Über dieses Buch
Grace Divine glaubt, Daniel für immer verloren zu haben. Doch eventuell gibt es noch eine Chance, seinen Mondstein wiederzufinden und ihn ins menschliche Leben zurückzuholen. Dafür muss Grace an den Ort der letzten großen Schlacht zurückkehren.
Gleichzeitig neigt sich das Leben des Alphas Sirhan seinem Ende entgegen. Die Entscheidung darüber, wer dem Rudel in Zukunft vorstehen soll, ist alles andere als geklärt. Caleb greift nach der Macht, doch auch der undurchschaubare Talbot hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen.
Welche Überraschungen hält das Schicksal für Grace und Daniel noch bereit?
Für Brick –
Weil wir beide wissen, dass dir in diesem Buch eine besondere Erwähnung gebührt. Danke für all deine Inspirationen.
Für immer,
Bree
Vollmond
Er kannte mich zu gut.
Las die Inschrift auf meinem Herzen.
Er wusste genau, was es bedeutete,
wenn ich meinen Gefühlen nachgab.
»Wie wirst du dich entscheiden?«, fragt er. »Wenn du mich gehen lässt, töte ich ihn.«
Ich erhebe die Waffe. Ziele auf sein Herz. »Ich habe meine Wahl getroffen.«
Er zögert nicht. Blinzelt nicht einmal. »Du musst mich nur töten wollen, und dann verlierst du dich selbst.«
»Ich weiß«, sage ich.
Ich drücke auf den Abzug. Eine silberne Kugel schießt aus der Kammer.
Ich bereue nichts …
KAPITEL 1
Geheul
Freitagnacht
Du musst etwas unternehmen, Gracie.
Unwillkürlich kniff ich die Augen zusammen, als ich auf das Display meines Handys schaute, das in der Dunkelheit meines Zimmers viel zu hell leuchtete. Ich hatte so lange in die schwarze Leere zwischen meinem Bett und der Zimmerdecke gestarrt, dass es mir schwerfiel, meine Augen – und meine Gedanken – auf den eintickernden Text zu richten.
Ich blinzelte ein paarmal und las die Nachricht erneut: Du musst etwas unternehmen, Gracie. Er wird großen Ärger bekommen, wenn er nicht aufhört.
Wenn ich doch bloß geschlafen hätte, als das Geheul anfing. Ohne ihn zu sehen, wusste ich, dass es der weiße Wolf war. Der laute, traurige Ruf des Wolfs, der jetzt in mein Zimmer drang, wirkte so, als erklänge er direkt vor meinem Fenster – aber ich wusste, dass er tief aus den Wäldern kam. Er wagte sich weiter hinaus.
Weg von mir.
Weg von dem, der er einst gewesen war.
Ich hatte mich herumgewälzt und in meinem Bett aufgesetzt, als das Geheul vor ein paar Minuten begann. Ohne auch nur einen Blick auf die matten roten Ziffern meines Weckers zu richten, wusste ich, dass es zwei Uhr nachts war. Ich hatte mich dazu gezwungen, nicht alle paar Minuten auf die Uhr zu sehen und auszurechnen, wie viele Stunden ich wohl schlafen könnte, bevor der Morgen graute – und hatte noch nicht einmal einschlafen können.
Denn es ist verdammt schwer einzuschlafen, wenn sich ein Teil von dir tief in deinem Inneren verzweifelt wünscht, es nie wieder zu tun.
Der Schlaf ließ mich von Daniel träumen. Dem Daniel, den ich in Erinnerung hatte. Die Träume waren so wunderschön und real, dass das ganze Grauen der Realität nur umso heftiger auf mich einstürzte, sobald ich wach wurde und erkannte, dass es eben nur Träume waren. Ich wusste nicht, ob ich sie ein weiteres Mal aushalten könnte, ohne verrückt zu werden.
Dad und Gabriel hatten mich gegen elf Uhr nach Hause geschickt und behauptet, dass ich den mangelnden Schlaf vom Wochenende nachholen müsste, bevor ich am Montag wieder zur Schule gehen würde. Doch in Wirklichkeit hatten sie mich wohl fortgeschickt, weil keiner von beiden es noch wagte, mir in die Augen zu sehen. Tagelang hatten wir Bücher über die Geschichte der Werwölfe und die Mythologie der Gestaltwandler gewälzt, ja sogar in der Bibel nachgelesen – und noch immer nichts gefunden.
Nichts, das uns hätte helfen können, Daniel wieder zurückzuverwandeln.
Sechs Tage waren seit dieser schrecklichen Nacht vergangen, die Daniel und ich im Lagerhaus der Shadow Kings und im Angesicht unseres nahenden Tods verbracht hatten.
Fünf Tage waren vergangen, seit Daniel sich auf wundersame Weise in den großen weißen Wolf verwandelt hatte, um mich vor Calebs Rudel zu beschützen. Ich war an jenem Tag einem furchtbaren Schicksal entronnen – aber Daniel nicht. Seit jenem Tag war er in einem Gefängnis aus Knochen, Pelz und Klauen eingesperrt. Gefangen im Körper des weißen Wolfs.
Mit jeder weiteren nutzlos umgeblätterten Seite schienen Dad und Gabriel mehr und mehr zu glauben, dass Daniel für immer verloren war. Und es verhieß nichts Gutes, dass er anscheinend mit jedem Augenblick ein bisschen mehr zu diesem weißen Wolf wurde und sich immer weiter von Daniel entfernte.
In den ersten paar Tagen nach seiner Verwandlung war er mir überallhin gefolgt – was bedeutete, dass ich praktisch nirgendwohin gehen konnte. Doch trotz allem war er bei mir gewesen, und in den ausdrucksvollen braunen Augen des Wolfs hatte ich ihn erkennen können.
Doch vor zwei Tagen war er plötzlich scheu geworden und hatte begonnen umherzuwandern. Hauptsächlich in den Wäldern. Ein paar Stunden blieb er fort, kam aber dann, als ich ihn rief, immer zurück zu unserem Haus. Heute jedoch blieben meine Rufe ungehört und er kam überhaupt nicht wieder.
Der Wald verlangt nach ihm, flüsterte eine schroffe Stimme in meinem Kopf.
Ich schüttelte sie ab, wollte den dämonischen Wolf in mir nicht mit meinen Zweifeln nähren. Ich hatte an diesem Abend keine Geduld für irgendwelche Gedankenspielchen.
Aus den Wäldern wurde Daniels Heulen jetzt lauter und mein Herz sehnte sich nach ihm. Nach uns. Ich fragte mich gerade, ob sein Heulen wohl auch von allen anderen gehört werden könnte oder lediglich mein Supergehör eingeschaltet war – als mein Handy auf dem Nachttisch summte und Dads SMS erschien.
