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Nr. 1588

 

Die falsche Kette

 

In den Höhlen von Zonai – das große Geheimnis wird gelüftet

 

Marianne Sydow

 

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Seit dem Tag, da ES die prominentesten Friedensstifter der Linguiden mit den Zellaktivatoren ausstattete, die einst Perry Rhodan und seinen Gefährten zur relativen Unsterblichkeit verhalfen, ist das Volk der Linguiden aus dem Dunkel der Geschichte jäh ins Rampenlicht der galaktischen Öffentlichkeit katapultiert worden.

Ob man den Linguiden, einem Volk liebenswerter Chaoten, damit einen Gefallen getan hat, bleibt dahingestellt. Die neuen Aktivatorträger sind jedenfalls überzeugt davon, dass die Geschichte Großes mit ihnen vorhat. Sie fühlen sich dazu berufen, die politischen Verhältnisse in der Galaxis neu zu ordnen.

Sie sind bei ihrem Vorgehen nicht gerade zimperlich. Und wenn es um die Durchsetzung wichtiger Ziele geht, kennen die regierenden Friedensstifter keine Skrupel.

Doch als sie selbst vor schwersten Verbrechen nicht zurückschrecken, wird bei den Friedensstiftern des alten Schlages, d.h. bei denen, die keine Aktivatoren ihr Eigen nennen, die Toleranzgrenze weit überschritten, und Gegenmaßnahmen werden eingeleitet. Eine Aktivatorträgerin kommt allerdings zur Einsicht. Sie erkennt die Wahrheit über sich, ihre verblendeten Kollegen und die Entstehungsgeschichte ihres Volkes – sie sieht DIE FALSCHE KETTE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Dorina Vaccer – Eine Friedensstifterin erkennt die bittere Wahrheit.

Amdan Cutrer – Dorinas Meisterschüler.

Aramus Shaenor und Balasar Imkord – Die Mitglieder des Triumvirats haben sich verändert.

Perry Rhodan und Roi Danton – Die Terraner sind misstrauisch.

1.

1.10.1173 NGZ

 

Es war vorbei.

Die linguidische Friedensstifterin Cebu Jandavari hatte den Befehl gegeben, und die Überschweren hatten diesen Befehl ohne jede Verzögerung befolgt.

Cebu Jandavari hatte die Siedlungen auf dem Planeten Voltry mit all ihren Bewohnern vernichten lassen.

Diese Nachricht wird wie ein Lauffeuer durch die Medien gehen, dachte Dorina Vaccer betroffen. Das ist der Anfang vom Ende.

Es war sehr still in der Zentrale der SINIDO. Niemand mochte die Vorgänge im Shrenno-System kommentieren.

Dorina Vaccer musterte ihre Mannschaft, ihre Schüler.

Sie alle wirkten wie gelähmt. Keiner von ihnen war je zuvor in dieser Weise mit dem Tod konfrontiert worden.

Tausende von Arkoniden waren auf dem Planeten Voltry gestorben.

Und es hätte noch viel schlimmer kommen können, überlegte die Friedensstifterin. Es hätten genauso gut Milliarden sein können. Wir hatten noch großes Glück, dass Voltry nur wenige Bewohner hatte.

Aber im Grunde genommen war der Unterschied nicht von Bedeutung. Nie zuvor hatte ein Linguide eine so furchtbare Schuld auf sich geladen.

Ich wollte, ich hätte den Mut, noch einmal in die LOMORAN zurückzukehren, wünschte sich Dorina Vaccer. Irgendjemand muss Cebu Jandavari unbedingt aufhalten. Aber ich bezweifle, dass ich jetzt die Kraft dazu hätte.

Hatte sie nicht ein Mittel, das ihr helfen würde, sehr schnell wieder zu ihren Kräften zu kommen?

Sie steckte die Hand in die Tasche und schloss die Finger um den Zellaktivator.

Das kleine Gerät fühlte sich warm an. Die Linguidin spürte die pulsierende Kraft, die von dem Aktivator ausging.

Ich werde ihn mir wieder umhängen, sagte die Friedensstifterin in Gedanken zu sich selbst. Jetzt, sofort. Er wird mir helfen, Cebu Jandavaris Motive zu durchschauen. Ich muss dahinter kommen, warum sie es getan hat. Sie muss einen triftigen Grund gehabt haben.

Einen triftigen Grund, Massenmord zu begehen? Dorina Vaccer ließ den Zellaktivator wieder los. »Was für ein irrwitziger Gedanke!«, sagte sie laut.

Amdan Cutrer, der die ganze Zeit hindurch regungslos neben seiner Meisterin gestanden hatte, zuckte zusammen und fuhr herum.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte er vorsichtig.

