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Fessenheim

Jürgen Lodemann

Fessenheim

Novelle

KLÖPFER&MEYER

Denn was ist eine Novelle anderes als eine unerhörte Begebenheit.

Goethe, 27. Januar 1827

1 Wenn Meiler explodieren

Aber der Kern Europas, der ist doch stabil, oder etwa nicht?

Wo der Rhein aus dem Bodensee hinausströmt in Richtung Basel, bei Konstanz also, da erschien in der sommerlichen Sonntagsfrühe des neunten August die Sonne über den Alpen und stieg in einen wolkenfreien Himmel, als um kurz nach sechs Uhr die Stille über der großen Wasserfläche von zwei gewitterhaft knallenden Schlägen zerstört wurde und von raumgreifendem Grollen.

Denn unter dem Ausgang des Schwäbischen Meeres, bei Konstanz also, war in diesem Moment eine Schwächezone der Erdkruste für knapp neunzehn Sekunden in ein Beben der Stärke 8,3 geraten, das den Grund des Rheins dort, wo er aus dem See heraus will, aufriss zu einer elf Meter tieferen Furche, die sich in gut drei Metern Breite am Rheingrund sekundenschnell nach Westen verlängerte, unter dem Untersee hindurch bis hinter Stein am Rhein. Der Bodensee, gut fünfhundert Quadratkilometer groß zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz, stürzte sich umgehend in die neue Öffnung, wie erdgeschichtlich schon oft. Pro Sekunde schossen mehr als neuntausend Tonnen oder Kubikmeter Wasser durch die neue Offenheit und räumten als Erstes die Reste der vom Beben zerrissenen Konstanzer Rheinbrücken weg.

Was man am Tag danach den »teutonischen Tsunami« nannte, das raste durch die Senke des Hochrhein, stürzte bei Schaffhausen in freiem Schuss die fünfundzwanzig Meter hinab und wenig später durch das hundertfünfzig Meter tiefere Basel, um dort, in der großen Kurve des Stroms nach Norden die chemischen Werke der Schweiz von Grund auf zu ruinieren. Alsdann, giftgesättigt, toste die Wasserwalze an der deutsch-französischen Grenze entlang durch den Grand Canal d’Alsace, übersprang wehrlose Stauwehre, um Straßburg heimzusuchen und kurz danach das gleichfalls tief gelegene Karlsruhe und am selben Tag auch die Straßenquadrate von Mannheim und, auf der anderen Rheinseite, in Ludwigshafen die größte Chemiefabrik des Planeten, in der sich das Getöse neu aufmischen konnte, nun ins nachhaltig Ätzende.

Am Abend dieses sonnigen Sonntags durchspülte das noch Worms und in der sternklaren Nacht auch Mainz und das mittlere Rheintal mit seinen berühmten Machtbunkern und Zollkontrollruinen, erreichte gegen Mitternacht Koblenz und sein »Deutsches Eck« und am nächsten Morgen sehr früh Köln, zwei Tage lang als Extremhochwasser mit mehreren neuen Seen, zum Beispiel zwischen Dom und Hauptbahnhof, durchschwemmte nach Köln auch Düsseldorf und Duisburg und in Deutschland zuletzt die Römer- und Nibelungenstadt Xanten, danach die Niederlande bis Rotterdam und Amsterdam und verpestete Ärmelkanal und Nordsee.

Zuvor jedoch hatten die rasenden Massen Frankreichs ältestes Atomkraftwerk zerschlagen, Fessenheim. Am Oberrhein, an der sogenannten »französischen Ostküste« war dieses Werk 1971 errichtet worden, am Rhein-Seitenkanal, exakt in der Mitte zwischen Mulhouse, Colmar und Freiburg, alle drei Städte je fünfundzwanzig Kilometer entfernt vom atomaren Doppelprozessor. Damals redeten Politiker poetischer, sprachen von »Meilern« und von »Kernkraft«, obwohl gut zu wissen gewesen wäre, wie riskant eine nukleare Anlage war, selbst dann noch, wenn sie irgendwann als abgeschaltet hätte gelten können und, vergreisend, nur noch mit »Nachglühen« beschäftigt gewesen wäre.

