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Simone Elkeles • Nur ein kleiner Sommerflirt

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DIE AUTORIN

Elkeles.tif

Foto: © Paul Barnett

Simone Elkeles wuchs in der Gegend von Chicago auf, hat dort Psychologie studiert und lebt dort auch heute mit ihrer Familie und ihren zwei Hunden. Ihre »Du oder das ganze Leben«-Trilogie, für die sie zum »Illinois Author of the Year« gewählt wurde, wurde zum weltweiten Bestseller.

Weitere Titel von Simone Elkeles bei cbt:

Du oder das ganze Leben (30718)

Du oder der Rest der Welt (30771)

Du oder die große Liebe (30808)

Leaving Paradise (30793)

Back to Paradise (30794)

Simone Elkeles

Nur ein kleiner Sommerflirt

Aus dem Amerikanischen

von Eva Hierteis

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cbt ist der Jugendbuchverlag in der

Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Januar 2013

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2006 für den Originaltext Simone Elkeles

© 2013 für die deutschsprachige Ausgabe cbj/cbt Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel How to Ruin a Summer Vacation bei Flux, einem Imprint von Llewellyn Publications, Woodbury.

Aus dem Amerikanischen von Eva Hierteis

Lektorat: Kerstin Kipker

Umschlaggestaltung: init.büro für Gestaltung, Bielefeld, unter Verwendung eines Fotos von iStockphoto/Lóránd Gelner

KK · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-09471-3

www.cbt-jugendbuch.de


V002

In Gedenken an meinen Aba und Helden,

Gidon Elkeles.

Ich vermisse dich.

1

Von einer Sekunde auf die andere können Eltern dein Leben umkrempeln.

Wie kann es sein, dass ein relativ intelligentes sechzehnjähriges Mädchen in eine beschissene Situation gerät, aus der es nicht mehr herauskommt? Genau diese Frage stellt sich mir, als ich an einem Montagnachmittag während einer eindreiviertelstündigen Verzögerung am O’Hare International Airport von Chicago sitze und über die letzten vierundzwanzig Stunden meines verpfuschten Lebens nachdenke.

Gestern hing ich in meinem Zimmer ab, als Ron, mein biologischer Vater, anrief. Nein, ihr versteht nicht, was ich meine … Ron ruft nie an. Außer an meinem Geburtstag – und der liegt schon acht Monate zurück.

Nach ihrer Affäre mit Ron im College stellte meine Mutter nämlich fest, dass sie schwanger war. Sie stammt aus einem reichen Elternhaus und Ron … na ja, eben nicht. Auf Druck ihrer Eltern sagte Mom Ron, es wäre wohl das Beste, wenn er sich aus unserem Leben weitgehend raushalten würde. Damit lagen sie so was von daneben! Aber das Schlimmste ist, dass er mehr oder minder kampflos aufgab.

Ich weiß, dass er ein Konto für mich eingerichtet hat, und am Geburtstag führt er mich zum Essen aus. Aber das ist mir egal. Ich will einen Vater, der immer für mich da ist.

Früher ließ er sich öfter blicken, aber irgendwann habe ich ihm gesagt, er soll mich in Ruhe lassen, damit meine Mom einen richtigen Vater für mich finden kann. Dabei habe ich es eigentlich gar nicht so gemeint – ich wollte ihn nur testen. Und er ist mit Pauken und Trompeten durchgefallen.

Und jetzt ruft der Typ einfach an und sagt meiner Mom, er will mich nach Israel mitnehmen. Israel! Ihr wisst schon, dieses kleine Land im Nahen Osten, das so viel Kontroversen verursacht. Man muss nicht täglich die Nachrichten verfolgen, um zu wissen, dass Israel der Nährboden für internationale Konflikte ist.

Aber ich schweife ab, kommen wir wieder zum Thema zurück. Meine Mom reicht mir das Telefon weiter – ohne jegliche Vorwarnung wie Es ist dein Vater oder Es ist der Typ, mit dem ich einen One-Night-Stand hatte, den ich aber nicht heiraten mochte.

Ich kann mich noch genau an seine Worte erinnern: »Hi, Amy. Ich bin’s, Ron.«

»Wer?«, frage ich.

Ich will ja kein Klugscheißer sein, es überstieg nur einfach meine Vorstellungskraft, dass der Kerl, der für fünfzig Prozent meiner Gene verantwortlich zeichnet, mich tatsächlich anruft.

»Ron … Ron Barak«, sagt er etwas lauter und langsamer – als wäre ich beschränkt.

Ich erstarre und sage erst mal gar nichts. Ob ihr es glaubt oder nicht, manchmal ist es sogar von Vorteil, wenn man keinen Ton rausbekommt. Das weiß ich aus jahrelanger Erfahrung. Es macht die anderen nervös, lockt sie aus der Reserve – und was soll ich sagen: besser sie als mich. Ich schnaufe laut, damit er weiß, dass ich noch dran bin.

»Amy?«

»Ja?«

»Äh, ich wollte dir nur Bescheid geben, dass deine Großmutter krank ist.« Grandmudder sagt er mit seinem israelischen Akzent.

Vor meinem inneren Auge blitzt kurz ein gesichtsloses Bild einer kleinen, weißhaarigen Dame auf, die nach Babypuder und alten Leuten riecht und deren Lebensinhalt darin besteht, Schokokekse zu backen.

»Ich wusste nicht, dass ich eine Grandmother habe«, erwidere ich und betone das »th«, weil Ron wie alle Israelis, die ich kenne, kein »th« sprechen kann – diesen Laut gibt es in ihrer Sprache nicht.

