GELDMACHT CHINA
Wie der Aufstieg des Yuan Euro und Dollar schwächt
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© 2013 Carl Hanser Verlag München
Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de
Lektorat: Martin Janik
Herstellung: Andrea Stolz
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Dominic Wilhelm
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-446-43490-5
ISBN (Buch) 978-3-446-43487-5
Für
Anke.
Für
Leo und Tim,
geboren im April 2012 in Hongkong, die sich als Erwachsene eine Welt ohne Yuan gar nicht vorstellen können.
Für
Peter Seidlitz,
gestorben im Januar 2012, der die Stärken des Yuan als einer der ersten Wirtschaftsjournalisten erkannt hat.
Vorwort
1 Währung als Wachstumsmotor
Vier gewinnt – Die Grundlagen des chinesischen Wirtschaftswunders
Stabilität, Stabilität, Stabilität
China profitiert, die USA verlieren
Die Schattenseiten des Erfolgs
Vorbilder Japan und Deutschland
Der Druck in China steigt
Peking zögert – Aber wie lange noch?
2 Eine verhängnisvolle Affäre: Wie der Silberdollar China in die Krise stürzt
Irrtum Nummer eins: China glaubt, einseitig vom Welthandel profitieren zu können, Globalisierung lässt sich aussperren
Irrtum Nummer zwei: Die Unabhängigkeitsillusion
Irrtum Nummer drei: Es geht immer so weiter
Irrtum Nummer vier: Krieg ist die Lösung
Irrtum Nummer fünf: Ein glimpfliches Ende
Was China aus seiner Geschichte lernt
3 Eine kurze Geschichte der Weltwährungen
Rule Britannia – Das Pfund Sterling wird Weltwährung
Der Erste Weltkrieg, Teil I: Der Anfang vom Ende der britischen Vormachtstellung
Der lange Weg des US-Dollar zu einer modernen Währung
Der Erste Weltkrieg, Teil II: Steigbügelhalter für den Dollar
Weltwirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg, Bretton Woods – Der Dreisprung des Dollar an die Weltspitze
Der Fehler im System und der Aufstand der Europäer
Bretton Woods scheitert, der Dollar überlebt
Die Dollarrenaissance – Ein Comeback auf Zeit
4 Die Geburt einer neuen Weltwährung
Das Geld der Kommunisten
Trügerische Einfachheit: Das Monobankensystem
Die Reanimierung der Geschäftsbanken
Von der Inflation zum Tian’anmen-Massaker
Der Geldpolitikprofi
Das wundersame »Fremdengeld« der Ausländer
Im Tsunami der Asienkrise
Ruhiges Fahrwasser
5 Weltwährung im Aufbau
Die Immobilienblase in den USA als Startschuss
Der Yuan als Handelswährung
Finanzmarktreform, Teil I: Erste kleine Schritte
Finanzmarktreform, Teil II: Große Aufgaben
Die Königsdisziplin: Wachsende Flexibilität
6 Die Währungskrise des Westens
Weltwährung auf dem Abstieg – Die Krise der USA
Die Blase bläht sich auf
Eine unheilvolle Komplizenschaft
Entfesselte Schuldenpolitik
Konkurrenz aus Europa
Die Währungsvision wird zum Albtraum
Gebrochene Regeln und verlorenes Vertrauen
Die Rettung des Euro
Des einen Leid …
China zieht seine Schlüsse
7 Das Weltwährungssystem der Zukunft
Gold – Die Mutter aller Währungen
Sonderziehungsrechte – Das Geld des IWF
Chinas Chance – Vom Wirtschaftsboom zur Weltwährung
Ein moderner Finanzmarkt für Wirtschaftsaufschwung und Währungsambitionen
Effizientes Kapital – Der Abschied vom Sozialismus
Finanzmarktreform – Ein attraktiver Weg für Chinas Politiker?
Der Yuan als Weltwährung
Zusammenfassung
Dank
Literatur
Bücher
Studien und Zeitschriftenaufsätze
Die neue politische Dekade Chinas begann mit einem Blick auf eine Armbanduhr. Der Blick kam von dem Mann, der auf dem wichtigsten Platz saß, den es auf dem XVIII. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im November 2012 zu vergeben gab. Fast gelangweilt thronte er zwischen Staats- und Parteichef Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao in der ersten Reihe auf der Bühne der Pekinger Großen Halle des Volkes. Da, wo die mächtigsten Männer Chinas sitzen, die Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros. Der Mann konnte es sich als einziger leisten, eine Strickjacke unter dem offenen Anzug zu tragen und eine schwarze Ledermappe vor sich auf dem Tisch liegen zu haben. Alle anderen auf der Bühne hatten nur die Parteitagsrede vor sich, die Parteichef Hu Jintao derweil monoton herunterbetete. Immer wenn der Redner am Ende einer Seite angelangt war, blätterten alle 2200 Delegierten im Saal synchron um. Auch die wichtigen Männer auf der Bühne. Das Geräusch, das dabei im Saal entstand, werde ich nie mehr vergessen.
Der einzige Mann, der es nicht nötig hatte, gleichzeitig umzublättern, war der Mann in der Strickjacke: Jiang Zemin, der Vorgänger des amtierenden Staatspräsidenten. Für alle Delegierten war offensichtlich: Dies ist der mächtigste Mann im Saal. Auch den mehreren hundert Millionen Menschen, die die Eröffnungszeremonie im Fernsehen verfolgten, war das klar.
Wer wie ich mit im Saal saß, oben in der Empore über den Köpfen der Delegierten, konnte noch mehr sehen als die Fernsehzuschauer. Während der 90-minütigen Rede von Präsident Hu Jintao blickte Jiang mehrfach auf die Uhr. Die Geste war eindeutig: Hu spielt keine Rolle mehr. Und tatsächlich: Im Laufe des Parteitages stellte sich heraus, dass Hu, anders als sein Vorgänger Jiang, nicht über seine Amtszeit hinaus noch zwei Jahre der Vorsitzende der Zentralen Militärkommission bleiben würde, informell die wichtigste Position im Land. Hu hatte zwar keine großen Fehler gemacht, und das ist schon viel in diesen turbulenten Zeiten. Seine Reaktion auf die Krise 2008 war sogar ein Meisterstück. Damals reagierte Chinas Führung mit einem großzügigen Konjunkturprogramm, das auch der Weltwirtschaft aus der Patsche half. Große Reformen hatte Hu allerdings nicht angestoßen. Er hatte eher ausbalanciert, »die Harmonie bewahrt«, wie er selbst sagen würde. Doch die Zeit der vornehmen Zurückhaltung ist nun vorbei. Auch das sagte der ungeduldige Blick des 86-jährigen Patriarchen Jiang auf seine Armbanduhr: Es wird höchste Zeit, zu handeln. Auf Hu müssen Politiker folgen, die den Willen haben, vor allem die Wirtschaftsreformen anzupacken.
