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Die Hunde waren weg.
Es hätte Maggie früher auffallen müssen, denn die beiden lagen immer zu ihren Füßen.
Sie blickte sich im dämmrigen Wohnzimmer um, sank tiefer ins Sofa und verhielt sich still. Es war besser, wenn der Einbrecher dachte, er wäre unbemerkt geblieben. Womöglich hatte er sie nicht gesehen. Er war jedenfalls noch in der Küche.
Maggie behielt die Bildschirmecke im Blick. Falls er hinter ihr auftauchte, könnte sie ihn dort sehen.
Oder nicht?
Mit den wechselnden Filmbildern veränderte sich auch die Spiegelung.
Maggie überlegte, wo ihre Waffen waren. Ihre verlässliche Smith & Wesson lag oben im Schlafzimmer. Eine Sig Sauer war in der untersten Kommodenschublade im Flur. Im Haus waren ihr Waffen stets überflüssig erschienen. Nach ihrem Einzug hatte sie als Erstes die modernste Alarmanlage eingebaut. Und auch draußen hatte sie für Barrieren gesorgt. Von den zwei superwachsamen Hunden ganz zu schweigen, die niemals einen Fremden ins Haus lassen würden. Doch nun bekam es Maggie mit der Angst.
Wo steckten Harvey und Jake?
Der Gedanke, dass ihren Hunden etwas zugestoßen sein könnte, war ihr unerträglich.
Ein leises Klicken, gefolgt von einem hörbaren Luftzug, erklang aus der Küche. Ihr Einbrecher hatte den Kühlschrank geöffnet.
Maggie rutschte noch tiefer in die Lederpolster.
Sie wartete lauschend.
Behutsam glitt sie von der Couch auf den Fußboden. Jetzt hätte sie einen Teppich gebrauchen können, der ihre Schritte dämpfte. Aber leider hatte sie genau deshalb nicht einen Fetzen Teppich im Haus: Nicht weil sie die schönen Holzdielen so liebte, sondern weil ein Bodenbelag jegliche Schrittgeräusche verschluckte. Gott sei Dank trug sie Socken.
Maggie blickte weiter zur Fernseherecke, wo sie die Spiegelung nun in einem anderen Winkel sah. Sie erkannte seinen gekrümmten Rücken. Er guckte in ihren Kühlschrank. Lautlos nahm Maggie einen gläsernen Briefbeschwerer vom Beistelltisch, kroch zur Tür und hielt sich in den Schatten vor der Wand.
Was hast du mit meinen Hunden gemacht, du Schwein?
Von Wut getrieben, schlich sie näher zur Tür.
Von hier aus konnte sie ihn riechen. Er stank nach Rauch und verkohltem Holz. Also war es nicht ihr Albtraum, der ihr die Sinne verwirrte.
Ohne sie zu bemerken, griff er in den Kühlschrank. Jetzt stand er mit dem Rücken zu ihr und war angreifbar. Maggie holte mit dem Briefbeschwerer aus, um ihn dem Kerl auf den Hinterkopf zu knallen, und stürmte durch die Tür. Der Mann erschrak, fuhr herum, und Maggie erstarrte mitten im Schwung.
»Verflucht, Patrick, du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit.«
»Ich hätte dir beinahe den Schädel eingeschlagen.«
Ihr Bruder, der offenbar weiche Knie bekommen hatte, hockte sich auf den Boden. Im Licht des offenen Kühlschranks konnte Maggie verschmierten Ruß an seiner Stirn sehen. In einer Hand hielt er noch den Griff der Kühlschranktür.
»Ich wollte dich nicht aufwecken«, erklärte er und richtete sich mühsam wieder auf. Er war Feuerwehrmann, jung und großartig in Form, und dennoch hatte Maggie es geschafft, ihn in dieses Häufchen Elend auf ihrem Küchenfußboden zu verwandeln.
»Ich dachte, du kommst erst am Wochenende.«
»Wir haben früher Schluss gemacht. Ich hätte wohl anrufen sollen«, sagte er und grinste zerknirscht. »Tut mir leid, ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ich jemandem Bescheid geben muss.«
Und Maggie musste sich daran gewöhnen, dass jemand bei ihr wohnte.