Dorina Vaccer beobachtete ihn irritiert. »Was würdest du denn vorschlagen?«, fragte sie zurück.

»Ich bin nur dein Schüler«, erwiderte er und hielt dabei den Kopf gesenkt. »Ich bin verwirrt und erschrocken. Gib mir Zeit, mich ein wenig zu erholen.«

Verwirrt und erschrocken – das waren sie alle.

»Ein guter Vorschlag«, sagte Dorina Vaccer und stand auf. Sie fühlte sich schwindelig. Für einen Augenblick glaubte sie, dass etwas mit der künstlichen Schwerkraft an Bord der SINIDO nicht stimmte.

Aber bei einem solchen Defekt hätte der Syntron Alarm geben müssen.

Es ist die Aufregung, überlegte die Friedensstifterin. Und außerdem dürfte die Frist allmählich ablaufen. Es wird höchste Zeit, dass ich eine Entscheidung treffe.

»Uns allen würde etwas Schlaf und Besinnung nicht schaden«, fuhr sie fort. »Wir kehren in den Simban-Sektor zurück. Bis wir dort ankommen, hat Ruhe an Bord zu herrschen. Ich möchte von niemandem gestört werden.«

 

*

 

Sie betrat ihre Kabine und schloss die Tür hinter sich.

Endlich war sie allein.

Dorina Vaccer legte den Zellaktivator auf einen kleinen, niedrigen Tisch. Sie blieb vor dem Tisch stehen und starrte den Aktivator an.

Sie glaubte, Garyo Kaymars Stimme zu hören: »Es ist eine Aufgabe, der ihr nicht gewachsen seid!«

Dorina Vaccer erinnerte sich daran, wie Atlan ihr den Zellaktivator zurückgebracht hatte. Menno von Volleron und Toran von Tryolla hatten den Aktivator nicht für sich selbst gestohlen. Sie hatten ihn Atlan schenken wollen. Der Arkonide hatte dieses Geschenk jedoch nicht angenommen. Er wollte die Unsterblichkeit nicht auf dem Umweg über ein Verbrechen zurückerhalten. Darum hatte Atlan den Aktivator an Dorina Vaccer zurückgegeben.

Cebu Jandavari hatte sich dadurch jedoch nicht beeindrucken lassen. Sie hatte alle Vermittlungsversuche überhört und unbeirrbar darauf bestanden, dass die Bewohner des Planeten Voltry für den Diebstahl des Zellaktivators bestraft werden mussten.

Alle Bewohner, auch jene, die nicht das Geringste mit dem Diebstahl zu tun gehabt hatten.

Sogar die Kinder.

Das ist alles so sinnlos!, dachte Dorina Vaccer. Und nur dieses kleine Gerät ist an allem schuld!

Aber das traf nicht den eigentlichen Kern der Sache. Auch sie selbst war schuld an dem, was geschehen war.

Es stimmt zwar, dass ES mir den Zellaktivator verliehen hat, überlegte sie. Aber was bedeutet das schon, wenn ich offensichtlich nicht imstande bin, ihn auch zu behalten?

Ihre Gedanken vollführten seltsame Sprünge. Immer neue Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf.

Eine Zeit lang huschten diese Bilder mit solch wahnwitziger Geschwindigkeit vorbei, als hätte Dorina Vaccers Gehirn schon seit Jahren keine Gelegenheit mehr gehabt, in der Fülle der Erinnerungen zu blättern.

Bilder aus der Kindheit – Bilder aus der jüngsten Vergangenheit. Eine wahre Sturzflut von Eindrücken. Dann kamen und gingen die Bilder allmählich langsamer, und schließlich gelang es der Linguidin, diese oder jene Erinnerung festzuhalten.

Dorina Vaccer dachte daran zurück, wie sie den Aktivator in den Zweigen ihres kima-Strauchs gefunden hatte – ein kleines, eiförmiges Gerät, das die Ewigkeit zu verkörpern schien.

Damals hatte die Linguidin für einen Augenblick das Gefühl gehabt, als hätte eine eiskalte Hand ihr Herz gepackt und fest umklammert.

Das war ein schrecklicher Moment gewesen. Auch wenn dieses Gefühl schnell wieder vergangen war – Dorina Vaccer hatte es niemals vergessen, und oft genug hatte diese Erinnerung sie bis in ihre Träume hinein verfolgt. Ab und zu – hier, in dieser Kabine, wenn sie wusste, dass niemand sie beobachten konnte – hatte sie den Aktivator für kurze Zeit abgenommen.

Seltsamerweise hatte sie jedes Mal ein Gefühl der Erleichterung empfunden.

Aber im Grunde genommen hatte sie schon viel früher zu zweifeln begonnen.

