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Alex Kava im Gespräch

Erloschen ist der zehnte Band Ihrer erfolgreichen Thriller-Serie. Die Hauptfigur Maggie O’Dell hat aufregende, aber auch schwierige Situationen erlebt. Haben diese Erfahrungen sie verändert?

Maggie hat sich ganz sicher verändert. In ihrem ersten Fall war sie noch eine relativ unerfahrene Profilerin. Erst ihre Erlebnisse haben sie zu einer routinierten Ermittlerin gemacht. Das ist auch ein Grund, wieso sie als Figur so spannend bleibt – für mich als Autorin und hoffentlich auch für meine Leser. Eins hat sich allerdings nicht geändert: Maggie will um jeden Preis das Richtige tun.

Maggie hat zwei langjährige berufliche Begleiter, Agent Tully und Julia Racine. Welche Rolle spielen sie in ihrem Leben?

Die beiden haben mit Maggie nicht nur beruflich zu tun, sondern kennen sie auch privat gut. Maggie ist eine Einzelgängerin. R.J. Tully ist einer der wenigen Menschen, die ihre verletzliche Seite kennen und denen Maggie vertraut. Racine hatte wie Maggie eine schwierige Kindheit, ihre Vergangenheit schweißt sie als Freundinnen zusammen.

Ihre Heldin Maggie setzt sich als Profilerin genauestens mit der Psyche von Verbrechern auseinander. Wie kommen Sie als Autorin zu dem nötigen Hintergrundwissen?

Ich tausche mich sehr intensiv mit Experten aus, mit Mitarbeitern des FBI, von Kriminallaboren und mit Rechtspsychologen. Einige von ihnen sind inzwischen richtig gute Freunde geworden. Außerdem lese ich viele psychologische Berichte über Mörder und sehe mir aufgezeichnete Befragungen an. Dennoch ist es mir wichtig, immer die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu ziehen.

Über die Autorin

Alex Kava wuchs in Nebraska auf. Sie studierte Kunst und Englisch und arbeitete einige Jahre in der Werbe- und Grafikdesignbranche. Ihr Debütroman Das Böse war auf Anhieb ein großer Erfolg, seither ist sie mit ihrer Maggie-O’Dell-Serie regelmäßig auf den interna tionalen Bestsellerlisten vertreten. Erloschen ist der zehnte Band mit der FBI-Profilerin.

ALEX KAVA

Erloschen

Thriller

Aus dem Amerikanischen von

Sabine Schilasky

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Fireproof bei Doubleday, a division of Random House, Inc., New York

Deutsche Erstausgabe 05/2013

Copyright © 2012 der Originalausgabe by S. M. Kava

Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe
by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion | Kristof Kurz

Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München,
unter Verwendung eines Motivs von
© shutterstock

Satz | Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-10200-5

www.diana-verlag.de

Für Miss Molly

Juni 1996 – Mai 2011

Du warst von Anfang an dabei,

hast elf von zwölf Büchern miterlebt,

zu meinen Füßen, an meiner Seite.

Du fehlst mir, Süße.

Donnerstag

1

Washington, D.C.

Cornell Stamoran schnitt mit dem kurzen Daumennagel durch das straffe Jack-Daniel’s-Siegel. Er sah die Flasche an und schluckte. Seine Kehle war staubtrocken, und seine Zunge glitt über die rissigen Lippen – eine unbewusste Reaktion.

Damals, als er noch Partner in einer der Spitzensteuerberaterfirmen der Stadt gewesen war, hatte er Jack mit Cola getrunken. Nach und nach war die Cola verschwunden, und das lange bevor er anfing, eine Whiskeyflasche in der untersten Schreibtischschublade zu lagern. Als er schließlich so weit war, musste es auch nicht mehr unbedingt Jack oder Jim oder Johnnie sein.

Wahrscheinlich war er nicht der erste Steuerberater, der sich morgens einen Wachmacher genehmigte, sehr wohl aber der einzige, den er kannte, der seinen Schreibtisch und sein Büro gegen einen der begehrten großen Pappkartons mit dem Maytag-Logo auf der Seite eingetauscht hatte.

In seiner ersten Woche auf der Straße hatte Cornell hinter einer Statue auf dem Capitol Hill geschlafen. Was für ein Witz des Schicksals: Früher war er diese Straße in den Limousinen seiner Kunden entlanggefahren. Es war schon komisch, wie schnell alles den Bach runtergehen konnte und man den Wert eines guten Kartons und einer warmen Decke zu schätzen lernte.

Gewöhnlich versteckte Cornell den Karton zwischen einem großen Abfallcontainer und einer dreckigen Mauer, wenn er in die Innenstadt musste. Hier draußen, am Rande des Industriegebiets, war es ruhig. Niemand machte ihm Ärger. Allerdings war es auch höllisch öde. Deshalb zog Cornell mindestens einmal die Woche ins Stadtzentrum, um frische Zigarettenkippen zu sammeln und ein bisschen zu betteln. Manchmal setzte er sich auch in die Bücherei und las. Bücher ausleihen konnte er nicht, denn wo hätte er die aufbewahren sollen? Und was war, wenn er sie nicht rechtzeitig zurückbrachte? In seinem neuen Leben wollte er nicht mal dieses bisschen Verantwortung übernehmen. Verantwortung war der Fallstrick, der ihn überhaupt erst auf die Straße gebracht hatte.

Also ließ er seinen kostbaren Besitz einmal in der Woche hier zurück – den Karton und ein paar Decken, die jemand versehentlich in einen Müllcontainer geworfen hatte. Die anderen paar Sachen, die ihm noch geblieben waren, trug er in einem schmutzigen roten Rucksack mit sich herum. Wollte er die fünf Meilen in die Stadt nicht zu Fuß gehen, musste er früh aufstehen und den Obdachlosenbus nehmen. Das hatte er heute Morgen getan. Leider hatte er den letzten Abendbus verpasst. Er achtete schon lange nicht mehr darauf, wie spät es war.