Im Parteitagsbericht, auf den sich die Führung in zähem Ringen geeinigt hatte, stand denn auch: »Mit vereinten Kräften sollen wir die verschiedenen Träger des Marktes dazu bringen, unserer Entwicklung neue Vitalität zu geben.« Das vorzulesen musste bitter für Hu sein. Hatte er doch genau dies vermieden. Dazu gehöre, fuhr er fort, vor allem die stärkere »Öffnung der Wirtschaft nach außen« mit dem Ziel, die »Nachfrage im Konsumbereich anzukurbeln«. Nur wenige Zeilen später wurde Hu noch konkreter. Eine Passage, die so wichtig für China und die Welt war, dass es sich lohnt, sie in voller Länge zu zitieren, auch wenn sie ein wenig hölzern daherkommt: »Es gilt, die Reformen des Finanzwesens zu vertiefen, ein modernes Finanzsystem zu entwickeln, das die makroökonomische Stabilität fördert und der Entwicklung der Realwirtschaft nützt, einen vielschichtigen Kapitalmarkt zu entwickeln, marktorientierte Reformen des Zinssatzes und des Wechselkurses festen Schrittes voranzutreiben und die Konvertierbarkeit des RMB schrittweise zu verwirklichen.«
Was Hu fast gleichgültig vortrug, ist, wenn es Wirklichkeit wird, nicht weniger als eine Sensation:
Eine neue Weltwährung entsteht. Der Yuan.
Das hat es seit 100 Jahren nicht mehr gegeben. Den Japanern ist es auf dem Höhepunkt ihres Booms in den 80ern des vergangenen Jahrhunderts nicht gelungen, den Yen zur Weltwährung zu machen. Auch die Europäer schafften es in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts nur ansatzweise und sind heute weiter davon entfernt denn je. Nun versuchen es die Chinesen, und die Chancen stehen gut. Allerdings will die Führung offensichtlich nichts überstürzen: Zwar sollen »private Finanzinstitutionen beschleunigt entwickelt werden«, berichtete Hu dem Parteitag, aber gleichzeitig sollen auch »die Kontrolle und die Verwaltung des Finanzsystems verbessert werden«.
Peking versucht also, seine Währung der Welt zu öffnen, ohne das Land den Risiken von unkalkulierbaren Währungsschwankungen auszusetzen: »Das Finanzsystem soll erneuert und gleichzeitig dessen Stabilität gewahrt werden.« Dennoch ist die Entwicklungsrichtung eindeutig: Internationaler soll das Finanzsystem werden, man kann auch sagen: westlicher. Marktwirtschaftlicher Wettbewerb soll dabei eine zentrale Rolle spielen. Das ist, nur kurz zur Erinnerung, die Position der Führung der mächtigsten Kommunistischen Partei der Welt. Chinas Kommunisten wollen also nunmehr ein marktwirtschaftliches, eng mit der Realwirtschaft verbundenes Finanzsystem, dessen strenge und klare Spielregeln die Stabilität der Wirtschaft unter keinen Umständen aufs Spiel setzen. Investieren ja, maßlos spekulieren nein, lautet die Devise. Ein Programm, das jeder deutsche Mittelständler sofort unterschreiben und das selbst für US-Präsident Barack Obama gut als Hausaufgabe für seine letzte Amtszeit taugen würde.
Die Bedeutung der Finanzreformen für die neue Führung könnte nicht größer sein. Sie hat es auf einen Spitzenplatz der Aufgaben geschafft, die sich die Partei gesetzt hat, während der Aufbau der Armee etwa erst auf Platz sieben in der Prioritätenliste rangiert. Die Reform wird die Aufgabe sein, an der Hus Nachfolger, Staats- und Parteichef Xi Jinping, sich in den kommenden zehn Jahren messen lassen muss. Bis er dann, wie sein Vorgänger Hu, die Macht an den Nächsten abgibt. Eines ist klar: Ohne die Internationalisierung des Yuan wird die Partei ihr Ziel, das Pro-Kopf-Einkommen der Chinesen bis 2020 zu verdoppeln, nicht erreichen. China wird zur Geldmacht. Dabei verändert das Reich der Mitte nicht nur sich, sondern auch die Welt. Genau darum geht es in diesem Buch.
Personell scheint die neue Führung recht gut vorbereitet. Die Mitglieder des neuen Ständigen Ausschusses haben fast alle Reformerfahrung in Chinas Boomprovinzen. Staats- und Parteichef Xi selbst hat der Kontakt zum Westen geprägt wie keinen zweiten chinesischen Spitzenpolitiker. Bereits Mitte der 1980er-Jahre reiste er erstmals in die USA. Seine Tochter studiert heute in Harvard. Seine Schwester lebt in Kanada. In seiner Karriere diente er unter anderem als Gouverneur der wirtschaftlich mächtigen Provinz Fujian, gegenüber von Taiwan, und als Parteichef von Schanghai, bevor er 2007 Vizepräsident und zum Nachfolger Hu Jintaos auserkoren wurde. Xi, 1953 als Sohn eines ehemaligen Vizepräsidenten und engen Gefolgsmannes Maos geboren, gilt zwar nicht als Wirtschaftsfachmann, aber doch als weltoffener Reformer. Ab 2007 war er im Ständigen Ausschuss für Hongkong zuständig. In dieser Funktion hat er die Öffnung Hongkongs für den internationalen Yuanmarkt vorangetrieben. Sein politischer Habitus ist im Vergleich zu seinem Vorgänger geradezu salopp.
Li Keqiang, der neue Premierminister, geboren 1955, ist ein promovierter, Englisch sprechender, schlagfertiger Ökonom, der ab 2004 als Provinzgouverneur die boomende Nordprovinz Liaoning noch enger an die Welt anschloss und seither als Vizepremier die schwerfällige Regierungsbürokratie effizienter gemacht hat. Li gilt als ausgemachter Wirtschaftsreformer, der sich sehr für die Reform der Finanzindustrie einsetzen wird.
