MICHAEL BRESSER betreibt eine Schweinezucht in Hannover. Sein Eber Guido wird sich in Kürze bei Germany’s Next Top Animal einer breiten Öffentlichkeit präsentieren.
MARTIN SPRINGENBERG hat die Profifußballerkarriere ad acta gelegt. Momentan veranstaltet er in Dülmen illegale Kaninchenrennen.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.de/Mella
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-206-7
Münsterland Krimi
Originalausgabe
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»Mein Leben fühlt sich an wie gejagte Wale
Wie ein Pferdeschemel voller Zucht und Randale
Ich packe meinen Kopf in das Maul des Löwen
Leg mich in den Wind und flieg mit den Möwen
Wenn es eine Lektion gibt, habe ich sie gelernt
Das Leben ist wie Feuer, es brennt und es wärmt«
aus: Thees Uhlmann,
Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf
Michael dankt Steffi, du bist das Beste in meinem Leben. Joy Lohmann für Inseln des Glücks, Wolfram Hänel für leuchtende Kinderaugen und Northern Lite für euren sphärischen Pop ’n’ Roll. Ihr lasst mich an eine bessere Welt glauben.
Martin dankt allen Nannen-Freaks für deren Treue und Support (ihr da draußen wisst, wen ich meine) sowie Chickenfoot für deren Mucke.
Geld spielt keine Rolex
Blut, Blut, nichts als Blut. Ich hätte nie gedacht, dass ein solch kleiner Körper so viel roten Saft produzieren könnte. Dazu ein gammeliger Zettel, auf den »DU BIST DER NÄCHSTE, REXFORTH!« geschmiert war.
Ratlos standen Bauer Günter Rexforth, mein Kumpel Stefan Jahnknecht und ich, Dieter R. Nannen, am Tatort.
»Wer macht so was?«, fragte Günter angeekelt.
»Keine Ahnung«, gab ich zu.
»Das war George, der kommende Star am Kaninchenfirmament. Ein Musterexemplar. Dazu ein einwandfreier Charakter und pflegeleicht, wie ein Karnickel nur sein kann. Aber das dürfte dem Mörder egal gewesen sein. Für mich ist das kein Mensch«, schnaubte der Landwirt.
»Hast du Feinde, Günter?«
Achselzucken.
»Bauer Rexforth sein super Chef«, übersetzte Stefan die nonverbale Kommunikation des Landwirts. Der Knecht war ein Freund von mir, liebte mich wie seinen großen Bruder, war aber mental äußerst übersichtlich strukturiert.
»Dieter, ich erteile dir den Auftrag, den Mörder zu fangen.«
»Ich darf nicht, Günter. Mir sind die Hände gebunden. Leider«, wehrte ich halbherzig ab.
»Hab dich nicht so. Geld spielt keine Rolex. Das Schwein muss gefasst werden.«
»Na gut. Ich schaue mich um. Aber nur inoffiziell.«
Und das hatte folgenden Grund: Es war ein regnerischer Samstag vor zwei Wochen gewesen. Der Himmel spie Strickwolle über das südliche Münsterland aus und verwandelte die Äcker rund um meinen alten Kotten in morastige Tümpel. Da die Auftragsbücher der Ein-Mann-Detektei Nannen leerer als die Staatskasse waren, wälzte ich mich länger als üblich im Bett und träumte von sonnigen Gefilden, wo strahlende Schönheiten kühle Getränke am Pool servierten. Hmm. Just als der dritte Cuba Libre meine Lippen befeuchtete, klingelte es an der Tür. Missmutig zog ich die Decke über den Kopf, was die Schelle jedoch nicht zum Verstummen brachte. Wütend sprang ich aus der Kiste, hüllte meinen Edelkörper in einen Bademantel und öffnete.
»Guten Morgen, mein Sohn. Wir waren gerade in der Gegend und dachten, schauen wir mal bei Dieter vorbei.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, preschte mein alter Herr an mir vorüber, schnieke wie eh und je im dunkelblauen Zweireiher. Mitte sechzig, militärisch gestutztes Haar und unifarbene Armani-Krawatte. Nicht, dass ich einen Binder vom anderen unterscheiden konnte, doch vertrat Vater die These, dass teure Kleidung unterm Strich Geld sparen würde. Deshalb nur Armani.
Im Schlepptau meine Mutter, drei Jahre jünger als er und mit ihrem weißen Ballkleid zwar passend gekleidet für den Wiener Opernball, jedoch nicht für die raue westfälische Luft. Sie zitterte vor Kälte und spurtete sofort zur Heizung. Für eine erlesene Optik hatte Mama schon immer gern gelitten.
Meine Eltern waren mir seit einer knappen Dekade nicht unter die Augen getreten. Vermisst hatte ich sie nicht. Mutter konzentrierte sich seit Menschengedenken ausschließlich auf Männerbekanntschaften und den Lebensstil der Hautevolee. Dieter war ihr wumpe, ich hatte die diversen Kindermädchen Mama genannt. Während meiner ersten Schultage war ich überrascht, dass andere Kinder nur eine Mutter hatten.
