ALT SEIN
IST ANDERS
Personzentrierte Betreuung von alten
Menschen
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Klett-Cotta
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© 2005 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Bettina Herrman, Stuttgart, unter Verwendung des Fotos lumamarin/photocase.de
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96129-4
E-Book: ISBN 978-3-608-10434-9
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20089-8
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Einleitung
1 Alt werden ist eine seltsame Erfahrung –
Persönliche Gedanken zum Thema
2 Grundlagen der personzentrierten Arbeit
Ein humanistisches Menschenbild
Die personzentrierte Haltung
Das Selbstkonzept
Die Kontaktfunktionen
Was heißt personzentriert arbeiten?
3 Sieben Grundsätze für den Umgang mit alten
Menschen
Klarheit schafft Sicherheit und Vertrauen
Das Erleben ist der Schlüssel zum Verstehen
und Handeln
Entscheidend ist nicht was fehlt, sondern was da ist
Entwicklung ist ein lebenslanger Prozeß
Selbstverantwortung hat existentielle Bedeutung
Die Person ist mehr als ihr gegenwärtiger Zustand
Es gibt nicht nur (m)eine Realität
4 Worauf kommt es im Alltag an?
Ernstnehmen
Zuhören mit allen Sinnen
Auf das Erleben eingehen
»Anklopfen«
Eigenständigkeit unterstützen
Kleine Schritte beachten und ermutigen
Stützen für selbständiges Handeln geben
Wahlmöglichkeiten bieten
Konkret sein
Die »Sprache« des anderen Menschen finden
Sich nicht von Vorwissen bestimmen lassen
Den eigenen Anteil erkennen
5 Fachliche und persönliche Kompetenz
Professionalität
Persönliche Aspekte der Fachkompetenz
Psychische Begleitung
Wie läßt sich die Qualität der personzentrierten
Arbeit überprüfen?
6 Begleitumstände, die zu bedenken sind
Der Rollentausch zwischen den Generationen
Die Spannweite von Anforderungen und
Erwartungen
Sterben und Tod
7 Verschiedene Wirklichkeiten
Wahrnehmung
Entwicklung
Kommunikation
Traum
8 Perspektiven
Vielfalt der Ansprüche
Wegweisende Ansätze – zögerliche Umsetzung
Wünschbar: die Verankerung einer personzentrierten
Kultur
Die Einstellung zum Alter
9 Alt sein ist anders – auch für Menschen mit
geistiger Behinderung
Literatur
Warum ist alt sein anders? Wie anders? Anders als was?
Alt sein ist in vielerlei Hinsicht anders: anders, als wir es uns in jüngeren Jahren vorstellen, anders als bisherige Lebensabschnitte, anders für jeden Menschen und heutzutage anders als in früheren Zeiten. Das Bild vom Alter und die Möglichkeiten, die sich alten Menschen bieten, haben sich in den letzten fünfzig Jahren drastisch gewandelt. Gesellschaftliche und demographische Entwicklungen werden weitere Veränderungen mit sich bringen, die noch gar nicht abzusehen sind. Wir befinden uns mittendrin in diesem Wandel, und unsere Vorstellungen vom Alter sind ebenso geprägt von tradierten Bildern wie von neuen Perspektiven, die sich am Horizont abzeichnen.
Alt sein ist anders, als es die gängigen (alten und neuen) Klischees suggerieren. Das von den »jungen Alten«, an denen die Jahre nahezu spurlos vorübergegangen sind, die angeblich keinerlei Alterserscheinungen – wie Vergeßlichkeit, Verlangsamung, sich verändernde Interessen – bei sich feststellen, sondern fit sind wie eh und je, stimmt für mich ebensowenig wie das entgegengesetzte, wonach alte Menschen gebrechlich, leicht »gaga«, nicht auf der Höhe der Zeit, nicht mehr ganz ernst zu nehmen sind und auf Schritt und Tritt betuliche Ratschläge brauchen. Doch wie alle Klischees enthalten sie ein Körnchen Wahrheit. Alt sein bewegt sich – individuell verschieden – irgendwo zwischen den Extremen, enthält Spuren von beiden und ist zugleich für jeden Menschen eine ganz neue, einmalige und – eben – andere Erfahrung. Diesem vielschichtigen »anderen« will dieses Buch nachgehen.
