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ROBERT HARRIS

IMPERIUM

ROMAN



Aus dem Englischen von
Wolfgang Müller




WILHELM HEYNE VERLAG
MÜCHEN

Inhaltsverzeichnis

Copyright
Widmung
TEIL EINS - SENATOR
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
KAPITEL IX
TEIL ZWEI - PRÄTOR
KAPITEL X
KAPITEL XI
KAPITEL XII
KAPITEL XIII
KAPITEL XIV
KAPITEL XV
KAPITEL XVI
KAPITEL XVII
KAPITEL XVIII
ANMERKUNGEN DES AUTORS
Über das Buch

ANMERKUNGEN DES AUTORS

Auch wenn es sich bei Imperium um einen Roman handelt, so schildert er doch überwiegend Begebenheiten, die sich wirklich ereignet haben. Der Rest könnte sich zumindest so ereignet haben. Hoffentlich (und da begebe ich mich in die Hände des Schicksals) ist nichts darunter, was sich nachweisbar nicht ereignet hat. Dass Tiro eine Biografie von Cicero verfasst hat, ist durch Plutarch und Asconius belegt. Das Werk ist beim Untergang des Römischen Reiches verloren gegangen.

Den größten Dank schulde ich der neunundzwanzigbändigen Ausgabe von Ciceros Reden und Briefen in der bei Harvard University Press erschienenen Loeb Classical Library. Eine weitere unschätzbare Hilfe war mir The Magistrates of The Roman Republic, Volume II, 99 B. C.31 B. C. von T. Robert S. Broughton, veröffentlicht von der American Philological Association. Des Weiteren verneige ich mich vor Sir William Smith (1813–1893), dem Herausgeber des Dictionary of Greek and Roman Biography and Mythology, des Dictionary of Greek and Roman Antiquities und des Dictionary of Greek and Roman Geography – drei gewaltige und unübertroffene Monumente humanistischer Bildung aus viktorianischer Zeit. Natürlich habe ich noch viele andere Arbeiten neueren Datums zurate gezogen, die ich zu gegebener Zeit würdigen werde.

R.H., 16. Mai 2006

Über das Buch

Rom im Jahr 63 v. Chr.: Cicero ist endlich Konsul. Verhandlungsgeschick und sein Redetalent haben ihn an die Spitze der Macht gebracht. Im Wahlkampf hat er sich gegen den korrupten Patrizier Catilina durchgesetzt. Aber zur Verwirklichung seiner politischen Ideale läuft ihm die Zeit davon, denn Catilina hat den Kampf noch nicht aufgegeben: Zusammen mit enttäuschten Aristokraten, Veteranen, Kriminellen und anderem Gesindel bereitet er eine große Verschwörung vor, um an die Macht zu gelangen. Aber welche Rolle spielt der umtriebige Caesar dabei? Der Einfluss seines Kontrahenten wächst unaufhörlich, und Cicero muss seine Tugendhaftigkeit auf die zwangsläufige Probe stellen: Wenn man die Macht im Staat innehat – ist es dann gerechtfertigt, illegale Methoden anzuwenden, um die Republik zu retten? Schließlich erfährt Cicero von einer konspirativen Sitzung, auf der seine Ermordung geplant wurde.

 

Nach Imperium ist Titan nun der zweite Band von Robert Harris’ großer Cicero-Trilogie, die in Dictator zum triumphalen Finale auffährt.

 

»So spannend kann Geschichte sein. Harris lässt das alte Rom wieder auferstehen. Bunt, prall, lebendig.« B. Z.

KAPITEL I

Mein Name ist Tiro. Ich war sechsunddreißig Jahre lang Privatsekretär des römischen Staatsmannes Cicero – eine anfangs aufregende, dann überraschende, später mühsame und schließlich äußerst gefährliche Aufgabe. Ich glaube, dass Cicero während dieser Jahre mehr Zeit mit mir verbrachte als mit jedem anderen Menschen, seine Familie eingeschlossen. Ich war Zeuge privater Zusammenkünfte und Überbringer geheimer Botschaften. Ich brachte seine Reden zu Papier, schrieb seine Briefe und seine literarischen Arbeiten, sogar seine Gedichte. Um dem Strom seiner Worte Herr zu werden, musste ich eine allgemein als Kurzschrift bekannte Technik ersinnen, mit der die Beratungen des Senats auch heute noch protokolliert werden und für deren Erfindung mir kürzlich eine bescheidene Pension bewilligt wurde. Dieser Summe, einigen Erbschaften und mir wohlgesinnten Freunden verdanke ich meinen auskömmlichen Ruhestand. Ich brauche nicht viel. Die Alten leben von Luft, und ich bin sehr alt – fast hundert, heißt es.