Was spielte es auch für eine Rolle? Schließlich hatte er keine Sitzungen oder Termine mehr. Er trug ja nicht mal eine Uhr. Seine goldene Rolex hatte er als Erstes verpfändet. Heute aber hatte Cornell Glück gehabt. Genau genommen war es ihm direkt vor die Füße gestolpert, als ihn eine schwarze Limousine fast umfuhr.

Der Wagen hatte einen feinen Pinkel und seine Frau abgeholt. Sicher wollten sie ins Kennedy Center oder auf eine Cocktailparty. Die Frau hatte angefangen, sich bei ihm zu entschuldigen, und dann ihrem Alten den Ellbogen in die Rippen gerammt, bis der seine Brieftasche zückte. Cornell guckte gar nicht richtig hin, sondern fragte sich, wie all diese umwerfenden jungen Frauen bei solchen alten Knackern endeten.

Ach was, eigentlich wusste er es ja.

Vor wenigen Jahren wäre er eine ernst zu nehmende Konkurrenz für diesen Idioten gewesen. Heute war er eine Stadtplage, mit der man Mitleid hatte. Gleichwohl war Cornell sicher, dass die Frau seinen unwiderstehlichen Charme bemerkt hatte. Klar, und wie elegant er sich zwischen Bordstein und Stoßstange aufgerappelt hatte! Wenigstens hatte er sich nicht in die Hose gemacht. Er spürte immer noch die Hitze des Motors.

Aber die Frau, o ja, die war wirklich nicht zu verachten gewesen. Und sie hatte ihm in die Augen gesehen. Da war ein Anflug von einem Lächeln und sogar eine leichte Röte gewesen, als Cornell sich demonstrativ die Lippen leckte, während ihr Begleiter gerade nicht hinsah. Der Glatzkopf hatte in seiner Brieftasche gewühlt. Gewiss ärgerte er sich, dass er nur Fünfziger dabeihatte.

Für Cornell schrien dieses Lächeln und das Erröten geradezu danach, dass sie ihm an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit gerne mehr als nur die Kohle ihres Freundes gegeben hätte. Und dieser heimliche Blickwechsel tat ihm gut, gab ihm etwas von dem zurück, was er verloren hatte. Wie sehr es ihm fehlte, merkte er nur in solchen Momenten, wenn ihn eine umwerfende Frau wie diese daran erinnerte, wer er einmal gewesen war. Und auch daran, dass er heute kaum mehr als Abfall war, den man in den Rinnstein trat oder schubste. Beinahe hasste er sie dafür. Aber den Fünfziger wusste er sehr zu schätzen.

So viel Geld hatte er den ganzen Monat noch nicht gesehen. Und wie um ihr und sich selbst zu beweisen, dass sich unter dem Schmutz und den Schweißflecken immer noch ein charmanter, witziger und kluger Mann verbarg, wechselte Cornell den Schein in einem Eckbistro. Er setzte sich sogar an den Tresen und bestellte Suppe und Käsetoast. Als er zahlte, bat er die Kellnerin, ihm in Ein-Dollar-Scheinen rauszugeben. Die Frau zuckte richtig zusammen, drehte den Schein hin und her und beäugte misstrauisch abwechselnd ihn und das Geld.

Cornell hatte nur gelächelt, als sie ihm endlich sein Wechselgeld rausgab. Er faltete die Scheine zusammen und verstaute sie sorgsam in der Seitentasche seiner fadenscheinigen Cargohose, die glücklicherweise noch einen Knopf hatte. Dort war sein neuer Besitz sicher. Sein Essen kam – dampfende Suppe und geschmolzener Käse auf weißem Porzellan –, und Cornell war einen Moment wie gelähmt, starrte es nur an. So etwas Schönes hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Auf dem Teller lagen ein kleines Päckchen mit Kräckern und eine Essiggurke; vor allem aber war das Besteck in eine weiße Serviette gewickelt. Eine Stoffserviette! Es schien ihm derart unwirklich, dass Cornell zunächst nicht mehr genau wusste, was man mit richtigem Besteck anfing. Er hatte sich schon zu sehr an das Plastikzeug gewöhnt, das man in der Suppenküche bekam.

Bewusst vermied er es, sich umzublicken. Geschirr klapperte, Stimmen raunten, Maschinen wurden an- und ausgeschaltet, Stuhlbeine schabten auf dem Linoleum. Es war ziemlich viel los, und Cornell fühlte deutlich, dass er beobachtet wurde.

Nachdem er die Serviette aufgewickelt und sein Besteck ordentlich auf den Tresen gelegt hatte, breitete er sie auf seinem Schoß aus. Die Blicke der anderen ignorierte er und tat so, als würde der Körpergeruch nicht von ihm stammen. Er versuchte ja, sich möglichst sauber zu halten, schaffte es sogar einmal pro Monat in den Waschsalon, aber duschen stellte jedes Mal ein Problem dar.

Schließlich nahm Cornell den Suppenlöffel und zwang sich, nicht Hilfe suchend aufzublicken. Seine Finger erinnerten sich langsam daran, was sie zu tun hatten. Er vollführte jede einzelne Bewegung mit größter Sorgfalt, damit er nicht kleckerte, nicht schmatzte, sich nicht mit der Hand über den Mund fuhr oder schlürfte.

Nun, auf dem langen Marsch zurück zu seinem Pappzuhause, nippte er immer wieder verstohlen an seiner brandneuen Flasche. Das Essen war zwar köstlich gewesen, hatte jedoch seinen Magen durcheinandergebracht. Dagegen würde der Whiskey helfen. Das tat er immer. Whiskey war ein Sofort-Allheilmittel gegen so ziemlich alles, was Cornell nicht fühlen, erinnern oder sein wollte. Heute Abend verkürzte er ihm den Weg und wärmte ihn, als die nächtliche Kälte einsetzte.

