Vor langer, langer Zeit zeigte mir Elinor Mompellion einmal ein Gedicht, in dem das Meer mit einer grünen Weide verglichen wurde. Ich war davon hingerissen, weil es eine Frau geschrieben hatte. Zur damaligen Zeit hatte ich keine Ahnung, dass eine Frau so etwas machen könnte, nämlich Gedichte schreiben. In meiner Begeisterung lernte ich es auswendig und kann es immer noch rezitieren:
… Dem kühlen Wiesengrunde gleicht die See,
mit ihrem Grün, das salzge Tiefe zeugt.
Wenn Schiffe langsam sachte ziehn des Wegs darauf,
dann singt der Seemann, Hirten gleich, und spielet auf…
Damals hielt ich das für ganz besonders schlau. Ich hatte ja noch nie den Ozean gesehen. Jetzt aber, da ich meine Tage damit zubringe, aufs Meer hinauszustarren, ist mir nur allzu klar, dass Margaret Cavendish keine Ahnung davon hatte.
Ich habe hier mein eigenes Zimmer, wo ich studieren oder in Ruhe meiner Arbeit nachgehen kann, weit weg vom endlosen Geplapper und den lärmenden Kindern im Frauentrakt. Groß ist dieses Haus und sehr prächtig. Es ist in die Mauern der Zitadelle eingelassen, die hoch oben auf dem Berg liegt, der unmittelbar hinter dem weiten Bogen des Golfs aufsteigt. Ich habe ein kreisrundes Zimmer mit einem vergitterten Fenster. Von hier aus schaut man auf den Garten hinaus, hinter dem sich die Dächer der Unterstadt wie Bienenkörbe erstrecken, bis der Blick schließlich auf die endlose Weite des sonnengefleckten Wassers hinschweift. Von hier aus kann ich beim Entladen der Schiffe aus Venedig und Marseille und weit ferneren Häfen zusehen: Glas und Zinnwaren und Teppiche. Und wie sie für ihre Rückfahrt eine Fracht aus Goldstaub, Straußenfedern und Elfenbein einladen. Manchmal aber auch die traurigste aller Ladungen: reihenweise hoch gewachsene Afrikaner, in Ketten gelegt, zu Sklaven bestimmt. Mich dauert ihre Schreckensfahrt, und ich wünsche ihnen wenigstens milde Winde.
Was mich betrifft, so erwarte ich mir keine weiteren Reisen mehr. Und wenn doch, dann wird es sicher nicht auf dem Seeweg geschehen. Die Wellen, die mich von England forttrugen, glichen nicht jenen gleichmäßigen, furchenartigen Erhebungen, wie sie Margaret Cavendish in ihrem Gedicht beschrieb. Zerklüftete Felsen waren sie, aus einer Albtraumlandschaft. Einen Augenblick tiefe Schluchten, im nächsten wieder himmelhohe Klippen ohne Wurzeln in der Erde. Das wälzte sich herum und überschlug sich und stand niemals still. Tage und Nächte stürzte unser Schiff über ihre Kämme wie ein Kinderschlitten im wilden Tanz über einen vereisten Hang. Während die Planken stöhnten und die Seeleute über zerfetzte Segel und gesplisste Taue fluchten, atmete ich den Gestank von Teer und Erbrochenem und erwartete jeden Augenblick meinen Tod. Offen gestanden war ich so oft krank, dass ich ihn herbeisehnte. Nur der Gedanke an das Kind und meine Entschlossenheit, es am Leben zu halten, gaben mir den Willen zum Weitermachen.
Aber ich möchte mich nicht länger mit den großen Schwierigkeiten aufhalten, die wir auf unserem Weg hierher überwinden mussten. Nur eines möchte ich noch kurz sagen: Anteros trug mich mühelos nach Bakewell, wo ich für das Neugeborene eine Amme einstellte, ehe wir mit Mister Pulfer und seiner Ladung Blei aufbrachen. Als wir aber an jene Abzweigung kamen, die uns zur Heimat der kleinen Elinor gebracht hätte, zog ich Michael Mompellions Empfehlungsschreiben hervor, zerriss es in dutzende kleine Fetzen und schaute zu, wie sie der Wind verwehte. Mister Pulfer erklärte ich, ich wolle ihn nicht damit belasten, uns dorthin zu begleiten, sondern stattdessen mit ihm zum Hafen weiterreisen. Selbst heute weiß ich nicht wirklich, was mich diesbezüglich so eigensinnig gemacht hatte, aber damals schien es mir gut zu sein, jede Bindung an mein altes Leben zu kappen. Eines war mir plötzlich klar: Ich wollte nicht Tag für Tag an einem weiteren Ort leben, wo auch Elinor gelebt hatte. Schließlich war ich nicht Elinor, sondern Anna. Es war Zeit, einen Ort zu suchen, wo ich gemeinsam mit dem Kind etwas ganz Neues aufbauen könnte.