In den Jahrzehnten nach seinem Tod bin ich immer wieder gefragt worden, gewöhnlich im Flüsterton, wie Cicero wirklich war. Aber ich habe stets geschwiegen. Wie sollte ich wissen, wer ein Regierungsspion war und wer nicht? Jeden Augenblick war ich auf meine Liquidierung gefasst. Da mein Leben nun fast vorüber ist und ich nichts mehr zu befürchten habe – nicht einmal Folter, würde ich doch in den Händen des Scharfrichters oder seiner Folterknechte kaum eine Sekunde durchhalten –, habe ich mich entschlossen, mit dem vorliegenden Bericht eine Antwort darauf zu geben. Ich werde mich auf meine Erinnerung und die meiner Obhut anvertrauten Dokumente stützen. Da die mir verbleibende Zeit zwangsläufig kurz ist, will ich mich beeilen. Ich werde den Bericht in meiner Kurzschrift verfassen, auf einigen Dutzend Rollen feinsten Papyrus – Hieratica, das Beste vom Besten –, die ich zu diesem Zweck schon seit Längerem gehortet habe. Im Voraus bitte ich um Vergebung für stilistische Mängel und Ungeschicklichkeiten. Auch bitte ich die Götter, dass sie mich zum Ende kommen lassen, bevor das Ende mich ereilt. In seinen letzten Worten bat Cicero mich, die Wahrheit über ihn zu erzählen, und darum will ich mich bemühen. Sollte er dabei nicht immer als Muster an Tugend erscheinen, sei’s drum. Die Macht beschert einem Mann allerlei Annehmlichkeiten, zwei saubere Hände gehören allerdings nur selten dazu.

Und von Macht und dem Mann werde ich erzählen. Mit Macht meine ich die offizielle, die politische Macht – was wir in der lateinischen Sprache als imperium bezeichnen –, die Macht über Leben und Tod, wie sie vom Staat auf ein Individuum übertragen wird. Hunderte von Männern haben nach dieser Macht gestrebt. Aber Cicero war einzigartig in der Geschichte der Römischen Republik, weil ihm beim Griff nach der Macht nichts als sein eigenes Talent zur Verfügung stand. Er entstammte nicht, wie Metellus oder Hortensius, einer der bedeutenden, seit Generationen in der Politik tätigen Adelsfamilien, von deren Reputation er am Wahltag profitieren konnte. Hinter ihm stand nicht, wie bei Pompeius oder Caesar, eine mächtige Armee, die seine Kandidatur unterstützte. Er verfügte nicht wie Crassus über ein gewaltiges Vermögen, das ihm den Weg ebnete. Er hatte nur eines – seine Stimme. Und mit der schieren Kraft seines Willens machte er aus dieser die berühmteste Stimme der Welt.

Ich war vierundzwanzig Jahre alt, als ich in Ciceros persönlichen Dienst eintrat, ein auf seinem Familiensitz nahe Arpinum geborener Haussklave, der Rom nie zuvor gesehen hatte. Er war ein junger Rechtsanwalt, der an nervösen Erschöpfungszuständen litt und sich mit jeder Menge natürlicher Gebrechen herumschlug. Kaum jemand hätte auf meine und auf seine Zukunftschancen besonders viel gegeben.

Zu jener Zeit war Ciceros Stimme nicht das Furcht einflößende Organ, zu dem es später wurde. Sie war schroff, und er neigte zum Stottern. Ich glaube, sein Problem war, dass die in seinem Kopf brodelnde Menge an Worten sich bei nervlicher Anspannung in seinem Hals staute, als ob sich zwei von der nachdrängenden Herde vorwärtsgeschobene Schafe gleichzeitig durch ein Gatter gequetscht hätten. Wie auch immer, der Inhalt seiner Reden war oft zu hochtrabend, als dass sein Publikum ihn verstanden hätte. »Der Gelehrte« oder »der Grieche« wurde er von seinen unaufmerksamen Zuhörern genannt – was keineswegs als Kompliment gemeint war. Obwohl niemand sein rhetorisches Talent anzweifelte, so war seine Konstitution doch zu schwächlich, als dass sie seinem Ehrgeiz ebenbürtig gewesen wäre. Mehrstündige Verteidigungsreden – zu jeder Jahreszeit, oft unter freiem Himmel – beanspruchten seine Stimmbänder derart, dass er nicht selten tagelang heiser und ohne Stimme war. Zudem litt er unter chronischer Schlaflosigkeit und einer schwachen Verdauung. Kurzum: Wollte er, wie es sein sehnlichster Wunsch war, politische Karriere machen, so benötigte er professionelle Hilfe. Also beschloss Cicero, Rom für einige Zeit zu verlassen und zu reisen. Erstens, um seine Kräfte aufzufrischen, und zweitens, um die führenden Lehrmeister der Rhetorik zu konsultieren, von denen die meisten in Griechenland und Kleinasien lebten.

