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Die Drehtür am Eingang des Glasgebäudes verschlang die dunklen Anzüge, einen nach dem anderen.
In der Sekunde, in der die Eigentümer der Anzüge in die hungrige Tür hineintraten, richteten sie sich auf. Sie wussten, sie waren etwas Besonderes. Auserwählte. Besser als die meisten.
Caroline streckte den Rücken durch und wollte sich gerade verschlingen lassen, als ein schwarzer Mercedes ML mit getönten Scheiben an ihre Seite rollte. Abrupt blieb sie stehen.
Der Fahrer stieg aus, ging um das Auto herum und öffnete die hintere Seitentür. Zu sehen waren zuerst ein Paar Schuhe. Sie glänzten im Morgenlicht. Church-Schuhe, vermutete sie. Den Füßen folgte ein Körper, der langsam von dem hohen Autositz herabglitt. Auf dem Boden landete Direktor Clausen, Dana Oils oberster Chef.
Caroline stand wie festgefroren, während der untersetzte Direktor, ohne zu grüßen, an ihr vorbei und allein durch die Drehtür ging. Eine kalte Aura zitterte wie eine fast sichtbare, eisblaue Schicht um ihn herum.
Auf der anderen Seite der Tür hörte sie, wie alle Gespräche im Empfangsbereich verstummten. Alle Anzugträger konzentrierten sich verbissen darauf, geschäftig auszusehen, und die Frauen hinter dem langen Empfangstresen nickten ehrerbietig, als der Chef vorbeiging.
Einen Augenblick später glitt Caroline durch die Tür. Sie schielte zu den beiden Empfangsdamen hinüber, aber die beachteten sie nicht; sie nickten immer noch dem Rücken des Direktors hinterher.
Sie sah ihm nach, Direktor Clausen, oder der Scharfrichter, wie er genannt wurde. Er war es, der Dana Oil zu dem gemacht hatte, was das Unternehmen heute war. Eine top aufgestellte, ehrgeizige Firma, die auf ihrem Gebiet als eine der Allerbesten der Welt bekannt war. Wie sein Spitzname andeutete, hatte es Opfer gefordert, das Eckbüro zu erobern. Viele Opfer. Wollte man in die oberste Etage eines Unternehmens, in dem spitze Ellenbogen nur ein Beiwort waren, musste man bereit sein, sich die Finger blutig zu machen.
Caroline folgte dem Scharfrichter zu der mattierten Sicherheitspforte, die alle passieren mussten, um in das Unternehmen hineinzukommen. Sie zog ihre Zugangskarte aus der Tasche und hielt sie vor das elektronische Lesegerät. Es piepte, die Pforte öffnete sich zischend und ließ sie passieren. Mit festem Schritt setzte sie ihren Weg quer über die glänzenden, schwarzen Fliesen hin zu der breiten Treppe und den beiden Glasfahrstühlen im Empfangsbereich fort.
Sie schielte kurz in Richtung Fahrstuhl, folgte dann aber Direktor Clausen die Treppe hinauf. Bei Dana Oil war es nicht gern gesehen, den Fahrstuhl zu benutzen, es sei denn, man war behindert, schwanger oder Gast des Hauses.
Im fünften Stock ging sie hoch aufgerichtet zum Großraumbüro am Ende des Ganges. Sie grüßte die Kollegen, die da waren – und das waren die meisten, denn die Uhr näherte sich der Ziffer acht – und schaltete ihren Computer an. Zehn Mails waren eingegangen, seit sie den Computer gegen Mitternacht heruntergefahren hatte. Eine war von ihrem Chef; Caroline öffnete sie und las.
Eine nervöse Unruhe machte sich in ihrem Magen breit. Durch die klinisch reine Bürolandschaft schaute sie in das Büro des Chefs hinter der Glaswand. Dort saß ihr Chef, Markvart. Gepflegt und wie immer in einem maßgeschneiderten Anzug, der wie angegossen an seinem fast zwei Meter großen, schlanken Körper saß. Heute war der Anzug grau und passte somit zu den stilvoll ergrauten Schläfen. Caroline versuchte, Augenkontakt mit ihrem Chef zu bekommen, aber der starrte intensiv auf den Bildschirm seines Computers. Es war unmöglich zu beurteilen, ob er von der Arbeit gefesselt war oder ob er bewusst versuchte, ihren Blick zu vermeiden.
Sie schaute durch das Büro, in dem sich auf beiden Seiten des Raumes die Tische jeweils paarweise gegenüberstanden. Die Gesichter der Kollegen waren konzentriert und ausdruckslos, frei von nervösen Regungen. Anscheinend hatte niemand anderes eine beunruhigende Chef-Mail erhalten – oder sie waren nur trainiert darin, versteinerte Mienen aufzusetzen, damit diese sie nicht verrieten.
Sie las die Mail noch einmal.
»16 Uhr in meinem Büro. / Markvart«
Mehr stand da nicht.
Die Unruhe verbreitete sich schnell, vom Magen ausgehend, auf den Rest des Körpers. Caroline stand auf und ging durch das Büro nach draußen auf die Toilette.
Sie beugte sich über das Designerwaschbecken und holte tief Luft. Aber die Atemübungen aus der Zeit, in der sie sich noch dazu gezwungen hatte, Yoga zu machen, schafften es nicht, ihren Körper zu beruhigen. Sie hob den Kopf und starrte in den großen Spiegel.
Sie war zufrieden gewesen, als sie vor einer Stunde ihre Wohnung verlassen hatte. Mit dem dunklen, taillierten Hosenanzug, ihrem markanten Gesicht und dem geraden Rücken hatte sie der geähnelt, die sie sein wollte: eine Karrierefrau voller Power. Aber dieses Bild war in Rekordzeit verblasst. Jetzt hing ihr der Anzug wie auf einem Plastikbügel von den Schultern, die Nase wirkte nicht mehr markant, nur zu spitz, und der Rücken krümmte sich wieder. Man hatte ihr ein paarmal gesagt, sie würde der Schauspielerin Uma Thurman ähneln, aber sollte in dieser Aussage ein Fünkchen Wahrheit liegen, war es gerade jetzt eine erschöpfte Uma Thurman.