Schon nach dem ersten Besuch auf Wanderer.

Der unglaubliche Auftrag, den die Superintelligenz den Linguiden erteilt hatte, die Begleitumstände des ersten Kontakts zu ES, all das war Dorina Vaccer nicht geheuer gewesen.

Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen. Aber sie war fortan Garyo Kaymar aus dem Weg gegangen. Garyo hatte das gemerkt, und er hatte erkannt, dass etwas nicht in Ordnung war. Er hatte versucht, Dorina Vaccer zu warnen.

Aber sie hatte ihn nicht verstanden. Nicht verstehen wollen.

Ein anderer Komplex von Bildern:

Im Plaun-System, auf Skiagatan, hatte Dorina Vaccer zum ersten Mal einen Vorgeschmack darauf bekommen, was es bedeutete, die Unsterblichkeit wieder zu verlieren.

Damals hatte man ihr auch den Aktivator gestohlen.

Und schon damals war sie sich ganz und gar nicht sicher gewesen, ob es wirklich gut für sie war, wenn sie den Zellaktivator wieder anlegte.

Die Angst ums nackte Überleben hatte diese Zweifel ausgelöscht.

So war es damals gewesen – so würde es auch diesmal sein.

Es war immer wieder derselbe Punkt, um den Dorina Vaccers Gedanken kreisten.

Dieser Zellaktivator ist mein rechtmäßiges Eigentum, überlegte sie. Niemand kann das bestreiten. Ich kann ihn mir ruhig wieder umhängen. Dann werde ich ewig leben. Wenn ich ihn mir nicht wieder umhänge, werde ich sterben.

Sie hängte ihn sich nicht um. Stattdessen setzte sie sich auf die Matte und starrte die dunklen Wände an.

Im Lauf der vergangenen Tage hatten sich Dinge ereignet, die sie erst noch verarbeiten musste. Sie war sich dieser Tatsache bewusst. Aber sie hatte keine Ahnung, wo sie damit anfangen sollte.

Jedes Mal, wenn sie es versuchte, schrumpften all diese Ereignisse auf einen Kern zusammen, der nur eine einzige Person betraf:

Sie selbst.

Dorina Vaccer, die Friedensstifterin. Nach einiger Zeit stand sie auf und legte den Zellaktivator in ein verschließbares Fach. Dann setzte sie sich wieder hin und starrte ins Leere.

Sie war unfähig, sich zu irgendetwas aufzuraffen. All ihr Denken und Fühlen konzentrierte sich auf ein einziges Geräusch – auf das Schlagen ihres eigenen Herzens.

Es stotterte.

Dann raste es.

Einmal setzte es sogar für mehrere Sekunden ganz aus.

Das war's!, dachte Dorina Vaccer und wunderte sich darüber, dass sie so ruhig dabei bleiben konnte. Dann setzte ihr Herz wieder ein.

Ein Krampf fuhr ihr in alle Glieder und erfasste ihren ganzen Körper. Kein Medikament half gegen den Schmerz.

Ich lebe!, sagte Dorina Vaccer in Gedanken zu sich selbst. Solange ich diesen Schmerz fühle, bin ich noch nicht tot, und solange ich nicht tot bin, habe ich eine Chance!

Sie wiederholte es immer und immer wieder.

Stundenlang.

Dann war der Schmerz weg. Stattdessen kam das Gefühl der Desorientierung. Dorina Vaccer verlor den Bezug zur Welt und zur Zeit. Fast hätte sie sogar den Bezug zu sich selbst verloren. Und damit auch ihren Verstand.

Es war, als würde sie in einen Abgrund fallen.

Tief, immer tiefer.

Und als sie landete und verwundert feststellte, dass sie immer noch am Leben war, hatte die Veränderung bereits stattgefunden.

Aber sie brauchte noch viel Zeit, um herauszufinden, was sich verändert hatte.

2.

2.10.1173 NGZ

 

Dorina Vaccer fühlte sich, als hätte sie eine lange, schwere Krankheit überwunden. Schlapp und schwach, mit wackeligen Knien verließ sie ihre Kabine.

Sie stellte fest, dass es in der SINIDO sehr still war. Keiner der Schüler ließ sich blicken. Nirgends wurde geredet. Niemand lachte.

Es war geradezu unheimlich. Dorina Vaccer erreichte die Zentrale und trat ein.

Auch hier war es auffallend ruhig. Dabei waren alle Stationen besetzt. Es schien jedoch, als hätten sich die rund zwanzig Linguiden, die zur Zeit anwesend waren, nichts mehr zu sagen.

Das war ungewöhnlich.

Von draußen näherten sich jetzt schnelle Schritte. Dorina Vaccer drehte sich um und sah Amdan Cutrer, der gerade in diesem Moment eintrat.

