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Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Der Autor
Widmung
Vorbemerkung des Autors
MARS - 22. August
Conticinium - [04.21 Uhr]
Hora undecima - [17.42 Uhr]
Hora duodecima - [18.48 Uhr]
Vespera - [20.07 Uhr]
Nocte intempesta - [23.22 Uhr]
MERKUR - 23. August
Diluculum - [06.00 Uhr]
Hora quarta - [09.48 Uhr]
Hora quinta - [11.07 Uhr]
Hora sexta - [12.00 Uhr]
Hora septima - [14.10 Uhr]
Hora duodecima - [18.47 Uhr]
Vespera - [20.00 Uhr]
Nocte concubia - [22.07 Uhr]
JUPITER - 24. August
Hora prima - [06.20 Uhr]
Hora quarta - [10.37 Uhr]
Hora sexta - [12.57 Uhr]
Hora nona - [15.32 Uhr]
Vespera - [20.02 Uhr]
VENUS - 25. August
Inclinatio - [0.12 Uhr]
Diluculum - [06.00 Uhr]
Hora altera - [07.57 Ihr]
Dank
Nachweise
Copyright

Dank

»Ich habe diesen Büchern die Namen meiner Quellen vorangestellt. Das habe ich getan, weil es, meiner Meinung nach, eine erfreuliche Sache ist und eine, die eine ehrenhafte Bescheidenheit beweist, weil man denjenigen seinen Respekt zollt, die den Weg zur eigenen Leistung geebnet haben.«

 

Plinius, Historia naturalis, Vorwort

Leider kann ich nicht, wie Plinius es getan hat, behaupten, bei meinen Recherchen zweitausend Bücher zurate gezogen zu haben. Dennoch hätte dieser Roman ohne die Gelehrsamkeit vieler anderer nicht geschrieben werden können, und wie Plinius glaube ich, dass es »eine erfreuliche Sache« wäre – jedenfalls für mich, wenn auch nicht unbedingt für sie –, wenn ich einige meiner Quellen nennen würde.

Außer den im Text zitierten Werken über Vulkanologie bin ich folgenden Autoren und ihren Arbeiten zu Dank verpflichtet: Jean-Pierre Adam (Roman Building), Carlin A. Barton (Roman Honor), Mary Beagon (Roman Nature), Marcel Brion (Pompeii and Herculaneum), Lionel Casson (The Ancient Mariners), John D’Arms (Romans on the Bay of Naples), Joseph Jay Deiss (Herculaneum), George Hauck (The Aqueduct of Nemausus), John F. Healey (Pliny the Elder on Science and Technology), James Higginbotham (Piscinae), A. Trevor Hodge (Roman Aqueducts & Water Supply), Wilhelmina Feemster Jashemski (The Gardens of Pompeii), Willem Jongman (The Economy and Society of Pompeii), Ray Laurence (Roman Pompeii), Amedeo Maiuri (Pompeii), August Mau (Pompeii: Its Life and Art), David Moore (The Roman Pantheon), Salvatore Nappo (Pompeii: Guide to the Lost City), L. Richardson jr. (Pompeii: An Architectural History), Chester G. Starr (The Roman Imperial Navy), Antonio Varone (Pompei: I misteri di una città sepolta), Andrew Wallace-Hadrill (Houses and Society in Pompeii and Herculaneum) und Paul Zanker (Pompeii: Public and Private Life).

Die Übersetzungen von Plinius, Strabon und Seneca basieren auf den in der Loeb Classical Library erschienenen Ausgaben ihrer Werke. Von großem Nutzen war mir die von Ingrid D. Rowlan und Thomas Noble Howe besorgte Ausgabe von Vitruvs Zehn Büchern über Architektur. Der Barrington Atlas of the Greek and Roman World, herausgegeben von Richard J. A. Talbert, half mir, Kampanien zum Leben zu erwecken. Besonders wertvoll war die Analyse des Vulkanausbruchs durch Haraldur Sigurdsson, Stanford Cashdollar und Stephen R. J. Sparks in The American Journal of Archeology (86: 39–51).