Cornell war kaum um die Ecke der Gasse gebogen, als er bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Die Luft roch anders, ranzig, aber nicht nach altem Abfall. Und etwas brannte.

Nein, brannte nicht, sondern qualmte.

Cornells Nasenflügel bebten. Es gab kein Restaurant in der Nähe. Das Backsteingebäude, vor dem er seinen Karton lagerte, stand leer. Das war alles, was ihn interessierte, und normalerweise quoll der Müllcontainer nicht über oder stank. Dies waren die entscheidenden Faktoren für ihn gewesen, als er sein Lager hier aufgeschlagen und den Maytag-Karton zwischen Mauer und Container eingeklemmt hatte.

Und jetzt fiel ihm auf, dass sein Karton nicht zu sehen war. Selbst wenn er versteckt war, lugte meistens eine Lasche heraus, egal wie sehr Cornell sich auch bemühte, ihn ganz hinter dem Container verschwinden zu lassen. Vor Panik zog sich sein Magen zusammen. Cornell umklammerte die Flasche fester und eilte die Gasse hinunter. Er hatte noch nicht besonders viel getrunken, trotzdem waren seine Schritte holprig, und ihm war schwindlig. Die einzigen beiden Decken, die er besaß, waren in dem Karton, zusammen mit einer Sammlung anderer Schätze, die er nicht mit sich herumschleppen wollte.

Als er näher kam, wurde der Gestank schlimmer: säuerlich, metallisch und noch etwas anderes. Wie Feuerzeugbenzin. Hatte jemand ein Feuer gemacht, um sich zu wärmen?

Wenn die dafür seinen Karton hergenommen hatten, konnten sie was erleben.

In diesem Moment sah er ein Stück Pappe. Vor lauter Erleichterung brach ihm kalter Schweiß aus. Der Karton war noch da. Er war bloß weiter hinter den Müllcontainer geschoben worden. Und er war nicht mehr leer.

Drecksack!

Cornell wollte seinen Augen nicht trauen. Irgendein Schwein lag in seinem Zuhause, die Füße herausgestreckt. Ohne die nackten Füße hätte Cornell ihn für einen Altkleiderhaufen gehalten.

Er trank einen kräftigen Schluck Jack Daniel’s, schraubte den Deckel sorgsam wieder zu und stellte die Flasche an der Mauer ab. Dann schob er seine Ärmel bis zu den Ellbogen hoch und stampfte auf den Karton zu.

Keiner nahm ihm sein beschissenes Zuhause weg!

»Hey, du da!«, brüllte er und packte die Knöchel. »Mach, dass du wegkommst.«

Wütend zog und zerrte Cornell. Er wunderte sich, dass es so leicht ging. Der andere wehrte sich nicht. Dennoch zog er weiter, bis der Eindringling vor der Mülltonne lag und dessen verfilztes Haar über den schmutzigen Straßenbelag wischte. Bevor Cornell die Knöchel losließ, drehte er den leblosen Körper mit einem Fußtritt um.

Und dann sah er, warum sich der Eindringling nicht gewehrt hatte.

Säure stieg ihm in die Kehle. Er stolperte rückwärts, fiel über seine eigenen Füße und krabbelte panisch weiter, keuchend und würgend.

Das Gesicht war ein blutiger Matsch aus Fleisch und Knochen. Wo ein Auge hätte sein sollen, klaffte ein gezacktes Loch, ebenso an der Stelle, wo ehedem ein Mund gewesen war. Haarsträhnen klebten in dem Blutbrei.

Cornell hatte sich knapp auf die Knie aufgerappelt, als ihm die Suppe und der Käsetoast wieder hochkamen und sich mit dem Whiskey zu beißendem Schaum vermischten. Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine knickten ein, sodass er mitten in seinem Erbrochenen landete. Seine Augen brannten und drohten überzulaufen, dennoch konnte er den Blick nicht von der entstellten Leiche wenige Schritte weiter abwenden.

In seiner Panik nahm er den Qualm, der sich in der Gasse verdichtete, zunächst gar nicht wahr. Doch als er sich abwischen wollte, erkannte er, dass er nicht bloß in sein Erbrochenes gefallen war. Eine schimmernde Spur führte durch die Gasse, als hätte jemand auf dem ganzen Weg bis zum Müllcontainer hinüber eine Flüssigkeit verschüttet.

Erst mit einiger Verzögerung wurde ihm klar, dass es sich bei dem schmierigen Zeug, das nun an seinen Knien und Händen haftete, um Benzin handelte. Cornell blickte auf und sah einen Mann am Eingang der Gasse, der einen Kanister ausgoss. Cornell rutschte aus, rappelte sich wieder auf, und da entdeckte der Kerl ihn. Doch statt zu erschrecken, wütend zu werden oder Angst zu kriegen, reagierte er auf völlig unerwartete Weise: Er lächelte und strich ein Zündholz an.

2

Newburgh Heights, Virginia

Maggie O’Dell kämpfte sich durch den schwarzen Nebel. Sie hatte Kopfschmerzen und konnte nicht klar denken. Da waren Lichtblitze gewesen, grelles Laser-Weiß und Butangas-Blau, bevor alles pechschwarz wurde. In ihrer linken Schläfe pochte es beständig. Leises Stöhnen kam aus der Dunkelheit, und Maggie fuhr zusammen, konnte sich jedoch nicht rühren. Ihre Arme waren bleiern schwer, ihre Beine taub. Angst überkam sie.

Warum spürte sie ihre Beine nicht?

Dann fiel ihr der Elektroschocker wieder ein, der dröhnende Schmerz, der durch ihren Körper gejagt war.

Sie wurde noch panischer, bekam Herzrasen und rang nach Luft.

Ein Schuss krachte, und im nächsten Moment war ihr, als stünde ihre Schädeldecke in Flammen.

