnahme am Widerstand gegen Hitler
»Der Tod war ein großes Thema«
Danksagung
Anmerkungen
Quellen und Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Ein junger Mann allein im Gebirge, vor sich eine eisige weite Fläche und einen schwer zu erreichenden Gipfel – so sehen wir ihn auf einem Sepia-Foto aus den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Der da sitzt, den Arm leicht auf dem Knie abgestützt, ist entspannt und angespannt zugleich. Er wartet auf etwas, er denkt nach, er macht eine Pause.
Konkret ist es der Offizier Friedrich Karl Klausing, der sich während einer Winterkampfübung seines Ausbildungslehrgangs auf der Trögel-Hütte in der Nähe von Garmisch-Patenkirchen befand. Aber dieser Moment der Einsamkeit und des konzentrierten Wartens trifft auf fast alle Personen zu, die wir in diesem Buch porträtieren. Es sind zehn Personen aus dem Kreis oder dem Umfeld jener Verschwörer, die einen Staatsstreich zur Entmachtung des NS-Regimes planten, der mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beginnen sollte. Alles, was sie planten und taten, war durch einsame Entscheidungen und unsichere Erfolgsaussichten gekennzeichnet.
Wer damals bereit war, gegen den Strom seiner Zeit zu stehen und sein Leben aufs Spiel zu setzen, »war zur Einsamkeit im eigenen Volk verurteilt«, betonte der frühere polnische Botschafter Janusz Reiter am 20. Juli 2012 in seiner Gedenkrede im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Tatsächlich verkörperten die hier Porträtierten mit ihrem Vorhaben nicht den Willen ihres Volkes, sie konnten, selbst bei Gelingen, nicht einmal auf Zustimmung rechnen. Sie wurden nicht vom Ausland gestützt und ermutigt. Sie waren allein.
Zwar gab es unter ihnen ein teilweise erstaunliches Netzwerk von familiären, berufsbezogenen, freundschaftlichen Verbindungen, die wir in vielen der Porträts auch nachzeichnen können. Wer hinzukam, wurde in der Regel von einem Freund, Vorgesetzten, Verwandten oder Nachbarn angesprochen. Wer aber zusagte, riskierte viel, nicht nur für sich selbst, sondern auch für sein gesamtes soziales Umfeld.
Die meisten derjenigen, die wir hier vorstellen, sind den heutigen Zeitgenossen kaum bekannt. Damit geht es ihnen so wie circa 180 Personen allein aus dem Kreis des militärischen Widerstands, die zwischen dem 20. Juli 1944 und dem 8. Mai 1945 hingerichtet wurden – einige starben durch Selbstmord, um nicht unter der Folter in die Gefahr zu geraten, andere Mitverschwörer zu verraten. Wir haben zehn ausgewählt, doch auch die anderen verdienten das Interesse nachfolgender Generationen und sind es wert, nicht vergessen zu werden. Ihr persönlicher Anteil am Staatsstreich war höchst unterschiedlich. Einige standen im Zentrum der militärischen Umsturzplanungen, andere knüpften Kontakte zur zivilen Opposition. Was sie einte, waren die Gegnerschaft zum NS-Regime und der Wille, etwas zu tun. Das Interesse am Schicksal dieser Gruppe aber war immer merkwürdig gering. Als Vorbild schien sie nicht geeignet. Sei es, weil so viele aus diesem Kreis Militärs waren, denen man nicht traute; sei es, weil einige – keineswegs alle – früher selbst Anhänger des Nationalsozialismus gewesen waren, deren Geschichte mehr als zweifelhaft erschien; sei es, weil etliche Adlige darunter waren, mit denen man sich auch schwer identifizieren konnte. In der frühen Bundesrepublik spielte eine Rolle, dass der moralische Druck eines »anderen Deutschlands« in einem Volk von Schuldigen, Mitläufern oder doch von Menschen, die weniger gewagt hatten, als störend und unangenehm empfunden wurde.