Hm. Dad. Schickt eine SMS. Daran werde ich mich nie gewöhnen können.
Ich rieb mir die Augen. Mein Sehvermögen wechselte ein paarmal zwischen der übermenschlichen Nachtsicht und dem Normalzustand hin und her, bevor ich wieder das Display des Handys fokussieren konnte. Ich suchte nach einer passenden Antwort auf Dads Forderung, dass ich etwas unternehmen müsste.
Ich: Ich weiß. Bist du noch in der Pfarrkirche? Wie laut ist es dort?
Dad hatte die meisten Nächte der vergangenen Woche in der Pfarrkirche verbracht. Denn abgesehen von ihren Nachforschungen hatten er und Gabriel sich dabei abgewechselt, meinen Bruder Jude zu bewachen, der sich in dem kleinen zellenartigen Raum im Keller der Kirche befand.
Nachdem wir Jude aus dem Lagerhaus mitgenommen hatten, fragten wir uns, was wir mit ihm anstellen sollten. Ich glaube, alle waren ziemlich über meinen Vorschlag überrascht, ihn zwecks Beobachtung in den Lagerraum im Keller der Kirche einzusperren, bis wir herausfinden könnten, was genau in seinem Kopf vorging. Mein Bruder war in den letzten zehn Monaten herumgestreunert, bevor er sich schließlich Calebs Gang von Teenagern mit übersinnlichen Kräften angeschlossen hatte – eben jenem Rudel, das versucht hatte, Daniel und mich zu töten. Jude war derjenige gewesen, der die Shadow Kings direkt zu uns geführt hatte.
Am Ende hatte er schließlich aufgegeben und uns angefleht, mit uns kommen zu dürfen. Aber so erleichtert ich auch darüber war, dass Jude sich endlich in Sicherheit befand – so wenig war ich bereit, ihn jetzt schon mit nach Hause zu nehmen. Nicht, solange wir nicht genau wussten, was seine Motive waren. Nicht, solange ich nicht wusste, ob es mein Bruder war, der zu uns zurückgekehrt war, oder nur einer von Calebs Hunden des Todes.
Ich war überrascht, dass die anderen meinem Vorschlag, Jude für eine Weile hinter Schloss und Riegel zu verwahren, tatsächlich zustimmten. Nur April hatte protestiert, aber ihre Stimme hatte nicht genügend Gewicht.
Sie hatte nicht miterlebt, wie Jude tatenlos dabeigestanden hatte, als Caleb versuchte, mich zu vernichten …
Meine Gedanken wurden von einer weiteren Nachricht unterbrochen: Ja, bin noch in der Kirche. Das Heulen ist ziemlich laut hier.
Das war nicht die Antwort, die ich erhofft hatte. Die Pfarrkirche war mehrere Blocks entfernt. Wenn Daniels Geheul dort noch laut war, dann konnte es auch die ganze Stadt hören.
Dad: Er lässt zu, dass man ihn tötet.
Ich weiß, schrieb ich zurück. Meine Finger zitterten. Rose Crest hatte in der Vergangenheit bereits ein paar Angriffe von »wilden Hunden« erlebt. Ein unheimliches Heulen aus den Wäldern, die die Stadt umgaben, würde nur neue Gerüchte heraufbeschwören. Und diese Gerüchte drehten sich alle um das Markham Street Monster. Gerüchte, die in Wirklichkeit allerdings gar keine waren. Und dieses Gerede würde nur dazu führen, dass sich irgendjemand verantwortlich fühlte zu handeln …
Dad: Du MUSST etwas tun, um ihn aufzuhalten.
Ich: Bin schon dabei.
Allerdings hatte ich keine Ahnung, ob es etwas gab, das ich tun konnte – sicherlich nicht, wenn Daniel nicht mehr auf mich reagierte –, aber wenigstens musste ich es versuchen. Ich konnte nicht zulassen, dass ihm etwas Schlimmes geschah. Besonders nicht nach all dem, was er geopfert hatte, um mich zu retten.
Ich zog mir meine Jacke über den roten Flanellpyjama und stopfte das Handy in die Tasche. Mein empfindlicher Knöchel begann zu pochen, als ich in meine hohen Fellstiefel schlüpfte. Ich hoffte, dass sie mir genügend Halt gaben, um den gerade erst geheilten Knochen nicht wieder brechen zu lassen. Obwohl ich ganz allein im Haus war, schlich ich leise die Treppe hinunter. Dad hatte Charity und James für eine Woche zu Tante Carol geschickt, weil Mom sich an einem Ort aufhielt … über den ich jetzt nicht nachdenken wollte.
Ich verließ das Haus durch die Küchentür und betrat den Hinterhof. Im Haus nebenan brannte Licht – es war das Haus, in dem Daniel lange Jahre gewohnt hatte – und ich konnte die Silhouette von Mr Dutton am Fenster sehen. Er blickte zum Wald hinüber – zweifellos wunderte er sich über das Geheul, das ihn anscheinend geweckt hatte –, aber ich glaube nicht, dass er mit der Zimmerbeleuchtung im Rücken viel erkennen konnte.
Ich blieb auf der hinteren Veranda stehen, bis sich Mr Dutton vom Fenster zurückzog. Noch bevor er überhaupt dazu kam, das Licht auszuschalten, um besser in die Dunkelheit schauen zu können, sammelte ich all meine Kräfte zusammen und sprintete in Richtung des rückwärtigen Zauns, der unser Grundstück von den umgebenden Wäldern trennte. Ich schaffte es, über den Zaun zu springen, ohne mit meiner Pyjamahose am Rosenbusch hängen zu bleiben. Der Schmerz in meinem Knöchel ließ mich beim Aufkommen auf dem Boden aufstöhnen. Doch abgesehen davon war mir eine perfekte, fast lautlose Landung gelungen.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, wie stolz jetzt Nathan Talbot, mein ehemaliger Mentor, wohl sein würde, wenn ich ihm von diesem Sprung erzählt hätte – denn das hatten wir während unseres gemeinsamen Trainings oft geübt. »Für ein so zartes Mädchen donnerst du herunter wie ein Felsbrocken«, hatte er mich einmal geneckt, mit dem typisch warmen Lächeln in seinem Gesicht.
Und plötzlich, so als hätte er gespürt, dass ich mir gestattet hatte, an ihn zu denken, brummte mein Handy und eine neue SMS kam herein.
Talbot: Brauchst du Hilfe?
Ohne zu antworten, ließ ich das Handy wieder in meine Tasche gleiten. Wenn ich, wie ich hoffte, die Kraft dazu aufbringen könnte, würde ich niemals wieder mit ihm reden – oder ihm auch nur eine SMS schicken.