Gleichzeitig roch sie es. Kein Kordit, sondern Rauch. Da brannte tatsächlich etwas. Versengtes Haar, verbranntes Fleisch, Rauch und Asche. Das Geräusch von knisterndem Plastik unter Stoff. Und plötzlich konnte Maggie vorn in dem verdunkelten Raum ihren Vater in dem mit Seide ausgekleideten Sarg liegen sehen, vollkommen ruhig und friedlich, während an der Wand hinter ihm die Flammen züngelten.

Diesen Traum hatte sie schon oft gehabt, und dennoch war sie immer wieder überrascht, ihn so nahe bei sich zu sehen, dass sie bloß über den Sargrand schauen musste, um in sein Gesicht zu blicken.

»Sie haben dir den Scheitel falsch gezogen, Daddy.« Maggie hob ihre Hand, die ungewöhnlich klein war. Aber sie freute sich nur, dass sie sich endlich bewegen konnte.

Sie streckte den Arm aus und richtete ihrem Vater das Haar. Die Flammen machten ihr keine Angst. Sie konzentrierte sich nur auf ihre Finger auf seinem Gesicht und berührte ihn schon fast, als er blinzelnd die Augen öffnete.

An dieser Stelle schrak Maggie aus dem Schlaf.

Bläuliches Licht flackerte aus dem stumm geschalteten Großbildfernseher. Maggies Lider widersetzten sich zuckend ihren Anstrengungen, die Augen zu öffnen. Sie richtete sich auf und fühlte sofort das vertraute Ledersofa unter sich. Das Pochen in ihrem Kopf und ihrer Brust hielt an, als sie sich umdrehte, in den Schatten spähte und halbwegs damit rechnete, dass die stöhnenden Schmerzlaute aus den Ecken ihres Wohnzimmers kamen.

Doch da war niemand.

Niemand außer Deborah Kerr, die den gesamten Bildschirm ausfüllte. In Deborahs Zügen spiegelten sich die Sorge und Panik wider, die Maggie empfand. Sie rannte mitten in einem Gewitter einen Strand entlang. Irgendwo war Robert Mitchum, verwundet.

Maggie hatte diesen Film schon viele Male gesehen, und bis heute fühlte sie Deborahs Panik mit. Der Seemann und die Nonne war einer von Maggies Lieblingsfilmen. Entsprechend hatte sie ihn erst vor Kurzem bei einem ihrer Filmklassiker-Marathons gegen ihren Freund Benjamin Platt verteidigt. Was sie wiederum auf die Idee gebracht hatte, ihn mal wieder herauszuholen. Heute Abend allerdings war sie allein mit Deborah.

Sie setzte sich auf, lehnte sich ins weiche Leder zurück und rieb ihre linke Schläfe. Das Haar klebte an ihrer verschwitzten Stirn. Nach und nach beruhigte sich ihr Herzschlag, aber das vertraute Hämmern in ihrem Kopf blieb. Ihre Fingerspitzen betasteten das Narbengewebe auf ihrem Schädel. Die Narbe tat nicht mehr weh, wenn Maggie so wie jetzt darauf drückte. Trotzdem pochte es unter ihr, und das war die verlässliche Ankündigung übelster Kopfschmerzen. Sie begannen immer mit einem scharfen Stechen in der linken Schläfe, das bald durch ihren ganzen Kopf wirbeln würde.

Am Ende setzte es sich hinten im Nacken fest und drückte von dort in Form eines dumpfen Dauerschmerzes auf ihr Hirn, der sie in den Wahnsinn trieb. Nicht einmal Schlaf – und sie schlief ohnedies selten und kurz – brachte Linderung. Maggie hatte keine Ahnung, ob ihre Schlaflosigkeit von den Albträumen herrührte oder ob sie die Angst vor den Albträumen wach hielt. Sie wusste bloß, dass jeder Schlaf, egal wie kurz, mit einer Filmversion ihrer Erinnerungen einherging – und zwar in der extragruseligen, verdichteten Horrorversion. Die neueste Folge dieser Serie enthielt Ausschnitte von vor vier Monaten: Teenager, die in einem dunklen Wald überfallen werden, zwei per Elektroschocker hingerichtet, der Rest verletzt und ängstlich wimmernd.

Maggies Finger glitten wieder über die Narbe unter ihrem Haar. Es ist bloß eine Narbe von vielen, sagte sie sich und wünschte, sie könnte sie einfach vergessen. Ohne die Kopfschmerzen gelang ihr das auch wenigstens für ein oder zwei Tage.

Letzten Oktober war sie angeschossen worden … am Kopf. Genau genommen hatte die Kugel ihre Schläfe gestreift. Es war wohl zu viel verlangt, so schnell vergessen zu wollen. Schön wäre allerdings, wenn sich nicht jeder um sie herum ständig daran erinnern würde. Deshalb erzählte sie niemandem von den Kopfschmerzattacken.

Ihr Chef, Assistant Director Raymond Kunze, hielt sie so oder so schon für »angeschlagen«, »verändert« und »zeitweilig dienstuntauglich«. Bisher hatte sie seine beharrlichen Versuche, sie zum Psychologen zu schicken, erfolgreich abwehren können. Als Druckmittel nutzte sie, dass Kunze sich die Schuld gab, weil er sie den Umweg hatte machen lassen, der sie beinahe das Leben gekostet hätte. Nicht dass Kunze jemals die Verantwortung dafür übernehmen würde. Stattdessen gab er vor, zu Weihnachten immer leicht sentimental zu werden, und hatte ihr deshalb die Untersuchung erspart. Komisch, denn wenn Maggie an Kunze und Weihnachten dachte, konnte sie ihn sich prima als den Grinch vorstellen, der das Weihnachtsfest stahl. Und nun, da Weihnachten längst vorbei war, würde er wohl erneut auf eine psychologische Evaluation drängen.

Deborah fand Robert Mitchum exakt in dem Augenblick, in dem Maggie feststellte, dass es nach wie vor verbrannt roch. War der Rauch gar kein Teil ihres Albtraums gewesen? War hier im Haus ein Feuer ausgebrochen?