Nicht zuletzt hatte das Misslingen des Attentats zusätzlich bittere Folgen für das Ansehen der Akteure im Nachhinein. Wer an so einem historischen Wendepunkt verliert, scheitert doppelt: Er scheitert in der Wirklichkeit, und er verliert auch den Respekt, dass es überhaupt möglich war, die Tat zu wagen. Auf der politischen Linken konnte schon deswegen wenig Interesse und Mitgefühl erweckt werden, da ja auch die eigenen Opfer in den Konzentrationslagern, vor dem Volksgerichtshof, in früher Verfolgung, in der Emigration und im Exil kaum Gegenstand öffentlicher Trauer waren. In der DDR wurde dieses Erbe der »Opfer des Faschismus« zwar gepflegt, aber der militärische Widerstand wurde doch lange eher auf der Seite der »Täter« verbucht.
Was bei dieser Haltung kollektiver Gleichgültigkeit unter den Tisch fiel, war das Interesse an den einzelnen Personen, ihrer ganz individuellen Geschichte, ihren Zweifeln, Irrtümern, aber auch ihrem unerschrockenen einsamen Mut, viel zu wagen und oft nicht nur das eigene Leben zu riskieren.
Bei einigen der Porträtierten ist es notwendig, falsche historische Einschätzungen zu korrigieren, wie beim Meister seines Metiers, dem Nachrichten-General Fellgiebel. Manchmal ist beeindruckend, wie weit sie sich, um in Stauffenbergs Nähe zu bleiben, von allen familiären Bindungen trennen mussten, wie Klausing, der aus einem Haus überzeugter Nationalsozialisten stammte. Bei anderen ist faszinierend zu beobachten, wie das eigene Erleben der Diktatur aus einem Sympathisanten einen Gegner machte, der seinem Gewissen folgte, wie der Katholik Breidbach-Bürresheim. Man findet unter den Porträtierten ebenso einige, die von Anfang an Gegner dieses Regimes aus Machtmissbrauch und Terror waren und von äußeren Einflüssen unbeeindruckt blieben, wie der Offizier, Landwirt und Mitstreiter in der Bekennenden Kirche, Dohna, oder der Diplomat und liberale Weltbürger Bernstorff. Wiederum andere entwickelten sich zu unverzichtbaren Stützen im Hintergrund, die es braucht, um so einen Staatsstreich zu wagen; dabei beeindruckt besonders die Entschlossenheit der jungen Offiziere Oertzen und Schulze-Büttger. Nicht jeder konnte zu den entscheidenden Aktionen aktiv beitragen, sein Anteil und das Risiko, das er durch sein Wissen und seine Unterstützung einging, waren deshalb nicht geringer, wie das Beispiel Plettenbergs zeigt, der in Königs- und Fürstenhäusern als Verwaltungsexperte diente.
Bei einigen schließlich wird man begreifen, wie schwer es war, einem solchen Verschwörerkreis, der ja auch in die soziale und berufliche Isolation und Perspektivlosigkeit führte, bis zum Ende treu zu bleiben. Keiner verkörperte das stärker als Gisevius, der mit seiner Darstellung des 20. Juli nach dem Krieg auf fatale Weise das Bild von diesem Ereignis prägte. Fehlen durfte letztlich in dieser von Männern dominierten Gruppe nicht eine der Frauen, deren Anteil an der konspirativen Widerstandstätigkeit ihrer Männer, Väter, Söhne und Freunde häufig unterschätzt wurde. Der Historikerin Elisabeth Raiser, geb. von Weizsäcker, die Margarethe von Oven noch persönlich kannte, danken wir für ihr Porträt dieser ungewöhnlichen Frau aus dem Umfeld des militärischen Widerstands.
Wenn wir den Titel »Stauffenbergs Gefährten« gewählt haben, so wollten wir dabei bewusst nicht ein homogenes Kollektiv zeichnen, das es nicht gab, sondern den historischen Augenblick, in dem sich so viele Individuen aus sehr individuellen Gründen und mit sehr unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen zusammenfanden, um einen Staatsstreich zu wagen, der dann doch scheiterte.