Als die Idee an mich herangetragen wurde, ein Buch über personzentrierte Betreuung von alten Menschen zu schreiben, habe ich zuerst abgewehrt. Ich sah keine Notwendigkeit dafür, denn die in meinem Buch »Ernstnehmen, Zutrauen, Verstehen« (Pörtner 1996, 2004) beschriebenen Grundlagen und Richtlinien für den Umgang mit geistig behinderten und pflegebedürftigen Menschen gelten – etwas modifiziert – genauso für die Betreuung von alten Menschen, wie verschiedene Beispiele belegen. Doch je länger ich über den Vorschlag nachdachte, desto mehr reizte mich die Idee. Es waren da doch noch einige ganz spezifische neue Gesichtspunkte zu bedenken, während andere in diesem Zusammenhang weggelassen werden konnten. Die Grundlagen der Betreuungsarbeit sind dieselben, ob man es mit behinderten, kranken oder alten Menschen zu tun hat. Doch die Lebensthematik ist bei alten Menschen eine andere. Es ist eine Thematik, von der die Betreuenden selber betroffen sind, denn sie wird eines Tages auch die ihre sein. Menschen, die schon ein Leben hinter sich haben, auf dem letzten Abschnitt zu begleiten, stellt die tägliche Arbeit in eine andere Perspektive, als die Aufgabe, jüngere Menschen mit Behinderungen dabei zu unterstützen, sich im Leben zurechtzufinden und ihre beschränkten Fähigkeiten optimal zu entwickeln und einzusetzen. Doch auch Menschen mit geistiger Behinderung werden älter, deshalb werden einige Gedanken zu ihrem Altern den Abschluß dieses Buches bilden. Die besondere Situation von und mit demenzkranken Menschen wird bewußt nicht in einem speziellen Kapitel behandelt, sondern eingebettet in grundsätzliche Überlegungen zu Betreuung und Pflege, weil ich meine, daß auch demenzkranke Personen ganzheitlich gesehen und verstanden werden müssen. Die Grenze zwischen »normalen« altersbedingten Beeinträchtigungen und denen, die auf Demenz zurückzuführen sind, ist fließend, und sie können durch die Art und Weise der Pflege und Betreuung erheblich beeinflußt werden.
Da in diesem Bereich verschiedene Berufsgruppen tätig sind und hier nicht spezifische pflegerische oder therapeutische Konzepte entwickelt, sondern die Grundprinzipien dargestellt werden, die solchen Konzepten zugrunde liegen müssen, verwende ich die Begriffe »Betreuende« oder »Bezugspersonen« zusammenfassend für alle, die sich beruflich oder ehrenamtlich in unterschiedlicher Weise um alte Menschen kümmern. Ebenso beinhaltet der Begriff »Betreuung« sowohl pflegerische, therapeutische wie einfach unterstützende Tätigkeiten. Die männliche und weibliche Form werden abwechselnd verwendet oder, wo das möglich ist, mit einem Begriff bezeichnet, der beide Formen umfaßt.
Das vorliegende Buch beschreibt die Grundsätze der personzentrierten Arbeit und ihre Umsetzung im Alltag. Es beschäftigt sich mit der Thematik, die den letzten Lebensabschnitt prägt, und mit ihrer Bedeutung für die Begleitung von alten Menschen. Es wird aufgezeigt, inwiefern sich der personzentrierte Ansatz für die Betreuung von alten Menschen besonders eignet, wie er sich in der praktischen Arbeit konkret verwirklichen läßt und dazu beiträgt, die Lebensqualität alter Menschen zu verbessern und die Arbeit der Betreuenden befriedigender zu gestalten.
Aus der gemeinsamen Grundlage ergeben sich naturgemäß gewisse Überschneidungen mit den Inhalten von »Ernstnehmen, Zutrauen, Verstehen«. Ganz bewußt habe ich einige Beispiele daraus übernommen, die besonders deutlich veranschaulichen, worauf es bei der personzentrierten Betreuung und Begleitung von alten Menschen ankommt.
Da ich selber alt bin, bedeutete das Thema für mich, über das fachliche Interesse hinaus, eine Herausforderung, mich eingehend mit diesem Aspekt meiner Existenz auseinanderzusetzen. Deshalb stehen als Einstimmung einige persönliche Gedanken zum Thema am Anfang meiner Ausführungen.
Mein aufrichtiger Dank gilt allen, die direkt oder indirekt – in gemeinsamer Arbeit, im Gedankenaustausch oder indem sie mich an ihren Erfahrungen teilnehmen ließen – zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben. Den Anstoß, es überhaupt zu schreiben, verdanke ich Andreas Amrein. Ihm und Roland Moser danke ich zudem für ihr Engagement, meine Konzepte in Aus- und Fortbildungen sowie Fachberatungen weiterzuvermitteln. Ursula Lesny danke ich für wertvolle Hinweise – und einmal mehr – den Mitarbeitern des Verlags Klett-Cotta, insbesondere Heinz Beyer, für die stets angenehme Zusammenarbeit.