Zum neuen Parlamentschef und damit zur faktischen Nummer drei im Machtgefüge ist 2012 der bisherige Vizepremier Zhang Dejiang (68) aufgestiegen. Er hatte 2012 von dem ehemaligen Spitzenpolitiker Bo Xilai, der über den Mordfall seiner Frau an einem Engländer gestürzt war, den Posten des Parteichefs von Chongqing übernommen, der größten Stadt der Welt, tief im Westen Chinas. Der Sohn eines Luftwaffengenerals war Parteichef der Provinzen Zhejiang, Jilin und der Südprovinz Guangdong, der wirtschaftlich fortschrittlichsten Provinz des Landes. Zhang gilt als zupackend und vorsichtig reformorientiert. Der profilierteste Wirtschaftsreformer des Ständigen Ausschusses des Politbüros ist Vizepremier Wang Qishan (64). Er ist nun der Chef der mächtigen Disziplinkommission der Partei. Davor war der ehemalige Staatsbanker ebenfalls als Vizepremier zuständig für die Finanzpolitik und in dieser Funktion bei internationalen Investoren sehr beliebt. Er leitete lange den amerikanisch-chinesischen Regierungsdialog. Auch er spricht gut Englisch. Man muss davon ausgehen, dass der Schwiegersohn eines ehemaligen Vizepremiers und Politbüromitglieds eher diejenigen disziplinieren wird, die die Reformen nicht schnell genug anpacken oder Geld für den Aufbau veruntreuen. Bekannt und beliebt wurde er als Bürgermeister von Peking. 1997 schickte ihn der damalige Premierminister Zhu Rongji während der Asienkrise in die Südprovinz Guangdong, um die dortige Finanzkrise zu lösen, was ihm bestens gelang.
Der neue Chef der Konsultativkonferenz Yu Zhengshen (67), ein Raketenbauingenieur, gilt zumindest als weltoffen. Er war von 2007 bis 2012 Parteichef in Schanghai, der fortschrittlichsten Stadt Chinas. In dieser Zeit hat er auch die Weltausstellung betreut, die als großer Erfolg gilt, nicht zuletzt auch, weil Yu hier im Umweltbereich selbstkritische Themenpavillons zugelassen hat. Yu ist ebenfalls ein Sprössling des kommunistischen Klüngels. Sein Großonkel war noch Verteidigungsminister in Chiang Kai-sheks Nationalregierung. Sein Vater war einst mit Jiang Qing verheiratet, der späteren Frau von Mao Zedong, die nach dessen Tod als Mitglied der Viererbande verurteilt wurde. Der Vater seiner Frau wiederum war Generalleutnant der Volksarmee. Sein Bruder lebt in den USA. Seine Domäne, die Konsultativkonferenz, ist ein Gremium, das den Nationalen Volkskongress, Chinas Pendant zu einem Parlament, beraten soll und sich aus Vertretern von ethnischen Minderheiten und Persönlichkeiten außerhalb der Kommunistischen Partei zusammensetzt. Die Konsultativkonferenz gilt als machtlos, aber durchaus fortschrittlich.
Auch Zhang Gaoli (66) zählt eher zu den Wirtschaftsreformern. Bevor er 2012 in den Ständigen Ausschuss gewählt wurde, war er Parteichef von Tianjin, einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszonen und Heimatstadt des ehemaligen Regierungschefs Wen Jiabao. Er begann seine Karriere in der Ölindustrie und arbeitete danach überwiegend in den südlichen Boomprovinzen, darunter auch in Shenzhen, der Grenzstadt zu Hongkong. Zhang ist nun für Polizei und Justiz zuständig und spielt damit eine Schlüsselrolle, denn ein transparentes Rechtssystem ist entscheidend für eine Finanzreform.
Der Einzige, der offensichtlich zu den Bremsern der Reformen gehört, ist Liu Yunshan (65), zuständig für Propaganda und damit auch für die Zensur des Medien-, Internet- und Kulturbereichs. Er hat seine Karriere fast ausschließlich in der wirtschaftlich rückständigen Inneren Mongolei gemacht und gilt als nicht sehr weltläufig. Insgesamt jedoch ist die neue Führung ganz gut aufgestellt.
Den Zeitpunkt, ihre Währung ins Licht der Weltöffentlichkeit zu stellen, haben Chinas Kommunisten nicht ganz freiwillig gewählt. Die enorme Verschuldung der Amerikaner und die Krise in Europa zwingen sie, Tempo zu machen. Sie wollen, ja sie können sich auf den Westen nicht mehr verlassen. Jiang Zemins Blick auf die Uhr ist auch das Ergebnis der Schwäche des Westens. Eine Schwäche, deren Ende nicht absehbar ist. Nun muss die Führung in Peking handeln, obwohl sie sich lieber noch Zeit lassen würde.
Wie funktioniert der Aufbau einer Weltwährung? Was werden die Chinesen anders machen als ihre beiden Vorgänger, die Amerikaner und die Engländer? Was bedeutet die neue Weltwährung für unser Finanzsystem? Und vor allem: Was ändert sich für uns? Wichtige Fragen, die dieses Buch beantwortet.
China spielt bereits in den freien Raum, während wir im Westen noch unsere Abwehr sortieren. Der Aufstieg des chinesischen Yuan begann von einem so niedrigen Niveau, dass wir geneigt sind, ihn zu unterschätzen. Aber er vollzieht sich rasend schnell. Die Währung ist noch nicht einmal frei handelbar, da kann man bei der Galerie Lafayette in Paris oder in Thailand am Strand schon mit Yuan bezahlen. Immer mehr Handelsgeschäfte werden direkt in Yuan abgewickelt, weil Asiaten, Afrikaner oder Südamerikaner keine Lust mehr haben, ihr Geld erst umständlich in US-Dollar zu tauschen.
Das Zentrum der Weltfinanzen verschiebt sich langsam, aber stetig von New York in Richtung Hongkong. Die meisten Börsengänge finden inzwischen in Asien und nicht mehr in Amerika statt. Und selbst Japan, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und einer der größten politischen Widersacher Chinas, hält bereits Yuan als Währungsreserve. Für uns Europäer ist eigentlich heute schon wichtiger, was China mit seiner Währung macht, als die Frage, ob die Griechen nun doch wieder härter arbeiten.
Entsprechend wächst das Selbstbewusstsein der Chinesen. »Der Dollar hat als Leitwährung ausgedient«, sagte der ehemalige Staatspräsident Hu Jintao bereits Anfang 2011 vor seiner letzten US-Reise. Das dollardominierte internationale Währungssystem sei ein »Produkt der Vergangenheit«.
Damals wurde Hu von vielen an der Wall Street noch belächelt. Inzwischen ist ihnen das Lachen vergangen, und sie versuchen, ein Stück des Kuchens abzubekommen. Nicht umsonst wurde London das erste internationale Renminbizentrum nach Hongkong und Singapur.