Mit seinen Fundamenten stand der atomare Ofen Fessenheim auf siebzig Zentimetern Beton und unter dem Normalspiegel des Rheinwassers. Das japanische Fukushima hatte auf sieben Metern Beton gestanden. Auch nach der Katastrophe Fukushima war unter Frankreichs Präsident Sarkozy das alternde Fessenheim nicht stillgelegt worden. »Am Rhein gibt es nun mal keine Tsunamis.« Die Weltfirma Electricité de France ebenso wie Frankreichs Gewerkschaft CGT hatten gemeinsam verkündet: »Fessenheim ist sicher.« Das sagten sie auch über die anderen achtundfünfzig Atomkraftwerke Frankreichs.

Gegen die Wucht des Höchstwassers hatte Fessenheim nur, was die Leute ein Mäuerchen nannten. Am alternden Bau waren seit Langem bis unters Dach haarfeine Risse zu sehen gewesen, die nun, beim Beben kurz nach sechs Uhr, aufbrachen, sodass die Wasserwucht beide Öfen in Stücke reißen und als Betonbrocken quer durch das Gelände schieben konnte, durch ein Terrain, das zugleich »Endlager« war für die ausgebrannten Brennstäbe. An diesem schönen Sonntag zündeten nun zahllose Kurzschlüsse, prasselten neuartige Feuerwerke, knallten kleinere, rasch auch größere Explosionen, schossen Dampffontänen aus den Kühlsystemen, verdampfte Rheinwasser, das hätte kühlen sollen, und noch an diesem selben sommerlichen Tag stieg auf, was gleichfalls vorauszusehen gewesen wäre: über der ruinierten Anlage erschien, radioaktiv, glasklar und tödlich, die Wolke.

Dieses unsichtbare Luftgebilde wurde umgehend erfüllt und vergrößert von den heißen Abgasen der Kernschmelze. Das wurde sofort sanft bewegt von dem am Oberrhein üblichen Wind, vom auch an diesem Tag mild und freundlich wehenden Südwestwind aus der Burgundischen Pforte. Die Brise aus Burgund wehte den transparenten Drachen federleicht hinüber auf die andere Rheinseite, wo er nach einer knappen Stunde den Schwarzwald erreichte und, am Fuß des Gebirges, das soeben neunhundert Jahre alt werdende Freiburg. Wo eine solche Wolke weht, ist absolute Hilflosigkeit.

Freiburg galt als eine der beliebtesten Städte der Deutschen, als »Wohlfühlstadt«, zuletzt sogar als exemplarisch für die weltweit als dringend notwendig erkannte Wende zu anderen Methoden der Energiegewinnung. Das seit Langem wachsende Freiburg war zuletzt vorgeschlagen worden als Kulturhauptstadt Europas. Was den Ort nicht davor bewahrt hatte, dass nebenan, so nah wie neben keiner anderen europäischen Großstadt, Fessenheim gebaut worden war, das älteste Atomkraftwerk im befreundeten Frankreich.

Im Windschatten der nuklearen Pioniertat hatten sich Elsässer und Freiburger ab 1970 heftig gewehrt und redeten von »menschenverachtend«. Wogegen von »German Angst« zu hören war. Erfolgreich waren die Proteste der Freiburger nur gegen eine ähnliche Einrichtung auf der eigenen Rheinseite, wo im Dorf Wyhl beim erloschenen Vulkan Kaiserstuhl ein Stuttgarter Landesvater ebenfalls einen Prozessor hatte errichten lassen wollen. Dagegen stritten Elsässer und Badener gemeinsam, Landleute und Stadtleute, protestierten nicht nur gegen Wyhl am Kaiserstuhl, sondern auch immer noch mal gegen Fessenheim. Mit ihrem legendären Widerstand hatten hier Bauern, Bürger, Winzer, Studenten und Künstler in Debatten und Taten das gestartet, was dann zur Bewegung der »Grünen« wurde.

In der Abwehr gegen radioaktive Reaktoren öffneten sich rings um Freiburg ungewöhnliche Wege, alternative Lösungen. Freiburger bekamen die ersten Patente für die Nutzung von Sonnenenergie auf »Solardächern«.