In einem Gasthaus am Hafen belegte ich ein Zimmer. In den nächsten Tagen sollte mich mein übereilter Entschluss noch öfters reuen, denn die Entscheidung, welchen Kurs ich einschlagen sollte, erwies sich als überaus schwierig. Während dieser Zeit schlief ich kaum. Unser Zimmer lag unmittelbar neben einem Glockenturm, der stündlich schlug. Jeder Schlag half mir lediglich dabei, die Zeit zu zählen, die ich wach gelegen war und mir den Kopf über unsere Zukunft zerbrochen hatte. Wenn ich dann kurz vor Sonnenaufgang vor lauter Erschöpfung endlich eingeschlafen wäre, wachten die Möwen auf und schrien in den Himmel, als stünde bei Sonnenaufgang der Weltuntergang bevor.
Letztlich kam die Entscheidung weniger von mir als von außen. Gerade als die Möwen wieder im Chor zu schreien begannen, schlug der Gastwirt, offensichtlich ein anständiger Mensch, gegen meine Türe. Er war sehr aufgeregt und sagte, ein junger Edelmann habe sich schon in der ganzen Stadt nach meinem Aufenthaltsort erkundigt. »Nun ärgern Sie sich mal nicht drüber, aber der tönt überall ’rum, Sie hätten seiner Familie Juwelen geklaut. Ich hab das ja nicht geglaubt, müssen Sie wissen. Wer stellt sich schon mit seinem eignen Namen vor, wenn er ’n Dieb ist. Und dann noch etwas Komisches: Besonders nach Ihrem Kind hat er immer weiter gebohrt. Da schien er viel wilder drauf zu sein als nach den Klunkern. Ich misch mich ja nicht gern in die Sachen meiner Gäste, Mistress, aber das is’n ungemütlicher Kerl. Und wenn ich Sie wäre, würd ich das nächste Schiff nehmen, egal, welches, und egal, wohin.«
Zufälligerweise, oder besser gesagt passenderweise, war eine Karacke mit einer Ladung Bleibarren aus den Gruben am Peak, die für die Glasmacher von Venedig bestimmt waren, das einzige Schiff, das an jenem Tag mit der Vormittagsflut auslief. Die Lagunenstadt war mir kein Begriff, und die heruntergekommene Karacke, die bedrohlich am Dock aufragte, wirkte nicht sehr seetauglich. Aber, wie schon gesagt: Ich hatte keine Wahl. Also bezahlte ich einen Teil des Bradfordschen Goldes für eine kleine Kabine. Noch mehr benötigte ich für die Amme und ihr Gejammer, mit einer Seereise hätte sie nicht gerechnet. Und damit reiste ich aus meiner Heimat ab: auf einem Frachter, der genau mit jenem Blei voll geladen war, über das meine Füße ihr Leben lang gelaufen waren. Während ich mit dem Säugling in jenem schwankenden Bett hin und her schaukelte, verlor ich schon bald jedes Gefühl für Tag und Nacht. Ich dachte schon, unsere Geschichte würde hier enden, wenn das meergrüne Wasser durch die Planken bricht und uns hinunter in die Tiefe reißt.
Doch dann erwachte ich eines Morgens bei glatter See. Die warme Luft duftete nach Kardamom. Ich nahm das Kind und ging an Deck. Nie werde ich das blendende Sonnenlicht vergessen, das sich an weißen Mauern und goldenen Kuppeln brach. Nie den Anblick jener Stadt, die sich über den Berg ergoss und die breite, blaue Bucht umfing. Ich erkundigte mich beim Kapitän nach dem Namen dieses Ortes, und er erklärte mir, wir seien im Hafen von Oran gelandet, der Heimat andalusischer Araber.
