C.H.Beck
Johann Paul Friedrich Richter (1763–1825), der sich Jean Paul nannte, war ein Meister der Erzählkunst und ein grandioser Erforscher menschlicher Innenwelten. Zu Lebzeiten lagen ihm die Leser – vor allem die weiblichen – zu Füßen. Und doch galt er früh schon als Sonderling der deutschen Literatur. In ihrer glänzend geschriebenen Biographie lässt Beatrix Langner den Menschen Friedrich Richter ebenso wie die Gestalten, die er schuf, lebendig werden. Dabei zeigt sie, wie Jean Pauls gewaltiges Prosawerk erst aus einer so hellsichtigen wie sensiblen Auseinandersetzung mit seiner Zeit entstehen konnte.
Beatrix Langner, geb. 1950, ist freie Autorin, Literaturkritikerin und Schriftstellerin. Die promovierte Germanistin hat in den vergangenen Jahren viel gelobte Bücher u.a. über Friedrich Hölderlin und Adelbert von Chamisso veröffentlicht.
I. Buch
DER HÄFTLING DES HIMMELS
(1763–1784)
1. Die Väter
2. Das stumme Klavier
3. Die Exerzitien
4. Wie der Teufel aussieht
5. Das Haus des Ich
6. Die Leipziger Bücherschlacht
7. Der unheilige Paulus
8. Der Vulkan und Sophie
II. Buch
DES TEUFELS SCHREIBMASCHINE
(1785–1795)
1. Der Teufel und der Landeshauptmann
2. Was heißt überhaupt Aufklärung
3. Das virtuelle Kaffeehaus
4. Physik versus Metaphysik
5. Die Zeitungsmacher
6. Wutz oder Ein glücklicher Schriftsteller
7. Gustav und seine Verderber
8. Ende eines Satirikers
9. Hesperus
10. Jeanpaulisches Gewitter opus 1
11. Von Auenthal über Hukelum nach Europa
12. Ich und Ich oder Siebenkäs und sein Leibgeber
III. Buch
AD PARNASSUM
(1796–1804)
1. Man war bei Göthe
2. Das Kampaner Tal
3. Wiedergeboren in Leipzig
4. Masken, Chiffren, Titanen
5. Ein Citoyen bei Hofe
6. Schoppe und der Ich
7. Berliner Verhältnisse
8. Meininger Lustpartien
9. Coburger Prozesse
10. Kritik der poetischen Vernunft
IV. Buch
DAS ORAKEL VON BAYREUTH
(1805–1815)
1. Der Armenfreund
2. Der Mund der Wahrheit
3. Zwischen den Linien
4. Der famose Doktor Katzenberger
5. Der Friedensprediger
6. Weimar in Europa
7. Frau Rollwenzel und Herr Fibel
8. Wissenschaftsgaukler und heilige Narren
9. Der Kosmopolitiker
V. Buch
KINDER DER TITANEN
(1815–1825)
1. Die heilige Allianz
2. Deutsche Sprachkälte
3. Politik der Liebe
4. Schwarzer Pudel, weißer Spitz
5. Jean Paul spielt Blindekuh
6. Max Richter und der Mysticus
7. Der zornige Selberarzt
8. Selina oder Die Vermessung der 2ten Welt
9. Menuett mit Engeln
10. Aus der Nachwelt
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Personenregister
Wir sehen aus dem Schiffe wie durch eine Meertiefe unten in einem
gewölbten Himmel eine steigende Glückseligen-Insel – und unsere
Sehnsucht wird unendlich.
Jean Paul, Selina
Wir verwirklichen uns nie.
Wir sind zwei Abgründe – ein Brunnen, der den Himmel anstarrt.
Fernando Pessoa, Buch der Unruhe
I. BUCH |
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DER HÄFTLING DES HIMMELS Ich danke dem lieben Gott, dass er mich zum Atheisten gemacht hat. Georg Christoph Lichtenberg |
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DIE VÄTER |
Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth, um 1727
Schön schlängelt sich die neugeborene Saale durch das Fichtelgebirge, ein rieselnder Bach, vorbei an Zell, Weißenstadt, Voitsumra, Ruppertsgrün, Schwarzenbach. Aus den Weber- und Färberdörfern nimmt sie die Rückstände von Krappwurzel und Färberdistel, Berberitze, Ahornwurzel und Rainfarn, Purpurschnecke und Eisenspänen mit und wandert, bald zwischen waldigen Hügeln verengt mit schäumendem Gefälle, bald friedlich in allen Farben des Regenbogens spielend zwischen breiten Wiesen, durch die fränkischen, thüringischen und sächsischen Teile des Vogtlands der Elbe entgegen. Im späten Mittelalter von kaiserlichen Vögten regiert, die es im 14. Jahrhundert an die Burggrafen von Zollern verkauften, umfasst das Vogtland die Gegend von der unterfränkischen Stadt Hof über den preußischen Kreis Ziegenrück, das weimarische Amt Weida bis zu den Reußischen Grafschaften und der Tuchmacherstadt Plauen in Sachsen.
Biblische fünfzehn Jahre muss Johann Richter, Sohn des Schönfärbers Johann Richter aus Schwarzenbach an der Saale und der Weißenstädter Schustertochter Anna Kießling, bei einem Hungerlohn um Magdalena Margaretha Hugo dienen, die Tochter des Dorfpfarrers von Rehau. Erst die Berufung zum Rektor der Winkelschule in Neustadt am Culm verhilft ihm mit vierzig Jahren in den heiligen Stand der Ehe. Seit hundert Jahren leben seine Vorfahren als Schön- und Schwarzfärber, Schultheißen, Handwerker, Förster und Tuchweber am Oberlauf der Saale, wo die Kunst des Färbens von einer Generation auf die nächste vererbt wird. Vier Monate nach Amtsantritt wird am 16. Dezember 1727 in Neustadt sein erster und einziger Sohn Johann Christian Christoph Richter geboren. Nach dem Geschlechtsregister soll ihm 1715 eine Schwester Rebekka vorausgegangen sein und noch bis 1793 in Schwarzenbach gelebt haben; sie wäre demnach zu Lebzeiten des Rehauer Seniors – er starb 1718 – unehelich geboren worden, was erklären würde, warum sich der Traum von einer eigenen Schulmeisterei für Jean Pauls Großvater Johann Richter so spät erfüllte.[1]
Christoph Richters Kindheit fällt in eine turbulente Zeit der Regierungswechsel. Die Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth wird von einer Linie der Hohenzollern regiert, einem schwäbischen Adelsgeschlecht, das im hohen Mittelalter von Kaiser Heinrich VI. mit der Burggrafschaft Nürnberg belehnt worden war. Seit Burggraf Friedrich VI. 1415 dazu noch die Grenzmark Brandenburg sein Eigen nennen durfte, nannten sich die Grafen von Zollern auch in ihren fränkischen Besitzungen Markgrafen. Unter den Nachkommen seines Sohnes, des Markgrafen Albrecht I. Achilles, wurde die fränkische Markgrafschaft 1486 in Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach geteilt, während die noch von Albrecht erlassene dispositio Achillea die Unteilbarkeit der Kurmark Brandenburg für alle Zeiten garantierte und damit den späteren Aufstieg des Hauses Hohenzollern zur preußischen Großmacht begründete. 1604 verlegte Markgraf Christian von Brandenburg-Kulmbach, Sohn des brandenburgischen Kurfürsten Johann Georg, seine Residenz von der Plassenburg nahe Kulmbach nach Bayreuth und benannte das Fürstentum um in Brandenburg-Bayreuth.