Die neue Währung kommt gut an: Vor allem für den deutschen Mittelstand ist die Möglichkeit, mit Yuan zu arbeiten, sehr interessant. Viele kaufen Teile in China, aus denen sie Produkte herstellen, die sie wieder in China verkaufen. Da ist der Umweg über den US-Dollar umständlich und teuer. Die neue Führung hat dies verstanden und verbündet sich mit den ausländischen Kunden. Langsam, aber stetig setzen sie den US-Dollar unter Druck und leiten damit nicht weniger als einen epochalen Wandel ein. Schon jetzt ist absehbar, dass eines Tages selbst das Ölförderkartell OPEC den Ölpreis nicht mehr in US-Dollar, sondern in Yuan festlegen wird, der Währung seines größten Kunden.
Eine wirkliche Weltwährung wird der Yuan jedoch erst, wenn auch wir in Deutschland selbstverständlich darüber reden, dass Siemens in den USA zehn Milliarden Yuan investiert und wir eine Vorstellung davon haben, wie viel Geld das ist. Oder wenn die Schweizer UBS in Frankfurt einem deutschen Unternehmen selbstverständlich einen Yuankredit gibt.
Lange, zu lange hat die Regierung in Peking Schutzwälle um ihre Währung gebaut, so, wie die Kaiser von China einst die Große Mauer zum Schutz vor Eindringlingen errichten ließen. China wollte und will verhindern, dass Ausländer das Land durch kurzfristige Kauf- oder Verkaufsbewegungen in eine Schieflage bringen wie Thailand und Südkorea Ende der 1990er während der Asienkrise. Die wichtigste Spielregel lautete bisher deshalb: Der Yuan ist nicht international handelbar. Wenn man am Frankfurter Flughafen mit Yuan an den Bankschalter geht, bekommt man dafür keine Euros oder US-Dollars. Auch an den internationalen Börsen kann man keine Yuan kaufen oder verkaufen. Der Wert ist fest an einen Währungskorb gekoppelt, in dem der US-Dollar den größten Anteil ausmacht, dessen genaue Zusammensetzung die Regierung jedoch nicht verrät. Peking bestimmt allein, wie viele Dollars, Euros oder Yen es für einen Yuan gibt. In den vergangenen Jahren sollte das möglichst wenig sein. Das Kalkül: Eine günstige Währung macht die eigenen Produkte im Ausland billiger. Deshalb ist jetzt China und nicht mehr Deutschland Exportweltmeister.
Doch in diese Große Mauer um die Währung bauen die Chinesen nun immer mehr Durchgänge. Bereits im Jahr 2015, so schätzt die altehrwürdige britische Hongkong and Shanghai Banking Corporation (HSBC), könnte die Hälfte der chinesischen Handelstransaktionen direkt in Yuan abgewickelt werden.
Wie wird sich Washington gegen den Machtverlust wehren? Mit Protektionismus? Oder gar mit militärischen Drohgebärden? Wie werden die Chinesen von der Schwäche des Westens profitieren? So, wie die Amerikaner während des Zweiten Weltkrieges die Schwäche der Briten knallhart ausgenutzt haben? Mit ihrem Vordenker John Maynard Keynes hatten die Briten von einer transnationalen Weltwährung mit ihren Spielregeln geträumt. Doch durch den Krieg waren sie fast zahlungsunfähig. Um an amerikanische Kredite zu gelangen, mussten sie im Gegenzug das Abkommen von Bretton Woods unterzeichnen. Der Vertrag bescherte den Amerikanern große Vorteile und besiegelte das Ende der einstigen europäischen Weltmacht und des britischen Pfundes. Welches internationale Abkommen wird die Dominanz des chinesischen Yuan über den Dollar besiegeln?
Eines ist jetzt schon klar: Der Westen wird sich gründlich umstellen müssen. Das finanzpolitische Laisser-faire der Amerikaner wird es mit Peking wohl nicht mehr geben. Währungsgeschäfte werden sich wieder enger an der Realwirtschaft orientieren müssen. Und China wird, wie gesagt, die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen – unter seiner Führung selbstverständlich. Der Greenback wird etwas romantisch Verstaubtes haben gegenüber dem Redback, wie der Yuan inzwischen genannt wird. Der Euro ist dann bestenfalls ein Achtungserfolg, der russische Rubel, der brasilianische Real und die indische Rupie werden in einer multipolaren Finanzordnung auch eine Rolle spielen, aber längst nicht in Augenhöhe mit dem Yuan.
Und man wird sich eines Tages wundern über die Naivität, mit der Amerika Ende des 20. Jahrhunderts die Zügel des Weltfinanzsystems lockerte. Wie konnte man nur glauben, man kann es sich erlauben, einen Markt ohne Spielregeln gewähren zu lassen? Nun ist das Gejammer des Zauberlehrlings groß und hat eines der größten Abenteuer in der Finanzgeschichte ermöglicht, viel eher, als es notwendig gewesen wäre.
Zum ersten Mal kommt eine neue Weltwährung nicht mehr aus dem Westen, sondern aus der Weltregion, wo sie eigentlich hingehört. Aus Asien, der Region mit der höchsten Wirtschaftskraft und den meisten Menschen.
Frank Sieren, Januar 2013
Währungspolitik – das klingt abstrakt, das klingt nach schwer verständlichen, nicht durchschaubaren Strategien in den Hinterzimmern von Notenbanken und Regierungen, die wiederum von Spekulanten durchkreuzt werden. Vor allem aber klingt es weit weg von unserem Alltag. In Wirklichkeit bestimmt Währungspolitik einen Großteil unseres Lebens. Egal ob wir Obst im Supermarkt kaufen oder ein neues Auto auf Raten: Die Währungspolitik beeinflusst die Preise unserer Produkte und die Zinsen, die wir bezahlen müssen, wenn wir uns Geld leihen. Währungspolitik bestimmt maßgeblich mit, wie gut es uns geht.
Währungspolitik hat mehr mit der Kultur und mit den guten oder schlechten Erfahrungen eines Landes zu tun, als man auf den ersten Blick glaubt. Betreibt man sie richtig, schafft und sichert sie Wohlstand. Betreibt man sie falsch, führt sie ganze Nationen in den Ruin. Bei ihrer Gestaltung spielen die jeweiligen Eigenheiten einer Nation wie Bevölkerungszahl, geografische Lage und wirtschaftlicher Entwicklungsstand eine große Rolle. Gleichzeitig ist Währungspolitik eine Waffe im internationalen Machtkampf. Geldpolitische Theorien, die all das nicht berücksichtigen, haben große Schwierigkeiten, sich in der Praxis zu bewähren. Dennoch ist dies erstaunlich häufig der Fall. Die Zentralbanker der etablierten Staaten neigen dazu, alles über den Kamm ihrer geldpolitischen Theorie zu scheren. Das gibt vermeintlich Halt. Die Aufsteiger hingegen orientieren sich eher an der bunten Praxis.