Die Mutter meiner Mom starb kurz nach meiner Geburt, sodass ich ohne Großmutter aufgewachsen bin. Plötzlich spüre ich einen Stich in der Brust – eine Mischung aus Trauer und Selbstmitleid –, weil ich gar nicht gewusst habe, dass ich noch eine Oma habe. Und nun, da ich es erfahre, ist sie krank. Kein schönes Gefühl. Schnell schiebe ich es in die hinterste Ecke meines Gehirns, weit weg, damit ich davor sicher bin.

Ron räuspert sich. »Sie lebt in Israel und … äh … ich fliege über den Sommer dahin. Ich würde dich gern mitnehmen.«

Israel?

»Ich bin keine Jüdin«, platze ich heraus.

Er stößt einen leisen Laut aus, als hätte er Schmerzen. »Man muss kein Jude sein, um nach Israel zu reisen, Amy.«

Und man muss kein Raketentechniker sein, um zu wissen, dass Israel genau mitten in einem Kriegsgebiet liegt. Ein Kriegsgebiet!

»Danke für das Angebot«, sage ich, »aber ich fahre diesen Sommer ins Tennis-Camp. Richte Grandma gute Besserung von mir aus. Tschüss!« Ich lege auf.

Es dauert keine vier Sekunden, bis das Telefon wieder klingelt. Das war ja klar. Ich weiß, dass es Ron ist. Ein wenig ironisch ist es schon, dass er sich sonst im ganzen Jahr kaum zweimal meldet und jetzt ruft er innerhalb weniger Sekunden zweimal hintereinander an.

Mom nimmt im Wohnzimmer ab, und ich versuche, durch die Tür meines Zimmers zu lauschen. Viel kann ich nicht verstehen, nur murmel, murmel, murmel. Nach ungefähr vierzig langen Minuten klopft sie an meine Tür und meint, ich soll für Israel packen.

»Du machst Witze!«

»Amy, du kannst ihm nicht ewig aus dem Weg gehen. Das ist nicht fair.«

Nicht fair? Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Entschuldige mal: Wenn was nicht fair ist, dann ist es die Tatsache, dass ihr zwei es nicht mal miteinander probiert habt. Erzähl du mir also nichts von Fairness.«

Ja, ich weiß, mit sechzehn sollte ich eigentlich darüber hinweg sein, aber ich bin es nun mal nicht. Ich habe nie behauptet, ich wäre perfekt.

»Die Dinge sind manchmal eben kompliziert«, sagt sie, »das wirst du verstehen, wenn du älter bist. Wir haben in der Vergangenheit alle Fehler gemacht, aber es wird Zeit, sie wiedergutzumachen. Du fliegst, das ist beschlossene Sache.«

Ich kriege die Panik und verlege mich auf die Tour mit den Schuldgefühlen.

»Ich könnte einem Anschlag zum Opfer fallen. Aber wenn es das ist, was du willst –«

»Amy, übertreib nicht so schamlos. Er hat mir versprochen, gut auf dich achtzugeben. Es wird eine tolle Erfahrung.«

Die nächsten zwei Stunden setze ich alle Hebel in Bewegung, um aus der Nummer rauszukommen, ich lasse nichts unversucht, echt. Dabei hätte ich wissen müssen, dass solche Diskussionen mit Mom nur zu Heiserkeit führen und sonst zu gar nichts.

Ich beschließe, meine beste Freundin Jessica anzurufen. Die liebe, gute Jessica, die immer für mich da ist und mich versteht.

»Hey, Amy, was gibt’s?«, antwortet eine fröhliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Meine Eltern haben beschlossen, mein Leben zu zerstören«, platze ich heraus.

»Was meinst du mit ›Eltern‹? Hat Ron sich gemeldet?«

»Ja, genau. Er hat angerufen. Und irgendwie hat er es geschafft, meine Mom davon zu überzeugen, dass sie meine Pläne für den Sommer cancelt, damit er mich mit nach Israel nehmen kann. Dabei will ich noch nicht sterben!«

»Ähm, du willst meine Meinung darüber nicht wirklich hören, Amy, glaub mir.«

Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen, als mir klar wird, dass Jessica, meine allerbeste Freundin auf der ganzen Welt, nicht hundertzehn Prozent hinter mir steht.

»Es ist ein Kriegsgebiet!« Ich sage es langsam, damit meine Worte ihre Wirkung richtig entfalten können.

Ist das ein Lachen am anderen Ende der Leitung?

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, fragt Jessica. »Also meine Mom fliegt jedes Jahr zum Shoppen nach Tel Aviv. Sie sagt, die haben da die reinsten Diamanten. Erinnerst du dich an das schwarze Kleid, das ich so gern mag? Sie hat es dort für mich gekauft. Die haben super-coole Mode, die neuesten Trends aus Europa und –«

»Ich brauche jetzt deine Unterstützung, Jess, kein Gequatsche über Klunker und Klamotten«, unterbreche ich ihre Werbeveranstaltung für Israel.

»Tut mir leid. Du hast recht«, sagt sie.

»Schaust du nie Nachrichten?«

»Sicher, in Israel gibt es Probleme. Aber meine Eltern sagen, dass vieles, was im Fernsehen gesendet wird, pure Propaganda ist. Halte dich einfach von Bushaltestellen und Cafés fern. Ron wird schon auf dich aufpassen.«

»Ha«, mache ich.

»Bist du jetzt sauer auf mich?«, fragt Jess. »Soll ich lieber lügen und sagen, dein Leben ist auf immer und ewig verpfuscht? Würdest du dich dann besser fühlen?«

Jessica ist der einzige Mensch, dem ich es durchgehen lasse, wenn er mich auf den Arm nimmt. »Du haust heute die Kalauer nur so raus, Jess. Du weißt, dass ich dir nie böse sein kann, du bist meine ABF – meine allerbeste Freundin.«

Andererseits, was sagt es über unsere Freundschaft aus, wenn meine ABF kein Problem damit hat, mich in ein Kriegsgebiet zu schicken?

