Bescheidenheit –
für eine neue Ökonomie
Gespräch mit Roman Chlupatý
Aus dem Tschechischen von Markus Sedlaczek
Titel der Originalausgabe:
Soumrak homo economicus. Rozhovor s Romanem Chlupatým
Prag, 65. pole 2012
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© Roman Chlupatý, Tomáš Sedláček, David Orrell, 2012
© 65. pole, 2012
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© 2013 Carl Hanser Verlag München
Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de
Lektorat: Martin Janik
Herstellung: Andrea Stolz
Umschlaggestaltung: Birgit Schweitzer
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-446-43499-8
ISBN (Buch) 978-3-446-43486-8
Inhalt
Einführung
1 Wir brauchen eine härtere Krise. Dann wird es besser.
2 Das Harte schlägt das Weiche, oder: Werte ohne Preis
3 Mathematik: Nicht die Lösung, sondern die Ursache der Probleme
4 Wahrheit der Dichter, Wahrheit der Modelle
5 Macht in der Ökonomie, Macht über die Ökonomie
Zu den Autoren
Editorischer Hinweis
Einführung
Ich sitze im Frühzug von London nach Oxford. Der angenehme Sommermorgen erscheint mir wie ein Symbol für die Ruhe, die eingekehrt ist, nachdem sich der Sturm an den Finanzmärkten gelegt hat. Ich habe einige Gespräche von der Sorte hinter mir, die man leicht wieder vergessen kann und in denen man mich zu überzeugen versuchte, dass die Wirtschaft wieder läuft; dass unterwegs zwar noch einige Schlaglöcher auf uns warten, der Weg selbst jedoch nach oben führt. Rebellischer Gesinnte sprechen dann davon, dass wir gleichsam eine leere Dose nur ein Stück weiter die Straße hinuntergekickt, das heißt die Probleme nur aufgeschoben hätten. Sie behaupten, dass die Probleme wiederkehrten – und dann noch größer seien als zuvor. Kaum jemand aus der Londoner City hegt jedoch Zweifel im Hinblick auf den Weg selbst.
Ich freue mich schon, dass ich bald etwas anderes zu hören bekommen werde. David Orrell, den ich gleich treffen soll, verkündet der Welt nämlich ohne Umschweife: Der ökonomische Mainstream ruht auf zweifelhaften Fundamenten. Vergesst die Frage, ob irgendwelche Schlaglöcher oder Blechdosen auf uns warten, fangt lieber an, über das Wesentliche zu sprechen! Seine Behauptungen belegt er mit einer Analyse der verwendeten Modelle und der Mathematik. Mit Dingen also, die sein täglich Brot sind. Tomáš Sedláček, der in einem auf dem Parallelgleis dahinjagenden Zug nur knapp hinter mir fährt, kommt zu ganz ähnlichen Schlüssen, wenn auch auf den Wegen der Philosophie und der Vergleichenden Religionswissenschaft.
Als wir uns treffen, werden weitere Unterschiede deutlich. Der extrovertierte Tomáš lässt den schweigsamen David kaum zu Wort kommen. Nichts von alldem, worüber ich sprechen möchte, kommt zur Sprache. Ob das gut geht? Als die Tonbandaufnahme beginnt, zeichnet sich die Antwort auf diese Frage ab. Davids Einstieg ist etwas zögerlich und deskriptiv. Je länger wir aber sprechen, desto mehr kommt auch er in Fahrt. Anekdoten wechseln sich mit tiefsinnigen Überlegungen ab, jede Antwort eröffnet den Raum einer völlig neuen Diskussion. Wir überziehen zeitlich ein ganzes Stück. Am Ende ist daher wie am Anfang schon klar, dass es eine Unmenge Fragen gibt; und dass vermutlich noch einige neue hinzugekommen sind. Aber endlich habe ich zur Abwechslung einmal von jemandem gehört: Der König ist nackt!