Angesichts der Kontaktanzeige meines Vaters war das Drama vorgezeichnet. Eine halbe Seite in der FAZ mit folgendem Text, der alles über meine Familie aussagt:
»Vorstandsvorsitzender einer börsennotierten Bank, Mitte 30, 1,80 m, mit herrlichem Anwesen am Meer und einer Farm in Kanada, sucht Frau fürs Leben. Planen Sie die Zukunft mit diesem interessanten, attraktiven und charmanten Gentleman, der auf der Sonnenseite des Lebens steht. Geschäftstüchtig, innovativ, klar in Lösungen denkend, blickt er auf eine einzigartige Karriere, pflegt allerbeste Beziehungen zu den Großen der Wirtschaft und führt privat ein Leben auf hohem Niveau. Er ist Liebhaber edler Dinge, exzellenter Hobbykoch, Pianist, Kunstsammler, Sportler und Familienmensch. Er sucht eine anspruchsvolle, selbstbewusste Frau, die an die Liebe glaubt, für spätere Familiengründung.«
Der Inhalt der Annonce mochte im Großen und Ganzen stimmen, aber welche vernünftige Frau meldete sich auf derartige Angebereien? Korrekt, keine. Jedenfalls keine, mit der ein Mann Pferde stehlen kann und noch bei der Baumwollhochzeit im Honeymoon schwebt.
Letztendlich war das meinem Dad auch egal, denn er war mit seiner Bank verheiratet. Die Farm in Kanada haben weder Mutter noch ich jemals gesehen.
Als der Alte herausbekam, dass Mutter sich durch diverse Frankfurter Betten schlief, reichte er die Scheidung ein. Konnte ich nachvollziehen. Nicht jedoch, dass Sohnemann ihm genauso schnuppe war. Wäre ich nicht dank einer glücklichen Fügung des Himmels psychisch stabil gewesen, hätte ich von diesem herzallerliebsten Familienleben bleibende Schäden davongetragen.
Nach seiner Pensionierung war Vater auf die schöne Insel Mallorca gezogen, die abgeschmackten Weihnachtskarten – das einzige jährliche Lebenszeichen – hatte ich nie beantwortet. Von Mum hörte ich noch weniger, sie war für derartige Zuneigungsbekundungen zu beschäftigt.
»Didi, was bist du groß geworden!« Sie hauchte mir zwei Küsschen auf die Wange. »Ich kann nicht sagen, wie sehr ich dich vermisst habe.«
Wer sollte das denn glauben?
»So wohnst du also«, stellte mein Vater mit missbilligendem Unterton fest.
»Und zwar überaus gut«, plusterte ich mich auf. Wenn es einen Vorteil hatte, dass sich die Eltern einen Dreck um einen scherten, war es der, dem obligatorischen Generationskonflikt zu entgehen. Schien aber, als stünde mir dieses Erlebnis heute bevor.
»Darüber sprechen wir noch.« Paps lockerte seine Krawatte.
»Klaus, du mutest mir zu viel zu. Das Haus ist absolut primitiv eingerichtet. Hier werde ich niemals wohnen«, keifte meine Mutter urplötzlich los.
»Sei still, Isolde, das klären wir gleich«, zischte er, dann drehte sich sein Kopf wieder in meine Richtung: »Willst du deinen Eltern nichts zu trinken anbieten?«
»Darf es Kaffee sein, oder ist das nicht fein genug? Wie war das mit dem Wohnen?«
»Kaffee ist gut. Mit Milch und Zucker. Isolde, für dich mit zwei Süßstofftabletten, richtig?«
Meine Mutter nickte geistesabwesend.
Während ich dem unerwünschten Besuch zähneknirschend die Brühe zubereitete, studierte Klaus Nannen meine Bücherregale. »Du liebst immer noch die Literatur, wie ich sehe. Sehr löblich. Was treibst du sonst? Bist du noch Prokurist bei dieser Essener Firma?«
Ich hasste Verhöre, es sei denn, ich stellte die Fragen.
»Nein. Das war mir zu langweilig. Ich arbeite als Privatdetektiv, und das überaus erfolgreich. Ich habe schon mehrere Morde aufgeklärt und bin mittlerweile die Nummer eins im Münsterland.«
»Das ist kein Job für dich, Junge. Nein, nicht für Klaus Nannens Sohn. Immer im Abfall der Gesellschaft herumzuschnüffeln. Inakzeptabel, oder was meinst du, Isolde?«
»Du sagst es, inakzeptabel.« Meine Mutter nippte angeekelt am Kaffee, als hätte ich Jauche serviert. Mir wurde wieder bewusst, warum ich den familiären Kontakt unter Sparflammenniveau gehalten hatte.
»Ich verstehe nicht, wie Dieter uns so was antun kann.« Sie stellte die Tasse ab.
»Zischt ab! Ich habe euch zehn Jahre nicht gesehen und freue mich schon auf die nächsten zehn.«
»Piano, piano, mein Sohn. Wenn ich den Zustand deiner Wohnung betrachte, scheinst du nicht in festen Händen zu sein. Deine Umgebung ist alles andere als ordentlich.« Klaus hielt mit spitzen Fingern eine Musikzeitschrift in die Höhe.