Jetzt, keine vierundzwanzig Stunden später, sitze ich am Flughafen und warte auf das Boarding für unseren Flug mit El Al Israel Airlines.

Als ich mich gelangweilt umsehe, entdecke ich einen Typ im dunklen Anzug, der in die Hocke geht und die Unterseite jeder einzelnen Sitzreihe untersucht. Falls er eine Bombe findet, weiß er dann auch, wie man die entschärft?

Ich werfe einen Blick auf meinen biologischen Vater, den fast inexistenten Mann in meinem Leben. Er liest Zeitung. Auf dem Weg zum Flughafen hat er versucht, sich mit mir zu unterhalten, aber ich habe ihn kaltgestellt, indem ich meine Kopfhörer aufgesetzt und iPod gehört habe.

Als ob er spüren würde, dass ich ihn anstarre, lässt er die Zeitung sinken und dreht sich zu mir. Seine Haare sind kurz. Sie sind dick und dunkel, genau wie meine. Ich bin mir sicher, wenn er sie wachsen lassen würde, wären sie auch lockig. Obwohl es eine ziemliche Plackerei ist, plätte ich meine jeden Morgen, weil ich meine Locken hasse.

Mom hat grüne Augen, meine sind blau. Alle sagen, sie wären so hellblau, dass sie richtig leuchten. Meine Augen mag ich an mir am liebsten.

Das Auffallendste, was ich von meiner Mutter geerbt habe, sind leider die Brüste. Wenn ich könnte, würde ich mir andere Haare wünschen und kleinere Dinger. Beim Tennisspielen sind sie mir immer im Weg. Habt ihr jemals versucht, mit ein Paar Riesendingern vorne dran eine beidhändige Rückhand zu schlagen? Frauen mit großen Brüsten sollten beim Tennis echt einen Behindertenbonus bekommen.

Wenn ich älter bin, lasse ich sie mir vielleicht operieren. Aber Jessica sagt, bei einer Brustverkleinerung schnippelt der Arzt die Areola weg … ihr wisst schon, den kompletten rosafarbenen Bereich um die Brustwarze, und dann, wenn sie das überschüssige Fettgewebe weggenommen haben, nähen sie den Warzenhof wieder dran.

Ich glaube, ich möchte meine Brustwarze gar nicht erst abgemacht haben.

Während ich über abgetrennte Brustwarzen nachdenke, merke ich, dass Ron mich noch immer ansieht. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, glaubt er wohl, dass ich von ihm angewidert bin. Ich kann ihm schlecht erklären, dass ich mir gerade vorgestellt habe, wie ich mit abgeschnippelten Brustwarzen aussehe.

Außerdem bin ich sowieso noch wütend auf ihn, weil er mich zu dieser bescheuerten Reise gezwungen hat. Wegen ihm musste ich das Tennis-Camp absagen, was bedeutet, dass ich es im Herbst bei den Ausscheidungsspielen wahrscheinlich nicht ins Highschool-Team schaffen werde. Dabei will ich unbedingt in die Schulauswahl.

Dazu kommt noch, dass mein Freund Mitch nicht mal weiß, dass ich weg bin, weil er mit seinem Dad ein paar Wochen »handy-freien« Camping-Urlaub macht. Wir sind noch nicht lange zusammen, und wenn wir uns den ganzen Sommer über nicht sehen, dann lernt er vielleicht eine andere kennen, die nicht Tausende von Meilen weit weg ist.

Ich weiß sowieso nicht, warum mich Ron dabeihaben will. Er mag mich nicht mal. Mom wollte mich wahrscheinlich los sein, damit sie mit ihrem neuen Freund mal Ruhe hat.

Ihr aktueller Freund, Marc mit »c«, hält sich für Mr Right. Dass ich nicht lache! Kapiert der nicht, dass er weg vom Fenster ist, sobald Mom einen Besseren findet?

»Ich gehe kurz auf die Toilette«, sage ich zu Ron.

Eigentlich muss ich gar nicht, aber ich nehme meine Handtasche und laufe den Gang entlang. Als ich außer Rons Sichtweite bin, hole ich mein getreues Handy heraus. Mom hat mich ermahnt, es wegen der Kosten nur im Notfall zu benutzen. Aber erstens sind wir ja noch nicht in Israel. Und zweitens spüre ich ganz deutlich, dass dies ein Notfall ist.

2

Zwölf-Stunden-Flüge gehören verboten.

Während ich den Gang entlanggehe, scrolle ich nach Jessicas Nummer im Telefonbuch und stelle die Verbindung her.

»Bitte sei da!«, bete ich. Ich bleibe vor einer Scheibe stehen und sehe hinaus auf die Flugzeuge, die an den Terminals warten.

Eigentlich bete ich nie. Das ist nicht so meins. Aber Notfälle erfordern Notfallmaßnahmen und ich bin da äußerst flexibel. Zumindest manchmal.

»Amy?«

Beim Klang ihrer Stimme geht es mir gleich besser.

»Ja, ich bin’s. Mein Flug hat Verspätung.«

»Drehst du immer noch am Rad?«

»Ja. Sag mir noch mal, warum ich mir keine Sorgen machen soll.«

»So schlimm wird’s schon nicht werden, Amy. Wenn ich irgendwas für dich tun kann …«

Es ist Zeit, Jess in meinen Plan einzuweihen, den ich gerade eben erst geschmiedet habe.