Ich hatte das große Vergnügen, mich mit John D’Arms kurz vor seinem Tod bei einem Essen mit seiner Familie in einem angemessen glutheißen englischen Garten über die Römer am Golf von Neapel zu unterhalten. Ich werde mich immer an seine Freundlichkeit und seine Ermutigungen erinnern. Professor A. Trevor Hodge, dessen Pionierarbeit über die römischen Aquädukte mir bei der Schilderung der Aqua Augusta eine unschätzbare Hilfe waren, hat mir viele Fragen beantwortet. Dr. Jasper Griffin verschaffte mir Zugang zur Bibliothek des Ashmolean Museums in Oxford. Dr. Mary Beard, Fellow of Newnham College in Cambridge, las das Manuskript vor der Veröffentlichung und machte viele wertvolle Vorschläge.

All diesen Wissenschaftlern möchte ich meinen Dank aussprechen und außerdem nicht auf die übliche Formel verzichten: Für die Irrtümer, Fehlinterpretationen und Freiheiten bei den im Text enthaltenen Fakten ist ausschließlich der Autor verantwortlich.

 

Robert Harris,
Kintbury, Juni 2003

Der Autor

Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Er war Reporter bei der BBC, Redakteur beim Observer und Kolumnist bei der Sunday Times und dem Daily Telegraph. 2003 wurde er als bester Kolumnist mit dem »British Press Award« ausgezeichnet. Er schrieb mehrere Sachbücher und seine Romane Vaterland, Enigma und Aurora wurden allesamt Bestseller. Robert Harris lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Berkshire.

Nachweise

Tom Wolfe, Hooking Up nach: … und wie er die Welt sah, Goldmann, München 2003, übersetzt von Benjamin Schwarz

Plinius, Historia naturalis nach: Historia naturalis, Greno, Nördlingen 1987, übersetzt von G. C. Wittstein (1881)

Vitruv nach: Albert Neuburger, Technik des Altertums, Voigtländer, Leipzig 1919

Conticinium

[04.21 Uhr]

»Es hat sich herausgestellt, dass zwischen der Gewalt eines Ausbruchs und der Länge der voraufgegangenen Ruhezeit ein enger Zusammenhang besteht. Fast alle großen Ausbrüche in geschichtlicher Zeit ereigneten sich bei Vulkanen, die jahrhundertelang geruht hatten.«

 

Jacques-Marie Bardintzeff,
Alexander R. McBirney
Volcanology

Sie verließen den Aquädukt zwei Stunden vor Sonnenaufgang und erklommen bei Mondschein die Berge oberhalb des Hafens – sechs Männer, einer hinter dem anderen, mit dem Wasserbaumeister an der Spitze. Er hatte sie selbst aus den Betten geworfen – mit noch steifen Gliedern und mürrischen, verschlafenen Gesichtern –, und jetzt hörte er, wie sie sich hinter seinem Rücken beklagten. Ihre Stimmen trugen in der warmen, stillen Luft weiter, als ihnen bewusst war.

»Ein Hirngespinst«, murmelte jemand.

»Knaben sollten bei ihren Büchern bleiben«, sagte ein anderer.

Er ließ seine Schritte länger werden.

Lass sie schwatzen, dachte er.

Schon jetzt konnte er spüren, wie sich die Hitze des Morgens aufbaute, Vorbote eines weiteren Tages ohne Regen. Er war jünger als die meisten Männer seines Trupps und auch kleiner: gedrungen, muskulös, mit kurz geschnittenem braunem Haar. Die Stiele der Werkzeuge, die er auf der Schulter trug – eine schwere Bronzehacke und eine Holzschaufel – scheuerten an seinem von der Sonne verbrannten Hals. Trotzdem zwang er sich, mit seinen nackten Beinen so weit auszuholen, wie es ging. Er kletterte schnell von einem sicheren Punkt zum nächsten, und erst als er sich hoch über Misenum befand, an einer Stelle, an der sich der Pfad gabelte, entledigte er sich seiner Last und wartete darauf, dass die anderen ihn einholten.

