Nora Roberts
Fliedernächte
Roman
Deutsch
von Uta Hege
Nora Roberts
Fliedernächte
Roman
Deutsch
von Uta Hege
Für Suzanne,
die perfekte Hotelmanagerin
Verbessern heißt verändern;
Perfekt sein heißt demnach, sich oft verändert
zu haben.
– Winston Churchill
1
Leise ächzend und stöhnend machte sich das alte Gebäude für die Nacht bereit. Seit über zwei Jahrhunderten ragten die steinernen Mauern am Marktplatz von Boonsboro in den sternenübersäten Himmel. Sogar an der belebten Kreuzung war inzwischen Stille eingekehrt, die Straßen lagen im Wechselspiel von Licht und Schatten da, und die an der Hauptstraße gelegenen Läden und Wohnungen dösten friedlich in der milden Sommernacht.
Sie sollte dasselbe tun, dachte Hope. In ihre Wohnung gehen, sich in ihrem Bett ausstrecken. Schlafen.
Das wäre vernünftig, und eigentlich war sie eine vernünftige Person, doch trotz des langen Arbeitstags war sie nicht müde. Zudem musste sie am nächsten Morgen nicht allzu früh raus, weil Carolee sich um das Frühstück für die Gäste kümmern würde.
Vor allem war kaum Mitternacht vorbei. Früher, während ihrer Zeit in Washington, hatte sie es kaum jemals so früh ins Bett geschafft. Kein Wunder, denn beim Wickham im Stadtteil Georgetown handelte es sich um ein erheblich größeres Hotel, dessen Leitung mehr Anforderungen stellte als ein Haus wie das BoonsBoro Inn, ein durchaus exquisites, luxuriöses Boutiquehotel, von Größe und Service indes eher einem Bed & Breakfast vergleichbar.
Noch etwas war anders: Wenn sie in der Hauptstadt spätabends Lust auf Zerstreuung verspürte, gab es dort genug Möglichkeiten. In einer Kleinstadt wie Boonsboro hingegen nicht. Am Fuß der Blue Ridge Mountains in Maryland gelegen, bot der Ort zwar jede Menge Geschichtliches wie Schlachtfelder des amerikanischen Bürgerkriegs und Zeugnisse der frühen Besiedlung durch englische Auswanderer, aber ein Nachtleben suchte man hier vergebens.
Hope setzte große Hoffnungen auf die Eröffnung des neuen Restaurants mit angeschlossener Bar, das ihre Freundin Avery MacTavish plante, und diesem rothaarigen Energiebündel traute sie so einiges zu. Beispielsweise einen Laden auf die Beine zu stellen, wo man abends gerne hinging, um einen Cocktail oder einen Wein zu trinken. Immerhin hatte sie es geschafft, ihre ebenfalls am Markt gelegene Pizzeria zum gefragtesten Familienlokal der Gegend zu machen. Jetzt wollte sie sich zusätzlich an ein Abendrestaurant der gehobenen Kategorie einschließlich Bar wagen. Avery brannte geradezu darauf, es allen zu beweisen – dabei war bislang immer Hope als die Ehrgeizige angesehen worden.
Sie schaute sich in der Hotelküche um, in der nichts fehlte, was zu einer funktionalen Küchenausstattung gehörte, und die trotzdem eine warme, behagliche Atmosphäre ausstrahlte. Für das Frühstück war alles vorbereitet, sodass Carolee am Morgen keine zusätzliche Zeit mehr vertrödeln musste. Die Gäste hatten sich ausnahmslos in ihre Zimmer zurückgezogen.
Alles, was zu den Pflichten einer Geschäftsführerin gehörte, war erledigt. Der Papierkram ebenso wie die letzte Runde durchs Haus, um nachzusehen, ob alle Türen abgeschlossen waren oder irgendwo benutztes Geschirr herumstand. Jetzt blieb ihr eigentlich nichts mehr, als nach oben zu gehen in ihre kleine Wohnung.
Nur verspürte sie dazu keinerlei Neigung.
Stattdessen schenkte sie sich ein Glas Rotwein ein, setzte sich an einen Tisch im Frühstücksraum und überdachte den Tag. Alles Routine, keine besonderen Vorkommnisse. Seufzend erhob sie sich nach einer Weile, füllte ihr Glas neu, schaltete den Kronleuchter aus, ehe sie mit ihrem Schlummertrunk in den ersten Stock stieg.