Die dunklen Halbmonde unter ihren Augen schienen allmählich dauerhaft zu werden. Nicht dass sie einen Spiegel brauchte, um sie zu studieren – sie brauchte nur ihre Kollegen anzuschauen, die alle ähnliche Schatten entwickelt hatten.
Die letzten Monate hatten bei allen Angestellten von Dana Oil Spuren hinterlassen.
Wie bei vielen anderen Unternehmen war eine Kündigungsrunde angekündigt worden, und für Carolines Abteilung bedeutete das, dass mindestens drei der zehn Mitarbeiter demnächst ein »Rücktrittspaket« erhalten würden.
Die Aussicht auf Kündigungen hatte in der Abteilung zu einer, milde gesagt, gedrückten Stimmung geführt. Die Angst hatte alle dahingehend verändert, von des eigenen Glückes Schmied zu sein, in ebenso hohem Maße des anderen Unglücks Schmied zu sein. Aufgaben, die man früher als eine Leistung der Abteilung bezeichnet hätte oder einen team effort, wie es bei Dana Oil hieß, wurden jetzt als Einzelleistung vorgelegt. Sah man die Chance, sich selbst zu loben und sich im gleichen Atemzug herabsetzend über einen Kollegen zu äußern, ergriff man diese.
Alle Kollegen hatten ihre Gründe, ein Kündigungsschreiben zu fürchten.
Für Jens, der den Hebe-Senk-Tisch gegenüber Caroline besetzte, würde eine Kündigung eine ernsthafte Bedrohung der Versorgerrolle bedeuten. Kind Nummer drei war unterwegs, mit einer Frau mit Teilzeitstelle und einem neu erworbenen, renovierungsbedürftigen Eigenheim in Emdrup ließ die Ökonomie weder Platz für ein ganzes noch ein halbes Jahr mit Tagegeld. Er war jedoch kürzlich erst zum Teamleiter befördert worden, also würde es ihn wohl nicht treffen.
Die Sekretärin der Abteilung, Birthe, war überzeugt, sie würde niemals eine neue Stelle finden, wenn sie es war, die gefeuert werden würde. Mit einem Taufschein aus den 1950ern und ohne formelle Ausbildung war Caroline geneigt, ihr recht zu geben.
Für Caroline waren es weder das Geld noch die Angst, dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu sein, was den Knoten im Magen verursachte. Es war die Angst vor der Demütigung. Die Angst davor, wieder als zu schwach befunden zu werden.
Es waren noch keine Namen auf das graue Papier geschrieben oder ein Datum festgesetzt worden, wann die Axt geschwungen werden sollte, aber an den Tischen in der Kantine herrschte Einigkeit darüber, dass es nicht mehr lange dauern könne. Vielleicht nächste Woche – vielleicht bereits diese?
Vielleicht, grübelte sie, während sie spürte, wie der Knoten im Magen wuchs, lag die Axt bereit und wartete in Form eines A4-Bogens auf Markvarts Tisch, wenn sie am Nachmittag in sein Büro kommen würde. Er pflegte bei seinen Einberufungen zum Meeting immer eine Tagesordnung – oder zumindest eine Überschrift – zu schreiben, damit sie und die Kollegen sich vorbereiten konnten. Diese hier hieß nur »Einberufung zum Meeting«, und sie wusste, dass Leute zu früheren Zeitpunkten während solch unbetitelter Sitzungen gefeuert worden waren.
Caroline betrachtete sich wieder im Toilettenspiegel. In dem Versuch, gleich groß wie ihre Freundinnen und, viel wichtiger, nicht größer als die Kerle zu sein, hatte sie während ihrer Teenagerjahre den Oberkörper nach vorn gebeugt. Die Behauptung ihrer Freundinnen, lange Beine und helle Haare seien eine Kombination, die viele Männer anziehend fänden, hatte sie erst später im Leben anerkannt – als sich die krumme Haltung festgebissen hatte und sich immer dann zeigte, wenn sich das Leben ihr widersetzte.
Das Einzige, was gegenüber dem frühen Morgen gleich geblieben war, waren die schräg stehenden, grünen Augen und die Haare, selbstverständlich. Die hellen Haare fielen wie immer in eine exakt geschnittene Pagenfrisur, die durch Glätteisen und Haarlack ermöglicht wurde.
Sie nahm einen tiefen Atemzug. Sie war gezwungen zu erfahren, ob heute der Schicksalstag war, und sie wusste, an wen sie sich wenden musste. Wenn ihr jemand Informationen geben konnte, die den Knoten im Magen lösten, dann war es Viktor. Caroline wusch sich die Hände und ging zurück durch die aufgeräumte und stilgerechte Bürolandschaft. Mit der einen Hand griff sie nach dem Hörer des Telefons, das auf ihrem Tisch stand, und mit der anderen tippte sie Viktors Durchwahl ein. Er antwortete sofort.
»Viktor hier.«
»Caroline hier. Wollen wir heute zusammen Mittag essen?«
Am anderen Ende wurde es still.
»Ich habe wirklich ein bisschen viel zu tun heute, Caroline.«
»Nur ein schnelles Mittagessen?«
Sie konnte hören, wie er zögerte, bevor er antwortete:
»Können wir das auch an einem anderen Tag in dieser Woche machen?«
»Ich habe die ganze Woche über Termine, es muss heute sein«, log sie. »Und es ist so lange her.«
Viktor seufzte.
»Okay, sagen wir um zwölf bei den Tabletts?«
»Ja, bis dann.«
Fünf Minuten vor zwölf Uhr öffnete Caroline den obersten Knopf ihrer Bluse und fuhr sich mit dem Lipgloss über ihre Lippen. Auf ihrem Weg durch das Büro sagte sie in den Raum hinein, sie würde zum Mittagessen gehen. Niemand antwortete.
Der Frikadellengeruch kroch ihr in die Nase, als sie durch die Tür in die Kantine trat. Es drehte ihr den Magen um. Starke Gerüche brachten ihren Magen dazu, Purzelbäume zu schlagen, wenn sie nervös war. Der einzige Grund, warum sie Viktor vorgeschlagen hatte, sich zum Mittagessen zu treffen, war, weil sie wusste, dass er zu diesem Zeitpunkt am vergnügtesten war. Er wartete vor dem Stapel mit hellen Holztabletts auf sie. Sie nahmen jeder ein Tablett, Besteck und Teller und begannen die tägliche Tour rund um das Büfett herum. Viktor schaufelte sich Frikadellen, Soße und Kartoffeln auf den Teller.