Alles in allem haben wir bei unserer Suche nach den »vergessenen Widerstandskämpfern« keine Helden gefunden, sondern Menschen. »In Zeiten der totalitären diktatorischen Herrschaft entsprechen menschliche Schicksale nur selten dem Schönheitsideal gotischer Kathedralen«, sagt Janusz Reiter. Aber sie sind Zeugnisse von Menschlichkeit und aufrechtem Gang in unmenschlichen Zeitumständen. Um diese Menschen unter all den historischen Bildern, Urteilen und Vorurteilen wiederzuentdecken, hat uns geholfen, dass ihre Angehörigen und Freunde, Ehefrauen, Kinder und Enkel in erstaunlichem Maße auch Einblick in private Archive gewährt haben: in Briefe, Tagebücher, Dokumente und für die Familie gedruckte Erinnerungen – vieles davon ist bislang unbekannt gewesen. Für dieses Vertrauen sind wir dankbar. Zumal wir in vielen Gesprächen erfahren haben, wie viel von der Isolation und dem Trauma der beteiligten Mitverschworenen auf die Familien überging, die nach dem Verlust ihres Angehörigen keineswegs von gesellschaftlichem Mitgefühl getragen wurden.
Ihre Schilderungen, die in die Porträts mit einflossen, stützen die von uns gewählte Vorgehensweise. Uns ging es weniger um eine Neuschreibung des Staatsstreichversuchs, sondern vielmehr darum, das Handeln der Beteiligten erlebbarer, verständlicher, emotionaler zu zeichnen – ohne dabei das historische Geschehen aus den Augen zu verlieren. Dafür sind Zeitzeugen unverzichtbar, denn schriftliche Quellen aus Zeiten der Diktatur sind immer unvollständig und selten ein präzises Abbild der Gegenwart unter Zensur und Terror. Uns ist bewusst, dass das menschliche Gehirn ein unzuverlässiges Medium ist, was konkrete Abläufe oder korrekte Daten angeht. Es ist aber unübertrefflich, wenn es darum geht, Gefühle zu beschreiben, das Geschehen aus eigener Erinnerung zu schildern, zu erklären, warum man sich an diese oder jene Begebenheit besonders nachhaltig erinnert. Zeitzeugen bringen nicht nur Lebendigkeit in eine Geschichte, sondern füllen ganz wesentlich Lücken aus, die Dokumente, Fotos und Aktennotizen nicht füllen können.
Der Freitod Plettenbergs vor der ihm angedrohten Folter wäre aufgrund der Überlieferungen gut zu beschreiben. Aber wie die Nachricht von seinem Tod und die späteren Erklärungsversuche der Mutter auf ihre Kinder gewirkt haben, können nur diese sagen. Über die besondere Rolle, die Volksgerichtspräsident Roland Freisler im ersten Prozess gegen die Mitverschworenen für Klausing vorgesehen hatte, liegen ausreichende Schilderungen vor. Aber wie der junge Offizier als Mensch auf seine Freunde gewirkt hat und was diese an ihm schätzten, können nur sie mitteilen. Welche Aufgabe Oertzen am 20. Juli 1944 in Berlin beim Staatsstreich übernommen hatte, ist in den Unterlagen gründlich aufgearbeitet. Wie seine Frau die letzten Tage und Stunden mit ihm in der Reichshauptstadt empfunden hat und die Zeit der Ächtung in den Wochen und Monaten danach, kann jedoch nur sie beschreiben.