Talbot war der Letzte, den ich um Hilfe bitten wollte. Der Letzte, dem ich vertrauen würde. Und dieser ganze Müll, von wegen, er würde mich lieben …
Ich holte tief Luft und befahl mir, keinen weiteren Gedanken an Talbot zu verschwenden. Daniel brauchte mich, und ich musste ihn finden, bevor irgendjemand aus der Stadt – beispielsweise Hilfssheriff Marsh mit seinem Gewehr – auf die Idee kam, die Quelle dieses schrecklichen Geheuls zu erforschen.
Rechts von mir raschelte es. Ich wirbelte herum – ohne mein Supergehör wäre es mir gar nicht aufgefallen – und ging schutzsuchend in Deckung. Die Panik ließ mein Blut in den Ohren pochen.
Ein großer brauner Wolf kam hinter den Büschen hervor und trat auf den Weg vor mir, ein kleinerer grauer Wolf folgte ihm dichtauf. Ihre Augen funkelten, als sie zu mir herübersahen. Ich nickte ihnen zu und versuchte die Enttäuschung darüber zu verbergen, dass keiner von ihnen der Wolf war, nach dem ich Ausschau hielt – aber immerhin waren sie keine Jäger aus der Umgebung.
Die beiden Wölfe trennten sich und ließen sich rechts und links des steinigen Wegs nieder. Wie Wachposten, die meine Schritte abwarteten. Erst vor fünf Tagen gehörten diese beiden Wölfe zu dem Rudel, das mich auf Calebs Geheiß zu töten versucht hatte; jetzt neigten sie ehrerbietig ihre pelzigen Köpfe, als ich an ihnen vorbeischritt.
Die Absichten meines Bruders zu ergründen, war eine Sache; diese Wölfe allerdings warfen ganz andere Fragen auf. Noch immer verstand ich nicht, wieso sie mich auf diese Art behandelten – so als wäre ich ihre Königin.
Vor ein paar Tagen hatte ich Gabriel danach gefragt. »Wie ich dir schon im Lagerhaus sagte, ist Daniel jetzt ihr Alpha«, hatte er mir erklärt, als wir in Dads Büro zusammenstanden und den weißen Wolf beobachteten, der neben einer verschmähten Schüssel mit Dosenfleisch hockte, die ich neben den Schreibtisch gestellt hatte – ich wollte verhindern, dass er seinen wölfischen Instinkten folgte und in den Wäldern zu jagen begann. »Und offenbar hat Daniel irgendetwas getan und dich als seine … Gefährtin ausgewählt. Die Wölfe erkennen das irgendwie und akzeptieren dich jetzt als ihren weiblichen Alpha.«
Natürlich stand in diesem Moment mein Vater, der Pastor, genau hinter uns. Obwohl er normalerweise ein ziemlich ausgeglichener Mensch ist, regte er sich fürchterlich über das Wort Gefährtin auf.
Bis zu diesem Moment hatte ich es total verdrängt, wie ich meinem Vater erklären könnte, was in dieser dunklen Nacht geschehen war, die Daniel und ich zusammen in dem Lagerhaus verbracht hatten. Doch der Anblick seines leicht lila angelaufenen Gesichts hatte mir zu verstehen gegeben, dass ich ihm eine Erklärung geben musste, bevor seine Fantasie mit ihm durchging. »Daniel … hat mir eine Art Heiratsantrag gemacht«, hatte ich erklärt. »Bevor Caleb mich in die Wolfsgrube geworfen hat. Und ich habe angenommen.«
»Ah, das würde es erklären«, hatte Gabriel erwidert, so als wäre es das Normalste auf der Welt, sich mit achtzehn zu verloben.
Das Gesicht meines Vaters allerdings nahm nur noch dunklere Lilatöne an. Sofort kam er darauf zu sprechen, wie jung wir noch seien und dass es keine Entschuldigung für mein unverantwortliches Verhalten gebe, auch wenn er und meine Mutter bereits mit zwanzig geheiratet hatten. Und da es mir nicht gelungen war, eine griffige Erklärung vorzubringen, hatte ich schließlich wütend gerufen: »Ich habe nur Ja gesagt, weil ich dachte, dass wir sterben würden! Ich wollte, dass er glücklich ist.«
Mein Vater war mit einem Schlag verstummt und seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Als er sich daran erinnerte, dass er mich vor ein paar Tagen beinahe für immer verloren hatte, kam er zu mir und umarmte mich so fest, dass ich fast keine Luft mehr bekam. Mit einem Schuldgefühl hatte ich einen Blick auf den weißen Wolf geworfen, der mit geschlossenen Augen neben dem Schreibtisch lag und so aussah, als ob er schliefe.
Jetzt konnte ich nur hoffen, dass es purer Zufall war, dass Daniel nur ein paar Stunden danach seine Streifzüge in den Wald aufgenommen hatte.
Ich benutzte dieses Schuldgefühl sowie das Adrenalin, das beim plötzlichen Auftauchen der beiden Wölfe durch meine Adern rauschte, um genügend Energie aufzubringen und trotz meiner Schmerzen loszurennen. Ich hatte meine Fähigkeiten einsetzen können, um die Verletzungen, die mir durch Calebs Grausamkeit zugefügt worden waren, schneller heilen zu lassen. Doch Gabriel hatte mich ermahnt, es langsam angehen zu lassen. Ich ignorierte seine Warnungen und rannte über den steinigen Pfad in Richtung des Geheuls. Die beiden Wölfe waren so dicht hinter mir, dass ich ihren warmen Atem spüren konnte. Tief in meinem Innern fand ich eine weitere Kraftreserve und nahm noch mehr Geschwindigkeit auf. Ich lief schneller und schneller, bis die beiden Wölfe hinter mir zurückblieben – aber ich wusste, dass sie mir noch immer folgten.
Ich ignorierte das durch die frische Herbstluft hervorgerufene Stechen in meiner Lunge sowie den brennenden Schmerz in meinem Knöchel, verließ den Pfad und bahnte mir einen Weg zwischen dem Gewirr der dicken Baumstämme hindurch, nur begleitet von Daniels traurigem Geheul. Ich verschmolz mit meinen Laufbewegungen und gab mich der Geschwindigkeit hin, aus Angst, alle Energie zu verlieren, wenn ich auch nur ein winziges bisschen langsamer würde. Ich bestand nur noch aus einem pochenden Herzen, aus scharfen Atemzügen und Füßen, die über den Waldboden donnerten.
Ich wollte nichts anderes mehr sein.
Nicht ohne Daniel.