Gewohnheitsmäßig schaute sie noch einmal in die Bibliothek. Man konnte nie wissen, ob es sich nicht ein Gast hier zu später Stunde mit einem Buch und einem Whiskey gemütlich gemacht hatte.
Nein, alles ruhig.
Aus Richtung des Nick-und-Nora-Zimmers war ebenfalls nichts zu hören. Max und Donna Vargas schliefen in dem eleganten Art-déco-Ambiente. Sie waren seit siebenundzwanzig Jahren verheiratet, und die Übernachtung im BoonsBoro Inn war ein Geschenk der Tochter zu beider Geburtstage gewesen.
Ein Stockwerk höher verbrachte ein ganz junges Pärchen, Troy und April, die Hochzeitsnacht in der Westley-und-Butterblume-Suite, die sich wegen ihrer romantisch-verspielten Ausstattung bei frisch Verheirateten großer Beliebtheit erfreute.
Hope zog die Balkontür auf und trat in die Dunkelheit hinaus.
Ihr Weinglas in der Hand lehnte sie sich ans Geländer der breiten hölzernen Veranda und warf einen Blick über den Marktplatz auf die Wohnung, die direkt über dem Vesta lag. Sie war unbewohnt, seit Avery bei Owen wohnte, und Hope vermisste es bisweilen, einfach mal kurz über die Straße zu gehen und bei der Freundin vorbeizuschauen. Auf einen kleinen Schwatz oder abends, zum Ausklang des Tages, auf einen Schluck Wein.
Trotzdem fand sie es richtig, wie es jetzt war. Zweifellos gehörte Avery zu Owen Montgomery, in den sie schon als Schulmädchen verliebt gewesen war. Im Mai würden die beiden heiraten – natürlich im BoonsBoro Inn, genau wie im letzten Frühjahr ihre gemeinsame Freundin Clare, die sich ebenfalls einen Montgomery ausgesucht hatte, Owens Bruder Beckett.
Hope sah auf die kleine Buchhandlung neben der Pizzeria. Das war Clares Reich. Sie hatte sie eröffnet, als sie als ganz junge Witwe eines im Irak gefallenen Soldaten in ihre Heimatstadt zurückkehrte: mit zwei kleinen Kindern an der Hand und einem dritten im Bauch. Es war ein großes Wagnis gewesen, sich selbstständig zu machen, doch der Erfolg gab ihr recht. Jetzt war sie Mrs. Montgomery und erwartete im Januar ihr viertes Kind. Auch Clare wohnte inzwischen etwas außerhalb der Stadt.
Seltsam, dachte Hope, dass sie als Einzige hier die Stellung hielt, obwohl sie gar nicht aus Boonsboro stammte. Die beiden Freundinnen hatten sie überredet herzukommen und die Leitung des neuen Hotels zu übernehmen.
Das war vor nicht ganz einem Jahr gewesen. Anfangs hatten sie sich häufig abends noch auf die Schnelle getroffen, und das vermisste Hope bisweilen.
Für sie alle hatte sich im letzten Jahr unglaublich viel verändert.
Bis dahin war sie selbst eine dynamische Jungmanagerin in Washington gewesen mit einem erstklassigen Job und einer scheinbar nicht weniger erstklassigen Beziehung zum Juniorchef des Wickham, mit exzellenten beruflichen wie privaten Perspektiven also. Und ja, sie hatte sich in dem renommierten Hotel wohlgefühlt, mochte seinen Arbeitsrhythmus und sein Ambiente und genoss das vollste Vertrauen des Seniorchefs.
Alles lief super, bis dieser Mistkerl Jonathan plötzlich mit einer anderen daherkam. Zugegeben: Eine offizielle Verlobung gab es zu keiner Zeit, ebenso keine verbindlichen Pläne, aber sie lebten jahrelang so, als müsse darüber gar nicht mehr diskutiert werden. Wo immer sie gemeinsam hingingen, trat sie als die Frau an seiner Seite auf.
Eine feste Größe. Der Rest schien Formsache zu sein.
Und dennoch war da bereits während der letzten Monate ihres Zusammenseins eine andere Frau – obwohl entweder Hope nach wie vor regelmäßig in seinem Bett schlief oder er in ihrem. Ein verwöhntes Luxusgirl der Ostküstenaristokratie, das gar nicht auf die Idee käme, man könnte sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen.