Als Verantwortlicher für die kleine Bibliothek seines Vaters verfügte ich über eine passable Kenntnis des Griechischen, und deshalb bat Cicero seinen Vater – ganz so, als wollte er sich ein Buch aus dem Regal nehmen –, ob er mich ausleihen und mit in den Osten nehmen könne. Meine Aufgabe würde unter anderem darin bestehen, mich um seine Termine zu kümmern, Transportmittel anzuheuern und Lehrer zu bezahlen, wobei geplant war, dass ich nach einem Jahr wieder zu meinem alten Herrn zurückkehren sollte. Am Ende sollte ich, wie so manches nützliches Buch auch, nie zurückgegeben werden.

Am Tag, als wir in See stechen wollten, fanden wir uns im Hafen von Brundisium ein. Das war im sechshundertfünfundsiebzigsten Jahr nach der Gründung Roms, in der Zeit des Konsulats von Servilius Vatia und Claudius Pulcher. Damals war Cicero noch nicht die imposante Gestalt, zu der er später wurde und deren Züge so bekannt waren, dass er nicht einmal durch die ruhigste Straße spazieren konnte, ohne erkannt zu werden. (Was, so frage ich mich, ist nur mit den Tausenden seiner Büsten und Porträts geschehen, die einst so viele Privathäuser und öffentliche Gebäude geschmückt haben? Sind sie wirklich alle zerstört und verbrannt worden?) Der junge Mann, der an jenem Frühlingsmorgen am Kai stand, war schmächtig, hatte einen Rundrücken und einen unnatürlich langen Hals, in dem ein Adamsapfel so groß wie eine Kinderfaust auf und ab hüpfte. Seine Haut war blass, er hatte vorstehende Augen und eingefallene Wangen; kurz, er war das Abbild eines kränklichen Mannes. Ich weiß noch, dass ich dachte: Halt dich ran, Tiro, mach das Beste aus der Reise, lange kann sie nicht dauern.

Zuerst fuhren wir nach Athen, wo er sich das Vergnügen gönnen wollte, an der Akademie Philosophie zu studieren. Als ich ihm zum ersten Mal die Tasche in den Vorlesungssaal getragen hatte und mich wieder entfernen wollte, rief er mich zu sich zurück und fragte, wohin ich denn vorhätte zu gehen.

»In den Schatten zu den anderen Sklaven«, antwortete ich. »Es sei denn, Ihr benötigt noch meine Dienste.«

»Und ob ich die benötige«, sagte er. »Ich habe eine äußerst anstrengende Aufgabe für dich. Ich will, dass du hierbleibst und dir ein klein wenig Philosophie aneignest. Dann habe ich auf unseren langen Reisen jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann.«

Also blieb ich, und mir wurde die Ehre zuteil, persönlich Antiochos aus Askalon zu hören, der die drei Grundprinzipien des Stoizismus erklärte – dass nur die Tugend zur Glückseligkeit führe, dass nichts außer der Tugend gut sei und dass man den Gefühlen nicht trauen könne. Drei einfache Regeln, die, würde der Mensch sie befolgen, die meisten Probleme der Welt lösen könnten. Später diskutierten Cicero und ich oft über derartige Fragen, und in der Welt der Gedanken vergaßen wir immer die Unterschiede unserer gesellschaftlichen Stellung. Wir blieben sechs Monate bei Antiochos und zogen dann weiter, um uns dem eigentlichen Zweck unserer Reise zuzuwenden.