Wenn einer der Wölfe hinter mir nicht laut geheult hätte, wäre ich wohl nicht rechtzeitig in die Wirklichkeit zurückgekehrt und hätte es nicht mehr geschafft anzuhalten. Doch bei dieser Warnung fasste ich nach dem knorrigen Ast eines alten Baums, gerade bevor meine Stiefel über die schlammige Kante des Abhangs zu rutschten drohten. Ich stützte mich an dem Baumstamm ab und blickte über den sechs Meter tiefen Abgrund hinweg, der genau vor mir lag. Als ich die Umgebung betrachtete, wurde mir klar, dass dies derselbe Ort war, an dem James letztes Jahr zu Thanksgiving beinahe tödlich verunglückt wäre.
Die Erinnerung an Daniel, der meinen Bruder auf wundersame Weise genau an diesem Ort gerettet hatte, kroch wärmend in mir hoch – wurde jedoch gleich wieder durch den Anblick des großen weißen Wolfs getrübt, der auf einem Felsvorsprung auf der anderen Seite der Schlucht hockte. Er warf den Kopf zurück und heulte den dreiviertel vollen Mond an, so als erhoffte er sich eine Antwort. Der schrille Ton seiner heulenden Schreie drang in meine übersensiblen Ohren, und ich musste den Drang bekämpfen, sie mir zuzuhalten.
»Daniel!«, rief ich, war jedoch nicht sicher, ob meine zitternde Stimme durch sein Geheul zu hören war. Ich richtete mich auf und lehnte mich an den Baumstamm. Die Milchsäure brannte in meinen Beinen, mein Knöchel krümmte sich immer mehr in die falsche Richtung – und drohte zu überdehnen. Ich hatte gedacht, schlimme Schmerzen zu verspüren, als ich ihn mir gebrochen hatte, aber das war nichts im Vergleich zu diesem extremen Stechen, das sich jetzt, nachdem das Adrenalin wieder abgeklungen war, von meinem Knöchel in meinem ganzen Körper ausbreitete. »Daniel, hör auf!«
Der Kopf des weißen Wolfs schnellte noch weiter zurück, und ein weiteres verzweifeltes Heulen zerschnitt die Nacht. Na, toll. Echt super. Mit Sicherheit hockte jetzt die ganze Stadt am Fenster. Ich stellte mir vor, wie Patronen in die Kammern zahlreicher Gewehre geschoben wurden.
»Verschwindet!«, fauchte ich die beiden Wölfe an, die mir gefolgt waren, und trat mit meinem gesunden Fuß nach ihnen.
»Macht sofort, dass ihr wegkommt!«, sagte ich barscher, als es beabsichtigt war. Die beiden heulten auf und verzogen sich mit zwischen den Hinterläufen eingeklemmtem Schwanz. Als sie verschwunden waren, wandte ich mich wieder dem weißen Wolf zu.
»Daniel!«, rief ich, jetzt lauter. Meine Stimme schien seine Verzweiflung auszudrücken. »Daniel, bitte. Dan…« Plötzlich überkam mich ein flaues Gefühl. Falls ich nicht die Einzige war, die im Wald nach einem heulenden Wolf suchte, sollte ich vielleicht nicht Daniels Namen laut herumbrüllen. »Bitte, hör auf …« Ich vermied es, seinen Namen zu nennen, wenn auch ungern. Denn das war so, als würde ich akzeptieren, dass er nicht länger »Daniel« war.
»Bitte hör auf! Du musst jetzt damit aufhören.« Die Stimme blieb mir im Halse stecken, und ich presste meine Hand auf den Mund. Ich durfte nicht in Tränen ausbrechen. »Bitte. Hör auf, bevor du verletzt wirst«, flüsterte ich zwischen meinen Fingern hindurch.
Das Heulen des weißen Wolfs erstarb plötzlich, und als ich wieder über die Schlucht blickte, sah ich, dass er mich anstarrte. Sein pelziger Kopf reckte sich merkwürdig. Für einen Augenblick sah ich seine funkelnden Augen, dann richtete er sich langsam auf alle viere auf.
»Nein«, sagte ich. »Geh nicht.« Ich hob meine Hand zu einem Stopp-Signal – es war dieselbe Bewegung, die ich zum Abrichten meiner dreibeinigen Hündin Daisy gelernt hatte. »Bitte, lauf nicht wieder fort.«
Der Wolf kam zwei Schritte auf den Rand der Schlucht zugelaufen und blickte herüber, sein Kopf machte wieder diese seltsame Bewegung. Erkannte er mich noch immer? In meiner Brust keimte Hoffnung auf, und ich blieb so ruhig wie möglich stehen, um ihn nicht zu verschrecken. Ich schwöre, in der Stille, die den dunklen Wald jetzt einhüllte, nachdem das Heulen aufgehört hatte, glaubte ich, sein Herz schlagen zu hören.
Es war der einzelne Herzschlag des Wolfs. Nicht zwei Herzen, wie ich es von jedem anderen Werwolf kannte. Noch immer wusste ich nicht, was das zu bedeuten hatte. Noch immer wusste ich nicht, was er geworden war.
Als er das Gewicht ganz leicht auf die Hinterläufe verlagerte, sah es einen Moment lang so aus, als überlegte der Daniel-Wolf, über die Schlucht zu springen, um zu mir zu gelangen.
»Komm.« Ich gab ihm ein Zeichen. »Bitte, Daniel«, rief ich leise. »Ich brauche dich. Wir brauchen einander.«
Beim Klang seines Namens schien er zu stutzen. Er wandte den Blick ab. Ich hatte dabei das Gefühl, dass mein Herz in die Tiefen der Schlucht hinabstürzte.
»Nein!«, schrie ich. Ich streckte die Hände aus, so als könnte ich ihn packen und zurückhalten, aber er sprang in das Dickicht und lief tiefer in den Wald hinein, als wir jemals gemeinsam in ihn vorgedrungen waren.
Kurz überlegte ich, ihm zu folgen – über die Schlucht zu springen, auch wenn ich nicht die Kraft haben würde, es in einem Satz zu schaffen. Ich wollte alles tun, um ihm wieder nahe zu sein. Doch als ich den Baumstamm losließ, versagte mein Knöchel und ich musste mich hinsetzen.
Ich wartete, dass das Heulen in irgendeinem unerreichbaren Winkel des Waldes von Neuem ertönte, zählte meine eigenen einsamen Herzschläge, während die Minuten vergingen und nichts zu hören war. Ein überwältigendes Gefühl der Erschöpfung brach über mich herein – ich war sowohl erleichtert darüber, dass das Heulen aufgehört hatte, als auch verzweifelt, weil ich Daniel nicht hatte zu mir zurückholen können – und zum ersten Mal seit unserer Flucht aus Calebs Lagerhaus gestattete ich mir zu weinen.