»Ich weiß gut, man sollte das nicht machen, aber es ist mittlerweile so selten geworden, dass die Kantine ordentliches Männeressen serviert …« Er lächelte Caroline entschuldigend an und klopfte sich auf den wachsenden Bauch.
Sie erwiderte das Lächeln.
»Selbstverständlich darf man das, alles andere wäre unhöflich«, sagte sie, stach die Gabel in eine Frikadelle und ließ sie auf ihren Teller fallen. In einer Verhandlungssituation galt es, die Gegenpartei dazu zu bringen, sich wohlzufühlen, und eine Art und Weise, dies zu erreichen, war es, den anderen zu spiegeln. In diesem Moment bedeutete das, sie sollte Frikadellen zu Mittag essen.
»Sollen wir uns ans Fenster setzen? Wie ich sehe, sitzen dort einige aus deiner Abteilung?« Viktor zeigte mit dem Finger in besagte Richtung.
Caroline schüttelte den Kopf.
»Lass uns an einen der kleinen Tische da hinten gehen. Es ist so lange her, dass nur wir beide miteinander gesprochen haben.«
Er lächelte und nickte, und sie bahnten sich ihren Weg zwischen den großen, runden Tischen hindurch, die rasch von lautstarken Männern in dunklen Anzügen eingenommen werden würden, zu den kleinen viereckigen Tischen für zwei Personen ganz hinten in der niedrigen Kantine. Auf allen Tischen stand eine Schale, gefüllt mit in Goldpapier eingewickelter Schokolade – eine Geste, um zu feiern, dass es in dieser Woche fünfzig Jahre her war, seit Dana Oil gegründet wurde.
Die Zweiertische standen weit auseinander und waren am weitesten vom Fenster entfernt, deshalb gab es kein großes Gedränge um die Plätze. Hier würden sie in Ruhe reden können.
»Ich hole uns eben noch Wasser«, sagte Viktor, als sie die Tabletts auf den kleinen Tisch gestellt hatten.
Caroline schaute Viktors großer Gestalt nach, als er ging. Er erinnerte sie an einen großen, seltsamen Teddybären. Sie kannten sich schon seit Kindertagen – waren in der gleichen Villenstraße in Søllerød aufgewachsen und hatten einander beim Wechsel vom dreirädrigen zum zweirädrigen Gefährt und, Viktor betreffend, zum silbergrauen Moped, auf das er so stolz gewesen war, erlebt.
Er war ein Jahr jünger als Caroline und hatte viele Jahre lang unter der unerfüllten Jugendliebe zu ihr gelitten. Jetzt war er mit Pernille verheiratet, aber Caroline wusste, dass bei Viktor alte Liebe niemals rostete.
»Wie geht es Pernille und dem Bauch?«, fragte sie, als er zurückkam und eine Flasche Wasser und zwei Gläser zwischen sie auf den Tisch stellte.
Viktor zog den Stuhl heraus und setzte sich.
»Es geht gut. Sie wird jetzt langsam ungeduldig, aber das ist wohl schwer zu vermeiden. Es ist ja nur noch ein Monat bis zum Termin.«
»Ja, das ist sicher ganz normal«, bestätigte Caroline und schob die Schokoladenschale rüber auf Viktors Seite des Tisches.
Einen Augenblick lang war es still, und sie bemerkte, wie seine Blicke durch den Raum streiften. Es wirkte fast, als habe er keine Lust, mit ihr zu reden.
»Und was ist mit der Wohnung – habt ihr irgendein Angebot bekommen?«
»Ein paar, aber die waren sehr niedrig.«
»Das ist einfach nicht der günstigste Zeitpunkt, um zu verkaufen.«
»Nein. Was ist mit dir?«
»Ich warte und schaue, wie sich der Markt entwickelt.«
In den letzten Monaten hatte Caroline ernsthaft überlegt, die Wohnung in der Landemærket zu verkaufen. Die Adresse in Kopenhagens Innenstadt, die Aussicht über den Kongens Have und die schönen, freigelegten Balken machten ihr Zuhause zu einer echten Liebhaberwohnung, für die viele gutes Geld bezahlen würden, um darin zu leben. Aber die Wohnung wirkte unendlich leer, seit Kasper ausgezogen war.
Sie aßen schweigend weiter. Dann schluckte Caroline und sagte mit einer so gleichgültigen Stimme, wie es ihr möglich war:
»Und wie ist es mit der Arbeit, wie läuft es?«
»Es ist okay.«
»Habt ihr viel zu tun für den großen Schlachttag?«
Er schüttelte den Kopf.
»Darüber kann ich nicht sprechen.«
Viktor war Angestellter in Dana Oils Personalabteilung. Das war die Abteilung, die verantwortlich dafür war, den Ablauf rund um die große Kündigungswelle zu planen. Mit anderen Worten, er wusste sowohl, wann die Kündigungsschreiben ausgeteilt werden würden, als auch – sobald die Chefs die Namen darangeheftet hatten – an wen sie adressiert werden würden.
»Nein, das ist klar, ich hatte mir nur vorgestellt, dass es viel zu tun gibt. Es kann doch nicht mehr so lange dauern, bis das Messer zum Einsatz kommen soll.«
»Caroline, ernsthaft, können wir nicht über etwas anderes sprechen?«
Sie biss die Zähne zusammen. Viktor würde nicht durch ein Versehen darüber reden; sie würde nicht die Eröffnung serviert bekommen, auf die man, wie ihr Vater sie gelehrt hatte, in Verhandlungssituationen immer warten sollte. Sie war gezwungen, die Karten auf den Tisch zu legen.
»Ich habe von Markvart für heute Nachmittag eine Einberufung zum Meeting bekommen – ohne Tagesordnung. Ich habe Angst davor, dass die Runde jetzt beginnt, und ich habe Angst davor, dass er mich deshalb einbestellt hat. Um mich zu feuern.«
Viktor schwieg einen Augenblick, bevor er den Kopf schüttelte.