»Bin zurzeit solo.« Ich war selbst überrascht, dass ich dieses Gespräch fortsetzte. Schien ein kindlicher Reflex zu sein. »Ich habe jedoch ein Auge auf eine attraktive Geschäftsfrau geworfen, also macht euch keine Sorgen.«
»Machen wir aber, nicht wahr, Isolde?«
»Der Junge ist über dreißig, da muss eine Frau ins Haus.« Sie dozierte über mein Leben, als wäre ich nicht anwesend.
»Ernährst du dich gesund? Und wie sieht es mit Alkohol und Drogen aus? Müssen wir uns darum auch kümmern, oder denkst du wenigstens in diesem Bereich an deine Eltern?«
»Das reicht. Dürfte ich euch bitten, meine Wohnung zu verlassen? Ihr seid hier nicht willkommen.«
»Die Alkoholvorräte sind im Rahmen.« Meine Mutter hatte ohne Erlaubnis die Küche inspiziert. »Aber er raucht! Überall stehen Aschenbecher.«
»Mein Gott!« Klaus schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Wie kann jemand nur so dumm sein, sich freiwillig die Gesundheit zu ruinieren?«
»Raus! Aber zügig!« Wütend stand ich auf und öffnete die Haustür.
»Piano, piano, mein Sohn. Setz dich und spitz die Ohren.«
Auf elterliche Anweisungen konditioniert wie ein pawlowscher Köter, ließ ich mich wieder auf dem Sofa nieder.
»Du ebenfalls, Isolde. Ich habe schlechte Nachrichten«, wurde Klaus plötzlich ernst, während seine Exfrau ein seidenes Taschentuch hervorholte. »Ich bin todkrank, Bauchspeicheldrüsenkrebs.«
»Das tut mir leid, ich –«
»Keine Sentimentalitäten«, winkte Vater ab, während Mutter wie ein Schlosshund heulte. »Die Ärzte geben mir sechs Monate, maximal. Noch geht es mir gut, aber das wird sich bald ändern. Innerhalb weniger Wochen werde ich zum Skelett abmagern. Durch die Chemo werden meine Haare ausfallen. Das wird nicht lustig für deinen Vater.«
»Was soll ich dazu sagen? Ich bin sehr –« Auch diesen Satz brachte ich nicht zu Ende.
»Musst du nicht. That’s life. Aber wenn einem der Sensenmann ins Gesicht lacht, denkt man über sein Leben nach, und ich möchte vor meinem Abgang alles in Ordnung bringen. Letztendlich seid ihr beiden die einzigen Menschen, an denen mir etwas liegt.«
Das hatte er bisher aber gut verborgen.
»Machen wir’s kurz: Du, Dieter, wirst ein erkleckliches Sümmchen erben.« Er machte eine Kunstpause. War schon immer ein Fan theatralischer Auftritte gewesen. »Eine Million Euro.«
Boing, mir wurde ganz schummrig. Ich sah mich in Geld baden und dicke Feten schmeißen, doch dann musste ich an meinen Vater denken, was die geplante Fete zu einer Trauerveranstaltung mutieren ließ.
»Ich fühle mich geehrt und –«
»Stopp, nicht so voreilig. Eben habe ich einen Einblick in deinen Lebenswandel bekommen. Was ich gesehen habe, gefällt mir überhaupt nicht. Deswegen sind einige Bedingungen an das Erbe geknüpft.«
Der berühmt-berüchtigte Haken, na klar.
»Schluss mit dem Lotterleben. Als Erstes verlange ich einen gesunden Lebensstil. Mit dem Rauchen ist ab sofort Schluss, und du treibst mindestens dreimal die Woche Sport.«
Ein Einschnitt in die freie Entfaltung meiner Persönlichkeit. Ich hasste ihn dafür. Aber für eine Million?
»In Ordnung«, quetschte ich zwischen den Zähnen hervor.
»Zum Zweiten erwarte ich, dass du eine feste Beziehung eingehst und dich innerhalb des nächsten halben Jahres verlobst.«
Ziemlich ambitioniert, aber irgendwas würde mir schon einfallen. Für eine Million.
»Okay.«
»Und last but not least: Detektiv, oder wie du dich schimpfst, ist kein Beruf für einen Nannen. Wir sind Manager, Juristen, oder wenn es dafür nicht langt, zumindest Arzt. Du suchst dir sofort eine adäquate Stelle.«
»Ausgeschlossen. Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe. Ich liebe meinen Beruf!« Nun geriet mein Blut doch in Wallung.
»Das kann ich nicht, du hast recht. Ich kann aber entscheiden, was ich mit der Million mache. Also: Gesundheit, Frau und vernünftiger Job, sonst siehst du keinen Cent. Und damit du uns nicht an der Nase herumführst, wird Isolde bei dir einziehen. Drei Monate lang.«
Ich verfluchte ihn innerlich, denn das war schlimmer als alle drei Bedingungen zusammen. Er musste mich wirklich hassen.
»Ich bin mir sicher, dass Mama Besseres zu tun hat, als auf mich aufzupassen.«
»Hat sie nicht. Sie bekommt nämlich ihren Teil vom Erbe nur, wenn sie hier wohnt und deine Fortschritte kontrolliert. Solltest du scheitern, was ich nicht hoffe, fällt ihr dein Anteil zu. Sie bekommt dann zwei Milliönchen.«
Da hatte er sich was Schönes ausgedacht. Meine eigene Mutter sollte mich ausspionieren wie eine Stasimitarbeiterin.