Für China heißt das: Die Chinesen nutzen die Schwächen der Etablierten, um ihrer Wirtschaft mit geschickter Währungspolitik Vorteile zu verschaffen. Während man im Westen noch diskutiert, ob ein Schachzug theoretisch überhaupt möglich sein kann, haben die Chinesen schon in den freien Raum gespielt und ihre Position verbessert. Die Währungspolitik wird gezielt eingesetzt, um das Wachstum in der Volksrepublik zu befeuern. Pekings Finanzplaner weichen in vielen Punkten von der Lehrbuchmeinung und den etablierten Vorstellungen aus dem Westen ab – trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, haben sie Erfolg.
Ob es dem Westen passt oder nicht – China sitzt inzwischen mit am Tisch, wenn es um das internationale Währungssystem geht. Dabei schart es nicht nur in Asien immer mehr Alliierte um sich, die froh über eine Alternative zum Westen sind, der sie lange genug gegängelt hat. Das missfällt vor allem einem Land: den USA.
Das Fundament der chinesischen Währungspolitik heute ist die feste Kopplung an den US-Dollar. Sehr zum Ärger der Amerikaner. Sie unterstellen den Chinesen – und ganz falsch liegen sie damit nicht –, zu schummeln und den Yuan deutlich zu niedrig zu bewerten. Immer wieder verlangen sie eine Aufwertung. China, so der Vorwurf, mache seine Waren künstlich billig und vernichte dadurch amerikanische Arbeitsplätze. Und in der Tat: Die Chinesen wollen so viel Wohlstand wie möglich für ihre noch arme Bevölkerung und lassen nichts unversucht, um möglichst viel made in China in der Welt zu verkaufen. Niemand kann das Land mehr daran hindern. Ein Hoffnungsschimmer zeichnet sich allerdings für den Westen, allen voran für Amerika ab. Eine Aufwertung des Yuan könnte, wie wir im Laufe des Buches noch sehen werden, in nicht allzu ferner Zukunft durchaus auch aus binnenwirtschaftlichen Erwägungen im Interesse Pekings sein. Aber so weit ist es noch nicht. Und das Wichtigste: Es wird nur passieren, wenn die Chinesen es selbst wollen.
Wer die Währungspolitik Pekings verstehen will, muss zunächst die Grundlagen des chinesischen Wirtschaftswunders begreifen, das Geflecht aus niedrigen Löhnen, einem gigantischen Binnenmarkt, einer moderaten, strikt auf Infrastruktur- und Bildungsinvestitionen angelegten Haushaltspolitik sowie einer ungewöhnlich langfristig angelegten Wirtschaftsplanung.
Im Westen nimmt man gerne die niedrigen chinesischen Löhne als Ausgangspunkt für die Analyse der Lage. »Lohndumping« ist das Schimpfwort. Die Logik der Industrieländer: Weil in China so viele Menschen Arbeit suchten, könne man zu so niedrigen Löhnen produzieren, bei denen die internationalen Wettbewerber nicht mithalten können. Ein weiterer typischer Vorwurf lautet, dass die korrupte Elite des Landes dabei das meiste einstecke. Sie beute die wehrlose Bevölkerung aus, indem sie zu lokalen Preisen herstellen lasse und zu internationalen Preisen verkaufe. Wenn sie dann noch die Währung künstlich niedrig halte, sei das doppelt unfair im internationalen Wettbewerb.
Die Wirklichkeit ist natürlich differenzierter. Weil der Westen so viel kauft und die Chinesen selbst immer mehr konsumieren, werden Arbeitskräfte in der Volksrepublik allmählich knapp. Der Staat erhöht regelmäßig die Mindestlöhne, die internationale Wettbewerbsfähigkeit Chinas gefährdet das nicht ernsthaft. Im Perlflussdelta, einem der wichtigsten Industriestandorte für die Exportproduktion, stiegen die Löhne für ungelernte Industriearbeiter seit 2002 von 50 auf über 250 US-Dollar. Das ist mehr als doppelt so viel wie etwa im Nachbarland Vietnam.
Wenn trotzdem immer mehr in China produziert wird, dann hat das viel mit den Problemen des Westens zu tun, die den Chinesen in die Hände spielen. Die Märkte in den Industrieländern sind gesättigt, die Menschen besitzen schon alles. Längst geht es nicht mehr darum, den Kunden etwas zu verkaufen, was sie noch nicht haben. Vielmehr stehen die Verkäufer im Wettbewerb, den Menschen ein neues Gerät oder Kleidungsstück zu verkaufen, obwohl sie schon eines besitzen. Sie können die zögerlichen Kunden mit neuer Technik überzeugen, mit neuem Design, vor allem aber mit einem günstigen Preis. Darauf basiert der Erfolg von Aldi und Co. und von Saturn, das seinen Durchbruch mit seiner »Geiz ist geil«-Marketingstrategie erzielte.
Die westliche Preisspirale nach unten nutzen die Chinesen aus. Sie sind trotz der steigenden Löhne in der Lage, große Stückzahlen verlässlich, günstig und pünktlich herzustellen, wie kaum ein anderes Land. Ganze Industriezweige sind daher aus entwickelten Hochlohnländern nach China abgewandert. Das Land stellt mittlerweile über 37 Prozent der weltweiten Textilproduktion. Aber auch die modernsten technischen Produkte wie iPhone und iPad werden ausschließlich dort gefertigt.
Der Trend der Produktionsverlagerung mag sich inzwischen verlangsamt haben. Nichtsdestotrotz bleibt China für viele Firmen unerlässlich. Zum einen deshalb, weil viele Konzerne ungern lange aufgebaute Geschäftsbeziehungen ersetzen. Zum anderen, weil China – und hier kommt der zweite Faktor des chinesischen Erfolgs ins Spiel – den anderen Entwicklungsländern etwas voraushat: den kundenreichsten Binnenmarkt der Welt. Viele Hersteller bedienen inzwischen mit ihren in der Volksrepublik hergestellten Produkten nicht nur den internationalen Markt, sondern auch den lokalen. Eine Bevölkerung von 1,3 Milliarden und eine Mittelschicht von mittlerweile rund mindestens 160 Millionen Menschen sind ein attraktiver Absatzmarkt, der schon jetzt doppelt so groß ist wie der in Deutschland.