In meinem Gepäck befand sich Elinors Buch, eine der wenigen Habseligkeiten, die ich mitgebracht hatte. Jener kostbare letzte Band von Avicennas Kanon der Medizin. Trotz seines Gewichts hatte ich ihn zur Erinnerung an sie und an die Arbeit, die wir gemeinsam leisten wollten, eingepackt. Eines Tages werde ich Latein lesen können und den gesamten Inhalt dieses großartigen Buches auswendig lernen, dachte ich mir. Voll Bewunderung hatten Elinor und ich festgestellt, dass ein Ungläubiger schon vor so langer Zeit so viel wunderbares Wissen besessen hatte. Dann musste ich an all die Dinge denken, die die muselmanischen Ärzte seit seinem Erscheinen entdeckt haben könnten. Plötzlich hatte ich den Eindruck, mich hätte es nur deshalb in diese sonnendurchflutete Stadt verschlagen, damit ich die Möglichkeit hätte, mehr über jene Kunst zu lernen, zu der ich mich berufen fühlte. Ich zahlte die Amme aus und sorgte für ihre Rückfahrt. Vermutlich könnte ich in so einer großen Stadt eine neue finden.
Mit Erzählungen von barbarischen Piraten und verbannten Spaniern versuchte der Kapitän des Schiffes, mir das Ausschiffen auszureden. Als er aber sah, dass mein Entschluss feststand, half er mir liebenswürdigerweise. Der Kapitän hatte von Ahmed Bey gehört, was nicht weiter verwunderlich war, denn seine Schriften und Reisen hatten ihn zum berühmtesten Arzt im Barbarenland gemacht. Angesichts meiner Umstände und Situation war eines allerdings wirklich erstaunlich, wenigstens für mich: wie schnell der Bey den Entschluss fasste, mich aufzunehmen. Erst später, als wir einander besser kannten, erzählte er mir, er sei gerade vom Mittagsgebet gekommen, in dem er Allah angerufen hatte, er möge sich eines müden alten Mannes erbarmen und ihm eine Hilfe senden. Anschließend hatte er die Frauengemächer betreten und mich dort beim Kaffeetrinken mit seinen Frauen vorgefunden.
Heute bin ich eine seiner Frauen, wenn auch nicht körperlich, so doch dem Namen nach. Er meinte, das sei der einzige Weg, wie er mich in seinen Haushalt aufnehmen könnte. Damit würde ich hier akzeptiert werden. Da ich offensichtlich keine Jungfrau mehr war, benötigte der Mullah nicht die Einwilligung eines männlichen Vormunds. Somit war dem Ritus auf einfache Weise Genüge getan. Seither haben wir oft über den Glauben gesprochen: über jenen unerschütterlich festen, der dem Doktor täglich jeden Augenblick als Maßstab dient, und jenes dürftige zerfledderte Etwas, das von meinem eigenen Glauben übrig blieb. Mich erinnert meiner an die ausgeblichenen und durchschossenen Fetzen eines Banners. Sollte es je ein Emblem getragen haben, so konnte nun keiner mehr sagen, was das gewesen war. Ich habe Ahmed Bey erklärt, ich könnte nicht behaupten, dass ich noch einen Glauben hätte. Hoffnung vielleicht schon. Wir sind übereingekommen, dass dies genügen muss.
Meiner Ansicht nach ist der Bey der weiseste und liebenswürdigste Mensch, den ich je gekannt habe, ganz sicher aber der behutsamste und freundlichste. Überschwänglich lobte er meine Fähigkeiten, die ich zu ihm mitgebracht habe. In den vergangenen Jahren habe ich von ihm so viel gelernt, dass mir eines klar ist: Dies war nur die höflich verbrämte Art seines Volkes, sich auszudrücken. Ahmed Beys Medizin ist nicht darauf angewiesen, dem Körper mit schmerzhaften Untersuchungen und glühenden Schröpfköpfen zuzusetzen. Seine Methode dient der Kräftigung und Stärkung, wobei er gleichzeitig ununterbrochen den gesunden Körper und die Art der Krankheit studiert. Wie sie sich ausbreitet, wen sie befällt und wie sie verläuft.