Zürich, im März 2005
Marlis Pörtner
Warum seltsam? Ist alt werden nicht eine selbstverständliche und allen Menschen – sofern sie nicht jung sterben – gemeinsame Erfahrung? Altern beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Während des ganzen Lebens verläuft dieser Prozeß, den wir zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich erleben. Als Kind kann das Älterwerden nicht schnell genug gehen, wir möchten endlich 10 oder 12 oder 16 oder 20 werden und können kaum erwarten, bis es soweit ist. In späteren Jahren ist es genau umgekehrt, die Zeit vergeht beängstigend schnell, rinnt uns gleichsam durch die Finger, und wir wünschten manchmal, wir könnten sie anhalten oder wenigstens ein bißchen verlangsamen.
Wann ist man »alt«? Mit 60, 70 oder 80? Das kommt ganz auf den Blickwinkel an. Als ich zwanzig war, gehörte zu der kleinen Truppe, mit der ich damals Theater spielte und einen großen Teil der Freizeit verbrachte, auch eine für unsere Begriffe schon sehr alte Kollegin, mit der wir uns »trotzdem« glänzend verstanden – sie war gerade mal 40! Heute sind 40-jährige für mich junge Leute. Doch selbst wenn »alt« ein relativer Begriff ist, läßt es sich weder wegdiskutieren noch aufhalten: Eines Tages sind wir wirklich alt. Das wissen wir, und wir wissen auch, daß wir uns rechtzeitig damit auseinandersetzen und darauf einstellen sollten. Und wir glauben – jedenfalls solange es noch in weiter Ferne liegt – gut vorbereitet zu sein und es bestimmt besser zu machen als so manche alte Menschen um uns herum, die (in unseren Augen) mit ihrem Alter schlecht zurechtkommen. Nun, wir wissen zwar, daß wir eines Tages alt sein werden, aber wir haben keine Ahnung, wie das für uns sein wird. Wir haben vielleicht gewisse Vorstellungen davon, aber wenn es dann soweit ist, ist alles ganz anders.
In jüngeren Jahren war ich davon überzeugt, genau zu wissen, was zu tun sei und wie ich mich später einmal verhalten sollte. Ich würde den richtigen Zeitpunkt für den Rückzug bestimmt nicht verpassen, sondern mich frühzeitig (so mit sechzig, dachte ich damals!) im Altersheim anmelden. Keinesfalls wollte ich die gleichen Fehler machen wie meine Mutter, die mit über achtzig immer noch nicht einsehen wollte, daß sie jetzt alt war und etwas an ihrer Lebensweise ändern mußte, obschon es ganz offensichtlich nicht mehr so weitergehen konnte wie bisher. Doch merkwürdig – je älter ich wurde, desto ferner rückte dieser Gedanke. Inzwischen habe ich die 70 hinter mir und denke nicht daran, ins Altersheim zu ziehen, sondern bin fest entschlossen, diesen Schritt, wenn es irgendwie geht, zu vermeiden. Ich habe keineswegs das Gefühl, das Leben sei jetzt mehr oder weniger vorbei und die Zeit für den Rückzug gekommen. Die letzten Jahre haben mir im Gegenteil ganz neue Perspektiven eröffnet. Trotz verschiedener Beschwerden und Beeinträchtigungen, die das Alter so mit sich bringt, erlebe ich diesen Lebensabschnitt nicht primär als Abbau, sondern als eine Zeit der Veränderung, in der sich Werte wandeln, Gewichtungen verschieben, andere Schwerpunkte in den Vordergrund rücken und neue Horizonte sichtbar werden.
Gewiß, diese Zeit ist auch von Verlusten geprägt und mit Trauer verbunden: Nahe stehende Menschen sterben, vieles, was wichtig war, geht verloren oder verliert an Bedeutung. Das Schlagwort vom »Loslassen-Müssen« ist sehr real geworden. Und mit jedem Loslassen geht etwas zu Ende, das zuvor Bedeutung hatte, fällt etwas weg, was bisher zum Leben gehörte. Gewohntes und Vertrautes verändert sich oder ist nicht mehr möglich. Zugleich aber wird Raum frei, in dem Neues, Unbekanntes oder bisher nicht Geahntes entstehen kann. Loslassen bedeutet nicht nur Verlust, sondern auch Befreiung. Manchmal ist das eine stärker spürbar und manchmal das andere. Es gibt im Alter beides: hellere und dunklere Tage – genau wie in allen anderen Lebensabschnitten auch.
