PERSONEN
ANTIGONE
ISMENE
DIE AMME
EURYDIKE
KREON
HÄMON
WÄCHTER
EIN BOTE
SPRECHER
ANTIGONE
1942
Neutrales Bühnenbild. Im Hintergrund drei gleiche Türen. Beim Aufgehen des Vorhangs sind alle Personen auf der Bühne. Sie plaudern, stricken oder spielen Karten. Der SPRECHER tritt vor.
SPRECHER: So … Diese Leute werden euch jetzt die Geschichte der Antigone spielen. Antigone ist die kleine Magere, die da drüben sitzt und schweigt. Starr blickt sie vor sich hin und denkt. Sie denkt, daß sie nun gleich Antigone sein wird, daß sie plötzlich nicht mehr das schmächtige, schwarze, verschlossene Mädchen ist, das keiner in der Familie ernst nimmt, sondern daß sie sich allein gegen die Welt stellen wird und gegen Kreon, ihren Onkel, der König ist. Sie denkt daran, daß sie sterben muß und – weil sie ja noch so jung ist – daß auch sie gerne noch leben möchte. Aber man kann ihr nicht helfen. Sie heißt Antigone und muß ihre Rolle durchhalten bis zum Ende. Seit der Vorhang aufgegangen ist, fühlt sie, wie beängstigend schnell sie sich von ihrer Schwester Ismene entfernt, die dort mit einem jungen Mann plaudert und scherzt. Sie löst sich von uns allen, die wir heute abend nicht zu sterben brauchen und ihr ruhig zusehen können. Der junge Mann da, mit dem die blonde, schöne, glückliche Ismene spricht, ist Hämon, Kreons Sohn, der Verlobte Antigones. Eigentlich zog ihn alles zu Ismene: seine Lust am Tanzen und Spielen, seine Freude am Glück und leichten Erfolg, seine Sinnlichkeit – denn Ismene ist schöner als Antigone. Aber eines Abends auf einem Ball, nachdem er nur mit Ismene getanzt hatte – sie hatte bezaubernd ausgesehen in ihrem neuen Kleid –, da ging er zu Antigone, die in einer Ecke saß, ihre Arme um die Knie geschlungen, so wie jetzt. Hämon bat sie, seine Frau zu werden. Keiner konnte jemals begreifen, warum er das getan hatte. Antigone blickte mit ihren ernsten Augen ohne Überraschung zu ihm auf und sagte: »Ja« – mit einem kleinen traurigen Lächeln… Die Musik spielte zu einem neuen Tanz auf, und Ismene, umgeben von anderen jungen Herren, lachte laut. Und nun soll er Antigone heiraten. Er weiß ja nicht, daß es nie einen Gemahl Antigones geben kann auf dieser Welt und daß sein fürstlicher Stand ihm nur das Sterben erlaubt.
Der kräftige, weißhaarige Mann, der nachdenklich dort neben seinem Pagen sitzt, das ist Kreon. Er ist der König. Er hat Runzeln und ist müde. Er versucht sich in dem mühsamen Spiel, die Menschen zu führen. Früher, zu Ödipus Zeiten, als er nur der Erste bei Hofe war, liebte er Musik, schöne Einbände und lange Streifzüge durch die Antiquariate von Theben. Aber Ödipus und seine Söhne sind tot. Er verließ seine Bücher und Sammlungen, krempelte die Ärmel auf und begann zu regieren.
Abends, wenn er dann müde ist, fragt er sich oft, ob es nicht sinnlos sei, die Menschen führen zu wollen, ob es nicht ein schmutziges Geschäft sei, das man weniger empfindsamen Naturen überlassen solle. Doch am nächsten Morgen erwarten ihn neue Aufgaben, und er steht auf, gelassen wie ein Arbeiter, der an sein Tagewerk geht.
Neben der Amme, die die beiden Mädchen aufzog, sitzt eine alte Dame und strickt. Das ist Eurydike, Kreons Frau. Sie strickt während der ganzen Tragödie, bis auch sie aufsteht und stirbt. Sie ist gutmütig, würdevoll und liebt ihren Mann. Aber helfen kann sie ihm nicht. Kreon ist allein mit seinem Pagen, der noch zu klein ist, um ihm beizustehen. Der dort bleich und einsam an der Wand lehnt und so merkwürdig schaut, das ist der Bote. Er wird später den Tod Hämons melden. Darum will er sich auch nicht zu den anderen stellen und schwätzen. Er weiß bereits …
Die drei Männer, die Karten spielen, mit roten Gesichtern, ihre Mützen im Genick, das sind die Wächter. Sie haben Weib und Kind und kleine Sorgen wie wir alle. Es sind also keine schlechten Kerle. Aber mit der größten Gelassenheit werden sie die Angeklagten festnehmen. Sie riechen nach Knoblauch, Rotwein und Leder und sind völlig phantasielos. Sie sind die unschuldigen und immer selbstzufriedenen Handlanger der Gerichtsbarkeit. Augenblicklich dienen sie Kreon, bis sie ihn eines Tages auf Befehl irgendeines neuen Chefs von Theben seinerseits verhaften werden. So, nun kennt ihr sie alle, und die Geschichte kann beginnen. Sie fängt damit an, daß die zwei Söhne von Ödipus, Eteokles und Polyneikos, in Streit geraten waren und sich vor den Stadtmauern gegenseitig erschlagen hatten. Denn jeder sollte immer abwechselnd ein Jahr über Theben regieren. Aber nachdem das erste Jahr verstrichen war, hatte sich Eteokles, der ältere, geweigert, die Herrschaft seinem Bruder zu übergeben. Sieben mächtige ausländische Fürsten, die Polyneikos zu Hilfe gekommen waren, wurden vor den Toren Thebens geschlagen. Die Stadt ist gerettet, und die feindlichen Brüder sind beide tot. Kreon, der neue König, ordnete für den guten Bruder Eteokles ein großartiges Begräbnis an. Polyneikos aber, der Taugenichts, der Aufrührer, soll unbeweint und unbestattet auf dem Schlachtfeld liegenbleiben, den Raben und Schakalen zum Fraß. Jeder, der sich unterstehen sollte, ihm den letzten Dienst zu erweisen, wird erbarmungslos mit dem Tode bestraft.