»Bist du schon auf die Idee gekommen, dass Mom durchaus ein Interesse daran haben könnte, mich scheitern zu lassen? Wenn sie dir irgendeinen Bockmist erzählt, kann ich –«
»Hältst du mich für so dumm?«, wurde ich vom Senior unterbrochen. »Sie muss natürlich Beweise liefern.«
»Wir werden uns schon verstehen, Jungchen.« Isolde tätschelte meinen Kopf. »Wir haben nun genug Zeit, Versäumtes nachzuholen und unserer Mutter-Kind-Liebe wieder Nahrung zu geben. Ich freue mich so auf unser Zusammenleben, das kannst du dir nicht vorstellen.«
Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Sollte ich das Angebot annehmen, stand mir eine schwere Zeit bevor. Andererseits musste ich für eine Million Taler ziemlich lange durch Schlüssellöcher spannen oder Blaumacher verfolgen. Was sollte es? Schließlich hatte ich schon schwierigere Krisen gemeistert.
»Wenn es dein Wunsch ist, Papa, akzeptiere ich.«
»Ich wusste, dass ein echter Nannen immer auf den Pfad der Tugend zurückkehrt. Das wird mir meinen Leidensweg erleichtern. So, mein Flieger hebt in exakt acht Stunden ab. Bis dahin machen wir es deiner Mutter hier richtig gemütlich.«
Er fischte das Handy aus seiner Jackettasche, tätigte einen Anruf, und eine Zigarettenlänge später rollte ein Lieferwagen auf den Hof. Es war alles von langer Hand geplant gewesen: Zwei Monteure schleppten ein Himmelbett ins Haus, gefolgt von zwanzig Kisten mit Porzellanhunden, chinesischen Vasen und Modemagazinen. Ohne den Kram fühlte Mama sich einfach nicht wohl. Aschenbecher und Kippen wurden entsorgt, dann durfte ich mich auf Jobsuche begeben.
Von meinem Kumpel Stefan Jahnknecht wusste ich, dass Bauer Rexforth in Merfeld einen Buchhalter suchte. Das akzeptierte Vater als Stelle mit Aussicht auf Aufstieg ins Management. Mit Mama und Papa im Rücken vereinbarte ich einen Vorstellungstermin, dann ließ sich Klaus vom Taxi-Express Dülmen zum Düsseldorfer Flughafen chauffieren.
Am nächsten Tag erhielt ich den Job bei Günter Rexforth. Noch stand ich zwar nicht auf der Sonnenseite des Lebens, aber zumindest hatte ich zum ersten Mal eine Ahnung, wo die liegen konnte. Das wollte ich zumindest glauben. Naiver Nannen.
Ein echter Nannen
»Deine Arme und Beine werden schwerer und schwerer.«
Ja.
»Ein wohlig-warmes Gefühl umhüllt deinen Körper, der sich immer tiefer entspannt.«
Yep.
»Du wirst von nun an nicht mehr rauchen. Zigaretten sind ungesund und verursachen schwere Krankheiten. Du ziehst Sport und Frischluft dem ungesunden Rauch einer Zigarette vor.«
Nein. Ich stand kerzengerade auf Mutters rotem Ledersofa. Was wollte Gisela Cane mir da erzählen?
Karin Schumann, meine heiß und innig geliebte Nachbarin, hatte meine Wandlung insbesondere im Hinblick aufs Rauchen sehr wohlwollend aufgenommen, um es mal vorsichtig auszudrücken. Spätestens Silvester hätte sie mir sowieso das Versprechen auf den Stäbchenverzicht abgenommen, behauptete sie. Meine Lunge würde schräger pfeifen als der Blasebalg der Bulderner Domorgel, behauptete sie. Alles Lüge.
Fortan wurden mir in regelmäßigen Abständen Carrs »Endlich Nichtraucher« und diverse Hypnose-Scheiben zugesteckt. Carr hatte ich nach drei Kapiteln dem Altpapier anvertraut. Ab und an, wie zum Beispiel an diesem wunderschönen Aprilmorgen, haute ich mich mit Hypnotiseur Ramses, Peter Black oder Tante Elsbeth aufs Sofa und hielt ein Nickerchen unter Laberberieselung. War zwar ganz nett, die Füße hochzulegen und die Augen zu schließen, aber das eigentliche Ziel, mir die Wandlung zum überzeugten Nichtraucher zu erleichtern, wurde verfehlt. Karin sollte besser die eBay-Gebühren sparen und der Kraft meines Willens vertrauen.
Kaum zu glauben, aber ich hatte seit dem erfrischenden Familientreffen tatsächlich keine Kippe mehr angerührt, auch wenn der Verzicht alles andere als einfach war. Das auferlegte Fitnessprogramm lief dagegen wie geschmiert: Ich hatte einen Halbjahresvertrag bei der Dülmener Muckibude »MusclExplosion« abgeschlossen. Dem Inhaber, Chuck Kaschnitzki, hatte ich in meinem Schnüfflerleben das gestohlene Motorrad wiederbeschafft. Marvin Bunge, ein Dülmener Gymnasiast, hatte sich das Teil geborgt, um zu einem Casting für »Deutschland sucht den Superdeppen« nach Köln zu brettern. Ich hatte ihn in einer Kneipe in Domnähe erwischt, wo er mit Hilfe von Tequila den Frust runtergespült hatte. Die Jury habe ihm das Talent einer Amöbe attestiert, dabei habe er in Dülmener Kneipen drei Karaoke-Wettbewerbe gewonnen. Sein Traum sei zerstört, hatte er mir die Ohren vollgeheult. Marvin musste den Hobel wieder zurückbringen, mit der Zahnbürste säubern und fünf Tankfüllungen berappen. Dafür verzichtete Chuck auf eine Anzeige.