1726, im Jahr vor Christoph Richters Geburt, tritt Georg Friedrich Karl von Brandenburg-Kulmbach die Nachfolge des kinderlos verschiedenen Markgrafen Georg Wilhelm von Brandenburg-Bayreuth an. Der Erbfolge nach hat er kaum damit rechnen dürfen, jemals regierender Fürst zu werden. Denn sein Vater Christian Heinrich von Brandenburg-Kulmbach hatte 1703 im Schönberger Vertrag das überschuldete Fürstentum gegen eine großzügige Entschädigung an König Friedrich I. in Preußen abgetreten, den reichen Verwandten in Berlin. Die Apanage setzte ihn in die bequeme Lage, sich als Privatier mit seiner Familie auf sein Hausgut Weferlingen zurückzuziehen. Indessen war seine Gattin Sophie Christiane nicht nur eine sehr fromme, sondern auch eine viel zu weitblickende Frau, um nicht zu hoffen, ihren erstgeborenen Sohn dereinst doch noch auf dem landesherrlichen Thron zu sehen. Nach dem Tod des Vaters fochten ihre Söhne Georg Friedrich Karl und Albrecht Wolfgang 1708 den Schönberger Vertrag vor dem Reichskammergericht in Wetzlar an und wurden schließlich 1722 mit Erfolg beschieden. Preußen verzichtete im Pactum successorium Culmbacense gegen eine Abschlagzahlung von 500.000 Gulden auf sein Erbrecht.
Mit Georg Friedrich Karl zieht ein Herrscher ein, der zwar verhindern konnte, dass sein väterliches Erbe den mächtigen Berliner Verwandten zufiele. Als frommer Mann legt er jedoch die Regierungskunst lieber in höhere Hände. Aus Anlass seiner Thronerhebung lässt er neue 1/12-Taler-Münzen prägen, auf denen eine Taube der Sonne entgegenfliegt – Sinnbild pfingstlicher Erweckung und Erkennungszeichen der pietistischen Frömmigkeitsbewegung. Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Himmelcron wird in seinen ursprünglichen spätgotischen Zustand versetzt, die Klosterkirche restauriert und als Grablege der bayreuthischen Markgrafen geweiht. Mit dem Regierungsantritt des Kulmbachers wird der Pietismus gewissermaßen bayreuthische Landesreligion. In Nürnberg bekennen sich 1727 dreißig Personen zum radikalen pietistischen Flügel, dem Herrnhutismus. Im selben Jahr besucht dessen Begründer, Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Pottendorf, die Residenzstadt Bayreuth und verbreitet mit seinen Bußpredigten unter den Gläubigen Furcht und Schrecken.
Der Pietismus, eine Reformbewegung innerhalb der lutherischen Kirche, hatte seinen bescheidenen Anfang im familiären Betkreis, collegium pietatis, des elsässischen Theologen Philipp Jakob Spener genommen, Zinzendorfs Taufpate. Zinzendorf selbst entstammte mütterlicherseits der sächsischen Grafenfamilie von Gersdorff. In Herrnhut, einem ihrer Güter in der Oberlausitz, gründete er 1722 die erste herrnhutische Kolonie, ermuntert durch seine tatkräftige Gattin Erdmuthe Dorothea Gräfin Reuß-Ebersdorf. Dank deren verwandtschaftlichen Beziehungen zu den vogtländischen Reichsritterschaften verbreitete sich der Herrnhutismus in kürzester Zeit in Unterfranken. Nirgends ist Deutschland kleiner als hier, in diesem Quodlibet politischer Territorien, wo jeder Krähwinkel seine eigene Gerichtsbarkeit hat und jeder Dorfpfarrer eigene Wege kennt, die ihm anvertrauten Seelen in den Himmel zu geleiten. Die Sechs Bücher vom wahren Christenthum des radikalen Pietisten Johann Arndt werden nebst dessen Paradiesgärtlein eines der meistgelesenen Bücher in fränkischen Pfarrhäusern. In Nürnberg wirkt im Geist pietistischer Wohltätigkeit Ambrosius Wirth, Gründer der ersten städtischen Armenschule, in Ansbach der Jurist Wolfgang Gabriel Pachelbel von Gehag, Übersetzer einer pietistischen Bibel. Auf Jahrmärkten und Kirchweihfesten erscheinen selbsternannte Wanderprediger und verkaufen aus Bauchläden und Kiepen fromme Erbauungsschriften wie Das kleine Pilgerrad des Schneiders Johann Konrad Lange, die Buss-Stimme aus Zion und Sonnen klare Mittags-Helle auf die unter den Wolcken verborgene Morgen-Röthe des Erlanger Notars Johann Adam Raab. Sie fordern innere Einkehr, gottesfürchtiges Betragen in allen Lebenslagen, tägliches Singen und Beten im Familienkreis und den Verzicht auf jegliche weltlichen Freuden, die nicht gottgeweiht sind. Zum Lohn versprechen sie das Paradies schon auf Erden statt, wie die orthodoxen Lutheraner, erst jenseits des Grabes. Den Sündern drohen sie mit den ewigen Höllenqualen des Gewissens. Mit Donnerstimme malt der Perückenmacher und Wanderprediger Johannes Tennhardt aus Sachsen, die «letzte Warnstimme Gottes» vor dem Jüngsten Gericht, in seinen Bußpredigten den gehörnten Teufel an die Kirchenwände. In keinem deutschen Fürstentum wird so oft der Weltuntergang vorausgesagt wie in Franken.
Und so schlägt auch Johann Richter, der Rektor und Organist in Neustadt am Culm, genauso wie sein Vetter Lorenz Richter, zur selben Zeit Pfarrer in dem vogtländischen Dörfchen Joditz, eilig den Weg zu innerer Einkehr und Buße ein. In einer selbst gegrabenen Erdhöhle am Kleinen Kulm, von der die Richter’sche Familienüberlieferung noch lange sprechen wird, bereut er in langen Gebeten seine Rehauer Jugendsünden so innig, dass er sich den Ruf eines ungewöhnlich frommen Mannes erwirbt.