Er wischte sich mit dem Ärmel seiner Tunika den Schweiß von den Augen. Was für einen flimmernden, fiebrigen Himmel die hier im Süden hatten! Selbst jetzt, kurz vor Tagesanbruch, wölbte sich eine gewaltige Halbkugel von Sternen bis zum Horizont hinab. Er konnte die Hörner des Stiers sehen und den Gürtel und das Schwert des Orion; da waren Saturn und der Große Bär und auch das Sternbild, das sie den Winzer nannten und das immer für Caesar am zweiundzwanzigsten Tag des August aufging, gleich nach dem Fest der Vinalia; Zeichen dafür, dass die Zeit für die Traubenernte gekommen war. Morgen Nacht würde der Mond voll sein. Er streckte die Hand himmelwärts, wobei sich seine plumpen Finger schwarz und scharf vor den funkelnden Sternbildern abzeichneten – er spreizte sie, ballte sie, spreizte sie abermals –, und einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, dass er der Schatten, das Nichts war; das Licht war die Substanz.

Vom Hafen unten kam das Klatschen der Ruder, die Nachtwache war zwischen den vertäuten Triremen unterwegs. Die gelben Laternen zweier Fischerboote funkelten auf dem Golf. Ein Hund bellte, ein anderer antwortete. Und dann die Stimmen der Arbeiter, die langsam den Pfad unterhalb von ihm heraufkamen: der grobe lokale Akzent des Aufsehers Corax – »Seht euch das an – unser neuer Aquarius winkt den Sternen zu!« und das Schnaufen und Keuchen der Sklaven und freien Männer, die in diesem Moment gleichrangig waren in ihrem Groll, wenn auch in nichts sonst.

Der Wasserbaumeister ließ die Hand sinken. »Bei so einem Himmel«, sagte er, »brauchen wir wenigstens keine Fackeln.« Plötzlich war er voll neuer Tatkraft, bückte sich nach seinem Werkzeug und packte es sich wieder auf die Schulter. »Wir müssen weiter.« Er schaute in die Dunkelheit hinein. Der eine Pfad würde sie nach Westen bringen, um den Rand des Kriegshafens herum. Der andere führte nach Norden, auf den Küstenort Baiae zu. »Ich denke, hier sollten wir abbiegen.«

»Er denkt«, höhnte Corax.

Der Wasserbaumeister war schon am Vortag zu dem Schluss gekommen, dass es am besten war, den Aufseher zu ignorieren. Wortlos kehrte er dem Meer und den Sternen den Rücken zu und begann, die schwarze Masse der Bergflanke hinaufzusteigen. Was war Führerschaft schließlich anderes als die blinde Wahl einer Route und die selbstsichere Behauptung, dass die Entscheidung auf Vernunft beruht hat?

Hier war der Pfad steiler. Er musste ihn seitwärts hinaufklettern, manchmal seine freie Hand benutzen, um sich hochzuziehen; wenn seine Füße abrutschten, prasselten Schauer von losen Steinen in die Dunkelheit. Die Leute hielten diese braunen, von sommerlichen Buschfeuern versengten Berge für trocken wie Wüsten, aber der Wasserbaumeister wusste es besser. Dennoch spürte er, wie seine frühere Gewissheit ins Wanken geriet, und er versuchte sich zu erinnern, wie der Pfad im Gleißen der gestrigen Nachmittagssonne ausgesehen hatte, als er ihn zum ersten Mal erkundet hatte. Der gewundene Pfad, kaum breit genug für ein Maultier. Die Streifen von versengtem Gras. Und dann, an einer Stelle, an der das Gelände ebener wurde, Flecken von blassem Grün in der Schwärze – Anzeichen von Leben, bei denen es sich, wie sich herausstellte, um Efeu handelte, der sich an einem Felsbrocken hinaufrankte.

Nachdem er eine Anhöhe halb hinaufgestiegen und wieder hinabgeklettert war, blieb er stehen und drehte sich langsam im Kreis herum. Entweder hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, oder der Tagesanbruch war jetzt nahe, was bedeutete, dass es fast zu spät geworden war. Die anderen waren hinter ihm stehen geblieben. Er hörte ihr schweres Atmen. Noch so eine Geschichte, die sie in Misenum erzählen konnten – wie ihr neuer, junger Aquarius sie aus den Betten geworfen und dann mitten in der Nacht in die Berge geführt hatte, und das alles nur wegen eines Hirngespinstes . In seinem Mund war ein Geschmack nach Asche.