»Ich meine es ernst, Caroline, ich kann nicht darüber reden. Ich riskiere, selbst gefeuert zu werden, wenn ich das tue.«
Sie nestelte an den Knöpfen des Ärmels ihrer Bluse.
»Ich bitte dich auch nicht darum, mir alle Details zu erzählen, ich muss nur wissen, ob ich in ein Kündigungsgespräch hineingehe.«
Ihre Stimme war leise.
Viktor schaute sie mit einem Ausdruck an, der Enttäuschung ähnelte.
»War das der Grund, warum du mich heute treffen wolltest?«, fragte er spitz, während er das Besteck auf den Teller legte und aufstand. »In diesem Fall glaube ich tatsächlich, ich bedanke mich für heute und schlage vor, wir finden einen anderen Tag, um zusammen zu essen.«
Caroline senkte den Blick. Um sie herum mischten sich die Stimmen mit dem Geräusch von Hunderten von Messern und Gabeln. Sie verstand Viktors Reaktion gut. Das war auch nicht die Art von Freundin, die sie sein wollte. Aber gerade jetzt konnte sie einfach nicht anders.
»Entschuldige, Viktor. Bleib doch bitte.« Sie schaute ihn bittend an.
Er zögerte, ließ sich dann aber wieder auf den Stuhl fallen.
»Ich würde dich nicht diesbezüglich fragen, wenn es nicht ernst wäre, aber ich bin einfach gezwungen zu wissen, ob ich nach dem heutigen Tag noch einen Job habe.«
Sie spürte die Tränen bedrohlich in den Augenwinkeln und biss sich auf die Unterlippe. Man konnte nicht in der Kantine sitzen und weinen.
Sie saßen einige Zeit schweigend da. Dann fuhr sich Viktor mit der Hand durch die dunklen Haare und über das Gesicht.
»Es ist wirklich falsch von mir, hier überhaupt davon zu sprechen, Caroline.« Er sah sich um, bevor er sich über den Tisch beugte und mit so leiser Stimme fortfuhr, dass Caroline sich auch nach vorn beugen musste: »Es werden noch keine Kündigungsschreiben verteilt. Es wird noch einige Wochen dauern, vermutlich zwei, maximal drei.«
»Ist das wahr?!« Caroline richtete sich mit einem breiten Lächeln auf. »Dann habe ich also keinen Grund, nervös zu sein!«
»Schhh!!! Beruhige dich, das hier ist ernst!«
»Sorry, sorry, ich bin nur so erleichtert. Möchte wissen, was er dann will, der gute Markvart.« Sie lächelte erleichtert. »Irgendeine Vermutung?«
Sie schaute Viktor an, der den Blick senkte.
»Das weiß ich nicht«, antwortete er ausweichend.
Ihr Lächeln verblasste.
»Warum hast du weggesehen?«
»Was meinst du?« Viktor schaute sie einige wenige Sekunden lang an, bevor seine Augen wieder den Weg nach unten zu dem Teller suchten.
»Ich kenne dich, Viktor. Du kannst nicht lügen und den Menschen dabei gleichzeitig in die Augen schauen. Was weißt du?«
Er schüttelte den Kopf.
»Viktor! Please! Ich frage dich als eine Freundin.« Jetzt brannten die Tränen hinter den Augenlidern.
Sie atmete laut ein; eine Art von Seufzen.
»Bis jetzt ist noch nichts entschieden. Ehrlich. Das Einzige, was die Chefs bisher gemacht haben, ist, Listen zu erstellen …«
»Listen?«
Er bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
»Ja-, Nein- und Vielleicht-Listen. Die, die ganz sicher bleiben werden, die, die ganz sicher gefeuert werden, und die, die vielleicht gefeuert werden.«
»Und du weißt, auf welcher Liste ich stehe?«
Viktor schwieg.
»Weißt du es, Viktor? Stehe ich auf der Kündigungsliste?«
Er schüttelte den Kopf mit kleinen, kontrollierten Bewegungen.
»Aber ich stehe auch nicht auf der sicheren Liste?«
Ihr Magen schnürte sich zusammen.
Wieder ein fast unmerkliches Kopfschütteln.
»Also bin ich auf der Liste derer, die vielleicht gehen müssen?«
Er sah ihr direkt in die Augen.
»Du musst mir versprechen, niemandem zu sagen, dass ich dir das erzählt habe. Ich kann meinen Job verlieren, wenn du das tust, Caroline, und mit Pernille, die schwanger ist … Das können wir uns einfach nicht leisten. Ich tue das ausschließlich, weil … du meine Freundin bist.«
Sie hörte nur jedes zweite Wort. Der Rest verschwand zusammen mit den Stimmen um sie herum, ausgeschlossen von dem Vakuum, von dem sie mit einem Mal umgeben war. Das durfte einfach nicht wahr sein. Sie durfte ganz einfach nicht auf der schwarzen Liste enden.
»Ich hoffe wirklich, dass du nicht gefeuert wirst. Das hast du nicht verdient. Aber was auch immer dein Chef heute will, ich wäre demgegenüber wohlwollend eingestellt.«
Caroline nickte abwesend. Viktor zog den Jackenärmel nach oben und schaute auf seine Uhr.
»Es tut mir wirklich leid, aber ich muss jetzt gehen. Ich habe in zehn Minuten ein Meeting und muss vorher ins Büro und einige Unterlagen holen.«
»Ja, ja, selbstverständlich.«
»Ist es für dich in Ordnung, allein zu sein?«
Sie nickte wieder. Allein, nicht allein. Das war es nicht, was über ihre Zukunft entschied.
»Ja. Danke, Viktor.«
»Du versprichst mir dichtzuhalten.«
»Das verspreche ich.«
Als Viktor gegangen war, blieb Caroline sitzen und starrte auf die halbe Frikadelle, die auf ihrem Teller lag. Sie schob das Tablett von sich weg und griff über den Tisch nach der Schale mit der goldfarben verpackten Schokolade. Eine einzige konnte sie ruhig essen.