Die tonangebende Schule der Rhetorik zu jener Zeit war die sogenannte »asianische« Methode. Eine kunstvolle und blumige Art des Vortrags, voller pompöser Wendungen und klingender Versformen, auf und ab schreitend zelebriert, begleitet von ausladender Gestik. Ihr führender Vertreter in Rom war Quintus Hortensius Hortalus, der allgemein als der herausragende Redner seiner Zeit betrachtet wurde und dessen fantasievolle Beinarbeit ihm den Spitznamen »der Tanzmeister« eingebracht hatte. Um Hortensius’ Methode zu ergründen, legte Cicero besonderen Wert darauf, all seine Lehrmeister aufzusuchen: Menippos aus Stratonikeia, Dionysios aus Magnesia, Aischylos aus Knidos, Xenokles aus Adramyttion – allein die Namen geben eine Ahnung von ihrem Stil. Mit jedem von ihnen verbrachte Cicero Wochen. Er studierte ihre Techniken so lange, bis er glaubte, sie begriffen zu haben.

»Tiro, ich habe genug von diesen gelackten Gockeln«, sagte er eines Abends, während er in dem gedünsteten Gemüse herumstocherte, das er jeden Tag aß. »Kümmere dich um ein Boot, das uns von Loryma nach Rhodos bringt. Wir versuchen etwas anderes, wir schreiben uns in der Schule von Apollonios Molon ein.«

Und so kam es, dass an einem Frühlingsmorgen kurz nach Sonnenaufgang, als das Karpathische Meer so milchig glatt wie eine Perle vor uns lag (man muss mir die gelegentlichen gedrechselten Wendungen verzeihen: Ich habe zu viel griechische Dichtung gelesen, als dass ich den nüchternen lateinischen Stil durchhalten könnte), ein Boot uns vom Festland zu jener altberühmten, zerklüfteten Insel brachte, wo am Landungssteg die stämmige Gestalt von Molon höchstpersönlich wartete.

Molon war ein Rechtsgelehrter, der aus Alabanda stammte und in den Gerichtssälen Roms brilliert hatte. Ihm war sogar die beispiellose Ehre zuteil geworden, im Senat eine Rede in griechischer Sprache halten zu dürfen. Danach hatte er sich nach Rhodos zurückgezogen und seine Rhetorikschule gegründet. Seine Theorie der Redekunst, die das genaue Gegenteil der »asianischen« darstellte, war einfach: Lauf nicht zu viel herum, halt den Kopf gerade, komm schnell zum Punkt, bring deine Zuhörer zum Lachen, bring sie zum Weinen, und wenn du ihre Sympathie gewonnen hast, dann setz dich wieder hin. »Denn nichts«, so Molon, »trocknet schneller als eine Träne.« Das war weit mehr nach Ciceros Geschmack, und so begab er sich ganz und gar in die Hand von Molon.

Molons erste Handlung an jenem Abend war, dass er Cicero eine Schüssel hart gekochter Eier mit Sardellensoße auftischte. Als Cicero fertig gegessen hatte – was nicht ohne Klagen abging –, servierte er ihm noch ein großes, über Holzkohle gebratenes Stück Fleisch und einen Becher Ziegenmilch. »Du brauchst Fleisch auf den Rippen, junger Mann«, sagte er und klopfte sich auf seinen breiten Brustkorb. »Aus einer schwächlichen Rohrflöte ist noch nie ein voller Ton gekommen.« Cicero schaute ihn wütend an, aß seinen Teller aber pflichtschuldigst bis auf den letzten Bissen leer. In jener Nacht schlief Cicero zum ersten Mal seit Monaten durch. (Ich weiß das, weil ich immer auf dem Boden neben seinem Bett schlief.)

Bei Tagesanbruch begannen die Leibesübungen. »Auf dem Forum zu sprechen ist wie ein Wettlauf«, sagte Molon. »Es verlangt Durchhaltevermögen und Kraft.« Er täuschte einen Faustschlag auf Ciceros Brustkorb an, worauf dieser ein lautes Uff! ausstieß, zurückstolperte und fast gestürzt wäre. Molon ließ ihn mit gespreizten Beinen und durchgedrückten Knien Aufstellung nehmen und mit den Fingerspitzen zwanzig Mal den Boden vor jedem Fuß berühren. Dann musste er sich mit dem Rücken auf den Boden legen, die Hände hinter dem Kopf verschränken und, ohne die gestreckten Beine vom Boden zu heben, den Oberkörper aufrichten und wieder senken. Danach befahl er ihm, sich auf den Bauch zu drehen und den Körper ausschließlich mit der Kraft seiner Arme auf und ab zu hieven, wieder zwanzig Mal und auch hier, ohne die Knie zu beugen. Das war das Programm des ersten Tages. An den folgenden Tagen kamen weitere Übungen hinzu, und die Dauer der Übungen wurde ausgedehnt. Cicero hatte einen guten Schlaf, und auch die Mahlzeiten verursachten keine Beschwerden mehr.