Jonathan hatte es ihr überhaupt erst kurz vor der offiziellen Verlobung mitgeteilt, und zwar als sie gemeinsam splitternackt im Bett lagen. Und war obendrein völlig schockiert, weil sie ihn mit zornbebender Stimme zum Teufel schickte. Er schien davon auszugehen, dass es mit ihnen einfach so weiterging, nur dass sie jetzt die heimliche Geliebte spielen müsste.
Eins führte zum anderen, und Hope begann ihre Prioritäten zu überdenken, konnte sich plötzlich ein Leben in dieser Provinzstadt in Maryland vorstellen, war zufrieden mit der Leitung dieses kleinen Hotels und verbrachte ihre knappe Freizeit nicht mehr mit der Planung exklusiver Abendessen oder mit der Suche nach perfekten Kleidern und perfekten Schuhen für die nächste große Gala.
Fehlten ihr all diese Dinge? Die Boutiquen und die Restaurants, die wunderbaren hohen Räume und die von Blumenbeeten gesäumte Terrasse des Stadthauses aus dem neunzehnten Jahrhundert, in dem sie gewohnt hatte? Vermisste sie den Glanz, den die Ausrichtung großer Bankette und Empfänge für politische Größen oder andere bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit sich brachte?
Manchmal schon, musste sie zugeben. Doch bei Weitem nicht so oft oder in dem Maße, wie sie anfangs befürchtet hatte. Zu groß war die Erleichterung, all die unschönen Begleitumstände der letzten Zeit in Georgetown hinter sich lassen zu können. Überdies hatte sie mittlerweile festgestellt, dass sie sich in Boonsboro nicht nur zufrieden, sondern glücklich fühlte. Dass sie nicht nur einen neuen Arbeitsplatz, sondern ein Zuhause gefunden hatte.
Das verdankte sie in erster Linie ihren beiden Freundinnen Avery und Clare sowie den Montgomerys. Allen voran Justine, der Mutter der Brüder, die sie damals vom Fleck weg engagierte.
Und sie selbst brauchte nur einen einzigen Tag Bedenkzeit, um sich für dieses kleine Städtchen in Maryland zu entscheiden. Obwohl sie seinerzeit noch mit Philadelphia, wo sie aufgewachsen war, oder einer anderen Großstadt liebäugelte. Von null auf hundert? Eher von null auf hundertfünfzig, dachte sie. Hope kam zugute, dass sie sich seit jeher mühelos den Gegebenheiten anpassen konnte.
Gemächlich schlenderte sie über den Balkon, prüfte, ob die Hängepflanzen in den Ampeln genügend Wasser hatten, und rückte einen der Bistrostühle zurecht. »Ich liebe jeden Winkel dieses Hauses«, murmelte sie leise vor sich hin.
Im selben Moment ging lautlos die Balkontür des Elizabeth-und-Darcy-Zimmers auf, und der süße Duft von Geißblatt hüllte sie ein.
Offenkundig gab es außer ihr noch jemanden, der keine Ruhe fand. Aber schliefen Geister überhaupt jemals? Lizzy würde es ihr kaum verraten, dachte Hope resigniert.
Der Geist, den Beckett Montgomery auf diesen Namen getauft hatte, weil er sich bevorzugt in dem einer Elizabeth gewidmeten Zimmer aufhielt, ignorierte Hope nach Kräften, seit sie in das Hotel eingezogen war. Bei anderen verhielt Lizzy sich weniger zurückhaltend.
Lächelnd nippte Hope an ihrem Wein.
»Was für eine wunderbare Nacht. Ich hab mir gerade überlegt, wie viel in meinem Leben sich verändert hat und dass ich bei genauerer Betrachtung wirklich froh darüber bin«, sagte sie scheinbar zu sich selbst, hoffte indes auf eine Reaktion Lizzys.
Inzwischen wussten sie nach ausgiebigen Recherchen, dass es sich vermutlich um ein junges Mädchen namens Eliza Ford handelte, das in diesem Haus gestorben war, aus New York stammte und weitläufig mit Hope verwandt war.
Und mit Familienmitgliedern sollte man stets höflich und nett umgehen.