Eigentlich hieß es: Der König ist vielleicht nackt. Aber auch das klang im Grabenkampf der Lagerideologen bereits sehr erfrischend. Anstelle des ewigen Streits darum, ob das gegenwärtige System mehr Staat oder mehr Markt brauche, äußert endlich jemand Zweifel am System selbst beziehungsweise an seinen Grundlagen. Gewiss, David und Tomáš sind weder die Ersten noch (vielleicht) die Letzten, die derlei taten. Ihr Gespräch zeigt jedoch, wie nahe sich unterschiedliche Kritiker des Mainstreams sein können, selbst wenn sie von einander so fernen Welten ausgehen, wie die Mathematik und die Philosophie es sind.
Mit ihren Ansichten muss man keineswegs vorbehaltlos übereinstimmen. Ich bin sogar sicher, dass die beiden so etwas auch gar nicht anstreben. Es besteht kein Zweifel, dass es ihnen darum geht, die Leute zu kritischem Denken aufzurufen. Ebendies ist auch das unbescheidene Ziel dieses bescheidenen Büchleins. Und wenn Sie sich nun bei der Lektüre genauso gut unterhalten wie wir drei damals in Oxford, wird das ein zusätzlicher Bonus sein. Vergessen Sie aber bitte nicht, dass wir stellenweise ziemlich unernst über Dinge sprechen, die das Leben jedes Einzelnen von uns in überaus ernster Weise bestimmen.
Roman Chlupatý
Wir brauchen
eine härtere Krise.
Dann wird es besser.
Roman Chlupatý Aufgrund der Finanzkrise, auf die eine Wirtschaftskrise und auf die wiederum eine Schuldenkrise folgte, sind Wirtschaft und Ökonomie ins Zentrum des Interesses gerückt. Plötzlich beschäftigen sich sowohl die Leitartikel der Zeitungen als auch die Leute beim Bier mit Ökonomie. Hat sich dadurch etwas geändert?
David Orrell Ich habe das Gefühl, dass wir auf unsere Art durchaus etwas gelernt haben. Das hat jedoch zu keiner grundlegenden Reform dessen geführt, wie wir die Wirtschaft wahrnehmen. Eben deshalb stehen wir heute da, wo wir stehen.
Hier in England wurde zum Beispiel beschlossen, das Investmentbanking von den Geschäftsbanken, also jenen Banken, mit deren Hilfe die Leute ihre alltäglichen Geschäfte erledigen, zu trennen. Dank dieser Trennung sollte sich eine mögliche Ansteckung in Zukunft nicht mehr auf den gesamten Organismus ausweiten oder sich zumindest nicht mehr derart leicht ausweiten können. Gleichzeitig wird hier Druck ausgeübt, um die Gehälter und die Boni der Banker zu begrenzen. Vor allem die Boni, denn um ihretwillen gehen die Banker all die Risiken ein. Was einer der Gründe für die Finanzkrise war. Nicht zuletzt heißt es, dass die Eigenreserven der Banken erhöht werden müssten, weil es schlechterdings nicht möglich sein kann, dass die Banken zu 99 Prozent mit dem Geld anderer Leute spielen.
Dies alles sind meiner Ansicht nach aber eher nur Kleinigkeiten.
Roman Viele der Regeln, nach denen sich die Finanzwelt richtet, sind bereits verschärft worden. An weiteren Maßnahmen, wie zum Beispiel Basel III, das heißt einem für die gesamte Finanzwelt geltenden Regelwerk, wird gearbeitet. Soll das heißen, dass all dies vergebens ist?
David Nehmen wir zum Beispiel die Feststellung, dass man den Markt der sogenannten Derivate irgendwie regulieren müsse. Diese waren nämlich »over the counter« zu bekommen, wie man in der Fachsprache sagt, das heißt im »außerbörslichen Handel« jenseits der organisierten Märkte und der mit ihnen verbundenen Übersichtlichkeit. (Was, nebenbei bemerkt, ein treffendes Symbol für die Verrücktheit der Zeit vor der Krise ist.) Die Leute haben sich sehr komplizierte Instrumente ausgedacht. Den Handel mit ihnen hat dann keiner mehr überblickt. Und diese völlig deregulierte Sphäre wuchs schließlich zu größeren Dimensionen heran als die Realwirtschaft. Das war zweifellos absoluter Wahnsinn. Und jetzt wird das korrigiert, beziehungsweise: Man arbeitet an der Korrektur.