»Haben wir uns verirrt, hübscher Knabe?«

Wieder die höhnische Stimme von Corax.

Er machte den Fehler, den Köder zu schlucken. »Ich suche nach einem Felsbrocken.«

Jetzt versuchten sie nicht einmal, ihr Gelächter zu unterdrücken.

»Er rennt herum wie eine Maus im Nachttopf.«

»Er muss hier irgendwo sein. Ich habe ihn mit Kreide markiert.«

Noch mehr Gelächter – und er wirbelte herum und musterte sie: den gedrungenen und breitschultrigen Corax; den langnasigen Becco, der Gipser war; den rundlichen Musa, dessen Spezialität das Verlegen von Ziegelsteinen war; und die beiden Sklaven, Polites und Corvinus. Sogar ihre undeutlichen Gestalten schienen ihn zu verspotten. »Lacht. Gut. Aber eines verspreche ich euch: Entweder wir finden ihn vor Tagesanbruch, oder wir sind morgen Nacht wieder hier, dich eingeschlossen, Gavius Corax. Aber sieh zu, dass du dann nüchtern bist.«

Schweigen. Dann spuckte Corax aus und trat einen halben Schritt nach vorn. Der Wasserbaumeister machte sich auf einen Kampf gefasst. Seit er in Misenum angekommen war, schien es darauf hinauszulaufen. Keine Stunde war vergangen, in der Corax nicht versucht hatte, ihn vor den Männern herabzusetzen.

Und wenn wir kämpfen, dachte der Wasserbaumeister, wird er gewinnen – es steht fünf gegen einen –, und sie werden meine Leiche über die Klippe werfen und sagen, ich wäre im Dunkeln ausgerutscht. Aber wie würde das in Rom aufgefasst werden – wenn nach weniger als vierzehn Tagen ein zweiter Aquarius der Aqua Augusta verschwand?

Einen langen Augenblick starrten sie sich an. Nicht mehr als ein Schritt war zwischen ihnen. Sie standen so nahe beieinander, dass der Wasserbaumeister den schalen Wein im Atem des Älteren riechen konnte. Plötzlich schrie einer der anderen – es war Becco – aufgeregt und zeigte mit der Hand.

Hinter der Schulter von Corax, kaum sichtbar, war ein Felsbrocken, in der Mitte deutlich mit einem dicken weißen Kreuz markiert.

 

Der Wasserbaumeister hieß Attilius – Marcus Attilius Primus, um seinen vollen Namen zu nennen, aber er hatte nichts dagegen, einfach Attilius genannt zu werden. Er war ein praktischer Mensch und hatte nie viel übrig gehabt für die Phantasienamen, die sich viele seiner Landsleute zulegten (»Lupus«, Panthera«, »Pulcher« – »Wolf«, »Leopard«, »Schöner« – wem zum Teufel wollten sie damit etwas vormachen?) Und außerdem – welcher Name war ehrenhafter in seinem Beruf als der der Attilier, ihres Zeichens Wasserbaumeister seit vier Generationen? Sein Urgroßvater war von Marcus Agrippa aus der Ballisten-Abteilung der Zwölften Legion »Fulminata« rekrutiert und zum Bau der Aqua Julia verpflichtet worden. Sein Großvater hatte den Anio Novus geplant. Sein Vater hatte die Aqua Claudia vollendet, sie über sieben Meilen hinweg in weiten Bögen auf den Esquilin geführt und am Tage ihrer Einweihung dem Kaiser wie einen silbernen Teppich vor die Füße gelegt. Und jetzt war er mit seinen siebenundzwanzig Jahren in den Süden, nach Campania, gesandt und mit der Befehlsgewalt über die Aqua Augusta betraut worden.

Eine Dynastie, auf Wasser gebaut.