Nun freilich, an diesem hochsommerlichen Sonntag, im tödlichen Luftzug aus Fessenheim, wurde Freiburg unbewohnbar. Die Radionachrichten hatten am Morgen vom Beben berichtet, danach von Hochwassergefahr, doch als die Sirenen heulten, da war die Wolke schon vor der Stadt, da erreichte sie bereits die südlichen Viertel, nämlich Sankt Georgen und das Vauban. Wie sich die Freiburger in einem solchen Katastrophenfall verhalten müssten, war nie vorbereitet oder gar geübt worden. In den Minuten, in denen das Unheil eintraf, gab es nur, so ließ sich später rekonstruieren, erste Kontaktversuche zwischen städtischen und staatlichen Behörden, zwischen Feuerwehr, Bundeswehr und Notdiensten, und es zeigte sich, dass hilfreiche Pläne nie existiert hatten. Die mehr als 500 000 Bewohner der Region waren schutzlos.

Von den ersten Warnungen im »Radio Dreyeckland« bis zur Ankunft der strahlenden Brise, in den Minuten vom Heulen der Sirenen bis zur Heimsuchung aus dem zerrütteten Reaktor blieb den zweihundertzwanzigtausend Freiburgern nur die Flucht, panisch und überstürzt.

Und wohin? Im Süden und Westen war jetzt ein verwüsteter Rhein, ein unpassierbarer. »Schrecklicher Rhein«, rhenus horridus hatten den schon die Römer genannt. Den Fliehenden bot sich der Norden, parallel zum Fluss, und es bot sich das zauberhafte Waldgebirge im Osten. Fast alle Freiburger flüchteten in ihren Schwarzwald. Die meisten, ob im Auto oder per Bahn, flohen über Kirchzarten, Himmelreich und Höllental auf die Höhen um Hinterzarten oder Titisee. Doch die Bundesstraße dort hinauf, teils ausgebaut wie eine Autobahn, war seit dem Beben verschüttet, endete beim »Hirschsprung« unter Felsen. Auch die steile Höllentalbahn war unterbrochen, der erste Doppelstockzug, der frühmorgens von Hinterzarten nach Freiburg hinabfuhr, stürzte von dem hohen Ravenna-Viadukt. Züge aus Freiburg endeten nun vor dem Höllental, in der Station Himmelreich.

Auf den Straßen Richtung Schwarzwald bildeten sich kilometerlange Kolonnen, standen bis in die Nacht und am Ende in jeder Richtung. Zehntausende waren von nun an auch zu Fuß unterwegs oder auf Fahrrädern, getrieben von den Warnungen vor der Wolke, wollten alle hinter den Schwarzwald, wollten sich retten, Einzelgänger ebenso wie Wohngemeinschaften, Familien, Frauengruppen, Kinderläden, Senioren. Im Anstieg durch die bewaldeten Felsentäler kam es bis tief in die Nacht zu einem immer neuen, zum uralt erbärmlichen Rette-sich-wer-Kann. Daran änderte natürlich nichts mehr, dass wenig später in Berlin der Innenminister entlassen wurde, auch der Truppenminister. Dabei hatte das deutsche Verfassungsgericht soeben den Einsatz bewaffneten Militärs auch im Inneren des Landes ausdrücklich erlaubt, und zwar »bei ungewöhnlichen Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes«. Doch in dieser Sonntagsfrühe war gegen das chemisch und nuklear »Katastrophische« keine Rettung.

Am Ende dieses Tages galt Freiburg als »unbetretbar«. Der Ort hatte als »Zukunftswerkstatt« gegolten, als »Stadt der anderen Ideen und Energien«. In dieser Stadt hatte es Wohnviertel gegeben, in denen von Deutschlands Statistikern pro tausend Einwohnern die meisten Kinder gezählt worden waren und die wenigsten Autos.