Ich saß auf dem Boden und schluchzte hemmungslos in mich hinein, als eine schrecklich flüsternde Stimme in meinem Kopf ertönte. Du verlierst ihn. Und du kannst nichts dagegen tun.
»Nein«, entgegnete ich dem Monster in meinem Kopf. Ich rappelte mich auf und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht; ich hasste mich selbst für meine Schwäche. »Daniel und ich haben zu viel durchgemacht, wir sind zu weit gekommen, und ich werde ihn nicht verlieren. Ich werde es nicht zulassen.«
Koste es, was es wolle.
KAPITEL 2
Die verlorenen Jungs
Sechs Monate zuvor
»Ist dir kalt?«, fragte Daniel. Er saß hinter mir auf einer Steinbank, hatte die Arme um meine Schultern geschlungen und drückte seine Brust gegen meinen Rücken, während ich an einer Kohlezeichnung für den Kunstunterricht arbeitete. Seine Körperwärme drang durch das Hemd und ließ meine Haut unter dem dünnen Pullover prickeln. Ich zitterte, aber nicht, weil mir kalt war. Nicht mehr.
»Mmh«, erwiderte ich und legte meinen Notizblock auf die Bank.
Daniel rieb mir wärmend über die Arme und drückte seine Nase in meinen Nacken.
»Du hast eine Stunde, um damit aufzuhören«, sagte ich mit einem leisen Lachen, wenngleich wir so ziemlich die Einzigen waren, die den Garten der Engel je besuchten.
»Wie wäre es mit zwei?«, fragte er und drückte seine Lippen zärtlich auf meine Haut. Ich wäre fast geschmolzen. Er strich mein Haar zurück und küsste die Stelle hinter meinem Ohr.
Ich seufzte und der Kohlestift fiel mir aus der Hand. Er traf die Kante der Steinbank und rollte dann weiter bis zum Fuß der Statue, die ich gerade gezeichnet hatte. Es war die Skulptur von Gabriel, dem Engel, den Daniel mir gezeigt hatte, als wir zum ersten Mal hier gewesen waren.
Daniels feste Lippen strichen über meinen Hals, bis sie das feine Kettchen meines Anhängers erreichten, den ich jetzt fast immer trug. Etwas in mir rührte sich, und instinktiv griff ich nach dem Mondstein. Daniel wich ein Stückchen zurück.
»Hilft er dir?«, fragte er. Sein Atem fühlte sich auf meinem Haar ganz warm und wunderbar an. Ein wohliger Schauer kroch von meinem Nacken bis unter die Schädeldecke. Meine Hand schloss sich fester um den Anhänger und ich ließ das warme und pulsierende Gefühl der Beruhigung, das von dem Stein ausging, durch meinen Körper fließen.
»Ja«, sagte ich, erwähnte jedoch nicht, dass ich ihn in letzter Zeit öfter zu brauchen schien, als in den ersten Monaten nach meiner Infizierung. Ich wollte nicht, dass Daniel sich Sorgen machte.
»Gut«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte so wie du gleich von Anfang an einen Mondstein gehabt.« Seine Hände lösten sich von meinen Schultern. Er trat einen Schritt zurück und entzog mir seine Wärme. »Ich frage mich, ob ich es dann geschafft hätte, dem Wolf von vornherein zu widerstehen …« Seine Stimme erstarb, und ich musste nicht überlegen, wieso. So viel Schmerz war wegen der Geschehnisse jener Nacht in sein Leben – in unsere Leben – getreten.
Ich drehte mich um und sah in seine tiefbraunen Augen. »Wirst du dir für diese Nacht jemals selbst vergeben können?«
Daniel stopfte seine Hände in die Jackentaschen. »Wenn dein Bruder es kann.«
Ich biss mir auf die Lippe. Das bedeutete zunächst einmal, dass wir Jude finden mussten. Doch mit jeder weiteren Woche, die er verschwunden blieb, schien diese Aussicht immer unwahrscheinlicher. »Er muss. Irgendwann. Glaubst du nicht?« Mein Dad hatte einmal gesagt, dass jemand, der sich weigerte zu vergeben, selbst zu einem Monster würde, wenn er seinen brennenden Zorn allzu lange in sich behielte. Aber ich vermute, dass dies mit Jude schon längst geschehen war. Er hatte sich in ein Monster verwandelt – in einem weitaus wörtlicheren Sinn, als mein Vater es gemeint hatte – in einen Werwolf, der mich infiziert und dann Daniel zu töten versucht hatte. Und alles nur, weil er nicht vergeben konnte, dass Daniel ihn in der Nacht, in dem er selbst dem Fluch des Wolfs erlegen war, infiziert hatte.
»Glaubst du, dass er aus seinem Zustand jemals wird zurückkommen können?«, fragte ich. »Selbst wenn wir ihn finden – glaubst du, dass er dann noch derselbe Mensch ist wie vorher …?« Ein scharfer Schmerz loderte plötzlich in meinem Arm auf, dort, wo Jude mich gebissen hatte. Ich rieb mit der Hand über die Narbe, die unter meinem Ärmel versteckt war.
»Ich weiß nicht«, sagte Daniel. »Ich konnte es – mit deiner Hilfe. Aber das heißt nicht, dass jeder es kann. Jude wird sich so lange nicht ändern, bis er es will. Und wenn der Wolf einmal die Herrschaft übernommen hat, ist sein Einfluss so überwältigend, dass es beinahe unmöglich ist, dich daran zu erinnern, wer du einmal gewesen bist.«
Ich nickte und fragte mich, ob auch mich dieses Schicksal eines Tages erwartete.
Daniel kam zu mir. Er streckte die Hand aus und berührte den Mondsteinanhänger an meiner Brust. Seine Finger zeichneten die scharfe Kante nach, wo der Stein in zwei Hälften zerbrochen war, nachdem Jude ihn vor drei Monaten vom Dach der Pfarrkirche hinuntergeschleudert hatte.
»Ich danke Gott jeden Tag, dass ich diesen Stein für dich wiedergefunden habe. Auch wenn nur noch die Hälfte des ursprünglichen Steins übrig ist, so reicht er doch aus, um dich zu beschützen. Er hilft dir dabei, dich nicht selbst zu verlieren – so wie es mir passiert ist. Wie Jude. Er hilft dir dabei, menschlich zu bleiben.« Daniels Finger lösten sich von dem Stein. Er nahm mein Gesicht in beide Hände. Seine Daumen streichelten meine Wangen und er blickte mir tief in die Augen.
»Danke«, flüsterte ich.
»Wofür?«
»Für den Mondstein. Dass du an mich glaubst.« Ich lächelte zaghaft. »Dass du nicht gestorben bist. Ich hätte dich umgebracht, wenn du einfach so gestorben wärst.« Ich bohrte meinen Finger in seine Brust.