Er schaute in die Dunkelheit. Oh, die Augusta war ein wahrlich grandioses Bauwerk – eine der größten Leistungen der Wasserbaukunst, die es je gegeben hatte. Es war eine Ehre, für sie verantwortlich zu sein. Irgendwo da draußen, an der gegenüberliegenden Seite des Golfs, hoch oben in den Kiefernwäldern auf den Bergen des Apennin, fing der Aquädukt die Quellen des Serinus ein und beförderte das Wasser westwärts – in gewundenen unterirdischen Leitungen, auf mehrgeschossigen Bogenarkaden über Schluchten, in breiten Kanälen durch Täler –, die ganze Strecke bis hinunter in die Ebenen von Campania, dann um die andere Seite des Vesuv herum, nach Süden zur Küste bei Neapolis und schließlich auf dem Rücken der Halbinsel Misenum zu der staubigen Hafenstadt, eine Entfernung von rund sechzig Meilen, mit einem ganz leichten Gefälle von nur etwa fünf Fingerbreit auf hundert Ellen. Sie war der längste Aquädukt der Welt, noch länger als die großen Aquädukte Roms, und viel komplizierter, denn während ihre Schwestern im Norden nur eine Stadt speisten, versorgte der gewundene Hauptstrang der Augusta, die so genannte Matrix, nicht weniger als neun Orte am Golf von Neapolis: zuerst Pompeji am Ende einer langen Abzweigung, dann Nola, Acerrae, Atella, Neapolis, Puteoli, Cumae, Baiae und schließlich Misenum.

Und genau das war das Problem, dachte der Wasserbaumeister. Sie musste zu viel leisten. Rom hatte mehr als ein halbes Dutzend Aquädukte, und wenn einer versiegte, konnten die anderen den Mangel ausgleichen. Aber hier unten gab es keine Reserve, zumal während der jetzigen Dürre, die nun schon den dritten Monat andauerte. Brunnen, die Generationen mit Wasser versorgt hatten, waren zu Staubröhren geworden. Flussbetten hatten sich in Pfade verwandelt, auf denen die Bauern ihr Vieh zum Markt trieben. Selbst die Augusta wies Anzeichen von Erschöpfung auf. Der Wasserstand in ihrem riesigen Reservoir sank von Stunde zu Stunde, und es war dieser Umstand, der ihn vor Sonnenaufgang in die Berge getrieben hatte, zu einer Zeit, in der er eigentlich im Bett liegen sollte.

Aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel holte Attilius einen kleinen Block aus Zedernholz hervor, in den an einer Seite eine Kinnstütze eingeschnitzt war. Die Oberfläche des Holzes war von der Haut seiner Vorfahren geglättet und poliert. Angeblich hatte Vitruv, der Architekt des Göttlichen Augustus, seinem Urgroßvater das Stück Holz als Talisman geschenkt, und der alte Mann hatte behauptet, dass der Geist Neptuns, des Wassergottes, in ihm lebte. Attilius hatte für Götter nichts übrig; Knaben mit Flügeln an den Füßen, Frauen, die auf Delphinen ritten, Graubärte, die in Wutanfällen Blitze von Bergesgipfeln herabschleuderten – das waren Geschichten für Kinder, nicht für Männer. Er glaubte stattdessen an Steine und Wasser und an das tägliche Wunder, das sich ereignete, wenn man zwei Teile gelöschten Kalk mit fünf Teilen Puteolanum – dem roten Sand dieser Gegend – vermischte und so eine Substanz erhielt, die unter Wasser zu etwas abband, das härter war als Fels.

Und dennoch – nur ein Narr konnte leugnen, dass man auch Glück haben musste, und wenn dieses Erbstück es ihm bringen konnte … Er fuhr mit dem Finger an der Kante entlang. Einen Versuch war es allemal wert.

Seine Vitruv-Pergamente hatte er in Rom zurückgelassen. Nicht, dass das etwas ausmachte. Seit seiner Kindheit waren sie ihm eingehämmert worden, während andere Jungen sich mit Vergil beschäftigten. Noch immer wusste er ganze Passagen auswendig.

»Kennzeichen der Stelle aber, an welchen Bodenarten Wasser zum Vorschein kommt und gefunden werden kann, sind: zarte Binsen, wilde Weiden, Erlen, Keuschlamm, Schilf, Efeu und andere Gewächse der Art, welche ohne Feuchtigkeit nicht gedeihen können …«

»Corax, dort drüben hin«, befahl Attilius. »Corvinus hierher. Becco, nimm den Stab und markiere die Stelle, die ich dir zeige. Und ihr beiden anderen haltet die Augen offen.«

Corax warf ihm im Vorbeigehen einen bösen Blick zu.