Zur eigentlichen Vortragsschulung verließ Molon mit seinem eifrigen Schüler den schattigen Innenhof, ließ ihn in der Mittagshitze ohne Pause einen steilen Hügel hinaufgehen und dabei Übungspassagen rezitieren – üblicherweise eine Gerichtsszene oder einen Monolog von Menander. Ciceros stampfende Schritte verscheuchten die Eidechsen, und die zirpenden Zikaden in den Olivenbäumen waren sein einziges Publikum, während er seine Lunge kräftigte und lernte, aus einem einzigen Atemzug das Maximum an Worten herauszuholen. »Halte die Tonhöhe im mittleren Bereich«, wies ihn Molon an. »Da sitzt die Kraft. Nicht zu hoch und nicht zu tief.« Nachmittags ging Molon mit ihm hinunter an den Kiesstrand, postierte sich achtzig Schritt von Cicero entfernt (die maximale Reichweite der menschlichen Stimme) und ließ ihn zur Ausbildung des Stimmvolumens gegen das Donnern und Brausen der Brandung anreden – das komme, so sagte er, dem Gemurmel von dreitausend Menschen unter freiem Himmel oder dem Hintergrundgeräusch von ein paar hundert schwatzenden Menschen im Senat am nächsten. An derlei störende Geräusche müsse Cicero sich gewöhnen.

»Und was ist mit dem Inhalt?«, fragte Cicero. »Soll nicht in erster Linie die Kraft meiner Argumente zum Zuhören zwingen?«

Molon zuckte mit den Achseln. »Inhalt geht mich nichts an. Denk an Demosthenes: ›Bei der Redekunst zählen nur drei Dinge. Der Vortrag, der Vortrag und noch einmal der Vortrag.‹«

»Und mein Stottern?«

»Auch dein St-stottern intere-ressiert mich nicht«, erwiderte Molon grinsend und zwinkerte mit den Augen. »Nein, im Ernst, Stottern ist interessant, es vermittelt den Eindruck von Ehrlichkeit, das ist von Nutzen. Demosthenes hat selbst leicht gelispelt. Das Publikum identifiziert sich mit solchen Unzulänglichkeiten. Das einzig Öde ist Perfektion. Also, geh jetzt ein Stück den Strand hinunter, und lass hören, ob ich dich noch verstehen kann.«

Und so hatte ich die Ehre, von Anfang an miterleben zu dürfen, wie der eine Meister der Redekunst dem anderen seine Kunstgriffe beibrachte. »Möglichst nicht den Kopf neigen, das macht einen unmännlichen Eindruck. Nicht mit den Fingern schlenkern und immer die Schultern still halten. Wenn du für eine Geste deine Finger brauchst, dann versuch, den gekrümmten Mittelfinger auf die Daumenspitze zu legen und die drei restlichen Finger gerade auszustrecken – genau, so ist es gut. Natürlich muss der Blick immer den Bewegungen der Geste folgen, außer bei einer zurückweisenden Bemerkung: ›Die Götter mögen uns von dieser Plage verschönern‹ oder ›ich glaube nicht, dass ich diese Ehre verdiene‹.«

Alles Schriftliche war verboten. Kein Redner, der diesen Namen verdiente, würde im Traum daran denken, einen Text vorzulesen oder sich mit einem Stapel Notizen zu behelfen. Molon bevorzugte die Standardmethode, um eine Rede einzustudieren: die des imaginären Rundgangs durch das Haus des Redners. »Stell dir den ersten Punkt, den du vortragen willst, im Eingangsbereich vor, den zweiten im Atrium und so weiter. Du wanderst, wie du es gewohnt bist, durchs Haus und weist nicht nur jedem Raum, sondern jeder Nische und jeder Statue einen bestimmten Abschnitt der Rede zu. Achte darauf, dass jede dieser Stellen gut beleuchtet ist, klar umrissen und unterscheidbar. Sonst wirst du herumtappen wie ein Betrunkener, der nach einem Fest sein Bett sucht.«