In der dunklen Ecke des Bildschirms sah sie eine Bewegung. Das waren keine Flammen, sondern ein Flackern, das nicht zum Film gehörte. Die Spiegelung einer Gestalt. Ein Mann schlich durch den Türrahmen hinter ihr.

Jemand war in ihrem Haus.

3

Die Hunde waren weg.

Es hätte Maggie früher auffallen müssen, denn die beiden lagen immer zu ihren Füßen.

Sie blickte sich im dämmrigen Wohnzimmer um, sank tiefer ins Sofa und verhielt sich still. Es war besser, wenn der Einbrecher dachte, er wäre unbemerkt geblieben. Womöglich hatte er sie nicht gesehen. Er war jedenfalls noch in der Küche.

Maggie behielt die Bildschirmecke im Blick. Falls er hinter ihr auftauchte, könnte sie ihn dort sehen.

Oder nicht?

Mit den wechselnden Filmbildern veränderte sich auch die Spiegelung.

Maggie überlegte, wo ihre Waffen waren. Ihre verlässliche Smith & Wesson lag oben im Schlafzimmer. Eine Sig Sauer war in der untersten Kommodenschublade im Flur. Im Haus waren ihr Waffen stets überflüssig erschienen. Nach ihrem Einzug hatte sie als Erstes die modernste Alarmanlage eingebaut. Und auch draußen hatte sie für Barrieren gesorgt. Von den zwei superwachsamen Hunden ganz zu schweigen, die niemals einen Fremden ins Haus lassen würden. Doch nun bekam es Maggie mit der Angst.

Wo steckten Harvey und Jake?

Der Gedanke, dass ihren Hunden etwas zugestoßen sein könnte, war ihr unerträglich.

Ein leises Klicken, gefolgt von einem hörbaren Luftzug, erklang aus der Küche. Ihr Einbrecher hatte den Kühlschrank geöffnet.

Maggie rutschte noch tiefer in die Lederpolster.

Sie wartete lauschend.

Behutsam glitt sie von der Couch auf den Fußboden. Jetzt hätte sie einen Teppich gebrauchen können, der ihre Schritte dämpfte. Aber leider hatte sie genau deshalb nicht einen Fetzen Teppich im Haus: Nicht weil sie die schönen Holzdielen so liebte, sondern weil ein Bodenbelag jegliche Schrittgeräusche verschluckte. Gott sei Dank trug sie Socken.

Maggie blickte weiter zur Fernseherecke, wo sie die Spiegelung nun in einem anderen Winkel sah. Sie erkannte seinen gekrümmten Rücken. Er guckte in ihren Kühlschrank. Lautlos nahm Maggie einen gläsernen Briefbeschwerer vom Beistelltisch, kroch zur Tür und hielt sich in den Schatten vor der Wand.

Was hast du mit meinen Hunden gemacht, du Schwein?

Von Wut getrieben, schlich sie näher zur Tür.

Von hier aus konnte sie ihn riechen. Er stank nach Rauch und verkohltem Holz. Also war es nicht ihr Albtraum, der ihr die Sinne verwirrte.

Ohne sie zu bemerken, griff er in den Kühlschrank. Jetzt stand er mit dem Rücken zu ihr und war angreifbar. Maggie holte mit dem Briefbeschwerer aus, um ihn dem Kerl auf den Hinterkopf zu knallen, und stürmte durch die Tür. Der Mann erschrak, fuhr herum, und Maggie erstarrte mitten im Schwung.

»Verflucht, Patrick, du hast mich zu Tode erschreckt!«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit.«

»Ich hätte dir beinahe den Schädel eingeschlagen.«

Ihr Bruder, der offenbar weiche Knie bekommen hatte, hockte sich auf den Boden. Im Licht des offenen Kühlschranks konnte Maggie verschmierten Ruß an seiner Stirn sehen. In einer Hand hielt er noch den Griff der Kühlschranktür.

»Ich wollte dich nicht aufwecken«, erklärte er und richtete sich mühsam wieder auf. Er war Feuerwehrmann, jung und großartig in Form, und dennoch hatte Maggie es geschafft, ihn in dieses Häufchen Elend auf ihrem Küchenfußboden zu verwandeln.

»Ich dachte, du kommst erst am Wochenende.«

»Wir haben früher Schluss gemacht. Ich hätte wohl anrufen sollen«, sagte er und grinste zerknirscht. »Tut mir leid, ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ich jemandem Bescheid geben muss.«

Und Maggie musste sich daran gewöhnen, dass jemand bei ihr wohnte.

Für sie beide war diese Situation neu. Maggie hatte ihrem Halbbruder angeboten, zu ihr zu ziehen, nachdem er im Dezember seinen Abschluss an der University of New Haven gemacht hatte. Mit seinem neuen Brandschutzdiplom in der Tasche wollte er zunächst Berufserfahrung sammeln und hatte einen Job als Feuerwehrmann bei einer privaten Sicherheitsfirma angenommen. Da das Unternehmen Auftraggeber in dreizehn Bundesstaaten hatte, war Patrick die meiste Zeit unterwegs und nutzte Maggies Haus als Anlaufstelle zwischen seinen Aufträgen.

Erst in den letzten Jahren hatten sie voneinander erfahren. Maggies Mutter hatte die Untreue ihres Vaters mehr als zwanzig Jahre lang geheim gehalten. Ebenso hatte Patricks Mutter ihm nichts von seinem Vater erzählt – außer dass er als Held gestorben war. Mit keinem Wort war angedeutet worden, dass eine Schwester existierte, halb oder sonst wie. Es war eine stillschweigende Übereinkunft zwischen den beiden Frauen gewesen, nachdem der Mann plötzlich gestorben war, den sie beide liebten, und sie mit ihren Kindern allein dastanden.