»Später«, sagte Attilius. Der Aufseher stank ebenso stark nach Groll wie nach Wein, aber sie konnten ihren Streit austragen, wenn sie wieder in Misenum waren. Jetzt mussten sie sich beeilen.

Ein grauer Dunst hatte die Sterne ausgelöscht. Der Mond war untergegangen. Fünfzehn Meilen weiter östlich wurde, ungefähr in der Mitte des Golfs, die bewaldete Pyramide des Vesuv erkennbar. Hinter ihr würde die Sonne aufgehen.

»Man lege sich, noch ehe die Sonne aufgegangen ist, in der Gegend, in welcher man Wasser sucht, das Gesicht gegen die Erde gewendet, auf den Boden, und indem man das Kinn auf die Erde setzt und fest stützt, sehe man über jene Fläche hin. So wird nämlich, wenn das Kinn unbeweglich steht, das Auge nicht unstet höher streben …«

Attilius kniete sich auf das versengte Gras, beugte sich vor und richtete den Holzblock in einer Linie mit dem fünfzig Schritt entfernten Kreidekreuz aus. Dann bettete er das Kinn in die Einkerbung und breitete die Arme aus. Die Erde war noch warm von gestern. Als er sich ausstreckte, legten sich Ascheteilchen auf sein Gesicht. Kein Tau. Siebenundachtzig Tage ohne Regen. Am Rande seiner Sichtlinie sah er Corax eine obszöne Geste machen. Er schob den Unterleib vor und zurück – »Unser Aquarius hat keine Frau, also versucht er es stattdessen mit Mutter Erde zu treiben!« –, und dann verdunkelte sich rechts von ihm der Vesuv, und ein Licht schoss aus seinem Rand hervor. Eine Hitzewelle traf Attilius’ Wange. Als er über die Bergflanke schaute, musste er die Hand heben, um sein Gesicht gegen das gleißende Licht abzuschirmen.

»An der Stelle nun, an welcher man Dünste sich kräuselnd in die Luft erheben sieht, da schlage man einen Schacht hinab, denn an einem trockenen Ort kann sich dieses Anzeichen nicht finden …«

Man sieht es schnell, pflegte sein Vater ihm zu sagen, oder man sieht es überhaupt nicht. Er versuchte, den Boden rasch und methodisch abzusuchen, und ließ seinen Blick von einem Abschnitt zum nächsten wandern. Aber es schien alles miteinander zu verschwimmen – verdorrtes Braun und Grau und Streifen rötlicher Erde, die schon jetzt in der Sonne zu flimmern begannen. Seine Augen trübten sich. Er stützte sich auf die Ellbogen, wischte beide Augen mit dem Zeigefinger ab und ließ das Kinn wieder sinken.

Da!

Es war so dünn wie eine Angelschnur, nicht »sich kräuselnd« oder »sich erhebend«, wie Vitruv versprochen hatte, sondern dicht über dem Boden dahinzuckend, als wäre ein Haken an einem Felsbrocken hängen geblieben und jemand ruckte an der Schnur. Es kam im Zickzack auf ihn zu. Und verschwand. Er rief und zeigte – »Dort, Becco, dort!« –, und der Maurer trabte auf die Stelle zu. »Etwas zurück. Ja. Da. Markiere die Stelle.«

Er rappelte sich hoch und eilte auf die Männer zu, wischte sich die rote Erde und die schwarze Asche vom Vorderteil seiner Tunika. Lächelnd hielt er den Zauberblock aus Zedernholz hoch über seinen Kopf. Die drei hatten sich um die Stelle versammelt, und Becco versuchte, den Pfahl in die Erde zu rammen, aber der Boden war zu hart, um ihn weit genug hineinzutreiben.

Attilius war begeistert. »Habt ihr es gesehen? Ihr müsst es gesehen haben. Ihr wart näher daran als ich!«

Sie starrten ihn verständnislos an.

»Es war merkwürdig, ist euch das aufgefallen? Es ist so aufgestiegen.« Er machte in der Luft mit der flachen Hand eine Reihe von waagerechten Hackbewegungen. »Wie Dampf aus einem Kessel, an dem man rüttelt.«

Er schaute von einem zum anderen, mit einem Lächeln, das zuerst selbstsicher war und dann verschwand.