Vermutlich hatte zur Zeit meiner Ankunft seine Verzweiflung ein gewisses Ausmaß erreicht. Muselmanische Frauen werden so strikt gehalten, dass sie beim Anblick eines fremden Mannes an ihrem Krankenlager vor Angst zittern. Seit vielen Jahren hatte ihn die Zahl jener Ehemänner zur Verzweiflung getrieben, die lieber ihre Frauen sterben ließen, als ihn zu Hilfe zu rufen. Deshalb hätte er vermutlich jede normal intelligente Frau genommen, die bereit war, von ihm zu lernen. Ich habe sein Vertrauen dadurch vergolten, dass ich viele heil durch ihre Wehen gebracht und ihnen gezeigt habe, wie sie ihre Gesundheit und die ihrer Kinder erhalten können. Mit meinen zukünftigen intensiven Studien hoffe ich, hier eine würdige Lebensarbeit zu erzielen. Inzwischen lese ich Avicenna oder Ibn Sina, wie es richtig heißen muss. Allerdings lese ich seine Schriften nicht, wie ich mir immer ausgemalt hatte, auf Lateinisch, sondern auf Arabisch.
Lange hat es gedauert, bis sich meine Augen an die Helligkeit dieses Ortes gewöhnt hatten. Auf jemanden, der so lange in einer Nebelwelt gelebt hat, können die grellen Farben hier blendend wirken. Hier gibt es Farben, die ich niemandem zu beschreiben wüsste, der sie nicht selbst gesehen hat. Wer vermag zu sagen, welche Farbe eine Orange hat, wenn er die Frucht an sich nicht gesehen hat? Und jene Früchte, Kaki genannt, die an den Zweigen unterhalb meines Fensters hängen, stechen manchmal so leuchtend gegen den blauen Himmel ab, dass ich behaupten möchte, ihre Farbe erinnere an frisch geschlagenes Kupfer, das im Sonnenschein aufflammt. Ein andermal erinnert ihre Schattierung eher an ein goldenes Rosa, das den leicht glühenden Wangen von Ahmed Beys Enkelkindern gleicht, wenn sie im Frauenhof herumrennen und -toben.
Hier gibt es jede Farbe in Hülle und Fülle, nur kein Grün. Gras gibt es nicht, und die Palmwedel sind mit einer feinen Staubschicht bedeckt, die alles mit einem staubiggelben Mantel umhüllt. Wahrscheinlich ist es das Grün, das ich vielleicht am meisten vermisse. Eines Tages entdeckte ich in Ahmed Beys Bibliothek ein großes Buch mit einem fein gegerbten Ledereinband, der genau in der Farbe unserer heimischen Sommerwiesen eingefärbt war. Dieses Buch nahm ich mit in mein Zimmer und legte es so auf den Tisch, dass meine Augen darauf Ruhe fanden. Ich hatte keine Ahnung, dass es sich um das Heilige Buch des Beys handelte, das Ungläubige nicht berühren dürfen. Es war das einzige Mal in drei Jahren, dass er mich scharf tadelte. Nachdem ich es ihm erklärt hatte, entschuldigte er sich und schickte mir einen Seidenteppich, der über und über mit jenem großen Baum verziert war, den die Araber Anisa nennen, Baum des Lebens. Seine verästelten Blätter und Zweige schimmern grüner als alles, was Elinor in jenem wunderschönen Garten unserer Vergangenheit pflanzen konnte.
Wie meine Augen, so mussten auch meine Ohren die andersartige Lebensweise dieses Ortes lernen. Statt meiner früheren Furcht vor der Stille habe ich gelernt, mich nach ihr zu sehnen. Denn hier herrscht Tag und Nacht Lärm. Die Straßen wimmeln von Menschen, unaufhörlich ertönt das Geschrei der Hausierer. Jetzt, bei Sonnenuntergang, hört man von hunderten von hohen Minaretten die eindringlich-beschwörenden Rufe der Muezzins. In der Stunde nach dem Abendgebet gehe ich am liebsten in der Stadt spazieren, denn dann wird die Luft langsam kühler, und alles verläuft weniger hektisch. Inzwischen kennen mich viele Frauen und grüßen mich, wenn ich durch die Straßen gehe. Sie kennen mich unter dem Namen meines Erstgeborenen, wie es bei ihnen so Sitte ist. Deshalb heiße ich hier nicht mehr Anna Frith, sondern Umm Jam-ee – Mutter von Jamie. So bleibt mein kleiner Junge in Erinnerung, und das gefällt mir.
Ich brauchte lange, um einen Namen für das Bradford-Mädchen zu finden. Vermutlich hatte ich ihr während jener schrecklichen Seereise deshalb keinen Namen gegeben, weil ich überzeugt war, wir würden nicht überleben. Als wir hierher kamen, schlug Ahmed Bey Aisha vor, sein Wort für »Leben« . Später erfuhr ich, dass die Frauen auf dem Markt damit auch »Brot« bezeichnen. Ein passender Name, denn sie hat mich aufrechterhalten.