»Wir haben ein frisch verheiratetes junges Paar im W&B. Die beiden machen einen so glücklichen Eindruck – sie haben ihr ganzes Leben noch vor sich. Das Paar in N&N dagegen ist bereits sehr lange verheiratet. Sie feiern gerade den achtundfünfzigsten Geburtstag der Frau. Sie sind glücklich, weil sie wissen, dass sie schon so viele Jahre gut und zufrieden zusammenleben. Sie kommen einem vor, als sei ihre Beziehung sehr gefestigt und sehr berechenbar. Trotzdem möchte ich, dass auch für diese beiden der Aufenthalt in unserem Haus ein besonderes Erlebnis wird.«
Obwohl es weiter still blieb, spürte Hope ganz deutlich, dass sie nicht alleine war. Und merkte außerdem, dass Lizzy sich ihr plötzlich innerlich zuwandte, ihre Zurückhaltung aufgab. Ihr kam es mit einem Mal vor, als stünden hier zwei Freundinnen, die sich vor dem Zubettgehen noch unterhielten und versonnen auf die nächtlich dunkle Straße hinabblickten.
»Carolee kommt morgen ziemlich zeitig, um das Frühstück für die Gäste zu machen. Ich selbst muss erst ab mittags arbeiten.« Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas. »Deshalb gönne ich mir ein Glas Wein, denke über mein verpfuschtes Leben nach und bedaure mich ein bisschen. Wenngleich ich, wie mir soeben klar wurde, keinen Grund dazu habe. Also bleibt es bei dem Wein.« Lächelnd hob sie erneut ihr Glas zum Mund und blieb noch eine Weile in der milden Nachtluft stehen, atmete den warmen Duft des Geißblatts ein, bevor sie hinauf in den zweiten Stock stieg, um schlafen zu gehen.
Als Hope am nächsten Vormittag nach unten kam, duftete es nach frisch aufgebrühtem Kaffee, kross gebratenem Speck und, falls ihre Nase sie nicht täuschte, nach den wunderbaren Apfel-Zimt-Pfannkuchen, die nur Carolee so herrlich locker hinkriegte.
Als sie die Küche betrat, empfing Justine Montgomerys Schwester sie mit drohend erhobenem Zeigefinger: »Was machst denn du schon hier unten, junge Dame«, sagte sie in strengem Ton, doch sie lachte dabei, und ihre braunen Augen funkelten vergnügt.
»Hallo, Carolee. Es ist fast zehn.«
»Und dein freier Vormittag.«
»Deshalb hab ich ja bis acht geschlafen, ein bisschen Yoga gemacht und meine Wohnung aufgeräumt.« Sie nahm sich einen Becher Kaffee und schloss genießerisch ihre Augen, während sie den ersten Schluck trank. »Kannst du mir mal sagen, weshalb die erste Tasse Kaffee immer am besten schmeckt?«
»Ich wünschte, ich wüsste es. Jedenfalls schaffe ich es nicht, auf Tee oder was anderes umzusteigen. Meine Tochter ist im Augenblick auf dem Gesundheitstrip und gibt sich alle Mühe, mich zu einer gesunden Lebensweise zu bekehren und vor allem vom Kaffee abzubringen.«
»Wie grässlich.«
»Du sagst es. Außerdem redet Darla ständig von dem neuen Fitnessstudio und will mich mit Gewalt dort hinschleifen, sofern ich nicht freiwillig mindestens einen Yogakurs belege.«
»Es wird dir gefallen«, meinte Hope, musste aber lachen, als sie den Ausdruck des Zweifels und der Angst in Carolees Miene sah. »Ehrlich.«
»Hm.« Carolee griff nach dem Spültuch und widmete sich mit Hingabe der Säuberung der Arbeitsplatte. »Max und Donna Vargas sind von ihrem Zimmer hellauf begeistert und schwärmen besonders von dem schicken Bad. Von unseren Jungvermählten hingegen hab ich bisher noch keinen Ton gehört.«
»Das hätte mich auch gewundert.« Hope fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Nachdem sie zwei Jahre lang einen extremen Kurzhaarschnitt getragen hatte, war sie gerade dabei, ihre schwarzen Haare wachsen zu lassen, und ständig strich sie sich irgendwelche Strähnen aus dem Gesicht. »Ich werde schnell mal Max und Donna begrüßen und mich nach etwaigen Wünschen erkundigen und dann auf einen Sprung bei Clare vorbeischauen.«
»Gesten Abend beim Treffen des Buchclubs hab ich sie gesehen. Ihr Babybauch rundet sich so langsam. Ach, Hope, frag doch Max und Donna, ob sie noch Pfannkuchen mögen – es ist noch jede Menge Teig übrig.«
»Okay, ich werde sie fragen.«
Nachdem sie sich im Speisesaal davon überzeugt hatte, dass es ihren Gästen an nichts fehlte, traf sie auf dem Weg nach oben das junge Brautpaar.