Folglich lernten die beiden vaterlosen Kinder, die mittlerweile erwachsen waren, erst jetzt, Geschwister zu sein.

»Darf ich mir was von der Pizza nehmen?« Patrick zeigte auf den Karton im obersten Kühlschrankregal.

»Bedien dich.«

Maggie wusste, dass es nicht leicht werden würde. Sie war eine echte Einzelgängerin. Es gefiel ihr, allein zu leben – nein, mehr als das: Sie war unglaublich gern allein. Entsprechend war es nicht verwunderlich, dass Patrick und sie sich praktisch sofort zu fetzen begannen, kaum dass er bei ihr eingezogen war. Erstaunlich war einzig, dass es keineswegs um typische Geschwisterrivalität oder Territorialansprüche ging; auch nicht um Geld, Essen oder schmutzige Socken am falschen Platz. Wäre es doch nur so simpel!

Nein, Maggie hatte etwas gegen Patricks Arbeitgeber. Sie hielt das Unternehmen mit Hauptsitz in Virginia für überaus fragwürdig und verstand nicht, wieso Patrick keine Probleme damit hatte.

Braxton Protection verkaufte Luxusversicherungspolicen – den Cadillac unter den Versicherungen für reiche Hausbesitzer, die sich die Prämien leisten konnten. Und zum teuren Spezialschutz gehörte eine private Feuerwehr für Notfälle. Mit anderen Worten: Patrick war eine Art Söldner, nur eben mit einem Löschschlauch bewaffnet.

Maggie wusste selbst nicht, warum sie nicht den Mund halten und so tun konnte, als wäre es ihr egal. Patrick wollte Erfahrungen sammeln, was doch nicht verkehrt war. Warum sollte er auf einer Feuerwache herumsitzen, bis ein Einsatz kam, wenn er sich direkt auf Großbrände stürzen konnte? Und wenn die Leute es sich leisten konnten, wieso sollten sie sich dann keinen zusätzlichen Schutz kaufen? Um diese Fragen kreisten ihre Diskussionen. Na ja, man konnte wohl eher von Streitereien sprechen.

»Und was ist«, konterte sie regelmäßig, »wenn du an einem brennenden Haus vorbeifahren musst, weil du den Auftrag hast, eines ein paar Meilen weiter zu löschen?«

Daraufhin zuckte Patrick nur grinsend mit den Schultern. Sein Grinsen erinnerte Maggie an ihren Vater. Im Moment jedoch sah Patrick bloß wie ein erschöpfter, ausgehungerter Fünfundzwanzigjähriger aus.

Er kam offenbar geradewegs von einem Brand. Überall in seinem Gesicht waren Rußspuren, und in seinem schweißnassen Haar drückte sich noch der Rand seines Helms ab. Ein Haarwirbel vorne – der gleiche wie bei ihrem Vater – stand vom Kopf ab, und Maggie hätte am liebsten mit der Hand darüber gestrichen, genau wie sie es jedes Mal tat, wenn sie von ihrem Vater im offenen Sarg träumte. Das war es, was den Albtraum ausgelöst hatte: Sie hatte Rauch gerochen, weil Patrick nach ihm stank.

»Kommst du direkt vom Einsatz?«, fragte sie und versuchte, sich zu erinnern, wo er die letzte Woche gewesen war.

»Ja.«

Er ließ den Pizzakarton auf der Kücheninsel stehen und öffnete sich eine Dose Pepsi light. Dann machte er Anstalten, sich auf einen der Barhocker zu setzen, sprang aber gleich wieder wie von der Tarantel gestochen auf.

»Entschuldige. Ich muss ziemlich stinken.« Mit einem Pizzastück in der einen und der Pepsi in der anderen Hand guckte er sich zu dem Hocker um, ob er ihn nicht schmutzig gemacht hatte.

»Ist schon gut. Setz dich hin.«

Maggie nahm sich ebenfalls ein Stück Pizza, setzte sich auf den anderen Hocker und wies auf den Platz neben sich.

Er zögerte. Es gefiel Maggie nicht, wie zurückhaltend und höflich er ihr gegenüber nach wie vor war. Als würde er nur darauf warten, dass sie es sich anders überlegte und die Türschlösser austauschte. Was natürlich ihre Schuld war. Sie trennten zwölf Jahre, und Maggie hätte die Reifere sein müssen. Was für ein Witz! Sie hatte keinen Schimmer von Familienleben, weil sie zu allen und jedem einen sicheren Abstand wahrte. Seit ihrer Scheidung vor langer Zeit hatte sie mit niemandem mehr zusammengewohnt.

Ausgenommen Harvey und Jake.

Nun war es an ihr, vom Barhocker zu springen.

»Wo sind die Hunde?«

Die Panik aus ihrem Albtraum meldete sich zurück, war deutlich in ihrer Stimme zu hören.

»Ich habe sie in den Garten gelassen.« Auch Patrick war wieder aufgesprungen.

Mit drei Schritten war Maggie an der Hintertür, tippte den Sicherheitscode ein und schaltete das Verandalicht an.

»Jake hat sich neulich unterm Zaun durchgegraben.« Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Einer der Nachbarn hat gesagt, er erschießt ihn, wenn er ihn das nächste Mal in seinem Vorgarten erwischt.«

»Das ist ein Scherz, oder? Total bekloppt.«

Aber Patrick war neben ihr, als sie die Tür aufriss.

Aus der Dunkelheit kamen beide Hunde angelaufen, ein schwarzer und ein gelber, Seite an Seite, mit hängenden Zungen und erdverkrusteten Schnauzen.

»Anscheinend hat er Harvey als Aushilfsgärtner engagiert.« Patrick lachte.