Was heißt eigentlich »alt«? Wir seien »älter«, nicht alt, korrigierte mich bis vor kurzem eine gleichaltrige Bekannte, wenn ich uns als »alte Damen« bezeichnete. Mit dieser Auffassung steht sie nicht allein. Ein Beamter, vermutlich in der Meinung höflich zu sein, gebrauchte kürzlich die Floskel »im höheren Mittelalter stehend«. Die Neigung, das Wort »alt« tunlichst zu vermeiden, als sei es ein Schimpfwort, ist sehr verbreitet. Statt dessen ist von »betagt« die Rede und von »Senioren«, was offenbar als weniger ehrenrührig angesehen wird. Manchmal wird das ominöse Wort »alt« derart blumig umschrieben, daß kaum mehr erkennbar ist, was eigentlich gemeint ist. Eine Verkäuferin in der Drogerie, die mir eine Gesichtscreme »für anspruchsvolle Haut« verkaufen wollte, geriet völlig aus der Fassung als ich sie fragte: »Heißt das für alte Damen?« Wenn der Arzt findet, für mein Alter sei ich noch gut beieinander, stört mich das nicht, sondern ich freue mich darüber. Andere in meinem Alter empfinden eine solche Aussage als Beleidigung.
Ich hingegen finde es diskriminierend, wenn das Wort »alt« vermieden oder darum herumgeredet wird, als sei es eine Schande, alt zu sein. Warum ist dieses Wort so verpönt? »Alt« bedeutet doch nichts anderes, als daß jemand eine Reihe von Jahren hinter sich hat und sich in einem späten Lebensabschnitt befindet. Darüber wie dieser Mensch ist, sagt das Wort nichts aus, weder über seine Fähigkeiten oder Unfähigkeiten noch über seinen geistigen oder körperlichen Zustand – es sei denn, es kommen uns bestimmte Vorstellungen in die Quere, die wir damit verbinden: alt gleich unbeholfen, inkompetent, wirr, unbedarft, hilfsbedürftig, zerstreut, leicht verblödet usw. Wenn hinter dem Wort »alt« solche und ähnliche Bilder stehen, bekommt es tatsächlich eine abwertende Bedeutung und wird verständlicherweise ängstlich vermieden. Viele alte Menschen haben selber diese negativen Bilder verinnerlicht und wollen deshalb um keinen Preis »alt« sein.
Zwar werden solche herabsetzenden Vorstellungen von kaum jemandem offen und bewußt vertreten, doch unterschwellig geistern sie in vielen Köpfen herum und beeinflussen den Umgang mit alten Menschen. Das bekam ich in den letzten Jahren immer wieder deutlich zu spüren, und es machte mir so richtig bewußt: »jetzt bin ich alt« – noch bevor ich mich eigentlich selber so fühlte. Auf einmal begannen manche Leute anders mit mir zu reden als bisher. Nicht von Menschen, die mir nahe stehen oder mit denen ich beruflich zu tun habe, doch bei kurzen, oberflächlichen Kontakten, auf der Straße, am Bankschalter oder im Supermarkt schlägt mir immer häufiger ein neuer, ungewohnter Ton entgegen: betulich, belehrend, wohlwollend von oben herab, so als wüßte ich nicht so recht, wie man – zum Beispiel – einen Brief frankiert, die Waage im Supermarkt bedient oder sich am Bankschalter zu benehmen hat.