»Es gäbe da wirklich etwas …«

»Und was?«

»Komm mich am Flughafen abholen. Am internationalen Terminal. Ich verstecke mich in der … ähm … Air-Iberia-Ankunftshalle. Warte dort auf mich.«

»Und dann?«

»Dann schaffe ich es irgendwie, ins Tennis-Camp zu kommen, und … ach, keine Ahnung. Ron will, dass ich die perfekte Tochter spiele, dabei ist er der beschissenste Dad der Welt –«

Mein Handy wird mir aus der Hand gerissen, wodurch meine »Scheiß-Vater«-Rede ein jähes Ende findet. Der Handy-Wegreißer ist natürlich niemand anders als der beschissene Vater selbst.

»Hey, gib es zurück!«, rufe ich.

»Hallo, wer spricht da? Who is dis?«, bellt Ron wie ein Heeresführer mit Sprachfehler in mein Telefon.

Ich kann Jessica nicht hören und hoffe nur, sie antwortet ihm nicht.

»Jessica, sie ruft dich zurück, wenn es besser passt«, sagt er und beendet die Verbindung.

Jetzt konnte ich sie nicht mal bitten, Mitch Bescheid zu sagen, dass ich den Sommer über weg bin.

»Warum? Warum musst du mir die Ferien verpfuschen und mich unbedingt nach Israel mitschleppen?«

Er steckt mein Handy in seine Gesäßtasche.

»Weil ich möchte, dass du deine Grandmudder kennenlernst, bevor es zu spät ist. Darum.«

Dann hat das alles also nichts damit zu tun, dass Ron mich besser kennenlernen und Zeit mit mir verbringen möchte. Kein von jetzt an will ich dir der Vater sein, der ich dir schon immer hätte sein sollen.

Ich sollte nicht enttäuscht sein, aber ich bin es trotzdem.

»Sehr geehrte Fluggäste, der El-Al-Flug Nummer 001 nach Tel Aviv mit Zwischenlandung in Newark ist nun zum Einstieg bereit«, schallt eine Stimme mit israelischem Akzent aus dem Lautsprecher. »Passagiere der Reihen fünfunddreißig bis fünfundvierzig, bitte halten Sie Ihre Bordkarten und Pässe bereit.«

»Vorschlag«, sagt Ron. »Ich gebe dir das Telefon zurück, wenn du kooperierst und ins Flugzeug einsteigst. Abgemacht?«

Als ob ich eine andere Wahl hätte.

»Okay.« Ich halte die Hand auf. Wenigstens bleibt mir damit ein kleiner Rest von Normalität und Unabhängigkeit erhalten.

Er gibt mir das Handy und ich folge ihm widerstrebend an Bord der Maschine.

Ron und ich sitzen ganz hinten, in Reihe sechzig. Ich bin irgendwie froh, dass keiner hinter mir sitzt, so kann ich es mir auf dem zwölfstündigen Flug nach Tel Aviv wenigstens gemütlich machen.

Außer natürlich, es befindet sich eine Bombe an Bord oder die Maschine wird von Terroristen gekapert und wir sterben alle, noch ehe wir das Kriegsgebiet erreicht haben. Während ich über Terroristen in unserem Flugzeug nachdenke, sehe ich zu Ron hinüber.

»Ich habe gehört, dass auf allen El-Al-Flügen Sky-Marshals an Bord sind«, sage ich und stopfe meinen Rucksack unter den Vordersitz. »Stimmt das?«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich je zuvor ein Gespräch mit Ron angefangen habe – er wirkt jedenfalls erstaunt und sieht sich, ehe er antwortet, um, ob ich die Frage vielleicht jemand anderem gestellt habe.

»Bei El Al gab es schon immer Sky-Marshals.«

»Wie viele?« Denn wenn nur ein Sky-Marshal auf fünf Terroristen kommt, dann wird der Sky-Marshal wohl als Erster geröstet.

»Viele. Keine Sorge, El Al ist in puncto Sicherheit die Nummer eins.«

»Aha«, mache ich wenig überzeugt, als ich links von mir einen Typ mit einer dicken, zusammengewachsenen Mono-Augenbraue entdecke, der ziemlich verdächtig aussieht. Mr Mono-Braue schenkt mir ein Lächeln, das jedoch schnell erlischt, als er merkt, dass Ron ihn anfunkelt.

Nach so vielen Jahren, in denen Ron lediglich als reiner Geburtstags-Dad in Erscheinung getreten ist, hat er in meinen Augen absolut kein Recht, sich als mein Vater zu bezeichnen, geschweige denn sich als Beschützer aufzuspielen. Als ich noch klein war, habe ich den Boden verehrt, auf dem er lief – auch wenn er mich nur zu meinem alljährlichen Geburtstagsausflug abgeholt hat. Er war für mich der Superheld, der mir jeden Wunsch erfüllte, und für einen Tag fühlte ich mich wie eine Prinzessin.

Doch als ich irgendwann kapierte, dass ein Vater jeden Tag für einen da sein sollte, begann ich, ihm das übel zu nehmen. Letztes Jahr habe ich ihn sogar versetzt. Ich habe mich aus dem Haus gestohlen, eine Nachricht hinterlassen, dass ich mit Freunden ausgegangen sei, und bin erst spätabends wiedergekommen.

Meine Mom ist kein einfacher Mensch. Sie wechselt die Männer wie Unterwäsche. Aber soweit ich weiß, gehörte Ron früher einer Kommandotruppe der israelischen Streitkräfte an.

Ein Kommandosoldat, der zu feige ist, für eine Frau zu kämpfen, die er geschwängert hat, ist in meinen Augen der reinste Hohn.