Für sie beide war diese Situation neu. Maggie hatte ihrem Halbbruder angeboten, zu ihr zu ziehen, nachdem er im Dezember seinen Abschluss an der University of New Haven gemacht hatte. Mit seinem neuen Brandschutzdiplom in der Tasche wollte er zunächst Berufserfahrung sammeln und hatte einen Job als Feuerwehrmann bei einer privaten Sicherheitsfirma angenommen. Da das Unternehmen Auftraggeber in dreizehn Bundesstaaten hatte, war Patrick die meiste Zeit unterwegs und nutzte Maggies Haus als Anlaufstelle zwischen seinen Aufträgen.
Erst in den letzten Jahren hatten sie voneinander erfahren. Maggies Mutter hatte die Untreue ihres Vaters mehr als zwanzig Jahre lang geheim gehalten. Ebenso hatte Patricks Mutter ihm nichts von seinem Vater erzählt – außer dass er als Held gestorben war. Mit keinem Wort war angedeutet worden, dass eine Schwester existierte, halb oder sonst wie. Es war eine stillschweigende Übereinkunft zwischen den beiden Frauen gewesen, nachdem der Mann plötzlich gestorben war, den sie beide liebten, und sie mit ihren Kindern allein dastanden.
Folglich lernten die beiden vaterlosen Kinder, die mittlerweile erwachsen waren, erst jetzt, Geschwister zu sein.
»Darf ich mir was von der Pizza nehmen?« Patrick zeigte auf den Karton im obersten Kühlschrankregal.
»Bedien dich.«
Maggie wusste, dass es nicht leicht werden würde. Sie war eine echte Einzelgängerin. Es gefiel ihr, allein zu leben – nein, mehr als das: Sie war unglaublich gern allein. Entsprechend war es nicht verwunderlich, dass Patrick und sie sich praktisch sofort zu fetzen begannen, kaum dass er bei ihr eingezogen war. Erstaunlich war einzig, dass es keineswegs um typische Geschwisterrivalität oder Territorialansprüche ging; auch nicht um Geld, Essen oder schmutzige Socken am falschen Platz. Wäre es doch nur so simpel!
Nein, Maggie hatte etwas gegen Patricks Arbeitgeber. Sie hielt das Unternehmen mit Hauptsitz in Virginia für überaus fragwürdig und verstand nicht, wieso Patrick keine Probleme damit hatte.
Braxton Protection verkaufte Luxusversicherungspolicen – den Cadillac unter den Versicherungen für reiche Hausbesitzer, die sich die Prämien leisten konnten. Und zum teuren Spezialschutz gehörte eine private Feuerwehr für Notfälle. Mit anderen Worten: Patrick war eine Art Söldner, nur eben mit einem Löschschlauch bewaffnet.
Maggie wusste selbst nicht, warum sie nicht den Mund halten und so tun konnte, als wäre es ihr egal. Patrick wollte Erfahrungen sammeln, was doch nicht verkehrt war. Warum sollte er auf einer Feuerwache herumsitzen, bis ein Einsatz kam, wenn er sich direkt auf Großbrände stürzen konnte? Und wenn die Leute es sich leisten konnten, wieso sollten sie sich dann keinen zusätzlichen Schutz kaufen? Um diese Fragen kreisten ihre Diskussionen. Na ja, man konnte wohl eher von Streitereien sprechen.
»Und was ist«, konterte sie regelmäßig, »wenn du an einem brennenden Haus vorbeifahren musst, weil du den Auftrag hast, eines ein paar Meilen weiter zu löschen?«
Daraufhin zuckte Patrick nur grinsend mit den Schultern. Sein Grinsen erinnerte Maggie an ihren Vater. Im Moment jedoch sah Patrick bloß wie ein erschöpfter, ausgehungerter Fünfundzwanzigjähriger aus.
Er kam offenbar geradewegs von einem Brand. Überall in seinem Gesicht waren Rußspuren, und in seinem schweißnassen Haar drückte sich noch der Rand seines Helms ab. Ein Haarwirbel vorne – der gleiche wie bei ihrem Vater – stand vom Kopf ab, und Maggie hätte am liebsten mit der Hand darüber gestrichen, genau wie sie es jedes Mal tat, wenn sie von ihrem Vater im offenen Sarg träumte. Das war es, was den Albtraum ausgelöst hatte: Sie hatte Rauch gerochen, weil Patrick nach ihm stank.
»Kommst du direkt vom Einsatz?«, fragte sie und versuchte, sich zu erinnern, wo er die letzte Woche gewesen war.