Derweil wird sein hoffnungsvoller Sohn mit vierzehn Jahren als einer von zwölf Alumni, wie die armen Schüler genannt werden, in das Gymnasium poeticum in Regensburg aufgenommen. In Klavierspiel und Generalbassbegleitung zeigt er auffällige Begabung und ist auch sonst ein guter Schüler. Das Gymnasium in der Glockengasse blickt schon damals auf eine ruhmreiche Geschichte und berühmte Schüler zurück wie Johann Beer, der hier 1678 seinen Prinz Adimantus schrieb, Wolfgang Helmhard von Hohberg, Verfasser der Georgica curiosa von 1682, und Johann Pachelbel, den Meister des Kontrapunkts. Täglich erhält Christoph Richter ein kostenloses warmes Mittagessen aus der Wannschen Stiftung. Er wird wie alle anderen Armenschüler zum Chorknaben ausgebildet und wagt zu träumen, dereinst in die fürstliche Hofkapelle des Generalpostmeisters und Prinzipalkommissars des Immerwährenden Reichstages in Regensburg, Alexander Ferdinand von Thurn und Taxis, aufgenommen zu werden.[2]
In anderer Hinsicht wirkt der neue bayreuthische Landesherr weniger segensreich. Als die preußische Königstochter Wilhelmine, Schwester Friedrichs II., im Jahre 1731 als frischvermählte Gattin des Erbprinzen Friedrich an den Bayreuther Hof kommt, staunt sie nicht schlecht über die Geisterfurcht und Bigotterie ihrer neuen Verwandten. Der Markgraf, ihr Schwiegervater, gilt als ein so unangenehmer Zeitgenosse, dass sich seine Frau, eine norddeutsche Fürstin, nach siebenjähriger Ehe hat scheiden lassen. Die dynastisch günstige Wiederverheiratung mit Prinzessin Christiane Sophie Wilhelmine, der Tochter des Markgrafen Georg Wilhelm von Brandenburg-Ansbach, wird durch eine niederträchtige Hofintrige des ansbachischen Premierministers verhindert. Von einem gekauften Liebhaber verführt, bringt die Prinzessin heimlich Zwillinge zur Welt, wird vom Hof verstoßen und auf der Plassenburg in lebenslänglichen Hausarrest gesetzt.
Nur neun Jahre darf sich Markgraf Georg Wilhelm Karl seines erstrittenen Throns erfreuen. 1735 übernimmt sein ältester Sohn als Friedrich III. die Regierung. Eine seiner ersten Kabinettsorder ist das Verbot der pietistischen Brüderzirkel. Im selben Jahr wird Graf Zinzendorf wegen Verstoßes gegen die Kircheneinheit aus Sachsen ausgewiesen. Mit Friedrich und Wilhelmine zieht ein anderer Geist in Bayreuth ein. Die brustlangen barocken Perücken der Kammerherren und Hofräte schrumpfen, die Frisuren der Damen wachsen ins Unermessliche. Der cul de Paris erobert Bayreuth, ein hüft- und gesäßverbreiterndes Drahtgestell, das natürliche Frauenkörper in zierliche Porzellanpüppchen verzaubert. Ein Schlosstheater, ein Opernhaus, siebenundzwanzig Kammerherrn und ebenso viele Kammerjunker und Hofdamen helfen dem jungen Fürstenpaar, die Zeit zu vertreiben. Montag, Mittwoch und Sonnabend wird Comödie gespielt, Dienstag ist Masquerade, Donnerstag Redoute ohne Kostümzwang, Freitag italienische Oper, nicht zu reden von den täglichen Konzerten im Neuen Schloss. Als Musikdirektor hat die Markgräfin, die sich wie ihre Brüder in Potsdam und Rheinsberg als begabte Komponistin und Librettistin erweist, auf einer Italienreise den illustren Malteserritter Louis Alexander von Riqueti, genannt Graf Mirabeau, gewinnen können, der nicht nur ein charmanter Gesellschafter, sondern bald auch Chef des Ober-Commerz-Collegiums ist.
Schon kurz nach ihrer Gründung hat die Schlossloge der Freimaurer siebenundachtzig Mitglieder, mehr als ein Drittel davon Franzosen. Die phantasievolle, lebenslustige Wilhelmine verwandelt Bayreuth in ein fränkisches Miniatur-Sanssouci. Außer dem ländlich schlichten Palais im Eremitage-Park bei dem Dörfchen St. Johannis lässt sie sich ein verspieltes, von Muscheln und Quarz glitzerndes Rokokoschlösschen bauen, umgeben von einem weitläufigen Landschaftspark als romantischer Kulisse für bukolische Schäferspiele, für die ihre auf 600 gepuderte Köpfe angewachsene Entourage als Statisterie und Publikum Verwendung findet. Nach Wilhelmines Entwürfen werden eigens zur Aufführung von Fénelons höfischem Epos Les aventures de Télémaque, fils d’Ulysse schattige Laubengänge, Wasserfälle und Felsgrotten, Springbrunnen mit mythologischen Skulpturengruppen und ein Ruinentheater neben dem Schlösschen Sanspareil angelegt. Vor den Toren Bayreuths entwirft sie schließlich im strengen Stil der römischen Renaissance das Schlösschen Fantaisie. Es wurde erst nach Wilhelmines Tod im Jahr 1758 fertiggestellt und hernach von ihrem einzigen Kind Friederike, der Herzogin von Württemberg, bezogen.
Schlechter als die geistreiche Wilhelmine hat es ihre jüngere Schwester Friederike Louise getroffen, die 1729 mit dem «wilden Markgrafen» Karl Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Ansbach verheiratet worden ist. Seine Liebhaberei sind die Falkenjagd und – um auch dem Jenseits Genüge zu tun – der Bau der sogenannten Markgrafenkirchen. Ihr architektonischer und liturgischer Mittelpunkt ist der Kanzelaltar, wie die Predigt das Herzstück des lutherischen Gottesdienstes. Während sich sein Vater, Markgraf Karl Friedrich Wilhelm, als Begründer der Ansbach-Dragoner in die Landesannalen einschrieb, lag seiner Mutter, einer württembergischen Prinzessin, mehr das geistliche Wohl des Sohnes am Herzen. Fernab von Stadt und Hof Ansbach ließ sie ihn im Waldschloss Bruckberg im strengen Geist der Frömmigkeit (pietas) erziehen. Als Hofmeister berief sie den schlesischen Dichter Benjamin Neukirch von der Berliner Ritterakademie, der sich mit einer Sammlung höfischer Schäferlyrik und der Nachdichtung von Fénelons Télémaque einen Namen gemacht hatte. Doch anders als bei dem fürstlichen Vetter im Nachbarstaat fruchtete die fromme Erziehung in diesem Fall wenig. Mit seiner Nebenfrau hat der «wilde Markgraf» vier Söhne, mit seiner Angetrauten keinen einzigen legitimen Thronfolger. In Ansbach lässt er sich von Leopold Retti ein sündhaft teures Schloss bauen und treibt in seiner Regierungszeit die Staatsschulden auf mehr als zwei Millionen Reichstaler.
Mit seinem siebzehnten Lebensjahr endet in Regensburg Christoph Richters musikalische Laufbahn, bevor sie begonnen hat. Seine Mutter stirbt nach einem häuslichen Unfall, er kehrt nach Neustadt zurück und zieht im Jahr darauf zum Theologiestudium auf die Universitäten Erlangen und Jena, wie es seines Vaters Wunsch ist. Zehn Jahre muss er als Hauslehrer seinen Unterhalt verdienen, bis er 1760 als Organist und dritter Lehrer an der Lateinschule zu Wunsiedel unterkommt. Tief schmiegt sich der Ort zwischen dem Granitplateau der Kösseine und der Lugsburg in die Wälder des Fichtelgebirges. Wunsiedel ist das Herz des Vogtlands und Hauptort des «Sechsämterlandes» mit den Gemeinden Kirchenlamitz, Weißenstadt, Hohenberg, Selb und Thierstein. Die Handwerker- und Beamtenstadt ist bekannt für ihre Bienenzucht, ihre schneeweißen Kalksteinbrüche, ihre Blechschmiedekunst und ihren rollenden oberfränkischen Dialekt, die «Sechsämtermundart». Der Wohlstand der Bürger zeigt sich an der Größe der Misthaufen vor ihren Häusern und Scheunen. Und so mag der Wunsiedeler Tertius Christoph Richter bei den Hauskonzerten seines Freundes, des Kammerrats und Kommerzinspektors Johann Martin Schöpf, noch oft den Regensburger Jugendträumen von einer glänzenden Laufbahn als Musiker nachgehangen haben.