»Guten Morgen.«
»Oh, es ist ein wunderschöner Morgen.« Ein Strahlen glitt über das Gesicht der frischgebackenen Ehefrau und verriet Hope, dass es ein wirklicher Honeymoon gewesen war. »Guten Morgen. Ein so traumhaftes Zimmer hab ich nie zuvor gesehen. Alles ist einfach wunderbar. Ich kam mir vor wie eine Prinzessin.«
»Königliche Hoheit.« Hope deutete eine Verbeugung an, und beide Frauen lachten fröhlich auf.
»Die Idee, jedes der Zimmer einem berühmten Liebespaar zu widmen und es dementsprechend einzurichten, war echt toll.«
»Paaren, die miteinander glücklich waren«, fügte Troy hinzu, und seine Frau sah ihn mit einem seligen, verträumten Lächeln an.
»Genau wie wir. Tausend Dank. Unsere Hochzeitsnacht in Ihrem Haus war wirklich etwas ganz Besonderes. Genauso hatte ich es mir vorgestellt, rundherum perfekt.«
»So soll es ja sein.«
»Übrigens, eigentlich sollten wir die Suite ja am Vormittag räumen …«
»Falls Sie ein wenig länger bleiben wollen, kein Problem.«
»Nun, offen gestanden …«, setzte April an.
»Kurz und gut, wir würden gerne noch eine Nacht bleiben«, ergänzte Troy und schlang einen Arm um Aprils Schultern, zog sie dicht zu sich heran. »Eigentlich wollten wir weiter nach Virginia fahren und uns unterwegs etwas zum Übernachten suchen, aber nachdem es uns hier so gut gefällt, bleiben wir lieber. Es kann auch ein anderes Zimmer sein.«
»Wir freuen uns natürlich, wenn Sie länger bleiben wollen, und Ihr Zimmer ist bis morgen frei.«
»Wirklich?« April machte einen Freudensprung. »Das ist super. Vielen, vielen Dank.«
»Es ist uns ein Vergnügen. Freut mich, dass Sie den Aufenthalt in unserem Haus genießen.«
Wenn die Gäste glücklich waren, dann steigerte das ebenfalls ihre Zufriedenheit, dachte Hope, während sie nach oben in ihre Wohnung hastete, sich ihre Handtasche schnappte und wieder nach unten eilte zur Hintertür hinaus, um die Ecke herum zur Straße und über den Marktplatz. Sie verzichtete darauf, kurz bei Avery reinzuschauen. Heute nicht, denn sie war neugierig, was Clares Arzt gesagt hatte. Heute sollte nämlich ein Ultraschall gemacht werden, der vielleicht Aufschluss über das Geschlecht des Kindes gab. Alle warteten gespannt darauf, ob es das erhoffte Mädchen war.
Während sie an der roten Ampel stehen blieb, blickte sie die Hauptstraße hinunter und entdeckte Ryder Montgomery, den ältesten der drei Brüder vor dem Haus, das gerade zu einer Bäckerei umgebaut wurde. Neben dem Fitnessstudio Justines neuestes Lieblingsprojekt und ein weiterer Mosaikstein in dem expandierenden Familienimperium. Boonsboro hatte lange keine eigene Bäckerei besessen, also schlossen die Montgomerys diese Lücke.
So einfach war das.
Hope musterte Ryder. Die Jeans zerrissen und fleckig von Farbe, Gips und Gott weiß was, den Werkzeuggürtel umgehängt wie das Patronenhalfter eines Westernhelden, stand er da mit in die Hüfte gestemmten Fäusten in der für ihn typischen lässigen Pose und sprach mit zwei Arbeitern. Auf seinen wirren dunklen Locken saß wie so oft eine Baseballkappe, und seine grünen, goldgesprenkelten Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen. Als einer seiner Männer brüllend auflachte, zuckte Ryder mit den Achseln und sah ihn mit einem breiten Grinsen an. Auch das war typisch für ihn, dachte Hope.