Das war tatsächlich witzig, und Maggie lächelte. Trotz der beklemmenden Enge in ihrer Brust war sie erleichtert. Vor vier Monaten hatte Jake ihr das Leben gerettet. Sie wollte ihm das Gefühl geben, hier sicher zu sein, endlich ein Zuhause zu haben, und dennoch büxte er immer wieder aus, als würde sie ihn in seiner Freiheit beschneiden. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn aus den Weiten der Nebraska Sandhills hierher zu verfrachten. Maggie wollte ihn retten, so wie Harvey, aber vielleicht hatte Jake gar kein Interesse daran, gerettet zu werden.

Die Hunde stürzten sich auf ihre Wasserschale und schlürften sie leer, wobei sie Erdkrümel darin verteilten. Patrick und Maggie wandten sich wieder ihrer Pizza zu. Da klingelte Maggies Handy.

Sie blickte auf ihre Uhr. Siebzehn Minuten nach eins. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Unwillkürlich dachte sie an ihre Mutter. Ihre katholische Erziehung impfte ihr ein permanent schlechtes Gewissen ein, das sich in verlässlichen Abständen meldete, weil sie ihrer Mutter nicht erzählt hatte, dass Patrick bei ihr wohnte. Was eigentlich gar kein Problem war, denn ihre Mutter besuchte sie äußerst selten. Maggie griff nach ihrem Telefon und sah auf die Nummer im Display.

»Hallo, Detective Racine«, begrüßte sie die Anruferin.

»Hey, tut mir leid, dass ich dich wecke.«

»Nein, ist okay. Ich bin noch auf.«

Maggie staunte. Es passte nicht zu der brüsken Julia Racine, sich für irgendetwas zu entschuldigen. Für gewöhnlich war einiges nötig, bis die örtliche Leiterin der Mordkommission ihre weiche Seite zeigte. Maggie hatte das erst wenige Male erlebt.

»Ich habe Tully bereits angerufen. Unser Glühwürmchen war wieder aktiv«, sagte Racine hastig. »Und diesmal hat er uns eine Leiche dagelassen.«

4

Washington, D.C.

R. J. Tully zeigte dem Uniformierten am ersten Absperrband seine Dienstmarke. Der Mann nickte, und Tully duckte sich unter dem Band hindurch. Er wünschte, er hätte sich etwas Wärmeres als den Trenchcoat übergezogen.

Und, verdammt, woher kam der Fleck am Revers?

Egal. Er hatte sowieso keine große Auswahl gehabt. Die Nächte bei Gwen Patterson zu verbringen, war noch relativ neu für ihn. Seine Tochter Emma war im zweiten Semester am College, also gab es keinen Grund, nach Hause zu fahren. Trotzdem konnte er es nicht leiden, seine Kleidung auf zwei verschiedene Haushalte zu verteilen. Er war dreizehn Jahre lang verheiratet und danach fünf Jahre allein gewesen. Offenbar musste er sich erst daran gewöhnen, wieder eine Beziehung zu haben.

Gwen hatte ihm großzügig eine Schublade und einen Teil des Wandschranks freigeräumt, fast einen halben Meter neben ihren weichen, bunten Sachen. Mit nur einem Hemd und einer Hose sah dieser Schrankteil ziemlich trostlos aus. Das alles kam ihm falsch vor. Es war, als hätte er sich bei ihr eingenistet, und das behagte ihm nicht, ganz gleich, wie sehr er Gwen liebte.

Als der Anruf sie beide weckte, hätte Tully sich ärgern oder zumindest enttäuscht sein müssen, weil er fortmusste – alles, nur nicht erleichtert.

Zum Glück war Gwen viel zu verschlafen gewesen und hatte es nicht bemerkt.

Er trat beiseite, um zwei Feuerwehrmänner vorbeizulassen, die auf die Rauchschwaden zuliefen. Noch vor Sonnenaufgang würde das hier als Alarmstufe zwei eingestuft werden. Innerhalb einer knappen Woche hatte Tully mehr über Feuer gelernt, als ihm lieb war.

Ein Nebeneffekt seiner Übernachtung bei Gwen war, dass er den Tatort früher erreichte. Was ihm nicht unbedingt recht war. Doch von Gwens Wohnung in Georgetown waren es – um diese nachtschlafende Zeit – eben nur fünf bis zehn Minuten Fahrt anstatt der dreißig bis vierzig, die er von seinem Bungalow in Reston, Virginia, gebraucht hätte.

Er machte das Beste aus seiner frühen Ankunft und stellte sich mit dem Rücken in den Wind, sodass ihn die Hitze des Feuers wärmte. Sie fühlte sich richtig gut an, vertrieb die nächtliche Kälte und ließ ihn für eine Weile vergessen, dass sein Trenchcoat viel zu dünn war. Für Februar waren die Tage außergewöhnlich warm gewesen, die Nächte hingegen erinnerten daran, dass der Winter noch nicht vorbei war.

Tully schob seine Brille nach oben. Er zückte einen Kuli und suchte seine Taschen nach einem Block, Zettel oder etwas anderem ab, auf dem er schreiben konnte. Schließlich musste er sich mit einem Kassenbon begnügen. Dann wählte er eine Stelle unter einer Eiche, wo er niemandem im Weg war, und begann, sich die Schaulustigen genauer anzusehen.

Der Son of Sam hatte gestanden, Hunderte von Bränden gelegt zu haben. Er behauptete, ein Serienbrandstifter gewesen zu sein, noch ehe er sein erstes Opfer erschossen hatte. Er legte ein Feuer, dann stellte er sich irgendwo in die Nähe, wo man ihn nicht bemerkte, guckte den Flammen zu, genoss das Chaos und masturbierte.

Tully studierte die Gesichter im Flammenschein, wobei er sich bemühte, das Knacken und Knistern hinter sich nicht zu beachten. Eine Kamerafrau und ein Reporter hatten sich bereits nahe dem Absperrband postiert.

Wie sind die so schnell hergekommen?