1969 hielt der Schriftsteller Carl Zuckmayer die Rede zur Gedenkfeier des 20. Juli. Wie Janusz Reiter griff auch er das Bild der Einsamkeit auf, um das Dilemma jedes Einzelnen im Widerstand zu beschreiben. »Für die, welche viele Jahre lang anders dachten und schweigen mussten, gab es eine Einsamkeit, die kaum zu ermessen ist«, formulierte Zuckmayer. Zwar seien aus diesem Gefühl, in das »jeder Andersdenkende einer großen Menge gegenüber verstoßen ist und das Denken und Handeln zu lähmen droht«, wunderbare Verbindungen und Gemeinschaften erwachsen – letztlich aber sei auch das Attentat auf Hitler eine einsame Tat geblieben. »Es ist leicht«, so der Schriftsteller, »am Mißlingen dieses Aufstands Kritik zu üben, seine vielfache Verspätung, seine ungenügende Vorbereitung und Absicherung zu bemängeln. Aber wer, der lebt, könnte von sich sagen, daß er unter gleichen Umständen den gleichen Mut und die gleiche Haltung aufgebracht hätte?«
Wir, die beiden Autoren, haben uns seit Jahren mit dem Widerstand im Nationalsozialismus beschäftigt. Wir haben über dieses Thema publiziert, Vorträge und Lesungen gehalten und uns darüber kennengelernt. In den gemeinsamen Gesprächen entstand die Idee, wenigstens zehn der bisher kaum bekannten oder missverstandenen Widerstandskämpfer – unser Arbeitstitel hieß »Die zehn Gerechten« – zu mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit zu verhelfen. Die Auswahl der Porträts haben wir gemeinsam getroffen, die historischen Recherchen gegenseitig ergänzt, die meisten Familien zusammen besucht und die Interviews mit den so wichtigen Zeitzeugen Richard von Weizsäcker (der viele der Verschwörer persönlich kannte) und Ewald Heinrich von Kleist (dem allerletzten Überlebenden der Aktionen im Bendlerblock am 20. Juli 1944) gemeinsam geführt. Einzig die Ausformulierung der einzelnen Porträts haben wir unter uns aufgeteilt, wir betrachten sie aber als Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit.
Berlin, Januar 2013
Antje Vollmer
Lars-Broder Keil
Richard von Weizsäcker (*1920) über seine Begegnungen mit Beteiligten am militärischen Widerstand
»Diese völlig unsinnigen Befehle, dieser tägliche Wahnsinn«
Sie haben im Infanterie-Regiment 9 aus Potsdam gedient, aus dem viele spätere Widerstandskämpfer kamen. Wen kannten Sie persönlich aus diesem Kreis?
Ich habe aus dem Kreis des Widerstands vor allem mit meinem ältesten Freund Axel von dem Bussche zu tun gehabt, und zwar in meinem Truppenteil an der Front. Dort habe ich auch Friedrich Karl Klausing kennengelernt. Er war zwar in meinem Alter. Aber Klausing war aktiver Offiziersanwärter, ich war nichts anderes als Wehrdienstleistender. Später wurde ich Reserveoffizier und war im Regiment sogenannter Regimentsadjutant. Ich hatte die Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen und auf die jeweiligen Truppen zu verteilen. Dort waren wir ein Kreis von Leuten, die sich ab und zu zusammensetzten und sich Gedanken darüber machten, was wir uns eigentlich dabei dächten, die unsinnigen Befehle, die wir von oben bekamen, unsererseits nach vorne weiterzugeben. In erster Linie waren das neben Axel von dem Bussche die aktiven Offiziere Hans Albrecht Bronsart von Schellendorff und Klausing. Ich habe die letzten beiden also erst an der Front kennengelernt.
Wie war Ihr Verhältnis zueinander?
Als wir uns einmal wieder unterhalten hatten über die unsinnigen Befehle, saßen wir in einem Bauernhaus in einem Dorf zusammen, in dem der Kommandeur residierte, und da hing ein Hitlerbild an der Wand. Bronsart, der Spontanste von uns allen, zog seine Pistole und schoss auf das Bild. Daraufhin habe ich gesagt: »Wir ziehen jetzt alle unsere Pistole und schießen auch.« Das haben Klausing, Axel und ich dann auch getan. Es war wichtig, dass alle beteiligt waren. Das war aber keine große Heldentat. Dann haben wir nüchtern überlegt, dass es besser wäre, das Bild abzuhängen, bevor der Kommandeur wiederkommt, und ihm zu sagen, das Bild sei beschädigt worden.