Daniel fing an zu lachen. Ich liebte dieses Geräusch. Dann beugte er sich vor und drückte seinen Mund auf meine Lippen. Unsere Münder verschmolzen in einem Kuss, der mir verriet, dass alles, was ich für Daniel empfand, auf Gegenseitigkeit beruhte.
Ich schauderte in seinen Armen. »Dir ist ja doch kalt«, sagte er, als sich unsere Lippen trennten. Dann hielt er mich in seiner warmen Umarmung fest.
Samstagmorgen
»Ist sie tot?«, fragte eine Stimme irgendwo in der Nähe und weckte mich aus tiefem Schlaf.
»Nein«, erwiderte eine zweite, etwas jünger klingende Stimme.
»Ich glaube, sie ist tot.«
Ein lang gezogenes Stöhnen entschlüpfte meinen Lippen. Wieso tat mir mein Knöchel so weh? Und wieso war meine Matratze hart wie ein Holzbrett?
»Yep. Sie ist tot. Er wird so was von durchdrehen.«
»Sie hat gerade ein Geräusch gemacht, und ihre … äh … Brust … bewegt sich auf und ab. Offenbar ist sie nicht tot.«
»Tot. Tot. Tot. Glaubst du, dass er uns umbringt? Caleb hätte es getan. Glaubst du, dass wir uns wünschen dürfen, wie wir krepieren? Ich möchte nicht ertrinken. Das sieht im Fernsehen immer echt fies aus.«
»Er ist ein Wolf. Wie sollte er dich ertränken? Er wird dir wahrscheinlich die Kehle aufreißen. Und überhaupts, sie ist nicht tot.«
»Es heißt ›überhaupt‹ und nicht ›überhaupts‹.«
»Was?«
»Jungs«, versuchte ich zu sagen, aber es kam mehr wie ein »Juaaaah« heraus. Ich räusperte mich. Wie spät war es eigentlich?
»Du hast es falsch gesagt. Es heißt ›überhaupt‹. Wenn du ein ›s‹ hinten dranhängst, klingst du wie ein Idiot. Und überhaupt, sie ist tot. Was denkst du? Wie schnell müssen wir wohl rennen, um nach Kanada zu kommen, bevor er uns erwischt?«
»Der Idiot bist du!«
Ich hörte ein Handgemenge und einen Schrei. Eines meiner Augenlider klappte gerade weit genug auf, sodass ich sehen konnte, wie Ryan direkt neben mir Brent in den Schwitzkasten nahm. Ansonsten war meine Wahrnehmung noch völlig verzerrt.
»Jungs!«, rief ich. »Schluss damit!«
Ryan ließ Brent los, und die beiden nahmen Haltung an. Starr wie Zaunlatten standen sie da, die Hände an die Seiten gepresst, wie Soldaten, die den Kommandos ihres Offiziers lauschten. Niemals würde ich mich an ihre Reaktion auf meine Befehle gewöhnen können. Brent beugte sich leicht zu Ryan und flüsterte – mit lauter Stimme: »Ich hab doch gesagt, dass sie tot ist.«
Ryans Nasenflügel bebten. »Verdammt, wieso …«
Beim Anblick von Brents Gesicht brach ich in Gelächter aus. Wie kein anderer konnte er diesen unschuldigen und gleichzeitig sarkastischen Blick aufsetzen – ›Waaaas?‹
Ich kannte ihn erst seit ein paar Tagen, aber der Junge wusste, wie er mich aufheitern konnte – und in letzter Zeit war ich wirklich für alles dankbar, was mich auch nur ein wenig lächeln ließ. Mein Lachen ging in einen Hustenanfall über. Die beiden Jungs beugten sich über mich, als hätten sie Angst, dass ich tatsächlich sterben würde.
Ich scheuchte sie weg und kam wieder zu Atem. »Okay, würdet ihr mir jetzt bitte mal erklären, was ihr eigentlich in meinem Schlafzimmer macht?«
»Na toll. Jetzt hat sie den Verstand verloren«, sagte Brent.
Ryan schob ihn zur Seite. »Sie sind nicht in Ihrem Schlafzimmer, Miss Grace. Wir haben Ihnen letzte Nacht nach Hause geholfen und Sie sind auf der Verandaschaukel eingeschlafen. Wir sind hiergeblieben, um Sie zu beschützen. Erinnern Sie sich nicht?«
Ich machte jetzt beide Augen auf und wartete ein paar Sekunden, um auf die Umgebung fokussieren zu können. Brent. Ryan. Die Äste des Walnussbaums. Ein lilafarbener Morgenhimmel. Die Verandaschaukel. Und dieses Ding, das sich da in meinen Rücken bohrte, war offensichtlich mein Handy, auf dem ich eingeschlafen sein musste. Vage Erinnerungen tröpfelten in mein Gehirn und mir fiel wieder ein, dass ich Daniels Geheul in den Wald hineingefolgt war und dann versucht hatte, mit meinem erneut gebrochenen Knöchel nach Hause zu hinken. Auf halber Strecke hatte ich aufgegeben und einem der Wölfe, die mir ängstlich gefolgt waren, erlaubt, mich nach Hause zu tragen – allerdings nur, um dort festzustellen, dass ich mich ausgesperrt hatte. Ich erinnerte mich, dass ich auf der Verandaschaukel gesessen hatte und meinen Vater anrufen wollte, doch ich musste eingeschlafen sein, bevor ich seine Nummer hatte eintippen können.
Eingeschlafen.
Wie ein Paukenschlag traf mich – wieder einmal – die Erkenntnis, dass die Zeit, die ich mit Daniel letzte Nacht im Garten der Engel verbracht hatte, nur ein Traum gewesen war. Jedes Mal, wenn ich mir nach unserem Entkommen aus dem Lagerhaus erlaubt hatte zu schlafen, hatte sich dieselbe lebhafte Erinnerung wieder und wieder in meinem Kopf gedreht: Daniel und ich vor sechs Monaten im Garten der Engel. Bevor Jude zurückgekommen war. Bevor Talbot und Caleb auf der Bildfläche erschienen waren. Bevor Daniel in der Gestalt des weißen Wolfs gefangen wurde. Es hatte sich angefühlt wie im Himmel.
Als ich am Vorabend in der eisigen Novembernacht eingeschlafen war, hatte mich der Traum gewärmt. Jetzt allerdings wurde mir so kalt wie noch nie zuvor, als mir klar wurde, dass Daniel mich gar nicht in seinen Armen gehalten hatte.
Und womöglich wird er es auch nie wieder können.
»Seid ihr beide hier die ganze Nacht bei mir gewesen?«, fragte ich.