Die Montgomery-Brüder bildeten zweifellos ein wahrhaft attraktives Trio, wobei ihre Freundinnen zweifellos gut daran getan hatten, sich für Beckett und Owen zu entscheiden. Nicht dass Ryder schlechter ausgesehen hätte, ganz und gar nicht, doch er war launisch und eher ungesellig. Dabei ausgesprochen sexy, wenngleich auf eine fast unzivilisierte, animalische Art.
Und damit kein Typ für eine kultivierte Großstädterin wie Hope.
Als sie über die Straße ging, pfiff ihr einer der Männer laut hinterher. Das war üblich in Boonsboro, und so drehte sie den Kopf in Richtung Bäckerei, setzte ein verführerisches Lächeln auf und winkte Jake, einem der Maler, fröhlich zu. Grinsend beantworteten er und ein anderer Arbeiter den Gruß.
Ryder Montgomery nicht. Er hakte bloß seine Daumen in die Hosentaschen und blickte sie reglos an. Ungesellig, dachte sie erneut. Selbst ein kurzes Winken war dem Kerl zu viel.
Trotzdem spürte sie wieder diese verräterische Hitze, die sie fast immer in seiner Gegenwart überfiel. Na und, schließlich war er ja sexy, was niemand bestritt, und sie reagierte eben darauf wie eine ganz normale, gesunde Frau. Vor allem wie eine, die seit geraumer Zeit solo war und einen gewissen Nachholbedarf in puncto Sex hatte. Immerhin lebte sie seit mehr als einem Jahr in dieser Hinsicht völlig abstinent.
Aber das war ihr eigenes Problem, über das sie lieber gar nicht nachdachte.
Auf der anderen Straßenseite angekommen, ging sie weiter Richtung Buchladen, wo sie die Freundin auf der Treppe stehen sah.
Clare hatte eine Hand auf ihren Babybauch unter dem luftigen Sommerkleid gelegt. Ihr langes, sonnenhelles Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und eine blau gefasste Sonnenbrille schützte ihre Augen gegen die gleißende Morgensonne.
»Ich wollte nur kurz sehen, wie es dir geht«, rief Hope.
Clare hielt ihr Handy hoch. »Ich hab dir gerade eine SMS geschickt.«
»Und? Alles in Ordnung?« Hope sah die Freundin forschend an.
»Ja. Alles in Ordnung. Wir sind gerade erst zurückgekommen. Beckett …« Sie blickte über ihre Schulter. »Beckett ist gleich rüber zu den anderen in die Bäckerei.«
»Okay.« Hope legte besorgt die Hand auf Clares Arm. »Du warst beim Ultraschall, oder?«
»Ja.«
»Und?«
»Lass uns rüber ins Vesta gehen, damit ich es dir und Avery gleichzeitig erzählen kann. Beckett wird seinen Brüdern Bericht erstatten und bei seiner Mutter anrufen. Und ich bei meinen Eltern.«
»Dem Baby geht’s doch gut?«
»Sehr gut sogar.« Sie klopfte im Gehen auf ihre Handtasche. »Ich hab die Aufnahmen dabei.«
»Zeig sofort her!«
»Ich werde euch wahrscheinlich tage- oder sogar wochenlang mit diesen Bildern auf die Nerven gehen, aber sie sind wirklich faszinierend.«
Auf violetten Crocs kam Avery aus der Pizzeria gehüpft. Unter der großen weißen Schürze trug sie T-Shirt und Caprihose.
»Und? Kaufen wir jetzt lauter rosa Sachen?«
»Bist du alleine?«, fragte Clare zurück.
»Ja. Fran taucht erst in einer halben Stunde auf. Geht es dir gut? Ist alles okay?«
»Es ist alles absolut perfekt und wunderbar. Trotzdem würde ich mich gerne zunächst einmal setzen.«
Während die beiden anderen sich fragend anschauten, trat sie durch die Tür des Restaurants, ging schnurstracks auf den Tresen zu, ließ sich auf einen Hocker fallen und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Eine Schwangerschaft und dazu noch drei Jungs, die Sommerferien haben – das ist ganz schön anstrengend.«
»Du bist ein bisschen blass«, bemerkte Avery.