Dass die Märkte im Westen gleichzeitig stagnieren und der Konsum in anderen aufstrebenden Ländern wie Indien sich nicht annähernd so gut entwickelt, stärkt die Position der Chinesen zusätzlich. Sie können Eintrittsgeld verlangen. Was meist so aussieht, dass westliche Unternehmen den Chinesen Teile ihrer Technologie übergeben und ausschließlich lokale Zulieferer benutzen müssen. In vielen Bereichen dürfen die Ausländer in den chinesisch-westlichen Gemeinschaftsunternehmen keine Mehrheiten haben, und bisweilen entscheiden die chinesischen Behörden sogar, wo die neue Produktion angesiedelt wird. Da es sich trotz der ungünstigen Bedingungen lohnt, in China zu investieren, nehmen die meisten diese Einschränkungen in Kauf.
Die langfristigen Folgen dieser auf kurzfristige Gewinnmaximierung angelegten Strategie blenden sie aus: Der Westen zieht sich seine eigene Konkurrenz heran, indem er Technologie- und Managementwissen nach China transferiert. Dass die ausgebufften Vorreiter des Kapitalismus dabei dennoch mitspielen, unterstreicht die Bedeutung des chinesischen Marktes. Kein Unternehmen von Weltrang kann es sich leisten, auf die Millionen potenzieller Neukunden zu verzichten. Die Chinesen schlagen uns also mit unseren eigenen Mitteln: dem marktwirtschaftlichen Wettbewerb.
So kurzfristig, wie die westlichen Konzerne denken, weil sie täglich auf den Aktienkurs schielen müssen – so langfristig denkt und handelt erstaunlicherweise die chinesische Regierung. Sie verprasst den ins Land schwappenden Wohlstand nicht, sie hortet die Einnahmen für schlechte Zeiten und leiht sich international so wenig Geld wie möglich, um nicht ihrerseits wieder abhängig zu werden. Lieber gehen die Chinesen etwas langsamer. Das gilt für den Staat ebenso wie für die einzelnen Familien. Nirgends auf der Welt sind die Sparraten der Familien vergleichbar hoch, von jedem verdienten Yuan werden je nach Berechnungsart zwischen 30 und 50 Prozent zurückgelegt.
Ebenso sorgfältig geht der Staat mit dem Geld um. Einnahmen werden genutzt, um Infrastruktur aufzubauen und damit die Wettbewerbsfähigkeit Chinas weiter zu stärken. 1990 gab es erst knapp 2000 Kilometer Autobahn, inzwischen sind es über 65 000. Das Schienennetz ist im gleichen Zeitraum von 53 400 Kilometer auf 120 000 Kilometer gewachsen, allein zwischen 2008 und 2012 wurden 33 neue Flughäfen gebaut (heute sind es 180 Flughäfen im Vergleich zu 39 in Deutschland). Viele Häfen, wie zum Beispiel in Schanghai, Tianjin und Ningbo, wurden für den internationalen Seehandel ausgebaut. Derzeit entsteht in der Hafenstadt Qingdao der größte Hafen der Welt. Infrastrukturprojekte wie der neue Großflughafen in Peking, der mit 130 Millionen Passagieren jährlich fast doppelt so viele Passagiere wie Europas größter Flughafen Heathrow abfertigen wird, brauchen von der Planung bis zur Eröffnung kaum länger als vier Jahre. Zwar wird auch einiges an Infrastruktur in den Sand gesetzt. Das allermeiste jedoch nutzt dem Wachstum der Wirtschaft.
Die Regierung investiert zudem in Bildung, die in alter konfuzianischer Tradition einen hohen Stellenwert hat. Es herrscht Schulpflicht bis zur neunten Klasse, über 80 Prozent der Schüler setzen ihre Schulausbildung darüber hinaus fort. In China selbst gibt es über 18 Millionen Studenten, weitere 340 000 verteilen sich auf ausländische Universitäten. Allein an der Eliteschmiede Harvard beträgt ihr Anteil zehn Prozent. Die Analphabetenrate ist mit 4 Prozent für ein Entwicklungsland sensationell gering, in Indien beträgt sie noch rund 26 Prozent.
Die auf stetigen Aufschwung angelegte Haushalts- und Investitionspolitik hängt unmittelbar zusammen mit dem Faktor vier des chinesischen Aufstiegs: der Kultur der politischen Stabilität. Im Gegensatz zu westlichen Politikern, die häufig nur bis zur nächsten Wahl vorausschauen können, plant die chinesische Führung in langen Zeiträumen, oft über mehrere Dekaden hinweg. Dieses Denken in langen Linien entspringt zwar der klassischen, chinesischen Militärphilosophie, ist aber auch in der Kommunistischen Partei fest verankert. Der Schweizer Sinologe und Jura-Professor Harro von Senger spricht in diesem Zusammenhang von »Supraplanung«. Es geht um Ziele, die durch sorgfältige Planung erst in mehreren Jahrzehnten oder noch später erreicht werden sollen. Auch kurzfristige Entscheidungen müssen stets im Einklang mit diesen langfristigen Zielen der Partei stehen.
In den letzten 30 Jahren war wirtschaftliches Wachstum das oberste, sogar in der Verfassung festgeschriebene Ziel. Um dieses Über-Ziel zu erreichen, ist die chinesische Führung sehr pragmatisch, flexibel und erfinderisch. Geschickt nutzt sie marktwirtschaftliche Reformen und die Konkurrenz aus dem Ausland, um die eigenen Betriebe zu modernisieren und konkurrenzfähig zu machen.
Eine Win-win-Situation: Die Wirtschaft ist so erfolgreich, weil die Politik langfristig angelegt ist, und weil die Wirtschaft so erfolgreich ist, können die Politiker es sich auch weiterhin leisten, langfristig zu denken, was wiederum dem Wirtschaftswachstum zugutekommt. Für Entwicklungsländer ist das eher ungewöhnlich, wie man in Indien sieht. Aber auch in Lateinamerika und Afrika leiden die Menschen in vielen Staaten unter unsicheren Herrschaftsverhältnissen und häufigem Politikwechsel.
Der harte Wettbewerb im Westen, der verlockende chinesische Binnenmarkt, die traditionelle Weitsicht der Chinesen – all das bestimmt auch die Währungspolitik der chinesischen Zentralbank. Ebenso wie eine tief in der Geschichte verwurzelte Sehnsucht nach Stabilität. Nach chaotischen und zerstörerischen Zeiten in der Vergangenheit setzen die Chinesen alles daran, so etwas in Zukunft zu vermeiden. Stabilität und Berechenbarkeit sind oberstes Ziel und damit auch wichtigste Maxime in Sachen Geld- und Währungspolitik, einem Gebiet, auf dem die Volksrepublik in der Vergangenheit aus Schaden klug geworden ist, litt doch das Land im 19. und 20. Jahrhundert unter großen Wellen von Unruhen.