In Besitz eines schlecht bezahlten, aber immerhin eines Amtes verliebt sich der gutaussehende, doch bettelarme Tertius eines Tages in die vierundzwanzigjährige Sophia Rosina, die ältere Tochter des Zeugwebermeisters Johann Paul Kuhn aus Hof, und heiratet sie am 13. Oktober 1761. Am 21. März 1763 kommt ihr erstes Kind zur Welt. Die Spitalkirche St. Maria, in der Johann Paul Friedrich Richter getauft wird, war die erste protestantische Kirche im fränkischen Reichskreis. Seit 1533 gibt es hier keinen einzigen Katholiken mehr.
Fünf Monate nach der Geburt seines ersten Enkels stirbt der Neustädter Rektor Johann Richter mit sechsundsiebzig Jahren. Dem späteren ‹Selberlebensbeschreiber› Jean Paul scheint es eine unumstößliche Gewissheit, dass ihm eine Schwester vorausgegangen sein müsse, weil Erstgeborene in aller Regel Mädchen seien. Erwiesen ist nur, dass zwischen Hochzeitsnacht und Geburt achtzehn Monate lagen. Fest steht außerdem, dass im selben Jahr Markgraf Friedrich III. von Brandenburg-Bayreuth kinderlos verschied und sein Onkel Friedrich Christian Landesherr wurde, der jüngste Bruder des frommen Kulmbachers. Als dieser sechs Jahre später ebenfalls ohne Nachkommen stirbt, fällt Karl Alexander von Brandenburg-Ansbach, der 1757 den Thron des kinderlosen «wilden Markgrafen» geerbt hat, auch die Regierung des verwaisten Nachbarstaats zu. Nach mehr als 150 Jahren sind Brandenburg-Bayreuth und Brandenburg-Ansbach wieder in einer Herrscherhand vereinigt.
Friedrich Richters erster Ortswechsel fällt in das Jahr 1765, als der Vater als Pfarrer in das Dörfchen Joditz berufen wird. Zweiunddreißig Jahre zuvor hatte sein Großonkel zweiten Grades, Lorenz Richter, im Joditzer Pfarrhaus sein Leben als Kapitelsenior und Vater von elf Kindern beschlossen.[3] Und so lässt sich denken, dass Christoph Richter sein bescheidenes Amt mit dem Ernst und der Würde versieht, die ihm das Gewicht der Tradition auflädt.
Das Gutsdorf ist seit 150 Jahren im Besitz der Freiherren von Bodenhausen. Zur Pfarre Joditz gehören die Ritterdörfchen Lamitz, Ober- und Unter-Saalenstein und die Vorwerke Scharten bei Köditz, Siebenhitz und Stöcketen, alles in allem nicht mehr als fünfzig Seelen. Kurz nach der Berufung von Christoph Richter hat die Joditzer Patronatsherrin, Freifrau Eleonora Magdalena von Bodenhausen, ihre Seele Gott und ihre Fronbauern der Tochter Charlotte Wilhelmine Eleonore von Plotho übergeben, die mit ihrem Mann auf Schloss Zedtwitz lebt (heute ein Ortsteil von Feilitzsch bei Hof). Als eine von etwa siebzig reichsunmittelbaren Ritterschaften, die im fränkischen Kreistag zu Nürnberg nach den Markgrafen und den Reichsstädten die dritte Bank repräsentieren, umfasst ihr Herrschaftsgebiet nicht mehr als ein paar Dörfer, Mühlen und Vorwerke. Die Güter werfen kaum Gewinne ab. Dafür genießt die Reichsritterschaft gegenüber dem Hofadel beträchtliche Privilegien. Ihre Söhne sind vom Militärdienst befreit, ihre Fronbauern müssen der Rekrutierungspflicht für das Landesheer nicht Folge leisten. Sie übt nach dem alten kaiserlichen Provinzialrecht, der ius voitlandica, in ihren Dörfern die niedere Gerichtsbarkeit aus, legt Steuern, Abgaben und Fronrechte selbst fest und beruft ihre Schulmeister und Pfarrer nach eigenem Gusto. Das Verbot pietistischer Sekten ist hier nie angekommen. Wie zu den gottseligen Zeiten des Markgrafen Georg Friedrich Karl wird in den Dörfern der von Bodenhausen, Beulwitz, Plotho, Zedtwitz oder Schönburg-Stein noch immer nach dem Katechismus des Bayreuther Konsistorialrats, Hofpredigers und Beichtvaters des Landesherrn, des Meininger Pietisten Johann Christoph Silchmüller, gepredigt. Jedes dieser reichsunmittelbaren Territorien ist ein österreichischer Stachel im markgräflichen Staatskörper, ein Staatlein im Staate, der den Dualismus zwischen dessen Schutzmächten Österreich und Preußen konserviert.
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DAS STUMME KLAVIER |
Joditz im Vogtland, um 1774
Im Morgengrauen des 8. Oktober 1774 kracht durch das herbstlich stille Leipziger Rosental ein Schuss. Niedergestreckt von der Kugel aus seiner eigenen Taschenpistole, stürzt der Magier und Geisterbeschwörer Johann Georg Schröpfer ins taukühle Gras. Seine Begleiter, der Sächsische Kammerherr von Bischofswerder und der Geheime Kriegsrat Christian Friedrich von Hopfgarten, denen Schröpfer hinter dichtem Gesträuch zu warten befohlen hatte, eilen dem Schall entgegen und sehen ihren Meister leblos daliegen. Am Abend zuvor hatte er ihnen eine wunderbare Erscheinung versprochen. «Bis jetzt habe ich Ihnen Verstorbene gezeigt, die in’s Leben zurückgerufen wurden; morgen aber sollen Sie einen Lebenden sehen, den Sie für todt halten werden.» Seinen Gläubigern, der Frankfurter Bethmann-Bank und dem Herzog von Kurland, hinterlässt Schröpfer ungedeckte Schuldverschreibungen über mehrere hunderttausend Gulden, seinen Anhängern ein Konvolut mit magischen Schriften, dem Kammerherrn von Bischofswerder eine Elektrisiermaschine und den Leipziger Buchhändlern satte Gewinne. Für mehr als ein Jahrzehnt wird Schröpfers Höllenfahrt das Geschäft mit dem Aberglauben kräftig beleben.[4]
Nichts davon dringt über die Hügel des Fichtelgebirges, wo in einer Talmulde das Pfarrdorf Joditz ruht. Schon am frühen Nachmittag legt sich der Schatten der Berge über Dorf und St. Johannes-Kirchlein. In Joditz gehen alle Wege himmelan. Durchschnitten von der sächsischen Saale, träumt das Dorf im Schlaf der Zeit. Tauben kreisen träge über dem Kirchplatz. Die Pfarrhofmauer, die den kleinen Garten von der Straße absperrt, dämpft die Geräusche der großen und der kleinen Welt. Als sich zwei Jahre vor Schröpfer in Wetzlar ein Student der Rechtswissenschaft, der Sohn des niedersächsischen Theologen Johann Friedrich Jerusalem, mit einem Pistolenschuss ins Jenseits beförderte, nahm man in Joditz davon ebenso wenig Notiz wie von dem Buch, in dem die Geschichte 1774 unter dem Titel Die Leiden des jungen Werther erzählt wird. Auch hier endet sie mit einem Schuss, der wenigstens seinen fünfundzwanzigjährigen Verfasser, Johann Wolfgang Goethe, unsterblich machen wird. Sämtliche deutsche Buchhändler, Verleger und gelehrte Zeitungen beeilen sich, ein Stück von diesem Teufelsbraten, dieser «Lockspeise des Satans»,[5] abzuschneiden, bevor die Leipziger Zensurkommission ihn verbietet.