Ebendieser Typ stellte mir pro Woche drei Scheine aus, auf denen bestätigt wurde, dass ich zwei Stunden trainiert hätte, als wollte ich an der Mister-Universum-Kür teilnehmen. Den Vertrag und die ersten fünf Anwesenheitsurkunden hatte ich bereits meinem Vater zugemailt. Meiner Mutter traute ich nämlich keinen Millimeter über den Weg.
Jetzt fehlte eigentlich nur noch die Frau an meiner Seite, aber man sollte nichts überstürzen.
Ich wechselte von der Couch an den Küchentisch und frühstückte ausgiebig. Eines musste man meiner Mitbewohnerin lassen: Seitdem Isolde die Nannen-Villa bezogen hatte, war der Kühlschrank prall gefüllt, und zwar nicht mit irgendwelchem Lidl-Mist, sondern mit extra aus Münster eingeflogener Feinkost. Und tatsächlich: Mortadella für fünf Euro die Scheibe schmeckte besser als die Discounter-Variante.
Nachdem ich die letzte mit Trüffelleberwurst bestrichene Brötchenhälfte verdrückt hatte, leierte ich dem Kaffeevollautomaten einen Cappuccino aus dem Kreuz, zückte mein Handy und drückte eine mallorquinische Nummer in die Tasten.
»Sohn, ich spiele gleich Polo. Sport verlängert mein Leben, meint mein Arzt. Mach es kurz.«
»Ich möchte von meinen Fortschritten berichten. Vielleicht trägt das zu deiner Genesung bei«, erwiderte ich.
»Du kriegst das schon hin. Weiterhin gutes Gelingen.« Wieder mal plättete mich das väterliche Desinteresse.
»Rauchen ade, Sport satt, und im Job läuft es auch super. Allerdings ist da so viel los, dass ich sogar zu Hause arbeiten muss«, log ich, »und deshalb benötige ich dringend einen Laptop. Und da mein Auto morgen ein Date mit dem TÜV hat und die Zeichen eindeutig auf Scheidung stehen, muss ein anderer fahrbarer Untersatz her. Ansonsten sehe ich schwarz für meine berufliche Zukunft.«
»Ich bin dein Vater, keine Kuh, die permanent gemolken werden kann«, drang es genervt an meine Lauscher. »Reicht es nicht, dass du nach meinem Tod in Geld schwimmst?«
»Ihr habt mich doch zu dieser Arbeit gezwungen. Ohne Auto und Rechner kann ich die knicken. Sag dann nicht, ich hätte mich nicht bemüht.«
»Eigentlich solltest du für dich selbst sorgen können, aber gut, ich lasse dich nicht hängen. An was für ein Auto hast du gedacht?«
»Im Dülmener Autohaus Köhler gibt es einen preiswerten VW-Eos-Jahreswagen. Keine Extras, Top-Zustand und vom Preis her fast geschenkt. Als Rechner reicht mir ein Standard-Laptop. Ich will ja nicht daddeln, sondern arbeiten.«
»Okay. Deine Wünsche lassen sich erfüllen.«
»Vielen Dank. Die Rechnungen schicke ich nach Mallorca, okay?«
»Nichts gegen deinen Eifer, das zeigt den Nannen in dir. Aber du brauchst dich um nichts zu kümmern. Auto und Rechner werden innerhalb der nächsten Stunden geliefert.«
Das lief wie geschmiert. Ich rieb meine vor Freude schwitzigen Hände.
»Vielen Dank, Papa. Ich werde mich deines Vertrauensvorschusses würdig erweisen.« Zum ersten Mal fühlte ich mich meinem Erzeuger verbunden.
»Ohne Notebook werde ich rausgeschmissen«, drückte ich noch mal auf Vaters nicht vorhandene Tränendrüse. Ich hatte nämlich gestern kurz über den Kaninchenmord nachgedacht und war zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Internetrecherche über weitere Langohrtötungen in dieser Gegend ein geschmeidiger Einstieg in den Fall wäre. Mittlerweile gab es zu jedem Thema irgendwas im World Wide Web, und falls es sich bei dem Karnickelmörder um einen Serientäter handelte, musste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn ich nichts finden würde.
»Du hast bereits mein Go, also spar dir die Mühe. Was macht Isolde?«
»Sie hat sich bestens eingelebt und möchte am liebsten –«
»Ich muss los.« Meine Mutter lag ihm offensichtlich noch mehr am Herzen als sein Stammhalter. »Bis dann, der Gegner wartet, danach die Ärzte.«
»Viel Glück«, sagte ich noch, dann war’s vorbei mit der deutsch-spanischen Verbindung.