Eine kleine Auswahl:
Ich will Geld abheben und habe die Bankkarte nicht bei mir. Ich sage das der jungen Frau hinter dem Schalter und zeige ihr meinen Ausweis. Mit tadelndem Blick fertigt sie mich ab, nicht ohne mich anschließend zu ermahnen: »Das nächste Mal bringen Sie aber das Kärtchen mit.« Oder: Vor mir werden an zwei Schaltern zwei Kunden bedient, hinter mir ist niemand. Ich stelle mich zwischen den Schaltern an, um dann zum ersten zu gehen, der frei wird. Tadelnd tönt es hinter dem Schalter hervor: »Stellen Sie sich bitte gerade in die Reihe.« Die zurechtweisende Dame ist erstaunt und pikiert, daß ich mir diesen Ton verbitte, und meine Frage, ob sie mit einem jungen Mann auch so reden würde, bringt sie vollends aus der Fassung. Oder: Beim Bezahlen an der Supermarktkasse fällt mir etwas zu Boden. Eine Frau, ich schätze sie Mitte 40, hebt es mir auf mit den Worten: »Da ist Ihnen etwas heruntergefallen, gute Frau.« Ich antworte: »Danke, gute Frau.« Worauf sie – immerhin – erschrickt und sich entschuldigt. Oder das bisher krasseste Erlebnis: In einer Gartenwirtschaft auf dem Land, wo ich mit der (noch etwas älteren) Frau Z. zu Mittag esse, erkundigt sich die Kellnerin: »Normalerweise servieren wir unseren Landwein gekühlt, dürfen wir das bei Ihnen auch? Ich meine wegen der Blase und so.«
Die zunehmende Häufigkeit solcher Erlebnisse hat mir klargemacht, daß ich inzwischen nach außen – jedenfalls bei flüchtigen Begegnungen – ein Bild abgebe, das nicht ganz mit meinem Selbstbild übereinstimmt: eine alte, etwas ungeschickte Frau, der nicht mehr allzuviel zuzutrauen ist. Jedes kleine Mißgeschick oder Versehen, das mir passiert – und sie passieren vermehrt, da mache ich mir nichts vor – bestätigt das Bild und scheint die Ermahnungen zu rechtfertigen. Nur: wenn mein Sohn seine Bankkarte vergißt, kommt niemand auf die Idee, ihn in dieser Art zurechtzuweisen, und wenn meiner Tochter etwas zu Boden fällt, wird sie nicht als »gute Frau« tituliert. Warum wohl?
Daß ich diesen Ton nicht einfach hinnehme, paßt offensichtlich überhaupt nicht ins Bild. Wenn ich die Leute – denen ihre Vorurteile meist gar nicht bewußt sind – darauf anspreche und mich dagegen verwahre, bringt es sie völlig aus dem Konzept und löst die unterschiedlichsten Reaktionen aus: ungehalten, betreten, wütend, abwehrend, aggressiv, beleidigt und manchmal auch beschämt.
Leider – ich sage es ungern, aber es ist so – sind es fast immer junge Frauen, die so mit mir reden, bei jungen Männern kommt es nur selten vor. Auf der anderen Seite ist mir kaum jemals ein Mann behilflich, den Koffer die Treppe hinauf- oder hinunterzutragen, wenn auf einem Bahnhof wieder einmal der Aufzug außer Betrieb ist oder das Rollband nicht funktioniert. Wenn überhaupt jemand Hilfe anbietet, dann ist es meistens eine junge Frau. Aber: ich habe inzwischen gelernt, daß es auch an mir liegt, wenn nötig um Hilfe zu bitten, und nie erfahren, daß sie abgelehnt wurde.
Es ist mir keineswegs unangenehm, wenn mein Alter bemerkt und in manchen Situationen darauf Rücksicht genommen wird. Im Gegenteil, ich bin oft froh, wenn mir etwas abgenommen oder Hilfe angeboten wird. Doch daß es mir schwerfällt, den Koffer die Treppe hinauf zu tragen, bedeutet nicht automatisch, daß ich auch schwer von Begriff bin. Nicht daß ich altersbedingte Veränderungen verkennen würde. Sie sind unübersehbar, und ich registriere sie sehr genau: Körperliche Kräfte nehmen ab, manches wird umständlicher, vieles geht nicht mehr so schnell, die Reaktionen werden langsamer, Hören und Sehen verschlechtern sich, die Geschicklichkeit läßt nach, Fehlleistungen und Vergeßlichkeit nehmen zu. Das alles ist hinderlich, zeitraubend und manchmal ärgerlich, aber nicht entscheidend für mein Lebensgefühl. Es sind lästige Randerscheinungen, mit denen ich leben muß. Sie sind mir oft unangenehm, verunsichern mich manchmal, aber sie machen nicht meine Identität aus. Das Ich-Gefühl wird nicht allein von der Gegenwart bestimmt, sondern von der gesamten Lebenszeit, das äußere Bild hingegen widerspiegelt das Hier und Jetzt. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich meine Großmutter, bevor ich – noch immer etwas erstaunt – realisiere: das bin ich. Das Spiegelbild stimmt nur bedingt mit meinem Körpergefühl überein, in welchem die im Laufe des Lebens erfahrenen Veränderungen zu einem Ganzen verschmelzen, das mehr umfaßt als nur das gegenwärtige äußere Bild. Zwischen der Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung von außen besteht eine Diskrepanz. Auch wenn der Abstand mit der Zeit kleiner wird und das äußere Bild nach und nach in die Identität einfließt: ein Unterschied bleibt bestehen.