Im Taiping-Aufstand Mitte des 19. Jahrhunderts – der im Übrigen seinen Ausgang auch in einer Währungskrise nahm, nämlich der des Silberdollar – kämpften christliche Rebellen gegen die herrschende Qing-Dynastie für einen Gottesstaat. Es ist bis heute der Bürgerkrieg mit den meisten Opfern in der Geschichte der Menschheit, rund 20 Millionen Menschen starben. Die Folgen der Revolution von 1911, bei der die Qing-Dynastie schließlich gestürzt wurde, lähmten das Land für fast 40 Jahre. Es herrschten brutale Regionalfürsten, die sich um die Menschen nicht einen Deut scherten. Zwar wurden die Nationalisten in den 1920er- und 1930er-Jahren als Zentralregierung immer einflussreicher, aber China war weiterhin so zerrissen, dass die japanischen Invasoren während des Zweiten Weltkrieges leichtes Spiel hatten.
Nach dem Sieg der Kommunisten über die Nationalisten 1949 brachte Mao Zedong das Land unter seine Kontrolle. Die Gefahr, dass China auseinanderbricht, wurde geringer. Die Menschen jedoch litten weiter. Politische Kampagnen, wie der Große Sprung nach vorn oder die Kulturrevolution, mit denen Mao den Rückstand Chinas zum Westen aufholen wollte, kosteten Millionen von Menschen das Leben. China war wieder einmal paralysiert.
Mit dem Tod Maos kam die Wende. Der zuvor als kapitalistischer Verschwörer verunglimpfte Deng Xiaoping leitete Reformen ein und öffnete das Land dem Westen. Zunächst ging es nur bergauf. Doch die chinesischen Politiker hatten noch wenig Ahnung von Geldpolitik. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre kauften sie mehr der verlockenden Produkte im Westen ein, als sie ihrerseits verkaufen konnten. Ein Handelsbilanzdefizit entstand. Darüber machte man sich in der Führung zunächst wenig Sorgen. Um noch mehr kaufen zu können, druckten sie einfach mehr Geld. Die Inflation galoppierte, 1988 lag sie bei 18,5 Prozent. Die Menschen bekamen Angst. Sie fürchteten, dass ihre in den 1980er-Jahren erarbeiteten Ersparnisse ihren Wert verlieren könnten. Es kam zu Massendemonstrationen, eine Demokratiebewegung entstand, die 1989 blutig niedergeschlagen wurde.
Erst in den 1990er-Jahren wurde der Führung klar, dass sie eine stabilitätsorientierte Geldpolitik brauchte. Eine Geldpolitik, die wie überall auf der Welt von den eigenen, schlechten Erfahrungen geprägt sein sollte. Ähnlich wie bei den Deutschen, bei denen noch heute eine große Angst vor Inflation herrscht, weil das Chaos der Hyperinflation von 1923 nachklingt, obwohl kaum noch jemand lebt, der sie miterlebt hat.
Bei den Chinesen lautet die Lehre aus der Vergangenheit: Entwicklung ja, aber bitte in kleinen Schritten und ohne großes Risiko. Auch die schlechten Erfahrungen anderer Emerging Markets fließen in diese Strategie ein. Die ehemaligen Ostblockstaaten, die teilweise noch heute darunter leiden, dass sie den Kapitalismus überstürzt eingeführt hatten, werden den Hasardeuren unter den chinesischen Politikern immer wieder als warnendes Beispiel genannt.
Der geldpolitische Kurs, den die Chinesen angesichts ihrer historischen Erfahrungen und mit Blick auf die Fehlentwicklungen in anderen Staaten einschlagen, ist überraschend konservativ, nachgerade altmodisch. Sie greifen auf ein international altbewährtes Konzept zurück, allerdings eins, von dem die meisten westlichen Politiker nichts mehr wissen wollen, obwohl sich auch ihre Vorgänger vor einigen Dekaden noch sehr dafür starkgemacht haben: Mithilfe eines relativ festen Wechselkurses koppeln die Chinesen den Wert des Yuan an den Wert des Dollar. Das mag von gestern sein, schafft aber genau die Stabilität und Verlässlichkeit, die sich die Chinesen wünschen. Dass sie sich im Rest der Welt damit unbeliebt machen, liegt auf der Hand, denn statt der festen Wechselkurssysteme vergangener Zeiten herrscht im Zeitalter der Turboglobalisierung auf dem Devisenmarkt wie auf allen anderen Märkten auch: freie Marktwirtschaft – was, wie wir gleich sehen werden, im Fall einer Währung unkalkulierbare Risiken birgt, die sich die Chinesen gern ersparen wollen.
Die meisten Währungen werden heute wie andere Waren und Dienstleistungen auf einem Markt gehandelt, Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Währungen sind mithin mal billiger, mal teurer. Wenn gerade mehr Käufer US-Dollars erwerben wollen, als auf dem Markt angeboten werden, dann wird der US-Dollar teurer und umgekehrt. Der Preis einer ausländischen Währung in Einheiten der inländischen Währung ist der Wechselkurs. Steigt die Nachfrage nach Euro im Vergleich zum Dollar, so steigt auch der Preis des Euro im Vergleich zum Dollar.
Freie Marktwirtschaft – allerdings mit Einschränkungen. Die Staaten überlassen die Währung in der Regel nicht völlig dem freien Markt. Stattdessen greifen sie indirekt ein, wenn sie die Leitzinsen für das Geld des Landes anheben oder senken. Der Leitzins ist der Preis, den die Banken bezahlen müssen, wenn sie sich beim Staat Geld leihen. Steigen die Zinsen zum Beispiel in den USA, legen mehr Investoren ihr Geld im Dollarraum an. Dann werden Milliarden aus anderen Währungen in den US-Dollar getauscht. So viel, dass der US-Dollar aufwertet. Und weil er die internationale Leitwährung ist, hat das nicht nur Einfluss auf den Dollar selbst, sondern auch auf viele andere Währungen, denen die Investoren dann nicht mehr so viel Geld leihen und deren Kurs damit fällt. Sind umgekehrt die Zinsen in den USA niedrig, fließt weniger Anlagekapital in die Vereinigten Staaten. Im Gegenteil, dann kann es sogar günstiger sein, sich das Geld billig in US-Dollar zu leihen und es gewinnbringend in anderen Währungen zu investieren. Es ist ein beliebtes Spiel von Geldhändlern, sich zum Beispiel Geld in den USA für zwei Prozent Zinsen zu leihen und es für vier Prozent Zinsen in brasilianischen Real anzulegen. Gewinn: zwei Prozent.