Jetzt erwartet sie mich im Frauenhof. Sie schleift ihren weißen Haik durch den Staub, als sie auf mich zuspringt, schnurstracks durch den kleinen Garten, wo Maryam, Ahmed Beys älteste Frau, Pflanzen zum Parfümieren ihres Tees kultiviert. Plötzlich duftet es ganz intensiv nach zerdrückter Minze und Zitronenthymian. Obwohl Maryam einen ganzen Schwall von Scheltworten loslässt, verraten die Fältchen in ihrem tätowierten Gesicht leise Belustigung. Ich lächle der alten Frau zu und grüße sie mit Salam, ehe ich nach meinem eigenen Schleier greife, der an einem Haken neben der Tür zur Straße stets bereithängt.
Dann schaue ich mich nach der anderen um. Sie versteckt sich hinter dem blau gefliesten Brunnen. Mit einer Neigung ihres Kopfes weist mich Maryam darauf hin. Ich tue so, als hätte ich sie nicht gesehen, und spaziere direkt an ihr vorbei, wobei ich ihren Namen rufe. Dann drehe ich mich blitzschnell um und reiße sie in meine Arme. Sie gluckst vor Begeisterung. Ihre weichen Händchen tätscheln meine Wangen, während sie mir feuchte Küsse gibt.
Hier habe ich sie geboren, im Harem. Ahmed Bey half bei ihrer Entbindung. Für ihren Namen brauchte ich seine Unterstützung nicht. Als ich ihr den kleinen Haik über den Kopf werfe, zieht sie ihn so gekonnt zurecht, dass ich nur noch ihre großen grauen Augen sehen kann. Sie hat die Augen ihres Vaters.
Wir winken Maryam zum Abschied zu und schieben die schwere Teakholztüre auf. Die warme Luft packt unsere Schleier und bläht sie hinter uns auf. Aisha ergreift eine Hand, Elinor umklammert die andere, und dann stürzen wir uns gemeinsam ins dichte Gewühl unserer Stadt.
Dieses Buch entsprang der Phantasie, die sich an der wahren Geschichte der Dorfbewohner von Eyam in Derbyshire entzündet hat.
Meinen ersten Besuch in Eyam im Sommer 1990 verdanke ich reinem Zufall. Damals hatte ich als Nahostkorrespondentin für das Wall Street Journal in London gearbeitet. Zwischen Aufenthalten in heißen Problemzonen wie Gaza und Bagdad versuchte ich, draußen in der englischen Landschaft wieder zu mir zu kommen. Während einer dieser Wanderungen, von den Engländern euphemistisch »Spaziergänge« genannt, stieß ich auf einen faszinierenden Wegweiser, der auf ein PESTDORF aufmerksam machte. In der dortigen Pfarrkirche St. Lorenz entdeckte ich auf einer Schautafel die leidvolle Geschichte der Dorfbewohner und ihres außergewöhnlichen Entschlusses.
Dieser entsetzliche Bericht berührte mich so sehr, dass er mir nicht mehr aus dem Sinn ging. Während ich im Laufe der nächsten Jahre über die Tragödien unserer heutigen Zeit berichtete, die sich zum Beispiel in Bosnien oder Somalia abspielten, drehten sich meine Gedanken immer wieder um Eyam, bis mir klar wurde, dass ich eigentlich nur einen Wunsch hegte: diese Geschichte zu erzählen. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als ich meinen Wohnsitz in Virginia auf dem flachen Land aufschlug, in einem Dorf, das ungefähr die Größe von Eyam hatte. In diesem Umfeld nahm die Geschichte der Quarantäne und ihrer Folgen immer konkretere Züge an. Ich wurde nachdenklich. Was würde in jemandem vorgehen, der sich zu einer solchen Entscheidung durchringt und letztlich feststellen muss, dass binnen eines Jahres zwei Drittel seiner Nachbarn tot sind? Wie würden unter diesen Umständen der Glaube, familiäre Beziehungen und Gesellschaftsstrukturen überleben?