Das Zentrum unserer Gespräche, der, der alle überragte, war immer Axel von dem Bussche. Er hatte einmal ein Kommando im rückwärtigen Heeresgebiet. Dort hat er mit eigenen Augen gesehen, wie jüdische Gefangene eine Grube ausgraben und sich hineinlegen mussten und dann erschossen wurden. Das waren keine gefangenen Soldaten, das waren Bewohner einer Stadt. Mit diesen Eindrücken kam er zurück zum Regiment und erzählte mir das.
Axel von dem Bussche wurde am 5. Oktober 1942 Augenzeuge der Exekution von mehreren Tausend Juden auf dem Flugplatz Dubno in der Ukraine durch ukrainische und deutsche SS-Leute. Die »Aktion« sei, wie ihm ein Offizier erklärte, vom »Führer« befohlen worden.
An welche Offiziere können Sie sich noch erinnern?
An Fritz von der Schulenburg. Er kam als Reserveoffizier zu uns ins Regiment. Der war auch so ein Original. Einmal lag Axel irgendwo auf der Erde und ruhte sich aus, Fritz setzte seinen Fuß auf ihn drauf und sagte scherzhaft: »Ich trete auf den niederen Adel.« Das war frech, denn Schulenburg war im Dienstgrad unter Bussche. Aber er war auch eine Autorität und ein enger Gesprächspartner. Als dann die Attentatspläne Gestalt annahmen und Stauffenberg und Tresckow einen an der Front bewährten jungen Offizier suchten, der neue Uniformen bei Hitler vorführen und diesen dabei umklammern und mit einer Bombe in die Luft sprengen sollte, hat Schulenburg Axel von dem Bussche vorgeschlagen. Er kannte dessen kritische Einstellung und Eindrücke vom Geschehen hinter der Front. Er traute ihm auch die nötige Entschlossenheit zu.
Die Vorführung der Uniformen sollte im November 1943 stattfinden. Ein durch Schulenburg vermitteltes Vorgespräch mit Stauffenberg fand in Berlin statt. Bussche war zum Attentat bereit und hielt sich zu diesem Zweck einige Tage – versehen mit einem Verwendungsschreiben, das Weizsäcker unterschrieben hatte – in der Nähe der »Wolfschanze« auf. Da aber der Zug mit den Probeuniformen durch alliierte Bomber zerstört wurde, fiel die Vorführung bei Hitler aus und wurde auf Anfang 1944 verschoben. Bussche musste zurück an die Front.
Wie sahen die Gespräche mit den anderen aus?
Sie müssen sich das nicht so vorstellen, dass wir uns täglich zum Tee getroffen haben. Die gemeinsamen Treffen unter Freunden waren schon selten. Es ging aber darum, dass wir, junge Kerle von Anfang bis Mitte zwanzig, mittlerweile die Nase voll hatten von dem, was wir an Wahnsinn um uns herum erlebten. Darüber und über die völlig unsinnigen Befehle sprachen wir oft. Ich hatte als Regimentsadjutant auch die Aufgabe, Befehle von hinten [aus dem Generalstab] entgegenzunehmen und umzuarbeiten in das, was das Regiment und weitere untergeordnete Einheiten machen sollten. So hatten wir immerfort mit der Frage zu tun, was das soll, diese Art von Befehlen.
Ewald Heinrich von Kleist, der auch eine Zeitlang bei Ihnen war, sagt, Schulenburg sei ein ganz energischer Motor gewesen. Der würde heute unterschätzt, sei aber enorm wichtig gewesen. Stimmt das?
Schulenburg war weiter als wir, nicht so sehr vom Alter, aber von der Lebenserfahrung her. Das war schon spürbar. Er war unser erster Ansprechpartner und hatte ein ganz klares Urteil. Er war es, der letzten Endes die gestaltende und auch die moralische Kraft hatte, so etwas anzupacken. In meiner Generation war Axel von dem Bussche für uns prägend. Klausing war zu bescheiden, aber er war etwas Besonderes.