Ich linste auf die Armbanduhr: halb neun. Schichtbeginn. Nach einem kurzen Anruf wusste mein Arbeitgeber, dass ich später kommen würde. Das Fest der Lieferung meines funkelnagelneuen Eos und Laptops wollte ich mir nicht entgehen lassen. Da Mutter sich mit einem Taxi nach Münster hatte kutschieren lassen, um eine Astrologin zu konsultieren, gehörte mein Kotten ausnahmsweise mir allein. Ich öffnete eine Schampusflasche und stieß mit mir auf meinen Vermögenszuwachs an.
Anderthalb Stunden später klingelte es: Freddy Köhler. Der Juniorchef hatte vor wenigen Monaten seine Lehre als Kfz-Mechaniker beendet und durfte erste Erfahrungen im Verkauf sammeln. Mit seinem sommerbesprossten Gesicht und den fuchsroten Haaren erinnerte er stark an den jungen Boris Becker. Allerdings spielte er Handball in der Bezirksliga und nicht Tennis in Wimbledon.
»Kann mich dein Vater nicht adoptieren? Mensch, wenn mein Alter so großzügig wäre.« Neid schimmerte in seinen Augen. »Du hast dir ein tolles Auto ausgesucht. Und der Golf soll zum Schrott?«
Grinsend händigte ich ihm Papiere und Schlüssel aus. »Weg damit, aber flott.«
Freddy drückte dem vor der Tür wartenden Azubi die Schlüssel in die Hand, und zwei Minuten später fuhr die Klapperkiste vom Hof und aus meinem Leben.
»Nun zeig ihn mir schon, dann kannst du mir auch gleich die ganze Technik erklären. Aber wahrscheinlich muss man Informatik studiert haben, um mit dem Wagen zurechtzukommen, oder?«
Freddy überlegte kurz: »Ich denke nicht. Ist kein Hexenwerk. Komm, wir haben das Schätzchen hinter dem Haus geparkt.«
Ich schmiss eine Lederjacke über, dann stiefelten wir zur königlichen Kutsche. Als wir um die Ecke bogen, fielen mir fast die Augen aus dem Kopf.
»Was ist das denn?« Meine Stimmung sank in Lichtgeschwindigkeit.
»Dein neuer Capri. Ein echtes Sammlerstück. Die Sekretärin deines Vaters fragte nach einem besonderen Auto, und da haben wir sofort an den Ford gedacht. Ein echtes Schmuckstück von 1971.«
»Da war ich noch nicht mal geboren«, stöhnte ich verzweifelt.
»Zugegeben, einige Macken hat er schon. Manchmal läuft er in den Kurven nicht rund. Aber hundertachtzig Pferdchen unter der Haube plus Sportauspuff. Mann, das war damals ein echter Hingucker.«
»Ich mag es nicht so protzig. Können wir den Wagen nicht tauschen, zum Beispiel gegen den Eos?« Ich sah mich im Geiste an jeder Kreuzung mit dem ADAC telefonieren.
»Ausgeschlossen. Du solltest stolz sein, solch einen Oldtimer fahren zu dürfen. Die Sekretärin deines Vaters hat mir unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass der Deal nur für den Capri gilt. Der ist schließlich auch deutlich günstiger. Zumindest in der Anschaffung. Wegen der Tankkosten musst du dir natürlich was einfallen lassen, aber das machst du schon.« Er händigte mir Papiere und Schlüssel aus. »Viel Spaß damit!«
Einen gewissen Schick hatte die Karre ja, das musste ich eingestehen. Hoffentlich fuhr sie auch.
Als Freddy von dannen brauste, kam ein Lieferwagen der örtlichen Computerbude »Dütech« auf den Hof. Allesamt Studienabbrecher, die aber einen Superjob machten und daher für die Wartung sämtlicher Server von Billerbeck bis Nottuln zuständig waren.
Ein hochgewachsener Endzwanziger mit Stoppelfrisur und Nickelbrille entstieg dem verbeulten Kleinlaster. Igor.
»Alter, was geht ab?«, begrüßte er mich gewollt jugendlich, als hätte er just ein Praktikum an der Rütlischule absolviert.
»Und selbst?«, erwiderte ich gekonnt, wobei ich nicht ernsthaft eine Antwort erwartete.
»›Nannen International‹ hat heute einen Call zu ›Dütech‹ abgesetzt. Voll die Checker, sag ich dir. Finde ich megageil, dass du auch auf Hightech umsattelst. Via Internet bist du worldwide connected. Giga«, kauderwelschte er.
»Leg die Drähte und ab die Post«, versuchte ich mich auf seinem Sprachlevel auszudrücken.
»Digga. Hätte nie gedacht, dass du den musealen Trip fährst.« Er schaute mich fragend an. Anscheinend stand mir die nächste Überraschung ins Haus.
»Wie bitte?«
»Na, heute kannst du für tausend Steine ein Multimedia-Notebook mit allem Zipp und Zapp schießen. Die Sekretärin von deinem Alten meinte aber, dass du auf historische Modelle stehst. Na ja, über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten.«
»Was bekomme ich?« Ich konnte es mir fast denken.