»Ich bin nur etwas müde, weiter nichts.«
»Möchtest du etwas Kaltes trinken?«
»O ja, liebend gerne.«
Als Avery zum Kühlschrank ging, setzte Hope sich neben Clare und sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Du hältst uns irgendwie hin. Wenn alles in Ordnung ist …«
»Das hast du durchaus richtig erkannt, und ich werde euch auch noch ein wenig auf die Folter spannen. Ich hab nämlich eine große Neuigkeit.« Lachend griff sie nach dem kalten Ginger Ale, das Avery ihr reichte.
»Ich sitze hier mit meinen beiden besten Freundinnen in einem Lokal, in dem es bereits verlockend nach Pizza riecht …«
»Nicht sonderlich überraschend, oder? Denn genau das ist die Spezialität des Hauses.« Avery hielt Hope eine gekühlte Wasserflasche hin, kreuzte die Arme vor der Brust und sah Clare forschend an. »Es ist ein Mädchen. Endlich hast du einen Grund, Ballettschuhe und Haarschleifen zu kaufen.«
Clare schüttelte den Kopf. »Ich bin offenbar auf Jungs spezialisiert. Es sieht so aus, als ob’s bei Baseballhandschuhen und Actionfiguren bleibt.«
»Ein Junge.« Hope beugte sich vor und berührte ihre Hand. »Bist du enttäuscht?«
»Kein bisschen«, meinte Clare und klappte ihre Tasche auf. »Wollt ihr mal die Ultraschallbilder sehen?«
»Soll das ein Witz sein?« Avery starrte ratlos auf die Aufnahmen. »Sieht er aus wie du? Wie Beckett? Wie ein Fisch? Ich will dir nicht nahetreten, aber für mich sieht das nach Fischen oder Kaulquappen aus.«
»Welcher?«
»Welcher was?«
»Welcher von den zweien?«
»Von den zweien?« Hope verschluckte sich an ihrem Wasser. »Bekommst du etwa Zwillinge?«
»Von den zweien?«, wiederholte Avery. »Du hast zwei Fische im Bauch?«
»Zwei Jungs. Hier, seht euch meine wunderhübschen Söhne an.« Sie brach in Tränen aus. »Das sind Freudentränen«, stieß sie leise schluchzend aus. »Die Hormone führen dazu, dass ich ständig heulen muss. Diesmal sind es Freudentränen«, wiederholte sie. »Seht sie euch nur an!«
»Zwei echte Prachtburschen.«
Clare grinste die Freundin unter Tränen an. »Du kannst ja gar nichts erkennen.«
»Das macht nichts. Ich weiß eben, dass sie prächtig sind. Zwillinge. Ergibt zusammen fünf Jungs. Habt ihr selbst schon nachgerechnet? Bald habt ihr fünf Söhne.«
»Ja, so richtig begreifen können wir’s allerdings bislang nicht. Wir wissen auch nicht, was da auf uns zukommt. Damit war schließlich nicht zu rechnen. Wie auch immer. Mir als einer weiß Gott erfahrenen Schwangeren hätte jedoch was dämmern sollen, denn so schnell bin ich noch nie dick geworden. Ihr hättet Beckett sehen sollen: Als der Arzt mit der Neuigkeit rausrückte, wurde er richtig bleich.«
Sie lachte. »Kreidebleich. Ich dachte schon, der fällt in Ohnmacht. Und dann haben wir uns einfach angeschaut – und angefangen zu lachen. Wie verrückt haben wir gelacht. Vielleicht weil wir etwas hysterisch waren. Fünf. Grundgütiger Himmel. Nicht mehr lange und Beckett und ich haben fünf Söhne.«
»Ihr werdet eure Sache super machen. Beckett, du und eure Jungs«, versicherte Hope.
»Das denke ich auch. Ich bin überglücklich und gleichzeitig etwas benommen. Wie wir heimgekommen sind, weiß ich nicht mehr. Irgendwie stand ich unter Schock. Zwillinge.«
Sie legte sich beide Hände auf den Bauch. »Wisst ihr, es gibt Momente im Leben, da denkt man: So glücklich und so aufgeregt werde ich nie wieder sein, nie wieder so viel empfinden wie in diesem Augenblick. Und genauso geht’s mir jetzt. Das ist ein solcher Momente für mich.«
Hope zog sie an sich, und Avery schlang ihre Arme um beide.