Corax schüttelte den Kopf. »Deine Augen spielen dir Streiche, hübscher Knabe. Hier oben gibt es keine Quelle. Das habe ich dir gesagt. Ich kenne diese Berge seit zwanzig Jahren.«

»Und ich sage dir, ich habe sie gesehen.«

»Rauch.« Corax stampfte mit dem Fuß auf die trockene Erde, und eine Staubwolke stieg auf. »Ein Buschfeuer kann tagelang unter der Erde weiterbrennen.«

»Ich kenne Rauch. Ich kenne Wasserdampf. Das war Wasserdampf.«

Sie taten so, als hätten sie nichts gesehen. Anders konnte es nicht sein. Attilius ließ sich auf die Knie nieder und klopfte auf die trockene rote Erde. Dann fing er an, mit den bloßen Händen zu graben, schob seine Finger unter die Steinbrocken und warf sie beiseite, riss an einer langen, verkohlten Wurzel, die sich nicht lösen wollte. Etwas war hier zum Vorschein gekommen. Da war er ganz sicher. Weshalb war der Efeu so rasch wieder zum Leben erwacht, wenn es keine Quelle gab?

Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Holt das Werkzeug.«

»Aquarius …«

»Holt das Werkzeug!«

 

Sie gruben den ganzen Vormittag, während die Sonne langsam über dem blauen Glutofen des Golfs aufging und sich aus einer gelben Scheibe in einen weißen Gasstern verwandelte. Der Boden knarrte und straffte sich in der Hitze wie die Sehne von einer der riesigen Belagerungsmaschinen seines Urgroßvaters.

Einmal kam ein Junge vorbei, der eine ausgemergelte Ziege an einem Seilhalfter in Richtung Stadt führte. Er war der einzige Mensch, den sie sahen. Misenum selbst lag dem Blick verborgen direkt hinter dem Rand der Klippe. Gelegentlich drangen seine Geräusche zu ihnen herauf – Befehlsrufe von den Exerzierplätzen, Hämmern und Sägen aus den Werften.

Auf dem Kopf einen alten, tief ins Gesicht gezogenen Strohhut, arbeitete Attilius am härtesten von allen. Selbst wenn die anderen sich gelegentlich davonschlichen, um sich in jedem Fleckchen Schatten, das sie finden konnten, auszuruhen, fuhr er fort, seine Hacke zu schwingen. Der Stiel war glitschig von seinem Schweiß und schwer festzuhalten. An seinen Händen bildeten sich Blasen. Die Tunika klebte an ihm wie eine zweite Haut. Aber er wollte vor den Männern keine Schwäche zeigen. Sogar Corax hielt nach einer Weile den Mund.

Die Grube, die sie schließlich aushoben, war zwei Mann tief und so breit, dass zwei von ihnen darin arbeiten konnten. Und es war tatsächlich eine Quelle da, aber sie zog sich zurück, sobald sie in ihre Nähe kamen. Sie gruben. Zuerst wurde die rötliche Erde auf dem Grund der Grube feucht. Dann dörrte die Sonne sie wieder aus. Sie trugen eine weitere Schicht ab, und es passierte wieder dasselbe.

Erst um die zehnte Stunde, als die Sonne bereits ihren Zenit überschritten hatte, gestand sich Attilius die Niederlage ein. Er beobachtete, wie ein letzter Wasserfleck schrumpfte und verdunstete, dann warf er seine Hacke über den Rand der Grube und kletterte selbst hinaus. Er nahm seinen Hut ab und fächelte sich das brennende Gesicht. Corax saß auf einem Felsbrocken und beobachtete ihn. Erst jetzt fiel Attilius auf, dass er barhäuptig war.

»Bei dieser Hitze gerät dein Gehirn ins Kochen«, sagte der Wasserbaumeister. Er entkorkte seinen Schlauch, schüttete ein wenig Wasser in seine Hand und befeuchtete sich das Gesicht und den Nacken. Dann trank er. Das Wasser war heiß – so wenig erfrischend, als würde er Blut trinken.