Cicero war nicht Molons einziger Schüler in jenem Frühling und Sommer. Nach und nach stießen Ciceros jüngerer Bruder Quintus, sein Vetter Lucius und zwei seiner Freunde zu uns: Servius, ein penibler Rechtsanwalt, der Richter werden wollte, und Atticus – der elegante, charmante Titus Pomponius Atticus –, den die Redekunst nicht interessierte, da er in Athen lebte und ganz sicher keine politische Karriere anstrebte, sondern sich einfach gern in Ciceros Gesellschaft aufhielt. Alle staunten über die Veränderungen, die Ciceros Gesundheit und Auftreten erfahren hatten, und an ihrem letzten gemeinsamen Abend – es war inzwischen Herbst geworden und Zeit, nach Rom zurückzukehren – kamen sie zusammen, um mit eigenen Ohren zu hören, wie sich Molons Bemühungen auf Ciceros Redekunst ausgewirkt hatten.

Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, worüber Cicero an jenem Abend nach Tisch gesprochen hat, aber leider bin ich der lebende Beweis für Demosthenes’ zynische Behauptung, dass – verglichen mit der Art des Vortrags – der Inhalt nichts zähle. Ich stand diskret im Schatten, außer Sichtweite, und entsinne mich nur noch an die Motten, die wie Aschepartikel um die Fackeln herumwirbelten, an die glitzernden Sterne am Himmel über dem Innenhof und an die Cicero zugewandten, vom Feuerschein geröteten Gesichter der hingerissenen jungen Männer. Allerdings erinnere ich mich noch genau an die Worte Molons, nachdem sich sein Schüler mit einer abschließenden Verbeugung zur imaginären Geschworenenbank wieder gesetzt hatte. Nach langem Schweigen erhob er sich und sagte mit heiserer Stimme: »Ich gratuliere dir, Cicero, du hast mich in Staunen versetzt. Was ich bedauere, ist Griechenland, das Schicksal Griechenlands. Der uns einzig verbliebene Ruhm war der überlegene Rang unserer Rhetorik, und diesen hast du uns jetzt auch genommen. Geh zurück.« Er deutete mit jenen drei ausgestreckten Fingern über die vom Fackelschein erleuchtete Terrasse in Richtung des fernen, dunklen Meeres. »Geh zurück, mein junger Freund, und erobere Rom.«

Na schön. Leicht gesagt. Aber wie stellt man das an? Wie erobert man Rom, wenn einem als einzige Waffe nur seine Stimme zur Verfügung steht?

Der erste Schritt ist naheliegend: Man muss Senator werden.

Um in den Senat zu gelangen, musste man mindestens einunddreißig Jahre alt und Millionär sein. Genauer gesagt: Wenn alljährlich im Quintilis zwanzig neue Senatoren gewählt wurden, die die im abgelaufenen Jahr gestorbenen oder inzwischen zu arm gewordenen ersetzten, hatte man sogar nur für die Kandidatur den Behörden Vermögen im Wert von einer Million Sesterzen nachzuweisen. Aber woher sollte Cicero eine Million nehmen? Sein Vater jedenfalls hatte nicht so viel Geld: Das Anwesen der Familie war klein und mit hohen Hypotheken belastet. Ihm blieben deshalb nur die drei üblichen Optionen: sich die Million zu verdienen, was zu lange dauern würde; sie zu stehlen, was zu riskant war; oder sie zu heiraten, was Cicero kurz nach seiner Rückkehr aus Rhodos tat. Terentia war siebzehn, jungenhaft flachbrüstig, und ihren Kopf zierten kurze, dichte schwarze Locken. Ihre Halbschwester war eine Vesta-Priesterin, Beleg für die hohe gesellschaftliche Stellung ihrer Familie. Wichtiger war, dass ihr zwei Straßenzüge mit Mietwohnungen in den Elendsvierteln von Rom, einige Waldgebiete vor den Toren der Stadt und dazu ein Landgut gehörten. Gesamtwert: eineinviertel Millionen Sesterze. (Ach ja, Terentia: schlicht, distinguiert und reich – was war sie doch für ein Früchtchen! Erst vor ein paar Monaten habe ich sie gesehen, auf der Küstenstraße nach Neapel. Sie saß in einer offenen Sänfte und kreischte ihre Träger an, dass sie sich etwas beeilen sollten. Ihr Haar war weiß und die Haut walnussfarben, aber sonst schien sie sich nicht verändert zu haben.)