Auch von dem andern Todesfall im Herbst 1774 hört in Joditz keine Maus, als «der Buddha des Nordens» Emanuel Swedenborg, der sich mit Engeln und Planetenbewohnern zu besprechen pflegte, in London das zeitliche gegen das ewige Leben eintauscht, auf ganz natürlichem Weg allerdings, durch Hirnschlag. Als Österreich, Sachsen und Preußen den Hubertusburger Frieden schließen, Goethes Götz von Berlichingen in Berlin seine Uraufführung erlebt, Joseph II. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt und Polen geteilt wird, als Priestley und Scheele den gasförmigen Sauerstoff entdecken, Bougainville in Tahiti und James Cook in Australien landet, der alte König von Frankreich stirbt und sein Enkel Louis XVI. in der Kathedrale zu Reims gesalbt wird, während ein ungewöhnlich heller Komet über Monate seine Feuerbahn über Europas Himmel zieht, macht das im Joditzer Pfarrhaus nicht mehr Lärm, als wenn der Hund unter dem Tisch im Traum knurrt.
«Es ist halt Welt», wird Gotthelf Fibels Vater in Jean Pauls Leben Fibels in solchen Fällen sagen, ein mürrischer Kauz und Vogelhändler, dem nicht einmal die Geburt seines Sohns, des künftigen Erfinders der Bienrodischen Fibel, ein Wort des Erstaunens entlocken kann. «Durch Heiligengut lief die Landstraße und folglich viel Volk.»[6] Auch das hat Fibels Kindheitsdorf mit Johann Paul Friedrich Richters «Erziehdorf» Joditz gemeinsam. Die einzige Verbindung mit der «Welt» ist die Straße durch reichsritterschaftliches Gebiet über Isaar und Töpen bis nach Münchenreuth. Das Rumpeln der Kaufmannswagen, die Nebelkronen auf den basaltischen Bergkuppen, die Schreie der Zugvögel, das Pochen der Hämmer in den Bergwerken, deren Echo zwischen den Hügeln bis nach Hof und Wunsiedel rollt, die Wandermusiker beim Johannis-Jahrmarkt im Juni, das dumpfe Klatschen der Dreschflegel im August, das Quieken der Schweine bei der Herbstschlachtung, das Läuten von St. Johannes zur Morgen-, Mittags- und Vesperandacht und der Kirchenkalender – das sind die Uhren, die in Joditz die Zeit anzeigen.
Im Innern des Gebirges, wo es acht Monate Winter ist, wohnen Vögel, Hunde, Menschen und Vieh eng beisammen. Am Herdfeuer erzählt die Magd Märchen, während der Spinnrocken summt und nebenan im Stall Ziege, Kuh und Federvieh rumoren. Ein Jahr nach Friedrich oder Fritz, wie der Erstgeborene gerufen wird, ist in Wunsiedel Adam Christian zur Welt gekommen. In Joditz folgen vier Jahre später Gottlieb und 1770 der vierte Sohn, Heinrich. Im Herbst wird der lange Tisch vor die Ofenbank geschoben. Morgens drei und nachmittags vier Stunden beugen die Pfarrerskinder die Köpfe über lateinische Vokabelbücher, während der Hausvater pfeiferauchend seine Sonntagspredigt memoriert. Die Brüder genießen denselben Unterricht wie jeder protestantische Schüler seit Melanchthons Zeiten. Neben täglichen Bet- und Bibelstunden sind Auswendiglernen lateinischer Vokabeln, Konjugieren und Deklinieren ihre Hauptbeschäftigung, wie schon für Christoph Richter am Gymnasium in Regensburg. Rechnen, Geographie, Geschichte, Astronomie oder gar das Anfertigen eigener Aufsätze ist in den Lehrplänen nicht vorgesehen.
Die Sonntagsmesse ist die Buchmesse der Armen. Die lutherischen Pfarrer des 18. Jahrhunderts betreiben in ihren Studierstuben eine lebhafte Schriftstellerei, neben der Verkündigung von Gottes Wort ein einträgliches Geschäft durch den Handel mit gedruckten Sonntags- und Leichenpredigten. Doch hat sich Christoph Richter, obgleich nach dem späteren Urteil des Sohns ein begnadeter Prediger, durch den Erwerb der Pfarre zu Joditz zu tief verschuldet, um sich einen Drucker leisten zu können, und begnügt sich damit, seine Predigten mit Heftgarn zu binden. Der kaum fünfjährige Fritz tut es ihm nach. Aus den Papierstreifen, die beim Beschneiden der Blätter abfallen, näht er sich eigene «Sedezbüchelchen», die er eifrig beschriftet und in einem kleinen Kästchen aufbewahrt. An den Buchstaben und Zeichen hat er einen Narren gefressen. «Die Colloquia (Gespräche) in Langens Grammatik der griechischen Sprache weissagt’ ich mir deutsch aus Sehnsucht ihres Inhalts; aber mein Vater ließ mich in Joditz nichts übersetzen. In einer lateinisch geschriebenen Grammatik der griechischen Sprache studiert’ ich durstig und hungrig das Alphabet und schrieb am Ende ziemlich griechisch, was nämlich die Handschrift anlangt.»[7] Eine andere Lieblingsbeschäftigung wird ihm das Kopieren von Gesichtern mittels Ruß und Fettpapier aus der sogenannten Markgrafen-Bibel, in der die Köpfe aller bayreuthischen Fürsten in Kupferstichen verewigt sind.
Joditz, St. Johannes-Kirche, Kanzel
Aus Mangel an geistiger Nahrung erfindet sich der lernhungrige kleine Gelehrte neben dem griechischen und dem lateinischen bald noch ein drittes Alphabet, was ihn gegenüber Adam und Gottlieb, die lieber draußen spielen, in den Vorteil setzt, öfter gelobt und weniger geprügelt zu werden. «Er nahm geradezu die Kalenderzeichen – oder geometrische aus einem alten Buche – oder chemische – oder neueste aus seinem Kopfe und setzte daraus ein ganz neues Alphabet zusammen. Hatt’ er es fertig: so war sein Erstes, daß er selber von seinem alphabetischen Solitär Gebrauch machte und eine oder ein paar Seiten voll abgeschriebner Materien darein kleidete. So war er […] sein eigner Geheimschreiber und Versteckens-Spieler mit sich selber.»[8] Genauso leidenschaftlich wird der kleine Gotthelf Fibel sämtliche Alphabete, derer er habhaft wird, vom chinesischen bis zum arabischen auswendig lernen, während seine literarischen Doppelgänger Maria Wutz und Quintus Fixlein sich mit dem Abschreiben von Büchern begnügen müssen.