»Ja.«
Er ließ den Pizzakarton auf der Kücheninsel stehen und öffnete sich eine Dose Pepsi light. Dann machte er Anstalten, sich auf einen der Barhocker zu setzen, sprang aber gleich wieder wie von der Tarantel gestochen auf.
»Entschuldige. Ich muss ziemlich stinken.« Mit einem Pizzastück in der einen und der Pepsi in der anderen Hand guckte er sich zu dem Hocker um, ob er ihn nicht schmutzig gemacht hatte.
»Ist schon gut. Setz dich hin.«
Maggie nahm sich ebenfalls ein Stück Pizza, setzte sich auf den anderen Hocker und wies auf den Platz neben sich.
Er zögerte. Es gefiel Maggie nicht, wie zurückhaltend und höflich er ihr gegenüber nach wie vor war. Als würde er nur darauf warten, dass sie es sich anders überlegte und die Türschlösser austauschte. Was natürlich ihre Schuld war. Sie trennten zwölf Jahre, und Maggie hätte die Reifere sein müssen. Was für ein Witz! Sie hatte keinen Schimmer von Familienleben, weil sie zu allen und jedem einen sicheren Abstand wahrte. Seit ihrer Scheidung vor langer Zeit hatte sie mit niemandem mehr zusammengewohnt.
Ausgenommen Harvey und Jake.
Nun war es an ihr, vom Barhocker zu springen.
»Wo sind die Hunde?«
Die Panik aus ihrem Albtraum meldete sich zurück, war deutlich in ihrer Stimme zu hören.
»Ich habe sie in den Garten gelassen.« Auch Patrick war wieder aufgesprungen.
Mit drei Schritten war Maggie an der Hintertür, tippte den Sicherheitscode ein und schaltete das Verandalicht an.
»Jake hat sich neulich unterm Zaun durchgegraben.« Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Einer der Nachbarn hat gesagt, er erschießt ihn, wenn er ihn das nächste Mal in seinem Vorgarten erwischt.«
»Das ist ein Scherz, oder? Total bekloppt.«
Aber Patrick war neben ihr, als sie die Tür aufriss.
Aus der Dunkelheit kamen beide Hunde angelaufen, ein schwarzer und ein gelber, Seite an Seite, mit hängenden Zungen und erdverkrusteten Schnauzen.
»Anscheinend hat er Harvey als Aushilfsgärtner engagiert.« Patrick lachte.
Das war tatsächlich witzig, und Maggie lächelte. Trotz der beklemmenden Enge in ihrer Brust war sie erleichtert. Vor vier Monaten hatte Jake ihr das Leben gerettet. Sie wollte ihm das Gefühl geben, hier sicher zu sein, endlich ein Zuhause zu haben, und dennoch büxte er immer wieder aus, als würde sie ihn in seiner Freiheit beschneiden. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn aus den Weiten der Nebraska Sandhills hierher zu verfrachten. Maggie wollte ihn retten, so wie Harvey, aber vielleicht hatte Jake gar kein Interesse daran, gerettet zu werden.
Die Hunde stürzten sich auf ihre Wasserschale und schlürften sie leer, wobei sie Erdkrümel darin verteilten. Patrick und Maggie wandten sich wieder ihrer Pizza zu. Da klingelte Maggies Handy.
Sie blickte auf ihre Uhr. Siebzehn Minuten nach eins. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Unwillkürlich dachte sie an ihre Mutter. Ihre katholische Erziehung impfte ihr ein permanent schlechtes Gewissen ein, das sich in verlässlichen Abständen meldete, weil sie ihrer Mutter nicht erzählt hatte, dass Patrick bei ihr wohnte. Was eigentlich gar kein Problem war, denn ihre Mutter besuchte sie äußerst selten. Maggie griff nach ihrem Telefon und sah auf die Nummer im Display.
»Hallo, Detective Racine«, begrüßte sie die Anruferin.
»Hey, tut mir leid, dass ich dich wecke.«
»Nein, ist okay. Ich bin noch auf.«
Maggie staunte. Es passte nicht zu der brüsken Julia Racine, sich für irgendetwas zu entschuldigen. Für gewöhnlich war einiges nötig, bis die örtliche Leiterin der Mordkommission ihre weiche Seite zeigte. Maggie hatte das erst wenige Male erlebt.
»Ich habe Tully bereits angerufen. Unser Glühwürmchen war wieder aktiv«, sagte Racine hastig. »Und diesmal hat er uns eine Leiche dagelassen.«