Und so wurde Cicero zur gegebenen Zeit in den Senat gewählt – tatsächlich erzielte er, der inzwischen allgemein als zweitbester Rechtsanwalt Roms nach Hortensius betrachtet wurde, das beste Stimmenergebnis. Bevor er seinen Sitz im Senat einnehmen konnte, musste er das obligatorische Jahr Regierungsdienst außerhalb Roms ableisten, was in seinem Fall die Provinz Sizilien war. Sein offizieller Titel war der eines Quästors, der die unterste Stufe in der Ämterlaufbahn darstellte. Frauen war es verboten, ihre Ehemänner auf diesen Dienstreisen zu begleiten, sodass Terentia – sicher zur großen Erleichterung Ciceros – zu Hause blieb. Ich allerdings ging mit ihm, denn inzwischen war ich für ihn zu einer Art verlängertem Arm geworden, den er, ohne darüber nachzudenken, wie seinen eigenen benutzte. Ein Grund für meine Unverzichtbarkeit war, dass ich eine Technik entwickelt hatte, die es mir erlaubte, seine Worte so schnell niederzuschreiben, wie er sie aussprach. Aus kleinen Anfängen – ich kann in aller Bescheidenheit behaupten, das Et-Zeichen erfunden zu haben – schwoll mein System schließlich zu einem Handbuch mit etwa viertausend Symbolen an. Ich fand zum Beispiel heraus, dass Cicero bestimmte Wendungen immer wieder benutzte. Diese reduzierte ich auf einen Strich oder ein paar Pünktchen und erbrachte somit den Beweis für etwas, was die meisten Menschen ohnehin schon wissen – dass nämlich Politiker im Wesentlichen immer wieder das Gleiche sagen. Er diktierte mir, während er in der Badewanne oder auf dem Sofa lag, in einer schaukelnden Karosse oder auf Landspaziergängen. Ihm gingen nie die Worte aus, und mir fehlte es nie an Symbolen, um seine durch die Luft wirbelnden Worte einzufangen und festzuhalten. Wir waren wie füreinander geschaffen.

Doch zurück zu Sizilien. Keine Angst: Ich werde über unsere Arbeit jetzt nicht in allen Einzelheiten berichten. Wie so oft in der Politik war die Tätigkeit nicht nur im Rückblick, nach über siebzig Jahren, sondern auch schon damals langweilig. Der Erinnerung wert und von Bedeutung war die Rückreise nach Rom. Um sicherzugehen, dass er genau in den Senatsferien die Bucht von Neapel erreichte, wenn sich die versammelte Politprominenz in den Mineralbädern Puteolis vergnügte, verschob Cicero unsere Abreise extra um einen Monat, von März auf April. Er wies mich an, ein Boot mit zwölf Ruderern anzumieten, das prächtigste, das ich auftreiben könnte, damit er stilvoll – zum ersten Mal würde er die Toga mit dem purpurfarbenen Saum des Senators der Römischen Republik tragen – in den Hafen einlaufen konnte.

Cicero war davon überzeugt gewesen, in Sizilien derart erfolgreiche Arbeit geleistet zu haben, dass er zu Hause in Rom unausweichlich im Mittelpunkt allen Interesses stehen würde. Auf Hundert stickigen Marktplätzen, unter Tausend staubigen, von Wespen wimmelnden Platanen hatte er unparteiisch und würdevoll römisches Recht gesprochen. Er hatte eine einmalig große Menge Getreide zu einem einmalig niedrigen Preis gekauft und für das Wahlvolk nach Rom transportieren lassen. Seine Reden bei Regierungszeremonien waren Meisterwerke an Taktgefühl gewesen. Er hatte sogar Interesse an den Gesprächen der einheimischen Bevölkerung geheuchelt. Er wusste, dass er gute Arbeit geleistet hatte, und brüstete sich mit seinen Errungenschaften in einem Strom von Berichten an den Senat. Ich muss gestehen, dass ich den Ton seiner Berichte gelegentlich etwas abmilderte, bevor ich sie dem offiziellen Boten übergab, und dass ich ihn darauf hinzuweisen versuchte, dass nicht jeder Sizilien für den Mittelpunkt der Welt hielt. Er nahm jedoch keine Notiz davon.