Ryan und Brent waren die Jüngsten der fünf Caleb-Jungen, die Daniel als ihren neuen Alpha ausgewählt hatten. Ryan konnte kaum älter als vierzehn sein. Brent war vielleicht knapp sechzehn, sein Gesicht wies beinahe kindliche Züge auf, und jedes Mal, wenn er seine Finger auf den Nasenrücken presste, fragte ich mich, ob er wohl eine Brille getragen hatte, bevor er ein Urbat geworden war. Die Vorstellung von »Brent, dem Werwolf« erschien mir geradezu paradox.
Tatsächlich fiel es mir überhaupt schwer, in einem der beiden ein Mitglied des bösartigen Werwolfrudels wiederzuerkennen, das mich auf Befehl Calebs angegriffen hatte. Ich konnte nicht umhin, sie mir als eine Gruppe verlorener Jungen vorzustellen. Wie in dem Peter Pan-Theaterstück, das meine Mutter uns im Gemeindehaus hatte spielen lassen, als ich zehn Jahre alt war. Sie wirkten, als würden sie niemals richtig erwachsen werden. Und dann die Art und Weise, wie sie in diesem Lagerhaus neben dem Depot gelebt hatten. Sie hatten bestimmt viel Spaß gehabt – bis dann das Töten von Menschen ins Spiel gekommen war.
Ryan nickte. »Ihre Sicherheit ist unsere oberste Priorität. Er will es so.«
Ich setzte mich auf und blickte über den Hof. Wenn Brent und Ryan hier waren, wäre es sicher keine Überraschung, die anderen drei irgendwo in der Nähe zu finden. Immerhin waren sie ein Rudel.
Zach und Marcos saßen am Fuß des Walnussbaums, doch Slade stand viel weiter unten an der Straße, sodass ich ihn ohne meine außergewöhnliche Sehkraft nicht hätte erkennen können.
Während es mir schwerfiel, bei Brent und Ryan an blutdürstige Werwölfe zu denken, hatte ich von Slade einen völlig entgegengesetzten Eindruck. Seine muskulösen Arme waren mit Flammentattoos überzogen, die sich von den Handgelenken bis zu den Schultern erstreckten. Er hatte ein Stahlstäbchen in einer Augenbraue stecken und zehn weitere Piercings in den Ohren. Und fast immer hatte er ein Feuerzeug in der Hand, dessen Flamme er ständig auflodern ließ, um sich dann damit die Haare auf dem Arm abzuflämmen – anscheinend nur so aus Spaß. Aber es war nicht Slades äußere Erscheinung, die mich in seiner Gegenwart frösteln ließ. Es war die Art, wie er mich ansah. Ich war fast sicher, dass er der große graue Wolf gewesen war, der seine giftigen Zähne in mein Bein gerammt hatte, als ich im Lagerhaus von Calebs Rudel angefallen wurde. Und immer, wenn ich diesen Ausdruck in Slades Augen sah – so als würde er mein Blut schmecken – fürchtete ich, dass er noch mehr wollte.
Ich wandte meinen Blick von Slade ab. Anders als bei den anderen Jungen konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, wie ergeben er Daniel als seinem neuen Alpha tatsächlich war. Oder ob er womöglich eine Gefahr für uns alle darstellte.
»Wer will, dass ich in Sicherheit bin?«, fragte ich Ryan.
»Alpha.«
»Du meinst Daniel?«
»Der große weiße Wolf. Ihre Sicherheit ist das Allerwichtigste.«
Zaghaft lächelte ich angesichts des Gedankens, dass ich Daniel, zumindest auf irgendeine Weise, noch immer wichtig war.
»Wir haben Sie nur kurz allein gelassen, um uns … zurückzuverwandeln.« Ich wusste, dass Ryan nicht nur die Verwandlung in die menschliche Form meinte, sondern auch auf die Klamotten anspielte. Eine der Schwierigkeiten war nämlich, dass sich die Verwandlung ohne Kleidung vollzog.
»Danke«, murmelte ich und war froh darüber, nicht zwischen einem Haufen nackter Jungen aufgewacht zu sein. Zweifellos hätten die Nachbarn dafür keinerlei Verständnis gehabt, wenn einer von ihnen zufällig heute Morgen aus dem Fenster gesehen hätte. Und außerdem war ich froh, dass sie nicht länger in ihrer Wolfsform herumsprangen. Bei all dem Geheule in der letzten Nacht wäre das ziemlich riskant gewesen.
»Ich bin nur froh, dass Sie nicht gestorben sind, als wir gerade nicht da waren«, sagte Brent. »Er wäre so was von ausgeflippt. Und Sie wären tot gewesen, wissen Sie? Das wäre doch Mist.«
»Danke für eure Besorgnis. Aber ich schätze, ich bin hier auf meiner Veranda ziemlich sicher.«
»Bei allem Respekt, Miss Grace, aber unser Vater – also ich meine Caleb – und der Rest der Shadow Kings sind hier noch irgendwo. Sie sollten vorsichtiger sein.«
Ich nickte. »Du hast recht.« Es war wirklich dumm gewesen, meine Deckung so einfach aufzugeben. ›Regel Nummer eins‹, wie Daniel und auch Talbot mir ständig eingeschärft hatten. Caleb war noch immer da draußen, und es war völlig unmöglich vorherzusagen, was ein Irrer wie er als Nächstes zu tun in der Lage wäre. Angesichts des Zustands meines blöden Knöchels hätte ich keine Chance gehabt, wenn ich ihm oder einem seiner noch immer treuen Jungen gestern Nacht begegnet wäre.
Ich beugte mich vor und konzentrierte meine heilenden Kräfte auf den stark schmerzenden Knöchel, bis das Gefühl zu einem weniger intensiven Pochen abgeklungen war. Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. »Woher wisst ihr, was Daniel will? Könnt ihr … könnt ihr mit ihm sprechen, wenn ihr eure Wolfsform angenommen habt?«
Ein Hoffnungsschimmer kroch in mir hoch und ich dachte nicht länger an meinen Knöchel. Vielleicht konnte ich ja einen der Jungen dazu bringen, an meiner Stelle mit Daniel zu reden. Ihm zu sagen …
»Nein«, antwortete Brent. »Es ist einfach so, dass wir wissen, was er will. Und dann tun wir es. So läuft das mit einem Alpha.«
»So was wie Telepathie?« Mein Gehirn arbeitete an diesem Morgen viel zu langsam. Aber andererseits konnte es nicht viel später als sechs Uhr morgens sein, und deswegen konnte ich es mir auch nicht zum Vorwurf machen, dass ich nach weniger als drei Stunden Schlaf noch immer so träge war. Plötzlich schoss mir ein weiterer Gedanke durch den Kopf, der viel zu schnell aufgetaucht war, um mein eigener zu sein. Wenn du ein Wolf wärst, könntest du auch mit Daniel Kontakt aufnehmen. Ihr könntet zusammen sein.