Der zuletzt sehr besondere Ort war über Nacht ohne Einwohner. Im Inneren freilich stand nach wie vor die enorme Kathedrale, das Münster. Und in der Altstadt stand weiterhin das gotische »Haus zum Walfisch«. Fünfhundert Jahre zuvor hatte sein zeitweiliger Besitzer, der Niederländer Erasmus von Rotterdam, sein »Lob der Torheit« verfasst. Der Philosoph und Schriftsteller war beeindruckt gewesen von dem Beben, das 1356 die Stadt Basel vernichtet hatte und das die Basis war für die große alte Kunst der Basler Totentänze. Basel ist von Freiburg nur sechzig Kilometer entfernt. In der Mitte zwischen Basel und Freiburg war Fessenheim gebaut worden.

Gegen Katastrophen und Untergänge hatte Erasmus denkwürdigen Rat gewusst. »Man hole sich einen weisen Mann zu einem Gelage: Entweder ist er in brütendes Schweigen versunken oder er stört, mit aufdringlichem Problematisieren. Bittet man ihn zum Tanz, möchte man glauben, ein Kamel recke das Tanzbein.« Sympathien hatte das »Lob der Torheit« fast nur übrig für die letzten Greise in den Ruinen des antiken Troja. Diese Alten, so teilt Erasmus mit, führten auf den Trümmern »anmutige Gespräche«, in ihren Erinnerungen an Helena.

Was denn, so fragt der theologische Denker, was denn wohl wäre je zu unternehmen gegen alles Infernalische, gleichgültig, ob es von Menschen herbeigeführt wird oder von der Natur oder von beiden gemeinsam. Laut Erasmus würde jede großartige Tat gegen Untergänge, ob in Troja oder in Rom und, so dürfen wir heute ergänzen, gewiss auch in San Francisco, Moskau, Shanghai, Berlin, Paris, New York oder in Freiburg, nach allen bisherigen Erfahrungen würde laut Erasmus jedes »ruhmvolle Unternehmen« der Gegenwehr am Ende »durchgeführt von Schmarotzern, Kupplern, Wegelagerern, Meuchelmördern und ähnlichem Unrat der menschlichen Gesellschaft und schon gar nicht von laternentragenden Philosophen«.

Nun stand in Freiburgs Altstadt nicht nur das »Haus zum Walfisch« verlassen, seit Mitternacht war auch die übrige Stadt leer, fast menschenleer. In ihrer erhöhten Lage war sie zwar verschont geblieben von der chemischen Kloake, nicht jedoch von der Wolke. Am Ende dieses Tages der Wahrheit gab es in dem Ort vor dem Schwarzwald nur vereinzelte Hilflose und Ratlose, zum Beispiel die, die schon immer den Mitteilungen der Behörden nicht hatten glauben wollen, weder denen der Polizei noch denen der Medien noch den Ermahnungen von den Kanzeln herab. Schon das Sirenenheulen erschien ihnen wieder nur als Wichtigtuerei von Ordnungsämtern. In der Stadt gab es aber auch erstaunlich viele Menschen, die schon zuvor obdachlos gewesen waren und die nicht einsahen, warum sie nun, da plötzlich alle Obdach suchten, ebenfalls wieder eins suchen sollten. Und es blieben im Ort auch viele Schwerkranke und wenige Nothelfer. Und es gab Glaubensstarke, die ihr Freiburg »auf keinen Fall« verlassen wollten und ihre Kirche schon gar nicht. Ab Mitternacht war dann der Ort Freiburg sehr still, leer wie nie.

In seinem ältesten Teil stand nach wie vor der Bau, den der Historiker Jacob Burckhardt den »schönsten Turm der Christenheit« genannt hat. Das hochgotische Zauberwerk war seit Langem eingerüstet gewesen, seit Jahren sah man es verhüllt bis zur obersten Spitze. Handwerker und Ingenieure hatten den enormen Bau zu schützen versucht vor dem ruinierten und ruinierenden Klima des Planeten.

Freiburgs Münster war einst nicht auf Kosten der Kirche entstanden, auch nicht im Auftrag und auf Kosten einer adeligen Sippe, sondern dieser für eine damals vergleichsweise kleine Stadt grandiose Bau war von den Freiburgern selbst errichtet worden, in einer frühen Form von Bürgerbeteiligung. Der filigrane Turm, dieses elegante, dieses einhundertundsechzehn Meter hohe Hochhaus, es hatte dem am Oberrhein häufigen Zittern und Beben der Erdhaut immer erstaunlich getrotzt. Hatte auch im November 1944 geradezu märchenhaft Freiburgs mörderische Bombardierung überstanden.