Im vorletzten Sommer bin ich für tiefer gehende historische Recherchen wieder nach Eyam gefahren und habe dabei die Bilder der kargen, aber schönen Landschaft des Peak Districts erneut auf mich wirken lassen. Ich habe lange mit dem Dorfchronisten John G. Clifford gesprochen, Verfasser des informativen Buchs Die Pest in Eyam 1665–1666. Dabei habe ich auch das kleine, aber hervorragend betreute Dorfmuseum besucht. William Styron schrieb einmal, ein Verfasser von historischen Romanen arbeite dann am besten, wenn er historische Dokumente »häppchenweise« zu sich nähme. Obwohl über Eyam eine Menge geschrieben worden ist – Bücher, Theaterstücke, ja sogar eine Oper –, gibt es nur spärlich Fakten. In Eyam selbst wird noch immer über spezielle Themen diskutiert: Wie groß war die Dorfbevölkerung vor der Pest? Wie kam die Krankheit hierher? Wie viele sind gestorben? Gleichzeitig gibt es einen üppigen Anekdotenschatz, der über die Zeitläufe hinweg tradiert wurde und aus dem ich mich reichlich bedient habe: die Rolle, die ein von Flöhen wimmelndes Tuch als Überträger der Pest gespielt hat; der habgierige Totengräber, der einen Mann lebendig verscharrt hat; der kluge Hahn, der im Voraus wusste, wann die Gefahr endgültig gebannt war.
Für alles Übrige habe ich mich in medizinische Traktate, Tagebücher und Predigtsammlungen aus dem 17. Jahrhundert sowie in Texte zur Sozialgeschichte vergraben. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich je ein Buch wie die Geschichte des Bleibergbaus in den Penninen besitzen würde, das nun neben anderen Wälzern in meiner Bibliothek steht. Anys Gowdies »Beichte« lehnt sich an den Bericht eines schottischen Hexenprozesses an, der in der mitreißenden Dokumentensammlung History Laid Bare von Richard Zack über Sexualität zu finden ist. (Zwischen der Gowdie-Beichte und vielen ähnlichen, die man unter Folterqualen abgetrotzt hatte, gibt es einen Unterschied: Die Angeklagte behauptete höchst beredt, sie hätte den Geschlechtsverkehr mit dem Teufel in vollen Zügen genossen. Meistens wurde nämlich ruchbar, Satan sei ein lausiger Liebhaber gewesen.)
Einige Dorfbewohner von Eyam habe ich zwar namentlich genannt, aber nur dann, wenn meine Erzählung nicht allzu sehr von bekannten Lebensdetails abweicht. Wenn etwas meiner Phantasie entsprungen ist, habe ich bewusst den Namen geändert oder einen gänzlich neuen verwendet. Zum Beispiel spiegeln sich in der Figur des Michael Mompellion nur die positiven Charakterzüge und Taten des echten Vikars von Eyam wider, jenes heldenhaften William Mompesson, der an einen Heiligen erinnert. Die dunkle Seite, die ich seinem fiktiven Abbild gegeben habe, ist reine Erfindung. William Mompesson und seine Frau Catherine hatten zwei Kinder, die er aus Eyam fortschaffen ließ, noch ehe die Quarantäne beschlossene Sache war. Catherine blieb aus freien Stücken, half den Kranken und starb selbst an der Pest. Nach ihrem Tod schrieb William Mompesson in einem seiner Briefe: »Meine Magd erfreute sich weiterhin guter Gesundheit, was sich als Segen erwies. Hätte sie verzagt, wäre es mir übel ergangen …« Ich versuchte, mir vorzustellen, wer diese Frau gewesen sein mag, wie sie gelebt haben könntej und was sie empfunden haben mag. Und damit hatte mein Roman seine tragende Stimme gefunden.
Der englische Titel des Buches fiel mir ein, als ich versuchte, Worten nachzuspüren, wie sie Anna gehört haben könnte, mit allen damit verbundenen religiösen Untertönen. Einem weltlich geprägten Menschen wie mir kam es schon immer merkwürdig vor, dass Dryden sich bei seiner Beschreibung des Schreckensjahres 1666 für den lateinischen Ausdruck »Annus mirabilis« entschieden hat. Für ein Jahr, dem die Pest, der Große Brand (von London, A. d. Ü.) und der Krieg mit Holland ihre Stempel aufgedrückt hatten. Aber Anna hätte sicher fest daran geglaubt, dass Gottes Wege wundersam sind und voller Geheimnisse. Darüber hinaus wären ihr auch die Worte Gottes an Moses vertraut gewesen: »Und diesen Stab nimm in deine Hand, mit dem du Zeichen tun sollst.«
Geraldine Brooks