Sie stand auf der Vielleicht-Liste. Viktor würde so etwas nicht sagen, wenn es nicht stimmen würde. Sie war nicht stolz auf die Art und Weise, wie sie ihn unter Druck gesetzt hatte. Sie waren Freunde, und sie wusste, sie hatte ihre Freundschaft benutzt, um Informationen zu erhalten, die er ihr nicht geben durfte. Sie musste dafür sorgen, besonders nett zu sein, wenn sie sich das nächste Mal sahen. Die verräterischen Tränen stiegen ihr erneut in die Augen, sie atmete tief ein und zwang sie, den Rückzug anzutreten.
Das Unternehmen, das sie und dreitausend Kollegen jeden Monat entlohnte, lebte davon, Öl zu finden, zu fördern und zu verkaufen. In der ganzen Welt gab es Büros mit dem Namen Dana Oil an der Fassade, und zeigte man eine Visitenkarte dieser Ölgesellschaft vor, wurde einem mit Respekt begegnet.
Caroline war im zweiten Jahr in der Abteilung für Corporate Social Responsibility & Communications der Firma angestellt. Die Abteilung kümmerte sich um das Image von Dana Oil im Bereich der sozialen Verantwortung des Unternehmens, was ein Feld mit wachsender Bedeutung war. Firmen mussten in höherem Maße ihre Entscheidungen gegenüber der Öffentlichkeit verteidigen, und Ölunternehmen gerieten besonders schnell in die Schusslinie. Fossile Brennstoffe waren nicht populär in einer Zeit, in der die Sorge um Klimaveränderungen schnell anwuchs. Außerdem hatte die Branche in den vergangenen Jahrzehnten eine Unzahl von Skandalen zu verantworten gehabt. Die Versenkung der Brent-Spar-Plattform in der Nordsee, Unruhen in Nigeria und zuletzt das große BP-Unglück im Tiefwasser im Golf von Mexiko hatten alle das ihrige getan, um die Ölbranche in ein schlechtes Licht zu stellen.
Daher hatte man sich bei Dana Oil, wie in vielen anderen internationalen Ölgesellschaften, dazu entschieden, eine Abteilung zu gründen, die dazu bestimmt war, »die Imageschäden zu minimieren«. Aber auch wenn die Leitung daran festhielt, dass soziale Verantwortlichkeit hohe Priorität habe, sollte die Abteilung doch verkleinert werden.
Markvart, Chef der Abteilung, hatte zu einem früheren Zeitpunkt gesagt, die Namen auf den Kündigungsschreiben würden von den Aufgaben abhängen, die die Abteilung Corporate Social Responsibility & Communications in der Zukunft zu lösen hätte. In Verbindung mit der Kündigungsrunde würde es nämlich eine Reihe von Umstrukturierungen innerhalb der Abteilungen geben, und die Änderungen waren bisher noch nicht abgeschlossen. Das Argument war vernünftig genug. Würde man den Fokus weiter auf Klima setzen, machte es Sinn, Poul zu behalten, der Experte auf diesem Gebiet war, und wenn nicht, war es natürlich, dass Poul gehen würde. So war das mit Spezialkompetenzen.
Aber Caroline selbst – sie war doch eine der Generalistinnen! Eine Juristin, die sowohl mit Branding als auch Gesetzgebung, mit Klima als auch Menschenrechten arbeiten konnte. Warum sollte sie auf der Vielleicht-Liste stehen? Sie streckte die Hand aus, nahm noch eine der Schokoladen und öffnete das Papier. Das war dann die Letzte. Das weiche, braune Viereck schmolz in ihrem Mund und brachte sie für einen Moment dazu, sich zu beruhigen. Aber die Gedanken kamen schnell zurück.
War es etwas Persönliches?
Ein Bild ihres Vaters machte sich auf ihrer Netzhaut breit, und sie erinnerte sich an die hellblauen, enttäuscht blickenden Augen. Sie schaffte es nicht, all das noch einmal durchzumachen. Jetzt war das Ganze endlich dabei, in den rechten Bahnen zu verlaufen.
Sie schob den Stuhl nach hinten und stand auf, während sie die leeren goldfarbenen Verpackungen zählte, die sich auf dem Tablett angesammelt hatten. Acht. Mist. Caroline stopfte das verräterische Glitzerpapier unter den Teller, hob das Tablett vom Tisch und stellte sich in die Schlange am Abfalltresen an, wo die Mitarbeiter jeden Tag Essensreste in große Mülltonnen kippten und schmutzige Teller in bedrohliche Höhen stapelten.
Als sie dort stand und ihren Teller von den Hinterlassen-schaften des Mittagessens sauberkratzte, hatte sie keine Vorstellung davon, dass es nicht nur ihr Job war, der in Gefahr geraten würde. Es war ihr ganzes Dasein, das gefährdet wäre. Ihr Leben.
Den Rest des Tages nutzte sie dazu, eine Präsentation vorzubereiten, die Markvart vor seiner UL-Gruppe halten sollte. Ein Nebel aus Angst vor dem Gespräch am Nachmittag hing über ihr, aber sie zwang sich dazu, sich auf die PowerPoint-Folien auf ihrem Bildschirm zu konzentrieren.
Markvart gehörte seit einem Jahr dem Vorstand des Unternehmens an, und sie wusste, dass er gern den anderen Gruppenmitgliedern imponieren wollte. Auch wenn er das nicht direkt sagte, spürte sie deutlich, dass es ihn bedrückte, in eine der UL-Gruppen mit niedriger Nummer eingeladen worden zu sein. Je niedriger die Nummer, desto länger existierte die Gruppe und hatte daher einige der gewieftesten Männer und, seltener, Frauen des Wirtschaftslebens als Mitglieder. Beim nächsten Treffen sollte die Gruppe die Vor- und Nachteile diskutieren, ein Unternehmen mit sozialer Verantwortung zu bewerben, und Markvart sollte zum Auftakt der Diskussion einen Redebeitrag leisten. Wie immer, wenn der Chef bei Versammlungen reden musste, wurde der Entwurf des Vortrags von einem Mitarbeiter angefertigt; dieses Mal von Caroline.
Sie entschied sich, mit einer Anekdote aus Ecuador zu beginnen, wo eine amerikanische Ölgesellschaft über viele Jahre hinweg aufgrund der Feindschaft gegenüber den einheimischen Indianern Millionen von Dollar verloren hatte – eine Feindschaft, die dadurch entstanden war, weil sich der Ölgigant unverantwortlich verhalten hatte. Sie suchte bei Google nach dem Unternehmen und fand Informationen für die Anekdote.