Zuletzt freilich war die Turmhöhe nur noch hinter Gerüsten zu sehen gewesen, weil der Baustein, weil dieser lebhaft gemusterte und in seinen Mustern von uralten Epochen erzählende burgunderrote Buntsandstein die neuen Ingredienzien der Planetenluft nur schwer ertrug. Bis obenhin hatte der Turm gesichert werden müssen mit den vielerlei Maßnahmen und Möglichkeiten der Bautechniker und Steinmetze. Über einen Lift, der mehr als hundert Meter senkrecht emporführte, wurden neue und alte Sicherungen und Verstärkungen hinaufgebracht, wurde versucht, das weitere Wachstum der Risse zu bremsen mit Eisenbändern, Bandagen, Klebern und Dübeln, auch mit vielen neu hergestellten, mit tiefrot bis gelblich schimmernden Sandsteinen und mit Verklammerungen aus resistentem, aus nicht rostendem Material.

Als Mahnung waren die Schäden nicht registriert worden, als Menetekel schon gar nicht.

Nun aber war die Stadt verstrahlt. Jedes Betreten war untersagt. Freiburg hatte in der Schneise gestanden, durch die das glasklar transparente Gebilde herübergeweht war vom explodierenden Kraftwerk und von Freiburg weiter quer über das Waldgebirge. Im Auf und Ab der Berge geriet die Todesluft dann auch in Verwirbelungen, sodass sie bis Stuttgart strahlte, schließlich auch bis an das andere Ende der Republik, wo in Berlin-Mitte schon am nächsten Tag die Radioaktivität gut messbar war. Stuttgart durfte nur noch »in Sicherheitskleidung« betreten werden, Berlin nur »auf eigenes Risiko«. Die chinesische Botschaft, die amerikanische und die japanische zogen als Erste um, nach München.

Mehrere Regierende in Deutschland, die sich für christlich hielten, hatten seit 1970 erklärt, ohne Atomkraft würden in Deutschland »die Lichter ausgehen«. Poesievoll wurde geredet von »Meilern« und von »Kernkraft«, als brennten in Atomprozessoren Tannenholz oder Haselnüsse. Dieses Verhalten ignorierte die geniale alte Geschichte vom Meiler und vom Kalten Herzen des Kohlenbrenners Peter. Hartnäckig wurden sie allesamt verdrängt, die Risiken der atomaren Energieprozesse, auch schon die unlösbaren Probleme mit dem nuklearen Müll, mit der »Endlagerung«. Wissenschaftler, Ingenieure, die Industrie, auch die »Atomminister« und fast alle Größen der Bonner wie der Berliner Republik hatten den »Fortschritt« Atomkraft nicht zu Ende gedacht, obwohl kluge Köpfe das sehr früh durchschaut und von unausweichlichem Unheil geredet hatten, oft aggressiv, manche sprachen unerhört deutlich von Fortschrittsbesoffenheit.

Seit jenem sommerlichen Sonntag war Frei-»Burg« ohne Bürger. Der Ort mit dem programmatischen Namen blieb Geisterstadt. An die Schönheit der »Natur« und an deren »schöpferische« Kraft war wohl nirgends so rührend und liebevoll geglaubt worden wie in diesem Ort. Der Natur hatten Freiburger gern und »nachhaltig« vertraut, als lieferten die ewigen Launen dieser Natur nicht auch Asteroide, Glutvulkane, Erd- und Seebeben, Lawinen, Sturzfluten, Sintfluten, Bergstürze, Mutationen, SheMales, Krebs, Demenz, Amok, Urknall, Endknall, Schizophrenie, Killerviren, Quasare, Schwarze Löcher oder Tsunamis. Und als gebe es nicht das offenbar unaufhörliche Erstickt-, Durchbohrt-, Erschlagen- oder Zerrissenwerden des Menschen durch den Menschen. Durch dessen genial begabte »Natur«.