Der Linguidin wurde klar, dass man ihren Schüler im selben Augenblick herbeigerufen hatte, als sie selbst in der Zentrale angekommen war.

Als hätten sie ihn zu ihrem Fürsprecher gemacht, dachte Dorina Vaccer verwundert. Als hätten sie Angst davor, selbst mit mir zu sprechen!

»Wir erreichen unser Ziel in wenigen Stunden«, sagte Amdan Cutrer zu ihr.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, ein Ziel genannt zu haben«, bemerkte Dorina Vaccer.

Amdan Cutrer war ihr Meisterschüler, fast schon selbst ein Friedensstifter. Er hatte sich sehr gut in der Gewalt. Trotzdem konnte Dorina Vaccer deutlich erkennen, dass ihm der Schreck in alle Glieder fuhr.

»Seit wann hast du Angst vor mir?«, fragte sie verwundert.

Amdan Cutrer ging nicht auf diese Frage ein. »Wir sind auf dem Weg nach Lingora«, sagte er. »Du hast dort eine Verabredung mit Balasar Imkord und Aramus Shaenor.«

»Tatsächlich?«, fragte Dorina Vaccer überrascht. »Wann?«

Amdan Cutrer zögerte. Er schien zu glauben, dass seine Meisterin ihm nur etwas vorspielte. Offensichtlich rechnete er damit, dass sie ihn lediglich zu einer überflüssigen Erklärung verleiten wollte. Er war darauf gefasst gewesen, dass sie ihn dann mit irgendeiner herabsetzenden Bemerkung in jene Schranken weisen würde, aus denen sie selbst ihn gerade erst mit Mühe hervorgelockt hatte.

»In vier bis fünf Tagen«, sagte er verbissen. »Du hast bisher noch keinen festen Termin genannt.«

»Dann bleibt uns noch genug Zeit für einen Abstecher nach Taumond«, stellte Dorina Vaccer fest.

Amdan Cutrer wich ihren Blicken aus. Er wandte sich an den Piloten.

»Kurs auf Taumond!«, befahl er, als brauche seine Meisterin neuerdings jemanden, der ihre Worte für das gemeine Volk übersetzte und interpretierte.

Dorina Vaccer beobachtete diese Szene verwundert. Sie beschloss jedoch, sich nicht dazu zu äußern, sondern zunächst einmal abzuwarten.

»Möchtest du einen Rundgang durch das Schiff machen?«, fragte Amdan Cutrer so höflich, als spräche er mit einer Fremden.

Dorina Vaccer nahm an, dass ihr Schüler nach einer Gelegenheit suchte, ungestört und ohne Zeugen mit seiner Meisterin zu reden. Sie fragte sich jedoch, warum er sich dabei so umständlich anstellte.

Warum bat er sie nicht einfach um ein Gespräch unter vier Augen, wie er es sonst bei solchen Gelegenheiten ohne jedes Zögern getan hatte?

Sie verließen die Zentrale und gingen nebeneinander den Hauptkorridor entlang.

»Ich hoffe, dass die Aktion der Überschweren nicht Teil irgendeines geheimen Plans ist, den du und die anderen verfolgen«, bemerkte Amdan Cutrer plötzlich.

»Ich verstehe nicht, wie du das meinst«, erwiderte Dorina Vaccer irritiert.

Amdan Cutrer blieb stehen und starrte sie an. Er wirkte hilflos und ängstlich.

»Ich bin ja bereit, es zu akzeptieren«, sagte er. »Ihr habt mit der Unsterblichkeit wirklich ein höheres Maß an Weisheit erlangt. Eure Pläne sind für uns nicht mehr durchschaubar. Das ist in Ordnung. Wir alle sind bereit, uns euch unterzuordnen. Aber ein solches Töten, die Vernichtung der Bevölkerung eines ganzen Planeten – so etwas lässt sich auch durch die neue Ordnung nicht rechtfertigen.«

Natürlich nicht!, wollte Dorina Vaccer ihm antworten.

Aber sie zögerte.

Da war etwas in Amdan Cutrers Stimme, was ihr zu denken gab. Sein letzter Satz hätte eine Anklage sein sollen, zumindest aber eine Feststellung. Stattdessen klang dieser Satz eher wie eine Frage.

Dorina Vaccer stellte irritiert fest, dass Amdan Cutrer sich seiner Sache nicht sicher war. Er wartete darauf, dass seine Meisterin ihm eine Erklärung lieferte, die das grausame Geschehen im Nachhinein als sinnvoll erscheinen ließ – als wichtigen Bestandteil eines Planes zur dauerhaften Befriedung der Milchstraße.