Den Vater sehen die Brüder nur «in einem Stück», nämlich im knöchellangen schwarzen Talar mit weißer Halsbinde. Nach Silchmüllers Reglement von 1736 ist den Pfarrern das Tragen weltlicher Kleidung sowie der Besuch von Kirchweihen und weltlichen Konzerten verboten, ganz im Sinne des Epheserbriefs, wo geschrieben steht: «So leget nun von euch ab, nach dem vorigen Wandel, den alten Menschen, der durch Lüste in Irrthum sich verdirbt. Und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit.» (4,22–24) Seinen alten Menschen hat Christoph Richter in Joditz so gründlich abgelegt, dass er ihn in seiner tiefsten Seele nicht mehr wiederfinden wird. Den Kampf gegen die sündhafte Welt, gegen die Erinnerung an eine glanzvolle Zukunft, gegen sich selbst hat er gewonnen. In der weltlichen «Versuchungs-Wüste»[9] lauert die Sünde überall, in jedem unschuldigen Vergnügen – sei es ein Stück Honigkuchen oder der Dorftanz am Sonnabend. Lutherische Frömmigkeit bedeutet ein Leben nach der Schrift. Nur dem, der sich durch imitatio Christi im Mit-Leiden übt und die Evangelien fleißig liest, wird das ewige Leben zuteil werden. Denn der böse Geist des Abfalls von Gott, die alte Schlange Satanas, serpens antiquus, verbirgt sich vorzugsweise in sündigen Worten und Gedanken, wie es geschrieben steht und an jedem 21. Sonntag nach Trinitatis von der Kanzel verkündet wird: «Zieht an den Harnisch Gottes, daß ihr bestehen könnet gegen die listigen Anläufe des Teufels. Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.» (Epheser 6,10–12)
Mit wehendem Talar eilt der gestiefelte Gotteskrieger im Harnisch seines Glaubens durch das Dorf. Aus dem charmanten Gesellschafter der Wunsiedeler Jahre ist ein verschlossener, schweigsamer Mann geworden. Allabendlich zieht er den «Dorfpapst» nur aus, um den pater familias anzuziehen, wenn er im geblümten Hausmantel zum Pfarrgarten hoch über dem Dorf hinaufsteigt, in dem alles wächst, was die Familie zum Leben braucht: Nüsse, Gemüse, Kartoffeln, Äpfel. Und so hält es Christoph Richter für das Klügste, auch seine vier Söhne den Versuchungen der Welt gar nicht erst auszuliefern. Nach den Erinnerungen seines ältesten Sohns sind die abendlichen Gänge zum Hausgarten und die Erntezeit die einzigen Gelegenheiten für die Kinder, das Hofgeviert im Schatten der Kirche zu verlassen. Instrumentalmusik ist aus dem Pfarrhaus verbannt, Sing- und Betstunden im Familienkreis sind allein dem «irdischen Vergnügen in Gott» vorbehalten.[10] Das Klavier bleibt verschlossen wie die Pforte in der Pfarrhofmauer. Ist Christoph Richter unterwegs, um in den umliegenden Dörfern priesterlichen Beistand zu spenden, steckt er den Schlüssel ein.
Es gibt von dieser Kindheit mehrere Versionen, als müsse sich der Schriftsteller Jean Paul in einem Bildersaal voll imaginärer Ichs seiner Existenz immer von neuem versichern. Nehmen wir den kleinen Gustav in den ersten Skizzen zur Unsichtbaren Loge, Jean Pauls erstem Roman. Getrieben von einer namenlosen Sehnsucht träumt er sich aus dem väterlichen Anwesen hinaus in die Welt. «Was wolt’ ich denn haben wenn ich in meinem 9 Jahre auf einem alten Warte die ‹unter› weisrothen Schlösser u. die mit natürlichem Laubwerk u. esbaren Fruchtschnüren verzierten Dörfer herumschweifte u. mich hinsehnte als hätte da die Freude ihr Zauberschlos u. die Magie für mein Herz? Oder wenn sich meine Phantasie auf den walfarthenden Rhein einschifte, damit er sie mitnähme in ein gelobtes Land, in das sie alle Ströme ziehen sieht.»[11] Und in einer anderen Fassung: «Was wolt’ ich denn aber haben, wenn ich auf dem Stein meines Thorwegs sas u. sehnend den Zug der langen Strasse nachsah u. dachte, wie sie fortgienge ‹krümte über Berge›, immerfort … ach alle Straßen führen zu nichts u. wo sie aufhören, steht einer der sich rück‹her›wärts sehnt. Und doch ist noch eine gemalte Strasse eine solche Rennbahn meiner Phantasie.»[12] Für Viktor Horion, den Helden des zweiten Romans Hesperus, ist Kindheit die Zeit, als «der Vater noch Gott der Vater und die Mutter die Mutter Gottes» war und er ungeduldig der Predigt seines Pflegevaters lauschte; «alle vier Welttheile waren in diese Kirche eingepfarret, alle Ströme hiessen noch Rhein und alle Fürsten Jenner».[13] Albano de Zesara, den neurotischen Grafensohn aus dem Titan, treibt «der Zugvogel hinter dem Sanggitter der Brust» hinaus aus seinem Heimatdorf Blumenbühl in die Wälder, nicht anders als die «immer eingesperrten Söhne» des Joditzer Pfarrers.