Frau O. erlebt das so: »Ich sehe mich manchmal wie von außen, registriere das Verhalten und die Reaktionen einer alten Frau und denke, aha, so ist das jetzt. Doch irgendwie habe ich das Gefühl, das sei nicht wirklich ich.« Und Herr Q., weit über achtzig, sehr aktiv und geistig überaus rege, bringt sein Empfinden selbstkritisch und ironisch auf den Punkt: »Alt werden nur die anderen.«
Dennoch, das Lebensgefühl ist in diesen Jahren ein anderes als früher. Da ist zum einen eine viel größere Freiheit – innerlich wie äußerlich. Frau R. spricht von »Narrenfreiheit« und meint: »Früher empfand ich viel stärker den Druck von außen.« Diese Freiheit gegenüber früher finde ich wunderbar: nicht mehr so eingebunden sein in Verpflichtungen, weniger Rücksichten nehmen müssen, mich freier fühlen zu sein, wie ich bin. Das ist der eine prägende Aspekt meines gegenwärtigen Lebensgefühls, das zum anderen entscheidend beeinflußt wird durch
Diese Themen sind in meinem Alltag sehr viel stärker präsent als die durchaus auch vorhandenen kleinen Beschwerden und Beeinträchtigungen. Das schließt eine leise im Hintergrund lauernde Angst vor Demenz und Pflegebedürftigkeit nicht aus, die sich manchmal mehr, manchmal weniger bemerkbar macht.
Daß die begrenzte Zeit »sichtbar am Horizont steht« – um eine Formulierung von Ingeborg Bachmann (1953, S. 18) zu gebrauchen – ist eine treibende Kraft, die noch verstärkt wird von dem Gefühl, die Zeit vergehe immer schneller, und von der unterschwelligen Sorge, sie könnte nicht mehr reichen. Ich werde ungeduldig, wenn Projekte nur zögerlich vorankommen, Entscheidungen auf die lange Bank geschoben werden oder Pläne nur langfristig ins Auge gefaßt werden können. Ich weiß: was ich noch verwirklichen möchte, muß ich jetzt tun, ich kann es nicht aufschieben. Das ist für andere, die noch viel Zeit vor sich haben, oft schwer nachzuvollziehen. Auch für mich war bis vor kurzem das Gefühl vorherrschend: Was jetzt nicht geht, ist später noch möglich. Inzwischen ist »später« zu einem sehr unsicheren Faktor geworden. Doch andererseits weiß ich auch, daß sich im Leben nie alles verwirklichen läßt, daß immer etwas unvollendet bleiben wird. Das gibt mir eine Gelassenheit, welche die Ungeduld ausgleicht. Die beiden widersprüchlichen Gefühle ergänzen sich und halten einander in etwa die Waage.
Nicht nur, daß die Zeit immer schneller vergeht – sie schiebt sich auch in der Erinnerung immer näher zusammen. Wenn ich meine, etwas sei letztes Jahr gewesen, dann ist es meist schon zwei Jahre her. Und wenn ich denke: das war vor zehn Jahren, dann sind es zwanzig oder gar dreißig Jahre.
Die Gewißheit des unaufhaltsam näher kommenden Todes hat etwas seltsam Zwiespältiges. Daß wir eines Tages sterben müssen, ist ja das einzige, was im Leben ohne jeden Zweifel ganz sicher feststeht – und doch erscheint es immer unwirklicher, je näher es kommt. Mir geht es jedenfalls so. Der Verstand weiß, daß es so ist, doch das Gefühl kann es nicht wirklich fassen. Ich weiß, es wird mich in absehbarer Zeit nicht mehr geben, und das erfüllt mich manchmal mit einer gewissen Wehmut, aber so richtig vorstellen kann ich es mir nicht. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß Sterben für jeden Menschen etwas vollkommen Neues, Unbekanntes, nicht Vorstellbares ist, eine ganz und gar einmalige Erfahrung, die wir nie vorher gemacht haben und nie wieder machen werden. Wir können auf nichts Bekanntes zurückgreifen, niemand kann uns sagen, wie das für uns sein wird. Auf der letzten Wegstrecke sind wir allein, auch wenn andere uns ein Stück weit zu begleiten versuchen.