»Ich bin hier geboren. Die Hitze macht mir nichts aus. In Campania nennen wir das kühl.« Corax räusperte sich und spuckte aus. Dann deutete er mit dem Kinn auf die Grube. »Was machen wir damit?«

Attilius warf einen Blick darauf – eine hässliche Wunde in der Bergflanke, umgeben von großen Haufen Erde. Sein Monument. Seine Torheit. »Wir lassen alles, wie es ist«, sagte er. »Sorg dafür, dass die Grube mit Planken abgedeckt wird. Wenn es regnet, wird die Quelle sprudeln. Du wirst es erleben.«

»Wenn es regnet, brauchen wir keine Quelle mehr.«

Ein logischer Standpunkt, musste Attilius zugeben.

»Wir können von hier aus eine Rohrleitung verlegen«, sagte er nachdenklich. Wenn es um Wasser ging, war er ein Romantiker. In seiner Phantasie nahm plötzlich eine ländliche Idylle Gestalt an. »Wir könnten diese ganze Bergflanke bewässern. Dann wäre es möglich, hier Zitronenbäume anzupflanzen. Oliven. Der Hang könnte terrassiert werden. Weinstöcke …«

»Weinstöcke!« Corax schüttelte den Kopf. »Also sind wir jetzt Bauern! Hör zu, junger Experte aus Rom. Lass dir eines sagen. Die Aqua Augusta ist seit mehr als einem Jahrhundert nicht versiegt. Und sie wird auch jetzt nicht versiegen. Nicht einmal unter deiner Verantwortlichkeit.«

»Hoffen wir’s.« Der Wasserbaumeister leerte seinen Schlauch. Er spürte, wie die Demütigung ihn erröten ließ, aber die Hitze verbarg seine Scham. Er rammte den Strohhut fest auf seinen Kopf und bog die Krempe herunter, um sein Gesicht zu schützen. »Also gut, Corax, ruf die Männer zusammen. Für heute sind wir hier fertig.«

Er griff nach seinem Werkzeug und machte sich auf den Weg, ohne auf die anderen zu warten. Sie konnten sich ihren Rückweg selbst suchen.

Er musste aufpassen, wohin er die Füße setzte. Bei jedem Schritt huschten Echsen in das dürre Unterholz. Es ist hier eher wie in Afrika als wie in Italien, dachte er, und als er den Küstenpfad erreichte, tauchte unterhalb von ihm Misenum auf, im Hitzedunst flimmernd wie eine Oasenstadt und, so kam es ihm vor, im Takt mit den Zikaden pulsierend.

Das Hauptquartier der kaiserlichen Westflotte war ein Triumph des Menschen über die Natur, denn eigentlich hätte es hier überhaupt keine Stadt geben dürfen. Es gab keinen Fluss, der sie mit Wasser versorgen könnte, und nur wenige Brunnen oder Quellen. Dennoch hatte der Göttliche Augustus entschieden, dass das Reich einen Hafen brauchte, von dem aus das Mittelmeer kontrolliert werden konnte, und hier war sie, die Verkörperung römischer Macht: die silbrig glitzernden Scheiben des inneren und des äußeren Hafens, die goldenen Rammsporne und die fächerförmigen Hecks von fünfzig Kampfschiffen im gleißenden Licht der Spätnachmittagssonne, der staubige braune Exerzierplatz des Ausbildungslagers, die roten Ziegeldächer und die weiß gekalkten Mauern der zivilen Stadt oberhalb des Mastenwalds der Werft.

Zehntausend Seesoldaten und weitere zehntausend Zivilisten lebten eng zusammengepfercht auf einem schmalen Streifen Land ohne nennenswerte Wasservorkommen. Erst der Aquädukt hatte Misenum möglich gemacht.

Wieder dachte er an die merkwürdigen Bewegungen des Wasserdampfs und daran, wie die Quelle im Gestein zu verschwinden schien. Wirklich ein seltsames Land. Er betrachtete seine mit Blasen bedeckten Hände.

»Ein Hirngespinst …«

Er schüttelte den Kopf, blinzelte, um seine Augen von Schweiß zu befreien, und setzte seinen mühsamen Weg in die Stadt hinunter fort.