Viertel vor vier tauchte Jens’ Kopf über seinem Bildschirm auf.
»Ist nicht Kaffeezeit?«
Die Kaffeebar auf der Torvegade war ein beliebtes Ausflugsziel, wenn die Angestellten von Dana Oil während des Arbeitstages, der selten weniger als zwölf Stunden dauerte, eine Pause brauchten. Caroline schielte auf die silberfarbene Rolex an ihrem Handgelenk. Ein Geschenk ihrer Eltern zu ihrem dreißigsten Geburtstag vor einigen Jahren.
»Kann nicht, ich habe in einer Viertelstunde einen Termin bei Markvart.«
»Jetzt?«
Der Kollege, der auf der anderen Seite des Mittelganges saß, schaute auf, und beide blickten sie fragend an. Wenn jemand zum Termin zum Chef musste, war es wichtig zu wissen, ob man neidisch oder dankbar darüber sein sollte, dass man es nicht selbst war, der gerufen worden war. Besonders in diesen Zeiten. Caroline zuckte mit den Schultern.
Fünfzehn Minuten später erhob sie sich und ging zum Glaskäfig hinüber. Die Tür stand offen, sie klopfte vorsichtig an den Türrahmen.
Markvart blickte von seinem Bildschirm auf.
»Komm rein, Caroline.«
Der Chef lächelte sie an, und sie erinnerte sich daran, warum er zwischenzeitlich nur als das Lächeln bezeichnet wurde. Das breite, verschmitzte Lächeln zusammen mit den schelmisch blickenden Augen brachte die Sekretärinnen dazu, darin wettzueifern, Kaffee für ihn zu holen, und die männlichen Kollegen, die Augen zu verdrehen, obwohl sie ihn heimlich um den jungenhaften Charme beneideten.
Caroline trat ein und setzte sich an den Besuchertisch des Chefbüros, während sie darum kämpfte, ruhig zu atmen. Markvart erhob sich von seinem Bürostuhl und kam herüber zum Besuchertisch.
»Lass mich direkt zur Sache kommen«, begann er, als er sich Caroline gegenüber hingesetzt hatte. Die Lachmuskeln entspannten sich, und jetzt sah er ernst aus.
Caroline merkte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Sie legte sie in den Schoß.
In der einen Hand hielt Markvart einen weißen A4-Umschlag, den er auf den Tisch legte.
»Bevor wir weitersprechen, möchte ich dich darauf aufmerksam machen, dass das hier ein vertrauliches Gespräch ist, und ich möchte dich bitten, die näheren Umstände gegenüber niemandem außerhalb des Unternehmens zu äußern.«
Sie nickte. Der Knoten im Magen wurde hart wie Stein.
»Wir haben einige Probleme in Kenia, bei denen wir gezwungen sind, etwas zu unternehmen – sofort.«
Caroline schaute ihren Chef verwirrt an.
»Ähm …«
»Bojesen hat mich gestern angerufen und mich nach irgendwelchen Protesten in Kenia gefragt«, fuhr Markvart fort.
Sie ließ die Worte einsickern. Das weiße Kuvert beinhaltete vielleicht doch nicht das gefürchtete Schreiben.
»Proteste?«
»Ja, Bojesen hat von der einen oder anderen NGO gehört, dass es in einem der Dörfer in Kenia einige Leute gibt, die unzufrieden mit uns sind.«
Bojesen war Journalist bei Dagens Erhverv und hatte Dana Oil seit einem Menschenalter als festen Themenbereich. »Der Hausjournalist«, wie er leicht ironisch im Unternehmen genannt wurde, weil man ihn immer dazu überreden konnte, eine kritische Geschichte nach hinten zu schieben oder ganz fallenzulassen, wenn man ihm im Gegenzug dafür eine besondere Story oder einen heimlichen Blick in die Halbjahresbilanz versprach, bevor diese bei den anderen Wirtschaftsjournalisten landete.
Kenia war eines der neuen Länder, in denen Dana Oil begonnen hatte, nach Öl zu suchen.
»Womit sind sie unzufrieden?«
»Einer ganzen Menge, heißt es. Sie wollen Arbeit haben, sie wollen eine neue Schule haben. Sie sind der Meinung, unsere Anwesenheit zerstört ihre Kultur und ihre Lebensmöglichkeiten. Der gewöhnliche Kram.« Markvart zuckte bedauernd mit den Schultern. »Das stimmt nicht, aber wir können uns das Gerede, zu dem das führen wird, nicht leisten.«
»Woher weißt du, dass es nicht stimmt?«, fragte Caroline, plötzlich belebt von der Wendung, die das Gespräch genommen hatte.
»Ich habe den Chef des Nairobi-Büros, John Hansen, angerufen, und er hat erzählt, dass sie von den Beschuldigungen gehört haben und die Frau kennen, die die Proteste anführt. Eine Querulantin, die jedes Mittel einsetzt, um mehr Geld für ihr Dorf zu bekommen – Asabo heißt es. Und das ist laut John Hansen auch das, was sie hier versucht.«
Caroline zog die Augenbrauen zusammen.
»Aber warum, um alles in der Welt, müssen wir davon durch Bojesen erfahren? Es sind diese Informationen, die wir von den lokalen Büros vor Ort bekommen sollten. Wir haben das in Verbindung mit der Kommunikationsstrategie beim letzten Seminar diskutiert, bei dem …«
»Das weiß ich, das weiß ich.« Markvart hielt die eine Hand abwehrend hoch. »Aber John Hansen ist von der alten Garde. Er meint, das Hauptbüro soll sich nicht in lokale Angelegenheiten einmischen. ›Das hier ist die wirkliche Welt, und wir, die wir hier wohnen, müssen uns dem selbst annehmen‹, wie er es ausgedrückt hat.«
»Aber was, wenn sie unsere Hilfe nicht haben wollen? Wir können doch nicht einfach angestiefelt kommen?« Caroline sah ihren Chef an, der sich am Kinn rieb.