Wenn ich erwachsen bin, will ich nicht so werden wie meine Mutter. Und wie Ron auch nicht.

Es dauert nicht lange und wir landen in Newark, wo noch weitere Passagiere zusteigen. Ich habe noch nie Sardinen gegessen, doch als immer mehr Leute hereindrängen und jedes noch so winzige Fleckchen im Flugzeug besetzt ist, kommen mir die ekligen kleinen Fische in den Sinn. Es wundert mich, wie viele Menschen sich hier reinzwängen, um in ein Land zu fliegen, für das für amerikanische Staatsbürger Reisewarnung besteht.

Als wir wieder in der Luft sind, drücke ich auf den kleinen Knopf an meinem Sitz, weil ich langsam müde werde.

Erst jetzt geht mir auf, dass die Lehnen in der hintersten Reihe sich nicht zurückstellen lassen. Okay, das ist jetzt nicht witzig. Das hier ist nicht einfach ein kurzer Trip nach Orlando, das ist ein dicker, fetter zwölfstündiger Flug in ein Land, in das ich erstens nicht wollte, um eine kranke Großmutter kennenzulernen, von deren Existenz ich erstens nichts geahnt habe. (Das sind schon zwei Erstens’, ich weiß, aber in diesem Moment gibt es in meinem Leben nichts Nerviges, das an zweiter Stelle steht … es nimmt alles den ersten Platz ein.)

Als ich zum fünften Mal mit wachsender Verzweiflung versuche, den Sitz wenigstens ein kleines Stück nach hinten zu stellen, und der Passagier in der Reihe vor mir seinen so weit zurückkippt, dass ich gar nicht mehr weiß, wohin mit meinen Beinen, bekomme ich so ein Gefühl in der Magengrube, als müsste ich gleich losheulen. Ich kann nichts dagegen tun. Ich hasse dieses Flugzeug, ich hasse Mom dafür, dass sie mich zu dieser bescheuerten Reise gezwungen hat, und ich hasse Ron für so ungefähr alles andere.

Nach ein paar Stunden stehe ich auf, um auf die Toilette zu gehen – diesmal muss ich wirklich. Leider haben vor mir schon mindestens hundert andere Leute das Klo benutzt und der Boden liegt voller Papierfetzen. Und schlimmer noch: Überall sind Tröpfchen. Pipi oder Wasser?, fragt man sich. So etwas sind meine Dansko-Clogs nicht gewöhnt.

Ich gehe zurück zu meinem Platz, und zu meiner Verwunderung gelingt es mir, schließlich doch noch eine halbwegs gemütliche, wenn auch aufrechte Schlafhaltung zu finden. Jetzt ein bisschen zu dösen, wäre ein Segen. Der Pilot schaltet alle Lichter aus und ich schließe die Augen.

Abrupt reißt mich ein klagender Schrei aus dem Land der Träume. Direkt über mir, praktisch mehr oder minder in meinem Gesicht, befindet sich ein orthodoxer Jude. So einer mit schwarzem Hut und Mantel, Bart und langen Schläfenlocken, die ihm übers Gesicht und den Hals hängen. Jessica (die Jüdin ist) hat mir erzählt, sie wären ultra-ultrareligiös – und würden versuchen, alle der rund sechshundert von Gott aufgestellten Regeln zu befolgen. Mir langt es schon, wenn ich die Regeln meiner Mom einhalten muss, da würden mir sechshundert weitere von Gott gerade noch fehlen.

Es dauert ein bisschen, bis mir klar wird, dass er betet. Aber nicht etwa auf seinem Platz, sondern direkt über meinem. Er wippt mit geschlossenen Augen auf und ab und sein Gesichtsausdruck verrät volle Konzentration. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, merke ich, dass sich alle orthodoxen Juden hinten im Flugzeug zum Gebet versammelt haben.

Obwohl – es klingt überhaupt nicht nach Beten, sondern eher wie ein Singsang vermischt mit Gemurmel. Vielleicht beten sie ja doch nicht. Aber dann spricht einer von ihnen – wahrscheinlich eine Art Anführer – ein paar Worte in normaler Lautstärke und alle antworten ihm und fahren danach mit ihrem Murmelgesang fort. Sie beten also doch.

Müssen sie das alle gleichzeitig machen?

Was sind das für Riemen auf ihren Handrücken und Armen? Und was hat es mit diesem Kästchen auf sich, das sie an ihrer Stirn befestigt haben?

Nun, da ich sie aufmerksamer betrachte, verspüre ich so etwas wie Bewunderung für die Hingabe, mit der diese Männer ihre Religion ausüben und die sogar so weit geht, dass sie lieber beten statt schlafen. Versteht mich nicht falsch, ich finde es bewundernswert – aber machen würde ich das keinesfalls.

Ich werfe einen Blick auf Ron, der tief und fest schläft. Er sieht gut aus, wenn man auf diesen dunklen, grüblerischen Typ Mann steht. Was ich nicht tue. Meine Mutter ist extrem hell, hat blonde Haare und grüne Augen. Wahrscheinlich fand sie damals Gegensätze anziehend, als sie und mein Dad jene schicksalhafte Nacht zusammen verbrachten.

Ob Ron sich wohl wünscht, ich wäre nie geboren? Wäre er damals vor siebzehn Jahren im Studentenwohnheim im Zimmer seines Cousins geblieben, statt sich mit meiner Mom ins Haus ihrer Studentenverbindung zu schleichen, dann hätte er jetzt nicht ein Kind an der Backe, das ihn ablehnt.