Während der letzten Sätze des SPRECHERS sind die Personen nacheinander abgegangen.
Der SPRECHER verschwindet.
Neue Bühnenbeleuchtung: Graue, bleifarbene Morgendämmerung. – Ein schlafendes Haus.
ANTIGONE öffnet behutsam die Türe und schleicht barfuß herein, ihre Schuhe in der Hand. Sie bleibt einen Augenblick stehen und lauscht.
Die AMME erscheint.
AMME: Wo kommst du her?
ANTIGONE: Ich ging spazieren, Amme. Es war schön. Alles so grau. Jetzt kannst du es nicht mehr sehen. Inzwischen ist alles schon rot, gelb und grün wie auf einer Postkarte. Wenn du eine Welt ohne Farben sehen willst, mußt du früher aufstehen. Sie will an ihr vorbeigehen.
AMME: Ich stehe mitten in der Nacht eigens auf, weil ich nachsehen will, ob du dich im Schlaf nicht aufgedeckt hast – und da bist du nicht mehr im Bett.
ANTIGONE: Der Garten schlief noch. Ich betrachtete ihn, ohne daß er es merkte. Schön – so ein Garten, der noch nicht an die Menschen denkt.
AMME: Du warst ausgegangen. Ich ging zur Hintertüre und fand sie offen.
ANTIGONE: Die Felder waren noch naß, und alles schien zu warten. Meine Schritte machten so viel Lärm auf der verlassenen Straße. Da bekam ich ein wenig Angst, denn man wartete doch nicht auf mich. Ich zog meine Schuhe aus und schlich mich unbemerkt über die Felder.
AMME: Du mußt dir die Füße waschen, bevor du wieder ins Bett gehst.
ANTIGONE: Jetzt lege ich mich nicht mehr hin.
AMME: Was? Es ist doch erst vier Uhr! Ich stehe eigens auf und will nachsehen, ob sie sich nicht aufgedeckt hat. Und was finde ich? Ein kaltes, leeres Bett!
ANTIGONE: Meinst du, es ist jeden Tag so schön, wenn man so zeitig aufsteht und als erste draußen ist?
AMME: Es war noch Nacht! Stockfinstere Nacht! Und da soll ich glauben, daß du nur spazierengegangen bist, du Lügnerin! Wo kommst du her?
ANTIGONE mit seltsamem Lächeln: Ja, es war noch Nacht. Nur ich glaubte als einzige, es sei schon Morgen. Es ist wunderbar, Amme. Heute war ich die erste, die an den Tag glaubte.
AMME: Tu nur wieder recht überspannt. Ich kenne das schon. Ich war ja auch einmal jung und gewiß nicht leicht zu erziehen, aber so starrköpfig wie du war ich nicht. Woher kommst du, du schlechtes Mädchen?
ANTIGONE plötzlich ernst: Nein – schlecht bin ich nicht.
AMME : Gib zu, du hast dich mit jemandem getroffen?
ANTIGONE leise: Ja – das habe ich.
AMME: Hast du einen Liebhaber?
ANTIGONE mit seltsamem Tonfall, nach einer Pause: Ja, Amme . . . Der Ärmste . . . Ich habe einen Liebhaber.
AMME herausplatzend: Das ist ja reizend! Eine feine Geschichte! Du, eine Königstochter! Da gibt man sich die größte Mühe, die Kinder ordentlich zu erziehen . . . Aber es ist ja eine wie die andere! Trotzdem – so ganz wie die anderen warst du nicht. Du hast eigentlich nie in den Spiegel gegafft und dich geputzt und geschminkt. Du hast auch nie auffallen wollen. Wie oft dachte ich mir: Mein Gott, die Kleine ist nicht eitel genug. Immer läuft sie in ihren alten Kleidern herum und ist schlecht frisiert. Die jungen Herren werden nur Augen für Ismene haben, und sie bleibt mir sitzen. Aber du bist ja noch viel schlimmer als deine Schwester. Die läßt sich wenigstens nur von jungen Leuten aus gutem Hause den Hof machen. Wenn da wirklich etwas passierte, so wüßte man wenigstens, mit wem man es zu tun hat. Aber du mußt ja immer etwas Besonderes haben. Wer ist es denn, daß du dich zu nachtschlafender Zeit aus dem Hause stehlen mußt? Irgend so ein Taugenichts vielleicht? Gewiß einer, den du niemals deiner Familie vorstellen darfst und von dem du auch nie sagen kannst: Hier, das ist er, ich habe ihn lieb und will ihn heiraten. So ist es doch? Gib Antwort.
ANTIGONE unmerklich lächelnd: Ja – so ist es, Amme.