Die ersten, die Freiburg betraten, verpanzert, in »strahlensicheren« Monturen, die erblickten wieder die burgunderroten Steine des Münsters und der Universität. Der gotische Turm war auch jetzt stehen geblieben, weiterhin eingerüstet, bis oben hin. Nur wenige Gerüstteile waren beim Beben abgestürzt, auch einige der sehr alten, der fantastisch grotesken Wasserspeier. Auf den burgunderroten Sandsteinmauern der Universität standen neue Buchstaben. In goldenen Lettern war bislang zu lesen gewesen »Die Wahrheit wird euch frei machen«. Jetzt stand überm Geschwister-Scholl-Platz auf der hohen Sandsteinwand tiefschwarz:

Und nun schlaft weiter fest

in tausend Jahren Strahlenpest

*

War das alles nur Fabuliererei? Bloße Schreckensvision? Oder ein genau begründeter Blick in die nächste Zukunft und Gefahr? Wie genau war diese Genauigkeit und wie wahrscheinlich? Davon wird hier weiter erzählt werden, so sorgfältig wie deutlich. Denn es geht, das begreifen Leute, die lesen, auch ohne schwarze Buchstaben auf rotem Sandstein und sogar ohne Erasmus, es geht nicht nur um Fessenheim und nicht nur um Freiburg.

*

Vom stundenlangen Schreiben und Verbessern glühten dem jungen Reporter Ben Busch die Ohren. Nun speicherte er dreizehntausend Zeichen unter dem Namen zukunft.doc und druckte sie aus. Übergab sie als sieben Druckseiten seinem Vorgesetzten, einem leitenden Redakteur der Freiburger Zeitung, diskutierte über den Text mit seiner Freundin Kim und schickte schließlich zukunft.doc an die befreundete Mara Oberst und auch nach Konstanz, an info@1848-Petra.com.

Gut zwanzig Minuten später kam von Konstanz ein Echo, eine Antwort der Geologin Petra Stein. Und es begann ein heftiges Hin-und-Her-Schreiben, ein digitales Chat-Duett zwischen Reporter und Wissenschaftlerin.

»Ben, du bist wahnsinnig.«

»Nein, realistisch.«

»Du nutzt mein Material, um Panik zu machen.«

»Um zu informieren. Mit überfälligem Aufschrei.«

»Was hast du vor mit dem Aufschrei?«

»Wenn irgendwas wahnsinnig ist, dann das, was Politik dem Planeten zumutet, für die nächsten Millionen Jahre.«

»Wer außer mir kennt zukunft.doc

»Kim.«

»Was sagt sie?«

»Ich sei wahnsinnig.«

»Was wirst du machen mit zukunft.doc

»Zeitung Seite Drei. Später Längeres. Comic? Buch? Film? Seit wann ist Realismus Wahnsinn?«

»Ben, bis Freitag bin ich noch hier am See-Rhein. Hast zwar viel verstanden, sogar erstaunlich genau. Aber wir müssen reden.«

»Mit dir gern. Diskutieren geht aber auch digital. Schreib mir, wo im Text was falsch ist, wo Geologen Einwände hätten.«

»Sachlich keine gravierenden. Worst case, unter deinen Annahmen, würde so laufen.«

»Nämlich?«

»Der Riss öffnet sich bei dir vom See-Trichter durch den Untersee bis Stein am Rhein?«

»Und?«

»Immer am Grund des Stroms?«

»Den nanntest du ›heikel‹. Und ›Risikozone‹.«

»Dort verläuft tatsächlich eine Schwächezone. Mit Schallwellen, mit mehrfachen Messpunkten sorgfältig erkundet.«

»Na also, hab dir gut zugehört.«

»Breit und elf Meter tiefer? Das brächte Big Shot, das öffnet den See. Bis Basel sind’s hundertfünfzig Meter Gefälle. Irrer Druck, da wollen Millionen Tonnen runter nach Basel, wollen weiter nach Köln, massenhaft Wasser raste davon und tobte auch über Leibstadt –«

»Shit! Leibstadt! hab ich glatt vergessen.«