Sie haben einmal bei einem Treffen gesagt, Sie hätten das Wesen von Klausing ganz genau vor Augen.
Das stimmt auch.
Wie war Klausing?
Klausing war durch seine Zurückhaltung und seine wenigen, aber klugen Anmerkungen der Stillste, am wenigsten die Aufmerksamkeit auf sich Ziehende in unserem engeren Kreis, ein besonders gewinnender Charakter. Er war im höchsten Maße vertrauenswürdig, gar keine Frage. Nach einer Verwundung ist er verschwunden und nie wieder zu uns zurückgekommen. Dass er später bei Stauffenberg gelandet war, könnte auf Schulenburg zurückgehen. Ich nehme das an, genau wissen tue ich das nicht. Ich habe übrigens Schulenburg im Frühsommer 1944 bei einem Urlaub zufällig in Potsdam getroffen. Da hat er mir lediglich gesagt, es gehe jetzt mit »den Plänen« voran und es könne sein, dass dann Anforderungen an Truppenteile gestellt werden, die ihnen in Berlin helfen sollten, darunter auch das I.R.9 in Potsdam. Damals wusste ich nicht, dass Klausing schon bei Stauffenberg war. Schulenburg war in solchen Fragen eher verschwiegen.
War Klausing beliebt, trotz seiner Zurückhaltung?
Ich kann nur sagen, Axel und ich waren von ihm beeindruckt. Er hat unseren Gesprächen meist schweigend zugehört. Das entsprach wohl seinem Wesen.
War er schwermütig?
Das nicht. Aber auf seine Weise war er verzweifelt – angesichts des letzten Endes doch unverständlichen Krieges und der unsinnigen Befehle. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im Dezember 1941 standen wir kurz vor Moskau, und weil es tiefer Winter war, funktionierte das Öl für die Maschinengewehre nicht mehr. Im Frühjahr 1942 hielt der Reichspressechef Hitlers, Otto Dietrich, eine Ansprache, in der der Halbsatz zu hören war, »als uns im Dezember 1941 kurz vor Moskau der Winter überraschte«. Der Winter überraschte!! Im Dezember!! Da hatten wir wirklich das Bedürfnis, diesen Dietrich umgehend nach Moskau zu schicken. Später war ich auch bei der Blockade von Leningrad eingesetzt. Dieser ständige Ablauf eines Krieges hat uns belastet, und jedes Mal, wenn von hinten ein neuer Befehl kam, wurde wieder die Frage aufgeworfen: Wieso soll man das überhaupt ausführen?
Klausing hat Stauffenberg zweimal, am 11. und 15. Juli 1944, zu Attentatsversuchen als Ordonnanzoffizier begleitet, Stauffenberg muss ihm also sehr vertraut und sich ganz auf ihn verlassen haben. Überrascht Sie das?
Nein. Das kann ich mir gut vorstellen. Dafür war Klausing wie geschaffen vom lieben Gott. Das kann man nicht anders sagen.
Wussten Sie, dass Klausing einen überzeugten Nazi-Vater hatte?
Nein, von seiner ganzen Herkunft hatte ich keinen Schimmer. Er machte es nicht zum Thema, so fragten wir auch nicht nach. Wir waren etwa gleich alt, lernten uns aber erst an der Front kennen. Ich stand persönlich natürlich Axel von dem Bussche besonders nahe, weil wir uns aus früheren Zeiten, schon vor dem Krieg, kannten. Axel war sehr forsch und mutig, ja tapfer.
Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit, als er das Attentat plante?