Plötzlich öffnet er die Augen, und ich lehne mich schnell in meinem Sitz zurück und tue so, als würde ich mich auf den Monitor vor mir konzentrieren, auch wenn ich keine Ohrenstöpsel anhabe. Eines muss man El Al Israel Airlines lassen – in der Rückenlehne eines jeden Sitzes ist ein Bildschirm eingelassen, was, wie ich finde, an ein Wunder grenzt.

»Ich glaube, es wird dir dort gefallen«, sagt Ron. »Obwohl ich seit siebzehn Jahren in Amerika lebe, wird Israel immer ein Teil von mir sein.«

»Und …?«

Er dreht sich in seinem Sitz zu mir und sieht mich direkt an. »Und deine Grandmudder wünscht sich bestimmt, dass es auch ein Teil von dir wird. Enttäusche sie nicht.«

Ich blinzle und schenke ihm mein berühmtes spöttisches Lächeln, bei dem sich meine Oberlippe genau so weit hochzieht, wie es sein muss. »Du musst Witze machen. Ich soll sie nicht enttäuschen. Bis gestern wusste ich nicht mal was von ihrer Existenz. Und was ist, wenn sie mich enttäuscht? Falls du es vergessen hast – sie hat mich nie verhätschelt, so wie es sich für eine Oma gehört.«

Glaubt mir, ich kenne Leute, die total von ihren Grannys verhätschelt werden. Jessicas Großmutter Pearl hat vier Jahre lang an einer Decke für sie gestrickt. Vier Jahre! Dabei hat sie Arthritis. Ich frage mich, was sie wohl davon halten würde, wenn sie wüsste, dass ihre Enkelin unter jener Decke, an der sie vier lange Jahre mit ihren krummen Fingern gearbeitet hat, ihre Jungfräulichkeit an Michael Greenberg verloren hat.

Ron seufzt und richtet seine Aufmerksamkeit auf seinen eigenen kleinen Bildschirm, obwohl auch er keine Kopfhörer trägt.

Ich lehne mich zurück. Es entsteht ein langes Schweigen, so lang, dass ich schon glaube, er wäre vielleicht eingeschlafen.

»Wie soll ich sie nennen?«, frage ich und starre noch immer auf den Monitor vor mir.

»Sie würde sich bestimmt freuen, wenn du Safta zu ihr sagst. Das heißt auf Hebräisch Oma.«

»Safta«, murmle ich leise und probiere, wie sich das Wort aus meinem Mund anhört. Ich werfe einen Blick auf meinen Erzeuger. Er nickt mit erhobenem Kinn und lächelt mich leicht an, als wäre er stolz. Kotz!

Schnell sehe ich wieder geradeaus und schalte auf den Kanal mit den aktuellen Flugdaten um. Vier Stunden und fünfundfünfzig Minuten dauert es noch, bis wir in Israel landen.

Inzwischen sind die orthodoxen Juden wieder auf ihre Plätze zurückgekehrt. Ich schließe noch einmal die Augen und dämmere weg.

Ehe ich mich’s versehe, ertönt auf Hebräisch eine Lautsprecherdurchsage der Stewardess. Ich warte, bis sie alles in meiner Sprache wiederholt.

»Wir befinden uns im Landeanflug auf Tel Aviv, bitte bringen Sie Ihre Rückenlehnen in eine aufrechte Position …«

Noch mal zum Mitschreiben für alle, die es vielleicht nicht mitbekommen haben: Mein Sitz befand sich geschlagene zwölf Stunden in einer aufrechten Position!

3

Ich bin nicht ungezogen, ich habe nur meinen eigenen Kopf.

Die Beamtin der Einwanderungsbehörde am Ben-Gurion-Airport in Tel Aviv fragt Ron (der zwei Staatsbürgerschaften hat, nämlich die israelische und die amerikanische), wer ich bin.

»Meine Tochter«, antwortet er.

»Ist sie als israelische Staatsbürgerin registriert?«

Die ist ja lustig. Ich? Israelische Staatsbürgerin? Doch als ich das ernste Gesicht der Beamtin sehe, kriege ich Panik. Ich habe von Ländern im Nahen Osten gehört, in denen amerikanische Kinder festgehalten werden und nicht wieder ausreisen dürfen. Aber ich will kein Israeli werden. Ich will nach Hause, jetzt gleich!

Ich mache auf dem Absatz kehrt und laufe zurück in Richtung Flugzeug. Hoffentlich nimmt mich der Pilot wieder mit … von mir aus auch im Gepäckraum, in irgendeinem Koffer oder in einem verdammten Transportbehälter für Tiere. Hauptsache, weg von hier!

Ich habe schon fast die Tür erreicht, die Freiheit vor Augen, da spüre ich eine Hand auf meiner Schulter.

»Amy«, sagt Rons tiefe Stimme hinter mir.

Ich drehe mich um und funkle ihn an. »Sie lassen mich nicht wieder nach Hause, stimmt’s? Du hast mich in dieses Land entführt, und jetzt wollen die mich zwingen, die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Oh Gott! Sie ziehen jeden mit achtzehn in die Armee ein, auch Mädchen, oder? Das habe ich gehört, also versuch nicht, es zu leugnen.«

Ich weiß selbst, dass ich mich gerade wie eine hysterische Sechzehnjährige anhöre und meine Stimme mehrere Oktaven höher klingt als sonst, doch ich kann nichts dagegen tun, ja ich kann nicht mal aufhören zu reden.

»Die halten mich gegen meinen Willen hier fest und stecken mich in die Armee, stimmt’s?«

Ich sehe es schon vor mir, wie ich meine Abercrombie-&-Fitch-Klamotten gegen einen Tarnanzug eintauschen muss. Mein Herz schlägt schnell und mir laufen kleine Schweißperlen übers Gesicht. Ich schwöre, es sind keine Tränen, nur Schweißtropfen.