Joditz, Pfarrhaus mit Gedenkstein für Jean Paul
Wenn Fritz seinen Arm durch das Gitter des Gartentürchens streckt, «denn mehr vom Körper durfte nicht von den Kindern aus dem Hof», um seiner kleinen Freundin einen Lebkuchen zuzustecken, wenn er, älter geworden, nach Hof zu den Großeltern Kuhn geschickt wird – ein Fußmarsch von zwei Stunden hin und mit gefülltem Rucksack zwei Stunden zurück – und sein kleines Ich überwältigt ist von der Größe der Welt, dann regt sich in ihm eine erste Ahnung des Unbekannten. «Noch erinnert er sich», notiert der Selberlebensbeschreiber später, «eines Sommertages, wo ihn, da er auf der Rückkehr gegen zwei Uhr die sonnigen beglänzten Anhöhen ‹Bergabhänge› und die ziehenden Wogen auf den Aehrenfeldern und die Laufschatten der Wolken überblickte ‹-schauete›, ein noch unerlebtes gegenstandsloses Sehnen überfiel, das fast mehr aus lauter Pein und wenig Lust gemischt war und ein Wünschen ohne Erinnern war». In jedem Fall ist es ein unbezeichnetes Sehnen nach dem namenlosen Ort, nach Welterfahrung. «Auch noch später hat weniger der Mondschein, dessen Silberseen das Herz nur sanft in sich zerlassen und so aufgelöset ins Unendliche treiben und führen, als auf einer weiten Gegend der Nachmittagsschein der Sonne diese Macht einer peinlich sich ausdehnenden Sehnsucht behauptet; und in den Werken Pauls ist sie einige male geschildert und mitgetheilt.»[14]
Auch ein Gefängnis kann zum Zuhause werden, überglänzt von Erinnerung, nach dem man sich lebenslang zurücksehnt. In der Stallwärme der Joditzer Jahre werden stabile Verhaltensmuster der Ambivalenz angelegt, die Friedrich Richters Charakter lebenslang zwischen antagonistische Pole spannen: Anschauung und Einfühlung, Ordnung und Freiheit, Gemeinsinn und Individualismus. Und so malt sich der alternde Dichter vierzig Jahre später gern in warmen Sepiatönen sein «Joditzer Herbstidyll» und «Nest des Winters» aus, dem er seine «eigne Vorneigung zum Häuslichen, zum Stilleben, zum geistigen Nestmachen» verdanke. Er habe «auch als Schriftsteller […] später diesen Haus- und Winkelsinn fortgesetzt ‹behalten› in Wutz und Fixlein und Fibel; und noch sieht der Mann gern ‹voll Sehnsucht› jedes nette niedrige Schieferhäuschen von zwei Stockwerkchen mit Blumen vor den Fenstern und einem Hausgärtchen, das man blos vom Fenster aus begießt.»[15]
So liebten oder kannten ihn die alten Deutschen, ihren Jean Paul, der aus seinem «lieben Dörfchen» lächelnd heruntergrüßt zu den vorbeiziehenden Jahrhunderten: den einen ein Rätsel, den andern ein Ärgernis. Dieser «Stuben- und Wintersinn», dieser geranienblühende Biedersinn, dieser Drang ins Enge und Philiströse hat noch Nietzsche abgestoßen; Goethe hat ihn gehasst. Die Selberlebensbeschreibung bricht mit dem Konfirmationstag ab, an dem die Kindheit von Amts wegen endete. Den Stempel der Idylle haben ihr andere verpasst: Es war keine. Der Versuch, die Not des weltverlassenen Kinds in schriftstellerische Tugenden umzudichten, musste auf längere Sicht misslingen.
Es ist eine verwaiste Welt, in der Jean Pauls Helden aufwachsen. Die einen kennen ihre leiblichen Väter nicht oder erst spät, wie in der Unsichtbaren Loge, in Hesperus, Titan und Komet. Von Pflegevätern werden sie in verheerender Enge dem Staatsdienst erzogen. Die andern sind, wie in den Flegeljahren, im Quintus Fixlein, Jubelsenior und Leben Fibels, die Söhne jähzorniger, verschlossener oder von fixen Ideen besessener Pfarrer und Schulmeister. «Auf der Kanzel nahm der Sohn seinen Vater für den heiligen Vater.»[16] Als Richter zum ersten Mal die Idee kommt, sein Leben ohne Erfindung zu erzählen, träumt er, «ich sähe meinen Vater auf dem Kanapée sitzen, nach dem ich mich lange gesehnt; aber halb erin[nernd] daß er todt, wollt ich ihn nicht recht anschauen – Endlich stand er nicht weit davon noch einmal; ich sagte (halbbewußt eines Traums), sie sollten zusammen sich mischen, sie gingen auf einander zu, es war mir dann als säh ich ein Kind neben ihnen und dann vorbei.»[17]
Ein unerbittliches Innerlichkeitsregime wacht, wie im Joditzer Pfarrhaus, auch im markgräflichen Staat über den Zusammenhalt der feudalabsolutistischen Gesellschaftspyramide. Gotthelf Fibels Lieblingslektüre, der Hof- und Staatskalender mit den Namenslisten sämtlicher Fürsten, Hofräte, Minister, Gesandter bis herab zu den Zeremonienmeistern, Köchen, Silberdienern und Parkettpolierern, fehlt in keinem bürgerlichen Haushalt des 18. Jahrhunderts und so auch nicht im Joditzer Pfarrhaus. «Es ist dies eine der unerkannten Kindheitsfreuden, daß man in dem Adreßkalender – diesem geistigen Hypothekenbuch der Staatsverwaltung – die festlich und ehrwürdig einherziehende Jubelkette des Staats, die Sattel- und Geschirr-Kammer von Bärten, Perücken, Uniformen und Degen für das ansieht, was sie so schön scheint.»[18]
Für einen erstgeborenen Pfarrerssohn von 1763 gilt dasselbe wie für ein Gräflein oder einen Dauphin: Auf ihn wartet unausweichlich die Tradition. Seit er einmal die Sonntagspredigt am selben Abend Wort für Wort wieder aufgesagt hat, hält der Vater Fritz für ein Wundertier. Bei seinem nächsten Besuch führt er ihn seiner Herrschaft auf Schloss Zedtwitz als künftigen Nachfolger vor. Denn so will es die Tradition. Joditz gibt der Unausweichlichkeit einen Namen. Aus Fritz soll einmal ein «Pfarrherrlein» werden wie aus dem Sohn des Köditzer Pfarrers Christian Hagen. Die Familien besuchen sich manchmal nach den Sonntagsandachten in ihren Pfarrhäusern, für die Richter-Brüder eine der seltenen Gelegenheiten zu einem Waldspaziergang.