Die Anforderung per Fernschreiben, Axel von dem Bussche abzukommandieren, ging an das Regiment und landete bei mir. Später, nach dem 20. Juli, war dieser Schein wieder ein brisantes Thema. Wir hatten einen NSFO [Nationalsozialistischer Führungsoffizier], der für die »politische Reinheit« in der Truppe sorgen sollte. Der kam nach dem 20. Juli zu mir und fragte: »Können Sie sich noch an ein Fernschreiben erinnern, das von einem Stauffenberg kam und in dem Axel von dem Bussche von ihm angefordert worden war?«
Er war vom Volksgerichtshof einbestellt, um darüber auszusagen. Ich hatte ja generell im Falle einer Abwesenheit von der Truppe die Papiere auszufertigen und hatte das auch für Axel getan. Gegenüber dem NSFO habe ich angegeben, ich könnte mich nicht so genau erinnern. Er ist dann auch vorgeladen worden, aber es kam nie eine Nachfrage mehr zu dieser Sache. Darüber habe ich mich sehr gewundert – und war vor allem sehr erleichtert.
Diese zweite Anforderung Bussches durch Stauffenberg erfolgte Ende Januar 1944 telefonisch und fernschriftlich. Bussche bekam aber diesmal nicht frei von seinem Divisionskommandeur, der nicht einsah, einen seiner besten Bataillonsführer während schwerer Kämpfe für eine Uniformvorführung freizugeben. Dann fiel er am 31. Januar durch eine schwere Verwundung, die ihn ein Bein kostete, für den Staatsstreich aus. An seiner Stelle wurde am 28. Januar Ewald Heinrich von Kleist aus dem Urlaub geholt und gefragt, ob er einspringen könne, offenbar auch aus dem Kontakt mit Schulenburg heraus.
Sie haben 1938 beim Potsdamer Regiment angefangen. War das I.R.9 tatsächlich so besonders, wie es heißt? Was hat es ausgezeichnet?
Seine Geschichte. Vorgänger des I.R. 9 war das 1. Garde-Regiment zu Fuß, das in Preußen hoch in Ansehen stand. Das Regiment gehörte zu den hervorgehobenen Teilen der alten Truppen. Aber mir ging es nicht so um die Tradition, meine Familie kam ja aus Süddeutschland. Ich hatte meinen Arbeitsdienst von sieben Monaten zu erledigen und dann meinen Armeedienst. Ich wollte einfach in der Nähe von meinem Zuhause sein, also in der Nähe von Berlin, wo wir damals lebten. Deshalb absolvierte ich in Potsdam mein erstes von zwei Jahren Militärdienst.
Klausing hat sich dagegen bewusst als Fahnenjunker beim Infanterie-Regiment 9 in Potsdam beworben, wie er im Dezember 1937 in einem Bericht über seinen Bildungsweg schreibt, mit dem er um die Zulassung zur Reifeprüfung bittet: »Schon einer meiner Urgroßväter hatte bei dem 1. Garde-Regiment zu Fuß gedient, dessen Tradition jetzt das 2. R.G. weiterführt. Auch mein Bruder diente dort noch im Verband der Reichswehr und macht in diesem Regiment seine Übungen.«
Haben Sie jemals Stauffenberg getroffen?
Ich habe Stauffenberg kennengelernt, als ich ein paar Monate im Generalstab des Heeres als Ordonnanzoffizier von General Gerhard Matzky zu arbeiten hatte. In dieser Funktion musste ich den Offizieren des Generalstabs Akten bringen und kam so auch eines Tages zu Stauffenberg. Ich meldete mich bei ihm mit meinem Namen. Seine erste Frage war, ob ich Stefan George kenne. Stauffenberg wusste wohl, dass der spätere »Erbe« Georges, Robert Boehringer, ein naher Freund meiner Eltern war.
Stauffenberg war im Gespräch sehr lebhaft, direkt und spontan. Er war eine eindrucksvolle Erscheinung. Es war imponierend, ihm entgegenzutreten. Er hatte schon einen besonderen Ruf. Und ich war etwas befangen. Ich kannte natürlich Gedichte von George, habe ihn persönlich aber nur einmal in jungen Jahren getroffen. Da hatte ich Robert Boehringer begleitet bei einem Besuch bei George im vierten Stock eines Hauses am Kurfürstendamm. Für mich war das ein Besuch bei einem alten Mann.