Tully notierte: »Wer hat die Feuerwehr gerufen?«

Dann blickte er an den beiden Journalisten und den Schaulustigen hinter ihnen vorbei zu den Eingängen der Nebenstraßen und den Gehwegen auf der anderen Straßenseite. Seine Augen wanderten über die Dächer. Aufmerksam musterte er die Fensterreihen der umliegenden Gebäude. Soweit er wusste, waren dies alles Lagerhäuser, keine Wohnungen, also wäre es verdächtig oder zumindest ungewöhnlich, in einem der Stockwerke eine Bewegung oder Licht zu sehen.

Er ging auf die andere Seite des Baumes und sah sich den Häuserblock nebenan genauer an. In dem Moment fiel ihm auf, dass einige der Schaulustigen wie Obdachlose wirkten. Er kannte sich mit der »Nachtschicht« der Stadt, wie er sie nannte, gut aus – mit Drogendealern, Prostituierten, Lieferanten und Taxifahrern. Sie waren die Einzigen, die sich um diese Zeit auf den Straßen aufhielten. An die Obdachlosen mit ihren eingefallenen Wangen und den leeren Augen, die sie für Tully wie Zombies wirken ließen, könnte er sich aber wohl nie gewöhnen.

»Hey, Tully!«

Die Stimme erschreckte ihn so sehr, dass er zusammenzuckte. Was dachte er auch an Zombies?

Tully blickte sich um. Detective Julia Racine trug Jeans und eine offene Lederbomberjacke, sodass ihre Marke und die Waffe gut zu sehen waren. Racine hatte stets etwas an sich, das sie tougher erscheinen ließ, als sie Tullys Wissen nach war. Heute Nacht war es die offene Jacke in eisiger Kälte, der schwunghafte Gang und nun die Hand, die durch ihr vom Duschen noch feuchtes kurzes Haar fuhr.

»Was stehst du hier im Dunkeln?«, fragte sie.

Natürlich erwartete sie keine Antwort. Racine hatte ihn herbestellt, und die Frage war quasi ihre Begrüßung.

»Er ist hier«, sagte Tully leise und rührte sich nicht. Er blickte wieder zum Nachbargebäude.

Er wusste nicht, ob Racine ihn gehört hatte. Sie kam zu ihm und blieb stocksteif stehen, die Hände in den Taschen. Sie war so nahe, dass Tully sie riechen konnte – Kokosnuss und Limone. Sicher war es ihr Shampoo, und der Duft machte ihren Gang und ihre offene »Zu cool um zu frieren«-Jacke wieder wett. Dies war eines der Dinge, die Tully an der Arbeit mit Frauen mochte, was er jedoch in hundert Jahren nicht zugegeben hätte: Sie rochen so viel besser als Männer.

»Fünfundfünfzig Prozent aller Brandstifter sind unter achtzehn«, sagte sie sachlich und ohne einen Blick in seine Richtung. Ganz Profi eben.

Sie sah zu den Leuten hinterm Polizeiband, während Tullys Augen weiter von Fenster zu Fenster, Stockwerk zu Stockwerk wanderten.

»Du hast zu viele sinnlose Statistiken gelesen.«

Sein Blick verharrte beim zweiten Stock des Ziegelsteinbaus an der Ecke, denn er hätte schwören können, dass er ein Lichtblitzen im Fenster gesehen hatte. Aber war das von drinnen gekommen oder eine Spiegelung der Flammen?

»Die Leiche liegt draußen, in der Gasse hinter einem Müllcontainer«, sagte Racine.

»Draußen?«

Das störte Tully. Bei den anderen Bränden hatte es keine Opfer gegeben. Eine Leiche war eine Steigerung, der nächste Schritt. Wenn das Feuer allein dem Täter nicht mehr den nötigen Kick brachte, begann er, bewohnte Gebäude anzustecken. Aber wenn der Tote draußen lag, handelte es sich nicht um ein Zufallsopfer.

»Jemand, der es zu spät rausgeschafft hat?«

Sie schüttelte den Kopf und zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche, in dem sie blätterte. Tully ließ seine Hand mit dem verkrumpelten Kassenbon in der Manteltasche. Wieso dachte er nie daran, ein Notizbuch mitzunehmen?

»Die Leiche wurde bei einem separaten Notruf gemeldet«, sagte Racine, sobald sie ihre Notiz gefunden hatte.

Tully blickte hinüber. Sogar ihre Handschrift war sauber und ordentlich, kein Gekrakel oder komische Abkürzungen wie bei ihm.

»Der Anrufer meldete, dass eine – Zitat – Leiche beim Container liegt, der das halbe Gesicht fehlt.«

»Beim Container? Nicht im Container?«

Racine blätterte wieder in ihrem Notizbuch und kehrte dann zur vorherigen Seite zurück. »Nein, beim, nicht im. Der Brandmeister sagte mir, dass sie nicht verbrannt ist. Wir müssen warten, bis wir den Bereich betreten dürfen.«

»Das ändert alles«, murmelte Tully.

»Und ob.«

Abermals standen sie schweigend nebeneinander und blickten sich um. Minuten vergingen. Hinter ihnen riefen sich die Feuerwehrleute Kommandos zu. Rußflöckchen mit glimmenden Rändern stoben durch die Luft und füllten den Nachthimmel. Beim letzten Brand hatte jemand gesagt, sie sähen aus wie Glühwürmchen, und kurz darauf fingen sie alle an, den Brandstifter so zu bezeichnen. Tully fand diesen Namen albern. Da hätten sie ihn genauso gut Feuerwanze nennen können.

Racine brach das Schweigen.

»Also glaubst du, dass das Schwein hier irgendwo ist, zuguckt und sich einen runterholt?«

Genau das hatte Tully vorhin gedacht, nur war ihm inzwischen klar, dass es nicht so einfach sein konnte. Erst recht nicht, wenn der Kerl jetzt jemanden umgebracht hatte und sich nicht mal die Mühe machte, die Leiche zu verbrennen. Er sah Racine nach wie vor nicht an, lächelte aber. »Du hast zu viel Freud gelesen.«