»Doch, wir können, und doch, wir werden.« Er schaute sie an. »Oder direkter, du wirst. Ich habe mir gedacht, dich nach Kenia zu schicken, um herauszufinden, was das Problem ist und wie es gelöst werden kann.«
Caroline starrte ihren Chef an. In dem ernsten Gesicht war kein Anzeichen von einem Lächeln zurückgeblieben. Dann starrte sie nach unten auf den Glastisch. Durch die Tischplatte hindurch konnte sie die Spitzen der blank polierten Schuhe ihres Chefs sehen. Selbstverständlich. Das war es, was Viktor gemeint hatte. Das hier war Markvarts Test.
Sie sollte nach Kenia reisen, ein Land, in dem der Müll garantiert auf den Straßen herumlag. Ein Psychologe würde sie vermutlich auffordern, das als »die Entwicklungsmöglichkeit aller Zeiten« anzusehen, aber allein der Gedanke an all die Bakterien machte sie schon krank. Sie hob den Kopf, zog die Mundwinkel nach oben und nickte.
»Das hört sich spannend an.«
»Alles deutet auf eine Frau hin, die versucht, die Situation zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen, aber du weißt ebenso gut wie ich, wie in der Presse eine Mücke schnell zum Elefanten wird – besonders in einer Zeit, in der alle über soziale Verantwortung reden –, und wir können derzeit mehr negatives Gerede ganz einfach nicht gebrauchen.«
Caroline nickte wieder. Erst vor wenigen Tagen war massive Kritik wegen zu hoher Chefgehälter auf Dana Oil herabgeprasselt.
»Deine Aufgabe ist zweigeteilt. Als Erstes sollst du herausfinden, ob an der Kritik überhaupt was dran ist. Wir können es uns nicht erlauben, von einem Journalisten auf dem falschen Fuß erwischt zu werden – wenn es dort Probleme gibt, müssen wir das wissen.«
»Und zum anderen?«
»Wenn du das überprüft hast, und das sollte nicht mehr als ein oder zwei Tage dauern, ist es deine Aufgabe herauszufinden, wie wir die Kritik stoppen können. Denn sie muss gestoppt werden, und es muss jetzt sein.«
»Weiß John Hansen, dass ich komme?«
»Ja.«
»Was sagt er dazu?«
»Es wäre wohl eine Übertreibung, ihn als begeistert zu bezeichnen.«
Caroline rutschte ein Klumpen in den Hals. Über dem Job hier stand mit großen Buchstaben »Scheißaufgabe« geschrieben.
Sie streckte die Hand nach dem Kugelschreiber aus, der vor ihr auf dem Tisch lag, zog sie aber ebenso schnell wieder zurück. An dem einen Ende befanden sich Bissabdrücke, wo entweder Markvart oder einer der Kollegen seinen Speichel hineingeknabbert hatte.
Besuch aus dem Hauptbüro war selten etwas, auf das sich die in der Welt verteilten Lokalbüros von Dana Oil freuten. Sie empfanden die Besuche als eine unnötige Formalität, die Zeit von ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich Geld zu verdienen, stahl. Wenn der Besuch noch dazu von einem aus der Abteilung Corporate Social Responsibility & Communications kam, war die Begeisterung noch geringer. Die Abteilung stellte Forderungen, wie sich die Büros verhalten sollten, und es war schwierig, schnelle Ergebnisse zu erzielen. So gesehen verstand Caroline sie gut. Dennoch bemühten sich die meisten Büros, ihren Widerstand zu verbergen. Dieser John Hansen aber offensichtlich nicht.
Sie nickte entschlossen.
»Selbstverständlich«, sagte sie laut. »Wenn du gern möchtest, dass ich fahre, dann tue ich das.«
»Das möchte ich sehr gern.«
Einen Augenblick lang saßen sie schweigend da. Auf der anderen Seite der Tür konnten sie Birthes Schimpfen über den Drucker hören. Caroline schaute nach unten auf die durchsichtige Tischplatte.
»Gibt es einen Grund …«, begann sie vorsichtig. »Gibt es einen besonderen Grund dafür, dass gerade ich für diese Aufgabe hier ausgewählt wurde?«
Sie hob langsam den Blick, sodass er wieder Markvarts ernste Augen traf. Er überlegte seine Worte gründlich, bis er antwortete:
»Ich kann wohl ebenso gut ehrlich sein, Caroline. Dana Oil, und besonders unsere Abteilung, werden in der Zukunft vielen Herausforderungen in Ländern gegenüberstehen, die im Vergleich zu Dänemark sehr verschieden sind. Wir brauchen Mitarbeiter, die nicht nur auf gebohnerten Böden klarkommen. Jemanden, der sich in alle Arten von Milieus begeben kann. Aber um ganz ehrlich zu sein: Ich habe Zweifel, ob du das kannst.«
Caroline biss die Zähne fest zusammen, während ihr Chef fortfuhr:
»Du bist gut für die Arbeit hier im Büro, und du bist besonders gut darin, das Machtspiel im Unternehmen zu meistern. Tatsächlich habe ich selten jemanden mit deiner Fähigkeit, Hierarchien zu durchschauen, getroffen. Es ist unverkennbar, dass du in einem Milieu aufgewachsen bist, in dem du gelernt hast, das strategische Spiel zu spielen. Was mir bei dir aber fehlt, ist, zu sehen, dass du in den Teilen der Welt klarkommst, in denen alles nicht so läuft, wie wir es gewohnt sind. In einem internationalen Ölunternehmen ist es wichtig, das zu können, und es wird in der Zukunft noch ausschlaggebender sein.«
Ein wohlbekannter Zorn breitete sich in Carolines Brust aus.
»Das kann ich aber ebenso gut, Markvart.«
»Das hoffe ich. Das tue ich wirklich.« Er sah sie mit einem aufrichtigen, eindringlichen Blick an, und sie wusste, er meinte, was er sagte. »Aber ich brauche den Beweis. In einer Zeit wie dieser ist es nicht genug, gute Mitarbeiter zu haben, hier zählt es, die Allerbesten zu haben.«
»Ich bin eine der Allerbesten«, sagte sie und hoffte, ihre Stimme würde sicherer klingen, als sie sich fühlte.
»Dann fahr nach Kenia, und beweise es.« Er reichte ihr den weißen Umschlag.