Lukrative Geschäfte, wie sie jede Sekunde rund um den Globus von Devisenhändlern in aller Welt getätigt werden. Lukrativ, aber auch riskant. Erstens kann die Zentralbank jederzeit die Zinsen senken, etwa dann, wenn es ihr wichtiger ist, die heimische Wirtschaft mit günstigen Krediten zu versorgen, als internationale Investoren mit hohen Zinsen anzulocken. Vor allem in Wirtschaftskrisen werfen die Zentralbanken gern billiges Geld auf den Markt, so die etwas flapsig-journalistische Formulierung. Die Firmen können sich dann zu niedrigeren Zinsen Geld leihen und verdienen schon bei kleineren Gewinnspannen Geld. Gleichzeitig schmilzt aber auch die Gewinnspanne der ausländischen Investoren dahin. Sie müssen aus der Währung aussteigen, denn der Zinsunterschied arbeitet jetzt gegen sie. Dabei verlieren sie Geld, denn durch den Kapitalabfluss verliert die Währung an Wert, der Wechselkurs verschiebt sich.
Höher als das Risiko für die Händler durch die Zentralbank ist allerdings das Risiko durch die Händler selbst. Denn die Gefahr von Zinserhöhungen oder -senkungen ist verhältnismäßig gering und zu Teilen auch berechenbar. Notenbanken drehen nicht ständig an der Zinsschraube, und in den seltensten Fällen kommen Zinsschritte für die Märkte überraschend. Wenn die Händler aber, aus welchen Gründen auch immer, beschließen, eine Währung zu verkaufen, sinkt der Kurs dieser Währung blitzartig. Andere Investoren müssen gezwungenermaßen nachziehen, denn je länger sie in einer Währung bleiben, die nunmehr im freien Fall ist, desto mehr verlieren sie. Solche Kursrutsche verstärken sich selbst und können ganze Volkswirtschaften in die Enge treiben. Bekanntestes Beispiel ist die Asienkrise 1997, bei der internationale Geldgeber nach Jahren stabilen Wachstums urplötzlich einer ganzen Region das Vertrauen und damit das Kapital entzogen.
Solchen Spekulationen und Machenschaften wollen die Chinesen ihre Währung nicht aussetzen. Die Zentralbank hat den Wechselkurs des Yuan zum Dollar auf einen bestimmten Wert festgelegt. Sie garantiert, dass man für seine US-Dollars stets einen bestimmten Wert an Yuan bekommt. Was allerdings umgekehrt auch heißt, dass die Zentralbank genug Dollars in Reserve haben muss, um flüssig zu bleiben, wenn plötzlich sehr viele Ausländer ihr Geld wieder aus dem Yuan in US-Dollar tauschen wollen. Damit sie nicht in Zahlungsschwierigkeiten kommt, schränken strikte Kapitalverkehrskontrollen die Möglichkeiten von Ausländern stark ein, in China Geld anzulegen.
Die Gesetze des Marktes, sprich Nachfrage und Angebot, können allerdings trotz der Fixierung die Währung unter Druck setzen, denn für den Handel mit dem Ausland müssen Yuan in ausländische Währungen gewechselt werden und umgekehrt. Wenn Amerikas Konsumenten viele chinesische Güter kaufen wollen, müssen ihre Dollars in Yuan umgetauscht werden. Die chinesischen Produzenten können ihre Mitarbeiter nur in Yuan, und nicht in Dollar bezahlen. Das bedeutet, die Nachfrage nach Yuan steigt, während die Nachfrage nach Dollars sinkt. Ginge es nach der Marktlogik, müsste der Yuan aufwerten, er gerät unter Druck, sagen Fachleute dazu. Die chinesische Notenbank jedoch hat Mittel und Wege, diesen Druck wieder abzubauen. Droht der Yuan vom festgelegten Kurs abzuweichen, gleichen die Notenbanker Angebot und Nachfrage aus, indem sie entsprechend Dollarreserven verkaufen oder kaufen. Die Notenbank kann so ihr Versprechen des festen Wechselkurses halten, sammelt allerdings Unmengen an US-Dollarreserven an.
Nichtsdestotrotz, die Politik des festen Wechselkurses schafft Stabilität: Ein chinesischer Exporteur kann verlässlich planen, weil er weiß, wie viele Yuan er für seine Dollareinnahmen bekommt. Das gilt nicht nur für Lieferungen in die USA. Weil auch andere asiatische Nationen ihre Währung mehr oder weniger stark an den Dollar binden, wird der Handel innerhalb Asiens stabilisiert. Und beim Einkauf bringt die Dollarbindung den chinesischen Konzernen Investitionssicherheit, weil die Preise für die wichtigsten Rohstoffe wie Öl und Gas in Dollar notiert sind. Die chinesische Volkswirtschaft kann so zwar keine noch größeren Sprünge machen, ist dafür aber geringeren Schwankungen ausgesetzt. Ein großer Vorteil, wenn eine Wirtschaft im Aufbau ist. Und genau das war ursprünglich der Hauptgrund für die chinesische Regierung, sich für diese Strategie zu entscheiden.
Mit der Zeit stellte sich ein angenehmer ungeplanter Nebeneffekt ein. Es zeigte sich, dass die Politik des festen Wechselkurses einen entscheidenden Vorteil hat, der das chinesische Wirtschaftswunder noch mehr anheizt. Durch die Kursbindung ist der Yuan billiger, als er ohne Eingriff der Chinesischen Volksbank wäre. Der Yuan galt im Vergleich zum US-Dollar lange als zwischen fünf und 50 Prozent unterbewertet. Was sich natürlich auf den internationalen Handel auswirkt. Ausländische Produkte werden in China teurer, als sie sein müssten, wenn der Yuan frei handelbar wäre. Umgekehrt werden chinesische Produkte, die der Welt verkauft werden, viel billiger, als sie es bei einem freien Yuan sein könnten. Das iPhone 5 etwa, das in Südchina hergestellt wird, wäre auch in Deutschland deutlich teurer, wenn der Yuan nicht an den US-Dollar gekoppelt wäre, und würde womöglich sogar woanders hergestellt. Der niedrige Wechselkurs wirkt wie eine indirekte staatliche Subvention für die chinesischen Hersteller und wie ein Einfuhrzoll für die internationalen Anbieter. Um diesen Wettbewerbsdruck auszuhalten, sind immer mehr westliche Unternehmen gezwungen, in China zu produzieren.