»Ron, um ganz ehrlich zu sein – ich bin wahrscheinlich nicht mal deine Tochter. Hast du jemals einen Vaterschaftstest machen lassen? Ich habe nämlich ein Foto von so einem Typ entdeckt, mit dem Mom im College zusammen war. Und der sieht mir total ähnlich.«

Ron verdreht die Augen zur Decke und atmet laut aus. Als er mich wieder ansieht, sind seine braunen Augen noch dunkler als sonst. Er beißt die Zähne zusammen.

»Beruhige dich, Amy. Mach hier nicht so eine Szene.«

»Pass mal auf«, sage ich, so cool ich kann, und bekomme meine Stimme wieder unter Kontrolle. Jetzt klinge ich wie Angelina Jolie in diesem Film, in dem sie jedem in den Arsch tritt, der ihr in die Quere kommt. »Ich hab noch nicht mal damit angefangen, eine Szene zu machen.«

Ein Soldat mit einem sehr, sehr großen Maschinengewehr kommt auf uns zu. Sein Schädel ist fast kahl geschoren, und allein schon sein Äußeres lässt ahnen, dass sein Finger am Abzug nervös ist. Großartig, mein Leben ist vorbei. Ich werde für den Rest meiner Tage in diesem Dritte-Welt-Land festsitzen … und die sind wahrscheinlich auch gezählt (also meine Tage).

»Mah carrah?«, sagt der Soldat auf Hebräisch zu Ron. Für mich klingt es eher wie »Macarena?« oder »Kill Amy?«.

»Ha’kol b’seder«, erwidert Ron.

Ich hätte nie gedacht, dass ich es einmal bereuen würde, kein Hebräisch zu können. In der Schule habe ich mich für Español entschieden.

Mit klopfendem Herzen frage ich: »Was redet ihr? Was ist los?« Obwohl ich mich vor der Antwort fürchte, bemühe ich mich, einen kühlen Kopf zu bewahren, damit ich vor meiner Flucht noch so viel wie möglich für den Secret Service in Erfahrung bringen kann. Die amerikanische Regierung wird sich sehr dafür interessieren, was hier abgeht – da bin ich mir sicher.

»Du bist keine israelische Staatsbürgerin«, sagt Ron. »Und du wirst auch nicht von der Armee eingezogen.«

»Und was hat dieser Soldat dann zu dir gesagt?«

»Er wollte wissen, ob es ein Problem gibt, und ich habe ihm geantwortet, dass alles in Ordnung ist. Mehr nicht.«

Wenig glaubwürdig, finde ich, folge ihm aber zurück zu der Einwanderungsfrau – in erster Linie, weil er meinen Arm hält, als sei er in einen Schraubstock eingespannt.

Diesmal spricht er Hebräisch mit ihr, wahrscheinlich, um sicherzugehen, dass ich nichts mitbekomme. Soweit ich dem Gespräch folgen kann, macht er einen Deal mit ihr, mich als Kindersklavin zu verkaufen. Obwohl ich von mir selbst behaupten kann, dass ich ziemlich gut informiert bin, was in der Welt vor sich geht, muss ich zugeben, dass ich noch nie von Kindersklaverei in Israel gehört habe.

Nach kurzem Hin und Her drückt die Dame einen Stempel in meinen Pass, den Mom mir vor einem Jahr für Notfälle hat ausstellen lassen. Und ich Dummie habe auch noch zugestimmt, weil ich dachte, dass sie einen Überraschungstrip für mich nach Jamaika oder auf die Bahamas plant.

Ron und ich gehen die paar Schritte zur Gepäckausgabe.

»Komm, wir holen uns einen Gepäckwagen«, befiehlt Ron.

Ich schüttle den Kopf. »Ich warte lieber hier.« Soll er ruhig gleich wissen, dass er mir gar nichts zu sagen hat.

Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Amy, nach dem Drama, das du gerade abgezogen hast, ist mir nicht danach, den vertrauensseligen Vater zu spielen.« Oder Fadder, wie er sagt.

Dieser Vorlage kann ich nicht widerstehen. »In der Rolle des liebenden Fadders hast du auch nicht gerade geglänzt.« Die Worte purzeln von meinen Lippen, als hätte sie mir jemand anders in den Mund gelegt. »Was für einen Fadder kannst du denn spielen, Ron? Nur damit ich es dann auch mitkriege …«

Ich habe Ron in den wenigen Momenten, die wir miteinander verbracht haben, selten wütend erlebt, aber dennoch erkenne ich es an bestimmten Lauten oder seinem Schnaufen, wenn er sich aufregt.

»Denk nicht, du wärst zu alt für eine Bestrafung, junge Dame.«

Mein berühmtes spöttisches Grinsen steht schon bereit. »Nur damit du es weißt, liebster Daddy, mit dir hier zu sein, ist schon Strafe genug.«

Eigentlich führe ich mich sonst nicht so auf, ehrlich. Aber meine Abneigung gegen Ron, gepaart mit der Unsicherheit, was seine Vatergefühle für mich angeht, macht mich zickig. Mir ist das oft gar nicht so bewusst. Wahrscheinlich bin ich so mies zu ihm, damit er einen triftigen Grund hat, mich nicht zu lieben.

Seine Atmung ändert sich. »Warte. Hier. Sonst«, sagt er.

Er marschiert weg, aber ich kann hier nicht tatenlos rumstehen. Ich sehe mich um, und mein Blick fällt auf das eine, dem die meisten amerikanischen Jugendlichen nicht widerstehen können.

Ein Coca-Cola-Automat. (Stellt euch an dieser Stelle Harfenklänge vor, denn genau die erschallen gerade in meinem Kopf.)