Bei der Erziehung des Joditzer Erbprinzen soll denn auch nichts versäumt werden. Sie folgt denselben Mustern wie die aller Fürstensöhne des 18. Jahrhunderts, die mit den Büchern Fénelons, des Erzbischofs von Cambrai, aufwachsen. Die Dialogues des morts composés pour l’éducation d’un prince, eine Art Fürstenspiegel im Totenreich großer Herrscher, und der Télémaque ersetzen in so manchen adeligen Häusern die Schlossbibliothek.[19] Auf Fritz Richter warten indessen nicht Prunksäle und Kabinette, sondern niedrige Schulmeisterstuben und rußschwarze Pfarrhäuser. Und so liest er statt des Télémaque mit zwölf Jahren Daniel Defoes Robinson Crusoe und statt der Dialogues David Fassmanns Gespräche aus dem Reiche der Todten, ein Pandämonium voll doppelsinnigen Witzes und aktueller politischer Anspielungen.[20]
Man denke sich nach allem, was wir von ihm selbst wissen, Friedrich Richter als ein neugieriges, gutmütiges Kind mit blitzschnellem Verstand und leichtentzündlicher Phantasie, ein Kind «so ohne alle Natur- und Länder- und Weltgeschichte ausgenommen das Theilchen davon, welches er selber war – so ohne alles Französische und Musikalische – im Lateinischen nur mit einem Bißchen Lange und Speccius angethan – kurz als ein solches leeres durchsichtiges Skelett oder Geripplein ohne gelehrte Nahrung und Umleib, daß ich mit Ihnen allen kaum Zeit und Ort erwarten kann, wo er doch einmal anfangen muß, etwas zu wissen und das Gerippe zu beleiben».[21] Wenn über Gustav von Falkenberg, den Helden der Unsichtbaren Loge, berichtet wird, dass er «aus Einfalt im 15[ten Lebensjahr] nicht wuste, wie er nämlich aussah»,[22] so darf man das auch von dem kleinen Fritz Richter annehmen. Biblische Wundergeschichten müssen ihm Landkarten, Astrolabien und Kompasse ersetzen. Für Gustav, der (in der endgültigen Romanfassung) bis zu seinem zwölften Lebensjahr weltabgewandt von einem pietistischen Geistlichen in einem unterirdischen Versteck aufgezogen wird, ist der Himmel eine auf dem Kopf stehende Erde, «ein Herrnhut Garten vol Todte», den nicht Planeten und Sonnen bestirnen, sondern die in Gott erlösten Seelen der Toten. Die Erde stellt er sich wie seine Höhle vor, nur größer: «ein grüner Fußboden und blaue Stubendecke […] Alles ist rund, Früchte Thautropfen Blätter Stam».[23]
Die Nachtseite der Phantasie ist die Angst, die sich mit den Geräuschen der Nacht auf den schwitzenden kleinen Körper unter dem Federbett legt, sobald Fritz allein in seinem Bett in der Studierstube des Vaters liegt, während Gottlieb und Adam sich nebenan ein Bett teilen müssen. «Wenn nämlich bei einem Begräbnis der Leichenzug mit Pfarrer, Schulmeister und Kindern und Kreuz und mir von der Pfarrwohnung an bei der Kirche vorüber zu dem Kirchhof neben dem Dorfe sich mit seinem Singgeschrei hinaus bewegte, so hatt’ ich die Bibel meines Vaters durch die Kirche in die Sakristei zu tragen. Erträglich und herzhaft ging es im Galopp durch die düstere stumme ‹lauschende› Kirche bis in die enge Sakristei hinein; aber wer von uns schildert sich die bebenden grausenden Fluchtsprünge vor der nachstürzenden Geisterwelt auf dem Nacken und das grausige Herausschießen aus dem Kirchenthore?»[24]
Umso heftiger regt sich die Sehnsucht nach sinnlicher, lebendiger Berührung. «Zuweilen flog er einem gewöhnlichen ‹nicht schönen› Dienstmädchen seiner Eltern, das er nicht einmal liebte, verschämt und heftig an den Mund und schon in dem Kusse brauseten Seele und Körper unbewußt und schuldlos mit einander auf; aber vollends der Mund einer Geliebten, welche gerade in der Sonnenferne auf die geistigste innigste Liebe am wärmsten herab schien, hätte ihn in heissen Himmeln eingetaucht und ihn in einen glühenden Aether zerlassen und verflüchtigt. Und doch wollte ich, er wäre schon in Joditz ein oder ein Paar male verflüchtigt worden.»[25]
Dieses kindliche «Lieben» ist nicht körperliches Begehren, sondern «ein Anschauen, ein Herzens Auseinanderwallen, ein himmlisches Vernichten und Auflösen des ganzen Menschen», unschuldig kindlicher Narzissmus. «Paul fing an glänzenden Sonntagmorgen sein Genießen dadurch an, daß er noch vor der Kirche durch das Dorf mit einem Bunde Schlüssel ging – er läutete unterwegs damit, um sich dem Dorfe zu zeigen – und den Pfarrgarten mit einem davon aufsperrte, um daraus einige Rosen für das Kanzelpult des Vaters zu holen.»[26]
Nur im «dichterischen Genießen» fühlt sich und schwingt der ganze kleine Mensch im vollen Akkord. So begegnet ihm die Poesie zum ersten Mal als eine Tochter des Mangels, Platons «zehnte Muse», Inbegriff der reinen Liebe. Versunken lauscht er dem Gurren der Tauben auf dem Dachboden und den Fliegen im Spielhaus aus Lehm, um ihre Sprachen zu erlernen. Der gezähmte Star in seinem Bauer ist ihm ein Mensch wie er selber, der in einer fremden Sprache zu ihm spricht. Durch die Gitterstäbe ihres Gefängnisses erkennen sie sich, das Kind und der Vogel. Selbst die Bücher werden dem kleinen Fritz «sprechende Menschen». Dreißig Jahre später wird der Verfasser der Vorschule der Ästhetik die Genese der christlich-romantischen Kunst- und Weltanschauung aus seiner eigenen Kindheitserinnerung ableiten. «Das Christentum vertilgte, wie ein Jüngster Tag, die ganze Sinnenwelt mit allen ihren Reizen, drückte sie zu einem Grabeshügel, zu einer Himmels-Staffel zusammen und setzte eine neue Geister-Welt an die Stelle. Die Dämonologie wurde die eigentliche Mythologie der Körperwelt, und Teufel als Verführer zogen in Menschen- und Götterstatuen; alle Erden-Gegenwart war zu Himmels-Zukunft verflüchtigt. Was blieb nun dem poetischen Geiste nach diesem Einsturze der äußern Welt noch übrig? – Die, worin sie einstürzte, die innere. Der Geist stieg in sich und seine Nacht und sah Geister. Da aber die Endlichkeit nur an Körpern haftet und da in Geistern alles unendlich ist oder ungeendigt: so blühte in der Poesie das Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf.»[27]
Die größte Verlockung des Sinnlichen, das schlechthin Verbotene – «denn mein so klavierfertiger Vater wies mir keine Taste und Note» –, bleibt aber der Zauber der Musik. «Wenn der Schulmeister die Kirchengänger mit Finalkadenzen heimorgelte; so lachte und hüpfte mein ganzes kleines gehobnes Wesen wie in einen Frühling hinein; oder wenn gar am Morgen nach den Nachttänzen der Kirchweihe, welchen mein Vater am nächsten Sonntage lauter drohende Bannstrahlen nachschickte, zu seinem Leidwesen die fremden Musiker sammt den gebänderten Bauernpurschen vor der Mauer unseres Pfarrhofes mit Schallmeien und Geigen vorüberzogen: so stieg ich auf die Mauer und eine helle Jubelwelt durchklang meine noch enge Brust und Frühlinge der Lust spielten darin mit Frühlingen und an des Vaters Predigten dacht’ ich mit keiner Sylbe.»[28]
Im 20. Jahrhundert wird in einem Kirchturm eine Partitur von der Hand Christoph Richters gefunden. «Er dichtete seine innere Musik ohne alle äußere Hülftöne – was auch Reichardt den Tonsetzern anrieth – und unverstimmt von Kinderlärm».[29] Dieses stumme Komponieren gleichsam entkörperter Musik, «was ihm umso besser von der Hand ging, je weniger Stimmen zum Einsatz kamen, während der Sohn ihm begeistert zusah», muss so peinvoll für das lebhafte, hellhörige Kind gewesen sein, dass es, sobald der Vater abwesend ist, das verwaiste Instrument mit heftigen Dissonanzen erweckt. «Zuweilen setzte er das Klavier im obern Stock ans offne Fenster und spielte auf ihm über alle Massen ‹gewaltig› in das Dorf hinab und suchte gehört zu werden von Vorübergehenden.»[30]
Das stumme Klavier, der schweigende Vater, die gefangene Stimme: Die Joditzer Jahre hinterlassen in dem Heranwachsenden eine peinlich versteckte, unausgelebte Begierde nach Sinnlichkeit. Aus dem zwitschernden, hüpfenden Ausbund kindlicher Lebensfreude wird ein nach innen gekehrter, scheuer Knabe, der seinen tumultuarischen Gefühlsstürmen ausgeliefert ist. «Eigentlich sah er kein neues Äußeres anders als durch ein neues Inneres – Er war philosophisch und poetisch der Außenwelt entgegengesetzt.»[31