»Ich freu mich total für dich«, murmelte Hope. »Und gleichzeitig ist es unfassbar, irgendwie irreal.«
»Die Jungs werden bestimmt total begeistert sein.« Avery trat einen Schritt zurück. »Oder etwa nicht?«
»O doch. Auf jeden Fall. Und da Liam bereits erklärt hat, dass es unter seiner Würde sei, sich jemals an irgendwelchen blöden Mädchenspielen zu beteiligen, wird er bestimmt besonders erleichtert sein.«
»Was ist mit dem Geburtstermin?«, erkundigte sich Hope. »Zwillinge kommen doch meistens ein bisschen früher.«
»Ja. Mein Doktor geht vom 21. November aus. Es werden also Thanksgiving- und nicht Neujahrsbabys wie geplant.«
»Dann können sie sich gleich mit auf den Truthahn stürzen«, meinte Avery, und während Clare noch lachte, fasste Hope, effizient wie immer, bereits einen Entschluss.
»Du musst uns bei der Einrichtung des Kinderzimmers helfen lassen.«
»Danke, herzlich gerne. Auf jeden Fall muss alles neu beschafft werden, denn nach Murphy hab ich das ganze Babyzeug verschenkt. Wer konnte damals ahnen, dass ich mich ein zweites Mal verlieben und heiraten würde.«
»Wie sieht’s mit einer Babyparty aus? Unter dem Motto Glück im Doppelpack?«, schlug Hope vor. »Oder etwas in der Art. Um auf der sicheren Seite zu sein, darf die Party nicht später als Anfang Oktober stattfinden.«
»Eine Babyparty.« Wieder seufzte Clare. »Es wird immer realer. Bevor wir weiterplanen, sollte ich erst mal meine Eltern anrufen, und dann muss ich es den Mädchen im Buchladen erzählen«, fügte sie hinzu. »Novemberbabys«, wiederholte sie. »Dann bin ich bis zu deiner Hochzeit im Mai wenigstens wieder schlank.«
»Ach ja, meine Hochzeit.« Avery betrachtete den Diamanten, den sie zwischenzeitlich statt des alten Spielzeugrings aus Plastik trug, eine sentimentale Erinnerung an ihre ganz frühe Liebe zu Owen.
»Du wirst heiraten, ein zweites Restaurant eröffnen, bei der Planung einer Babyparty helfen und Owens Singleschlafzimmer umräumen.« Hope pikste die Freundin in den Arm. »Das heißt, dass es ungeheuer viel zu besprechen gibt.«
»Ich hab morgen etwas Zeit.«
»Gut.« Hope ging in Gedanken ihren Terminkalender durch und dachte kurz nach. »Wie wär’s mit eins? Könntest du dann auch?«, fragte sie Clare. »Nachmittags checken die neuen Gäste ein, deshalb wäre vorher gut. Ich mach uns was zu essen. Okay?«
»Also, dann morgen um eins.« Clare tätschelte sanft ihren Bauch. »Wir werden pünktlich sein.«
»Ein Uhr«, versprach Avery. »Je nachdem, wie viel Betrieb wir über Mittag haben, wird’s bei mir vielleicht ein bisschen später. Kommen werde ich auf jeden Fall.«
Hope verließ das Restaurant mit Clare, nahm die Freundin nochmals in den Arm und ging zurück zum Hotel. Dabei stellte sie sich vor, wie Clare bei ihren Eltern anrief, um die große Neuigkeit zu verkünden, und Avery eine SMS an Owen schrieb, und für einen Moment wünschte sie sich, ebenfalls jemanden zu haben, dem sie von den Zwillingen erzählen könnte. Sie schüttelte diese ein wenig trüben Gedanken ab und stieg über die Außentreppe in den zweiten Stock, wo sich ihre Wohnung befand.
Unterwegs hörte sie Carolees Stimme, die aufgeregt mit jemandem zu telefonieren schien. Zweifellos hatte Justine sofort ihre Schwester informiert, dass gleich zwei Enkelsöhne unterwegs seien.
Hope zog ihre Wohnungstür hinter sich zu. Bis zum Dienstbeginn blieb ihr noch ein wenig Zeit. Sie beschloss, ein wenig im Internet nach weiteren Hinweisen auf Lizzy beziehungsweise ihren mysteriösen Billy zu suchen, von dem sie bislang nichts in Erfahrung bringen konnten. Irgendwann musste es doch gelingen, eine Spur dieses jungen Mannes zu finden, auf den die Ärmste schon seit einer Ewigkeit zu warten schien.