Heute bekommt man manchmal den Eindruck, als ob damals in bestimmten Kreisen des Militärs ganz offen über den geplanten Staatsstreich gesprochen wurde, können Sie das bestätigen?
Nein, so war das nicht, schon gar nicht unter den normalen Soldaten an der Front. Da war man schon vorsichtig. Die Planung des Attentats wurde nur in ganz engen Kreisen besprochen, wo man sich blind vertraute. Auch Schulenburg hat über seine Gespräche mit Stauffenberg uns jungen Offizieren nicht berichtet.
Was war das größere Thema in diesen Jahren, die Beendigung des Krieges oder die Beseitigung Hitlers und seines Regimes?
Das kann man nicht trennen. Für uns Jüngere – ich war noch nicht 22 Jahre alt, mein Bruder fiel am zweiten Tag des Krieges unmittelbar neben mir, er war ein ganz wunderbarer Mensch – war schon das große Thema die Unerträglichkeit der Führung eines solchen Krieges, wie wir ihn täglich erlebten. Aber wir waren offen und hörten genau zu, wenn in den Gesprächen der Älteren davon geredet wurde, diese Führung abzusetzen, bis zu der Notwendigkeit, Hitler selbst zu beseitigen.
Wie wurde in Ihrem Elternhaus über Hitler und den Widerstand gegen das NS-Regime gesprochen? Ihr Vater war Staatssekretär im Außenministerium. War das überhaupt ein Thema, über das offen geredet wurde?
Für meinen Vater war das Hauptziel, einen Krieg überhaupt zu verhindern und diese quälende Auseinandersetzung mit Ribbentrop zu bestehen. Wir erfuhren als Kinder keine Details, aber die Entschlossenheit, die Pläne Ribbentrops zu unterlaufen und mit einigen Diplomaten in diesem Zusammenhang ein Gegengewicht zu schaffen, war ganz klar. Großbritannien war damals ja noch keinesfalls entschieden, Hitler einen deutlichen Widerstand entgegenzusetzen.
Eigentlich war der Aufstand vom 20. Juli ja der Versuch einer »Revolution von oben«. Haben Sie das auch so gesehen?
20. Juli 1984: Kranzniederlegung durch den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Innenhof des Bendlerblocks während der Gedenkfeier zum 40. Jahrestag des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944
Das ist eine zentrale Frage. Sie ist nicht leicht und schon gar nicht lückenlos zu beantworten. Das Attentat hätte eine große Erleichterung geschaffen, der Attentäter wäre und ist als Mörder diffamiert worden. Die Frage der gewaltsamen Beseitigung der Regierung war nie ein Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung in der Bevölkerung. Die Menschen haben gelitten, aber eine Lösung der Katastrophe in Form einer gewaltsamen Beseitigung des »Führers« war das gefährlichste Thema. Die Menschlichkeit und die Geschichte hatten das nötig. Aber so denkt ein Volk nicht. Ja, 1938 gab es eine Phase, wo eine gewaltsame Beseitigung der Regierung ein Thema war, bis hin zu konkreten Planungen. Aber das stand unter dem Hauptziel der Verhinderung dieses ganzen Krieges. Hitler sollte damit an dem Krieg gehindert werden, den er mit allen Mitteln wollte. Das war ein schrecklicher, tragischer Zielkonflikt: Erst Hitler beseitigen oder erst den drohenden Krieg verhindern?
Warum wirkten die wenigen Überlebenden des 20. Juli in der Zeit nach 1945 so einsam, irgendwie so verloren? Warum bestimmten sie nicht die Nachkriegspolitik?
Wie hätten sie das können, die wenigen, die noch am Leben waren? Axel von dem Bussche zum Beispiel war überhaupt kein Politiker, er war ein ganz anderer Geist. Außerdem: Er war doch gerade so am Überleben, er allein war sechs Mal schwer verwundet worden. Er bestand ständig seinen täglichen Kampf um die Existenz. Ich habe ihn immer als ein einziges Vorbild betrachtet.