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er bei unserer Rückkehr nach Italien am Bug stand und angestrengt zur Anlegestelle von Puteoli blickte. Was hatte er erwartet? Eine Musikkapelle, die ihn an Land geleitete? Eine Abordnung der Konsuln, die ihm einen Lorbeerkranz überreichte? Sicher, an Land war eine Menschenmenge zu sehen, aber die war nicht seinetwegen gekommen. Hortensius, der schon das Konsulat ins Auge gefasst hatte, veranstaltete auf mehreren farbenprächtig geschmückten Vergnügungsschiffen, die ganz in der Nähe festgemacht hatten, ein Bankett. Die an der Anlegestelle Versammelten waren seine Gäste, die darauf warteten, übergesetzt zu werden. Cicero ging an Land – gänzlich unbeachtet. Verwirrt schaute er sich um, als einigen der Festgäste sein makellos leuchtendes Senatorengewand auffiel. Sie liefen auf ihn zu, und er straffte in freudiger Erwartung die Schultern.

»Senator«, rief einer. »Was gibt’s Neues in Rom?«

Cicero schaffte es irgendwie, sein Lächeln zu bewahren. »Ich komme nicht aus Rom, guter Mann. Ich bin auf dem Rückweg aus meiner Provinz.«

Ein rothaariger, eindeutig schon betrunkener Mann sagte: »Hört, hört, guter Mann! Er ist auf dem Rückweg aus seiner Provinz …«

Der Mann machte sich kaum die Mühe, sein Lachen im Zaum zu halten.

»Was ist so lustig daran?«, fragte ein Dritter, der die Wogen glätten wollte. »Hast du das etwa nicht gewusst? Der Senator kommt aus Africa.«

Ciceros Lächeln war heldenhaft. »Nun ja, eigentlich aus Sizilien.«

Gut möglich, dass es noch eine Weile in diesem Ton weiterging. Ich kann mich nicht erinnern. Als die Leute merkten, dass es hier keine Klatschgeschichten aufzuschnappen gab, trollten sie sich wieder. Kurz darauf erschien Hortensius und geleitete die restlichen Gäste zu ihren Fährbooten. Er hatte zumindest die Höflichkeit, Cicero mit einem kurzen Nicken zu begrüßen, war aber eindeutig nicht gewillt, ihn ebenfalls zu seinem Fest zu bitten. Wir blieben allein zurück.

Ein unbedeutender Vorfall, könnte man meinen, doch Cicero selbst pflegte später zu sagen, dass dies der Augenblick war, in dem sein Ehrgeiz so hart wie Stein geworden sei. Er war gedemütigt worden – gedemütigt von der eigenen Eitelkeit – und hatte auf brutale Art erkennen müssen, wie gering seine Stellung in der Welt war. Lange Zeit blieb er am Ufer stehen, beobachtete das festliche Treiben von Hortensius und seinen Freunden und lauschte den heiteren Flötenklängen, die über das Wasser wehten. Als er sich schließlich abwandte, war er ein anderer Mensch. Ich übertreibe nicht, ich habe es in seinen Augen gesehen. Na schön, schien sein Gesichtsausdruck zu sagen, albert nur rum, ihr Idioten, ich werde mich an die Arbeit machen.

»Ich bin geneigt zu behaupten, meine Herren, dass diese Erfahrung von größerem Wert für mich war, als wenn man mich mit Beifallsstürmen begrüßt hätte. Fortan kümmerte ich mich nicht mehr darum, was die Welt wohl von mir zu hören bekäme: Seit jenem Tag achtete ich darauf, dass man mich täglich zu Gesicht bekam. Ich lebte im Licht der Öffentlichkeit. Ich ging regelmäßig zum Forum. Weder mein Türwächter noch mein Schlaf hinderten irgendwen daran, mich in meinem Haus zu besuchen und mit mir zu sprechen. Auch wenn ich nichts zu tun hatte, hieß das nicht, dass ich nichts tat. Zeit vollkommener Muße war etwas, was ich nicht kannte.«

Erst kürzlich stolperte ich bei der Lektüre einer seiner Reden über diese Passage, für deren Richtigkeit ich mich verbürge. Wie im Dämmerzustand verließ er den Hafen, ging bergauf durch Puteoli und hinaus auf die Überlandstraße, ohne sich noch einmal umzublicken. Ich hechelte hinter ihm her, wobei ich so viel Gepäck mitschleppte, wie ich konnte. Schritt er anfangs noch langsam und voller Gedanken dahin, so ging er nach und nach immer schneller, bis er schließlich mit so großen Schritten auf Rom zumarschierte, dass ich kaum mithalten konnte.

Und damit endet meine erste Rolle und beginnt gleichzeitig die eigentliche Geschichte von Marcus Tullius Cicero.