»Einen 486er mit Modem und Nadeldrucker wie in der ›Geschichte der Informationstechnologie‹. Die erste Lok, die von Nürnberg nach Fürth juckelte, ist schließlich auch heiß. Aber damit in Urlaub fahren? Nee, das muss selbst bei meinem Geschichtsfaible nicht sein«, grinste Igor.
»Besteht die Chance, den Rechner gegen ein zeitgenössischeres Modell umzutauschen?«
»Klar, aber das komplette Paket kostet fünfzig Euro inklusive Anfahrt. Wenn du die Differenz bezahlst …«, überlegte der Techniker laut.
Das gab mein Geldbeutel nicht her.
»Installier den Oldie«, antwortete ich daher gefrustet.
Igor baute den Turm in meinem Büro auf und verlegte die zwanzig Meter lange Modemleitung zur Telefonbuchse. Besser als nichts, versuchte ich mich zu trösten.
Nach getaner Arbeit fuhr der Computerfreak zum nächsten Kunden und ich zum Hagenhof. Als ich dem Capri die Sporen gab, röhrte er wie ein getunter GTI. Mit Tempo siebzig düste ich vom Hof, allerdings stotterte der Motor bereits an der nächsten Kurve. Also langsamer. Auf der Fahrt nach Merfeld testete ich sämtliche Geschwindigkeiten und stellte fest, dass der Wagen bei fünfzig am reibungslosesten lief. Leider musste ich bereits jetzt tanken, obwohl der Tank vor Fahrtbeginn halb voll gewesen war. Ein Wahnsinnsgeschenk.
Auf dem Hagenhof angekommen, wählte ich die bekannte mallorquinische Nummer.
»Dieter, ich muss gleich zum Arzt. Mach schnell.«
»Danke für deine rasche Hilfe.« Meine Stimme troff vor Sarkasmus. »Es hätte aber durchaus ein zeitgenössisches Auto sein können, das nicht bei jeder Beschleunigung kurz vor der Explosion steht. Auch der Rechner hätte gern aus diesem Jahrtausend stammen können. Ich will nicht undankbar erscheinen, aber für jemanden, der sich seiner klugen Investitionen brüstet, sind diese Einkäufe kein Ruhmesblatt.«
Nannen senior lachte amüsiert: »Sohn, einen Nannen zeichnet aus, dass er sich nichts schenken lässt. Wir erarbeiten uns alles von der Pike auf. Wenn ich dir einen Ferrari gekauft hätte, würdest du das nicht zu schätzen wissen. Wenn du aber mit einem Capri und einem alten Rechner zurechtkommst, steht dir die Welt offen. Das ist meine Philosophie, die sich seit Jahrzehnten bewährt hat. Gute Fahrt, ich wurde aufgerufen.« Er kappte die Verbindung.
Mir hingen die Sprüche über das Wesen eines echten Nannen mittlerweile aus allen Körperöffnungen heraus. War ein Nannen ein schrottkistenfahrender Gesundheitsapostel oder ein geldgeiler Idiot, der sich von Papi verarschen ließ? Ich tendierte zu Letzterem, aber noch war die Höhe der Erbschaft Anreiz genug, das Schmierentheater mitzumachen.
Mein Handy klingelte.
»Papa? Gibt es was Neues von den Ärzten?« Ich konnte meine Überraschung kaum verbergen.
»Danke der Nachfrage, aber ein Nannen klagt nicht. Mir ist da noch was eingefallen. Wie gut kennst du eigentlich diesen Chuck?«
Was sollte denn diese Frage?
»Flüchtig. Ihm gehört das Fitnessstudio, in dem ich trainiere. Wieso?«
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ich habe Nachforschungen angestellt. Meine Quelle berichtet, dass du noch keine Trainingsminute absolviert hast. Gleichzeitig treffen immer wieder deine Bescheinigungen bei mir ein. Als ich Chuck auf diese Diskrepanz aufmerksam gemacht und Konsequenzen angedroht habe, hat er euren Deal eingestanden. Schreib dir eines hinter die Lauscher: Wenn ein Nannen betrügt, lässt er sich nicht erwischen. Mit so einer schlecht inszenierten Show rückt das Erbe in weite Ferne. Entweder du reißt dich jetzt am Riemen und lebst wie ein richtiger Nannen, oder du gehst leer aus. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Hast du«, murmelte ich kleinlaut. »Ein Ausrutscher, weil mich der neue Job so vereinnahmt.«
»Ich verlange, dass du die besprochenen Veränderungen in deinem Leben ernsthaft durchführst. Meine Spione sitzen überall. Du kannst mich nicht über den Leisten ziehen. Das haben schon ganz andere versucht.«
»Zu Befehl.« Einen ironischen Unterton konnte ich nicht vermeiden.
»Denk dran, dies ist deine letzte Chance. Ich kann mein Vermögen auch Greenpeace vererben, auch wenn ich Unruhestifter genauso wenig mag wie meine Krebszellen. Immerhin haben die mich noch nicht angelogen. Zurück zum Thema: Mein Physiotherapeut hat ein Sportprogramm zusammengestellt und diesem Chuck zugefaxt. Ferner haben wir einen schriftlichen Vertrag abgeschlossen, in dem er deine sportlichen Fortschritte garantiert. Und glaube mir: Chuck steht das Wasser bis zum Hals. Er wird schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb dafür sorgen, dass du deinen Körper wieder auf Vordermann bringst.«
Das war ein nettes Schlusswort. Wir legten auf. Klaus Nannen mit dem Gefühl, der allmächtige Zampano zu sein, und ich in der Gewissheit, dass ich mit ihm in diesem Leben auf keinen grünen Zweig kommen würde. Aber es gab Schlimmeres, zum Beispiel die Pflichtbesuche in der Muckibude.