»Lies das hier, um dich vorzubereiten.«
Caroline nahm den Umschlag und ging direkt vom Büro des Chefs auf die Toilette, wo sie sich in eine der drei Kabinen einschloss. Das einzige Geräusch kam von der Herrentoilette auf der anderen Seite der Wand. Sie konnte hören, dass gespült wurde. Sie ließ sich auf den heruntergeklappten Deckel fallen, stützte die Ellenbogen auf die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Warum glaubten die Leute nicht, dass sie wusste, wie man in »der wirklichen Welt« klarkommt?
Sie war sich im Klaren darüber, dass die Kollegen sie so sahen. Sie nahm an, dies war sowohl ihrem Nachnamen, ihrer nordseeländischen Herkunft als auch der Tatsache geschuldet, dass sie ihr ganzes Leben lang in Dänemark gewohnt hatte. Alle Kollegen waren mehrere Jahre in ferne Gegenden der Welt entsandt gewesen und tauschten regelmäßig Kriegsgeschichten aus, die bei jedem Mal, wenn sie erzählt wurden, gewaltiger wurden. Carolines Auslandsabenteuer erstreckte sich auf ein einzelnes Semester in London.
Insofern war es fair, dass sie sie als eine typische Repräsentantin des weltfremden Whisky-Gürtels sahen. Aber Markvart! Er kam selbst aus dem »Reservat«, und genauso wie sie hatte er einen Vater, dessen Name im dänischen Wirtschaftsleben bekannt war. Er wusste also, dass Postleitzahl und Nachname nicht über Kompetenzen entschieden. Warum beurteilte er sie dahingehend, nicht in der Lage zu sein, in der sogenannten wirklichen Welt klarzukommen?
Sie ballte die Fäuste. Das Einzige, was sie jetzt tun konnte, war, die Aufgabe so gut zu lösen, dass Markvart Vertrauen zu ihr gewinnen und sie auf die »sichere Liste« setzen würde. Und sollte das gelingen, hatte sie keine Zeit, hier zu sitzen und sich selbst leidzutun.
Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge. Dann stand sie auf, öffnete die Tür. Auf dem Weg nach draußen wusch sie sich die Hände und überprüfte ihr Gesicht im Spiegel auf eventuelle Mascara-Ränder. Sie sah blass und müde aus, und die hohen Wangenknochen stachen wie zwei Felsvorsprünge hervor. Aber die Frisur saß perfekt.
Sie ging zurück zum Büro und schaffte es gerade noch, nach ihrem Handy zu greifen, das auf dem Schreibtisch lag und klingelte.
»Hallo, Caroline! Kommst du mit Anna und mir heute Abend ins Bibendum auf ein Glas Wein?«
Es war Tine, eine der wenigen Freundinnen, die sie in regelmäßigen Abständen immer noch traf.
»Das kann ich leider nicht, ich habe Arbeit, die ich unbedingt erledigen muss.«
»Ach, komm schon, Caroline, nur auf ein schnelles Glas. Ich vermisse es, dein hübsches Gesicht zu sehen. Das Bibendum ist doch gleich unten in der Nansensgade, es kostet dich maximal zehn Minuten, dorthin zu gehen«, lockte die Freundin.
»Das weiß ich, aber es ist wirklich wichtige Arbeit, und ich bin gezwungen, mich vorzubereiten. Sorry.«
Caroline schaute aus dem Fenster und auf das graue Wasser unter der Knippelsbro, auf der einer der gelben Hafenbusse vorüberfuhr. Tine seufzte in den Hörer.
»Und was ist so wichtig, dass du keine Zeit für ein einziges Glas mit deinen besten Freundinnen hast?«
»Eine Aufgabe, die ich für meinen Chef lösen soll. Ich kann nicht darüber reden«, antwortete Caroline ausweichend.
»Du musst, verdammt noch mal, immer arbeiten! Manchmal ist das Leben aber wichtiger als die Arbeit.«
Sie verabschiedeten sich, und Caroline legte das Handy weg. Sie vermisste ihre Freundinnen auch, besonders Tine, aber heute Abend hatte sie nicht die Ruhe, um in einer Weinbar zu sitzen. Alle Kräfte sollten auf die Aufgabe gerichtet werden, die Markvart ihr übertragen hatte.
Der erste Schritt war es, den Chef in Kenia anzurufen und zu bestätigen, dass sie kommen würde. Kein Anruf, auf den sie sich freute, aber abwarten würde es nur schlimmer machen. Sie griff nach dem Telefonhörer.
Exakt fünf Minuten später legte sie den Hörer mit einem Knall auf, dass die Kollegen, die sich noch im Großraumbüro befanden, verblüfft aufblickten.
Jens, der das Gespräch aus wenigen Metern Abstand verfolgt hatte, sah sie mit einem neckenden Lächeln an.
»Da hast du wohl einen neuen Freund gefunden, was?«
»Er kann mir, verdammt noch mal, nicht verbieten, nach Kenia zu reisen!«
»Oh, oh, da muss es wirklich ernst sein – das feine Fräulein Kayser flucht!« Jens sprach in den Raum hinein und erntete Gelächter von einigen Kollegen.
Caroline biss sich auf die Lippe und griff nach dem weißen Umschlag, den ihr Markvart gegeben hatte. Fünf kleine, gelbliche Umschläge fielen auf den Tisch. Sie waren zerknittert und zerrissen und sahen aus, als wären sie lange unterwegs gewesen. Alle Umschläge waren an »Den höchsten Direktor von Dana Oil« adressiert. Caroline dachte an Direktor Clausen, der an einem guten Tag einen Meter siebzig maß.
Die Umschläge waren oben aufgerissen, und in allen lag ein A4-Blatt. Sie nahm die Briefe aus den Kuverts, faltete sie auseinander und legte sie auf den Tisch. Sie waren mit zierlicher Handschrift geschrieben und von einer »Mama Lucy« unterzeichnet. Sie überflog die Seiten.
Plötzlich hielt sie inne und las den Satz noch einmal.
Ein weißer Mann stiehlt kleine Mädchen in Asabo. Sie sagen, er macht schlimme Dinge mit ihnen.
Caroline spürte die Unruhe in sich aufsteigen. Bereits als sie das Büro verließ, zeichnete sich ab, dass dies hier eine sehr schwere Aufgabe werden würde.