Wie in Trance bahne ich mir meinen Weg durch die Menge. Kalte Cola ruft nach mir. »Amy, Amy, Amy. Ich weiß, dir ist zu heiß und du bist angenervt. Amy, Amy, Amy. Ich weiß, du schwitzt wie ein Schwein. Amy, Amy, Amy. Ich löse all deine Probleme.«

Ich berühre den Cola-Automaten und fühle mich sofort erfrischt. Hastig krame ich nach meinem Portemonnaie, um Geld in den einladenden Schlitz zu stecken. Zum ersten Mal seit vierundzwanzig Stunden huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Irgendwie finde ich es tröstlich, dass es sogar im Nahen Osten Cola gibt. Dann schaue ich auf den Preis. Meine Cola-Sucht wird mich eine Stange Geld kosten.

»Sieben Dollar und achtzig Cent?«, quieke ich. »Das ist Ausbeutung!«

»Das ist der Preis in Schekel«, sagt eine Mutter, an der zwei Kinder hängen, mit israelischem Akzent. »Sieben Schekel und achtzig Ah-go-rot.«

»Schekel? Ah-go-rot?« Ich habe keine Schekel. Und todsicher keine Ah-go-rots. Und auch keine Ah-go-grüns oder -gelbs.

Ich habe nur amerikanische Dollar. Doch da entdecke ich einen Wegweiser, der mir verrät, dass es am Flughafen eine Bank gibt. Ich folge der Beschilderung zu der Bank, die sich am anderen Ende des Terminals befindet. Wenn ich mich beeile, wird Ron nicht mal merken, dass ich weg war.

Doch vor der Bank steht eine Schlange. Ich sollte zurück zur Gepäckausgabe gehen, aber ich will meinen Platz in der Warteschlange nicht aufgeben. Wenn diese Leute nur ein bisschen schneller machen würden, hätte ich in Nullkommanichts meine Schekel und Ah-go-rots für meine Cola.

Ich sehe auf die Uhr und frage mich, wie lange ich wohl schon anstehe. Zehn Minuten? Zwanzig? Man verliert leicht das Zeitgefühl.

Endlich bin ich dran. Ich krame eine Zwanzig-Dollar-Note aus dem Portemonnaie und reiche sie dem Mann am Schalter.

»Pass?«, sagt er.

»Ich möchte nur Geld wechseln«, stelle ich klar.

»Ja, das habe ich verstanden. Aber dafür brauche ich Ihre Ausweisnummer.«

»Den hat mein … Vater.« Nachdem mein Pass abgestempelt wurde, hat Ron ihn an sich genommen, damit er nicht verloren geht. »Können Sie mir die Schekel nicht auch so geben?«

»Nein. Der Nächste.« Er gibt mir meinen Zwanziger zurück und sieht bereits den Kunden hinter mir an.

Mir bleibt der Mund offen stehen. Ich betreibe so einen Aufwand für eine Cola und kriege trotzdem keine? Unglaublich.

Ich gehe zurück zur Gepäckausgabe und entdecke Ron, der mit zwei Soldaten spricht. Als er in meine Richtung sieht, ist mein erster Impuls, umzudrehen und davonzurennen, dabei habe ich nichts Schlimmes gemacht. Ja, er hat gesagt, ich soll mich nicht von der Stelle rühren, aber ich schwöre hoch und heilig, dass ich mich wirklich nur für eine Minute entfernen wollte.

Nennt es weibliche Intuition, aber irgendetwas sagt mir, dass er sich meine Erklärung nicht unvoreingenommen anhören wird. Er wechselt noch ein paar Worte mit den Soldaten, dann kommt er auf mich zu. Betont langsam. Wahrscheinlich lässt er sich so viel Zeit, weil er gerade überlegt, wie er mich am besten killt oder in Stücke reißt. Lernen die in der Ausbildung zum Kommandosoldaten das Einmaleins der Zerstückelung?

Schließlich steht Ron vor mir und ich mache mich auf etwas gefasst.

Laute wie »arrr« und »yuh« kommen aus seinem Mund, doch dann dreht er sich zum Laufband der Gepäckausgabe um, auf dem gerade unser Gepäck kommt. Unsere Taschen sind die einzigen, die noch im Kreis fahren. Er wuchtet sie herunter und wirft sie auf einen Wagen, als würden sie nur zwei Pfund wiegen.

Dabei war mein Koffer über dem Gewichtslimit. Das weiß ich, weil Ron über hundert Dollar nachzahlen musste, damit ihn die Fluggesellschaft überhaupt mitgenommen hat. Notiz an mich selbst: Ron ist sehr stark.

Ich sehe ihm zu und warte auf seinen Wutausbruch. Glaubt mir, der kommt. Angst macht mir nur die Tatsache, dass er eigentlich längst überfällig ist.

Eltern, deren Verhalten vorhersehbar ist, sind gut. Unberechenbare Eltern hingegen sind ein Albtraum.

Jetzt stürmt Ron samt Gepäckwagen und Taschen durch den Bereich, der mit »Exit« beschildert ist, davon.

Und ich stehe noch immer wie angewachsen da.

In diesem Moment geht mir auf, dass mein reizender alter Daddy mich gerade mit meinen eigenen Waffen geschlagen hat.

Mist.

Normalerweise würde ich die Sache aussitzen, solange es geht, und ihn damit ins Schwitzen bringen. Damit er denkt, ich könnte vielleicht niemals hinterherkommen. Doch als ich aus dem Augenwinkel die beiden Soldaten auf mich zusteuern sehe, mache ich kehrt und bewege meinen Hintern schleunigst durch die Ausgangstür.

Tschüss, Stolz, hallo, Israel.