Was nun? Warum nicht meine schlechte Laune mit Arbeit vertreiben?
Und so verbuchte ich im Laufe des Vormittags zahlreiche Ausgangsrechnungen über Schweinehälften und Eingangsrechnungen über Futter, wobei das Pendel eindeutig Richtung Schweinehälften ausschlug. War schon lukrativ, was Günter da auf die Beine gestellt hatte.
Die Schweinezucht war jedoch nicht die einzige Einnahmequelle: Günter Rexforth war alleiniger Eigentümer des Hagenhofs, eines Ferienbauernhofs im Merfelder Bruch, dem Dülmener Vorzeigeortsteil. Denn in Merfeld hausten die Wildpferde. Die Herzöge von Croy hatten vor hundertfünfzig Jahren für die rund dreihundert Tiere ein Reservat geschaffen. Als einziges Wildgestüt dieser Art in Europa wurde der 1975 Dülmen angeschlossene Ortsteil das Aushängeschild der Stadt. Marlboro Country mitten im Münsterland. Wer grenzenlose Weite, Freiheit und den Geruch der Wildnis erleben wollte, war hier genau richtig. Ich liebte diesen Flecken.
Der Hagenhof war ursprünglich ein konventioneller Vieh- und Getreideanbaubetrieb gewesen mit Tausenden Schweinen, Ziegen, Kühen und anderem Getier. Vor drei Jahren hatte Günter genau an seinem fünfzigsten Geburtstag die Eingebung gehabt, die Schönheit der Kulisse für einen Ferienbauernhof zu nutzen, hatte alle Tiere bis auf die Schweine und ein paar Pferde verkauft und zehn Ferienwohnungen hochgezogen. Mit Erfolg, wie man im Dorf munkelte. Das rief natürlich Neider auf den Plan. So hatte ich in der Kirche oder bei Dorffesten gehört, dass Günter neuerdings die Nase gen Himmel streckte und auf seine popeligen Nachbarn herabschaute. Konnte ich noch nicht beurteilen. Bisher hatte er sich mir als wortkarger Landwirt mit ausgeprägtem Geschäftssinn präsentiert.
Ich kannte Günter, Spitzname »Bär«, bereits aus der Kirche, wo ich ab und an die Tasten der maroden Orgel malträtierte. Eigentlich gehörte er zur Merfelder Gemeinde St. Antonius, aber als Geschäftsmann ließ er sich auch in Buldern und allen anderen Dülmener Gemeinden blicken. Den Spitznamen »Bär« besaß er seit der Jugend wegen seines nicht gerade knabenhaften Körperbaus.
Das erst mal zu Rexforth. Bär weilte bis zum frühen Nachmittag auf einer Agrarkonferenz in Münster, sodass ich meine Mittagspause ausdehnte und mir noch einen türkischen Mokka gönnte.
Zurück auf dem Hagenhof, erwartete mich Günter im Wohn-/Esszimmer des Haupthauses, das rustikal gemütlich eingerichtet war. Vorhänge mit naiven Bauernmalereien, ebensolche auf Tapete und Tür. Ein Eichentisch mit zwölf Sitzgelegenheiten und vor dem Kamin die Ledergarnitur. Bequem, solange man nicht drin sitzen musste.
Neben Günter, der in einen grauen Arbeitsanzug mit Tierexkrementen gekleidet war, thronte seine Gattin Emily, die mit ihren fünfunddreißig Lenzen knappe zwanzig Jahre jünger als der Großbauer war und nicht so recht zum zünftigen Ambiente passte. Mit ihren offensiv zur Schau getragenen Reizen hatte sie durchaus das Zeug zum Z-Promi Marke Verena Kern. Heute steckten ihre langen Beine in einer dunkelgrauen Röhrenjeans, und der Bereich zwischen Hosenbund und Kinn wurde von einem knallengen kurzärmeligen Rollkragenpulli umhüllt. Die Haare strahlten blond und die Augen leuchteten blau, wie es sich für eine Frau gehörte, die als modisches Accessoire an Günters Seite die dörfliche Tristesse verschönerte und sein Portemonnaie erleichterte. Dies war zumindest meine Theorie nach zwei Wochen Hagenhof.
Für die Vermietung der Ferienwohnungen war ihre Anwesenheit bestimmt nicht von Nachteil, denn ich war sicher, dass die Hälfte der männlichen Gäste bei Günni gebucht hatte, um Emily beim Blumengießen und/oder Reiten zuzugucken. Schließlich lächelte Emilys Gesicht von jeder Seite des Hagenhof-Internetauftritts. Aber vielleicht irrte ich mich auch, und die beiden waren verliebter als Romeo und Julia.
»Und, wie iss?« Günter wählte die westfälische Gesprächseröffnung, wobei er nervös an einem Zuckerstreuer herumfummelte.