»Nein«, sagte Ryan. »Wir können keine Gedanken lesen.«
»Gott sei Dank«, hörte ich Zach murmeln. Er und Marcos waren näher an die Veranda herangekommen.
»Jedes Tier hat seine Art zu kommunizieren«, sagte Brent. »Gesichtsausdruck, Stimmgebung und all so was, aber bei einem Alpha ist es mehr wie ein Gefühl. Manchmal manifestiert es sich als Bild oder Eindruck. Aber meistens ist es einfach so, dass wir das fühlen, was er fühlt.«
»Was fühlt er denn?«, fragte ich, wenngleich ich fürchtete, die Antwort bereits zu kennen.
Ryan und Brent sahen sich an, doch ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.
Marcos kam einen Schritt näher. »Er liebt Sie sehr«, sagte er mit seinem brasilianischen Akzent. »Er will, dass wir Sie beschützen … aber gleichzeitig fühlt es sich an, als ob ein Teil von ihm … ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll. Als ob sich ein Teil von ihm verabschiedet.«
Ich nickte und biss mir auf die Lippe. Genau das hatte ich befürchtet. Ich musste nicht erst zum Wolf werden, um festzustellen, dass ein Teil von ihm – der Teil, der Daniel war – sich entfernte.
Du kannst ihn nicht aufhalten. Nicht als schwaches menschliches Wesen, brüllte das Monster in meinem Kopf. Es war furchtbar, wie oft ich diese Stimme inzwischen hörte. Meine Hand wanderte zu meinem Nacken, wollte den Mondstein berühren, der mir helfen konnte, das Monster zu verscheuchen. Aber natürlich war der Stein nicht mehr da. Caleb hatte ihn im Lagerhaus gegen die Wand geschmettert, und mit dem Stein waren auch fast all meine Hoffnungen zerbrochen, seinem teuflischen Plan jemals zu entkommen.
Fast ein Jahr lang hatte ich diesen Anhänger jeden Tag getragen, und nun vergaß ich immer wieder, dass er nicht mehr da war, bis ich nach ihm zu greifen versuchte. Ohne ihn fühlte sich mein Hals jedes Mal nackt und leer an. In meinen Träumen erzählte mir Daniel immer wieder, dass er mir den Stein gegeben hatte, damit ich die Kontrolle behielt – dass er mir dabei helfen könnte, menschlich zu bleiben. Jetzt fragte ich mich manchmal, ob ich ohne ihn die Kraft haben würde, ich selbst zu bleiben …
»Das ist es!« Ich sprang von der Schaukel und stieß Brent dabei fast von der Veranda. »Du meine Güte, ich glaube, ich habe die Lösung.«
Ich lief die Verandatreppe hinunter und hielt mir dabei den Kopf, so als versuchte ich, meine stürmenden Gedanken festzuhalten, damit sie mir nicht entkommen konnten. Brent, Ryan, Marcos und Zach scharten sich um mich. Sogar Slade kam näher und stand jetzt am Rand des Grundstücks.
»Ich sehe Daniel in meinen Träumen – es ist immer wieder derselbe Traum. Was wäre, wenn er versucht, mir etwas zu sagen? Was ist, wenn ich fühle, was er fühlt? Was will er mich fühlen lassen? Er und ich könnten doch auch irgendwie miteinander verbunden sein.«
»Das wäre möglich«, sagte Brent.
»Was versucht er denn, Ihnen zu sagen?«, fragte Marcos.
»Mein Mondstein!« Ich rannte in die Einfahrt und ignorierte einmal mehr Gabriels Warnung, meinen empfindlichen Knöchel zu belasten. Ich musste unbedingt zur Pfarrkirche. Ich musste Gabriel und meinem Vater erzählen, was mir klar geworden war. Die Jungen folgten mir. »In meinen Träumen erlebe ich immer wieder, wie Daniel mir sagt, dass der Mondstein mir helfen wird, menschlich zu bleiben. Aber vielleicht versucht er mir ja zu sagen, dass er ihn braucht, um sich wieder in einen Menschen zu verwandeln?«
Konnte es wirklich so einfach sein? Wieso war Gabriel nicht bereits darauf gekommen?
Erneut wanderte meine Hand zum Hals, um den Mondstein zu berühren – den Gegenstand, der Daniel retten konnte –, und wieder einmal war ich überrascht, dass er nicht da war.
»Nein!« Ich heulte beinahe laut auf und blieb abrupt stehen. Ich hätte wissen müssen, dass es keine einfache Lösung gab.
Alle Mondsteine, von denen ich jemals Kenntnis hatte, waren inzwischen zerstört.
Falls nicht …
Ich schloss die Augen und ließ jeden Augenblick des Traums von Daniel und mir im Garten der Engel Revue passieren: Der Zeichenblock. Daniels sanfter Kuss auf meine Haut. Seine warmen Finger, die den Mondsteinanhänger berühren. Der Mondstein, der nur noch die Hälfte dessen war, was Daniel getragen hatte, bevor …
In meinem Kopf wurde das schöne Bild von Daniel plötzlich durch eine meiner schrecklichsten Erinnerungen verdrängt – die Nacht, in der Jude dem Fluch des Werwolfs verfallen war. Die Nacht, in der er mich infiziert und Daniel beinahe getötet hatte.
Jude war uns auf das Dach der Pfarrkirche gefolgt. Er hatte Daniel herausgefordert, der sich jedoch geweigert hatte zu kämpfen. Die Angst kroch zurück in meine Glieder, als ich mich daran erinnerte, wie Daniel seinen Mondsteinanhänger – das Einzige, was ihn davon abhielt, sich im Lichte des Vollmonds in den Wolf zu verwandeln – abgenommen und Jude hingehalten hatte. Ihn angebettelt hatte, den Stein zu nehmen.
Es hatte für eine Sekunde so ausgesehen, als würde Jude es tun, als würde alles gut werden. Und während sich in meinem Kopf die Erinnerungen abspielten, wusste ich wieder, was dann geschehen war. Ich hatte geschrien, als Jude den Stein an sich genommen und dann vom Dach der Kirche in die dunkle Leere hinuntergeschleudert hatte.
Und dann machte es Klick. Meine Augen wurden groß. Ich wusste genau, was meine Träume mir zu sagen versucht hatten.
Ein halber Mondstein!
»Daniel konnte damals nur die Hälfte des Steins finden, den Jude vom Dach geworfen hatte … und ich glaube, ich weiß, wo wir die andere Hälfte finden können.«