Katja Kraus
Macht
Geschichten von Erfolg und Scheitern
FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
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ISBN 978-3-10-401752-5
Für P
Ich mochte dieses Leben. Ich mochte es, morgens in mein Büro zu kommen. Jeden Tag aufs Neue die bei einem Fußballbundesligaclub üblichen, aufgewühlten Nachwirkungen des vergangenen Wochenendes zu spüren. Oder die ultimative Anspannung vor dem allwöchentlich »wichtigsten Spiel« am bevorstehenden. Und den nahtlosen Übergang vom einen ins andere. Ich mochte meine Aufgabe, Management, den rasanten Rhythmus. Ich mochte Entscheidungen treffen, Verantwortung tragen und gestalten.
Nun mag ich ein anderes Leben. Eines, das mich fordert und manchmal straucheln lässt. Das mir mehr Zeit gibt, aber weniger Sicherheit. Ich habe Macht verloren und Selbstbestimmung gewonnen. Positionsgebundene Autorität aufgegeben und eine neue Form der Anerkennung gefunden. Die Liste meines ganz persönlichen Tauschhandels ließe sich unendlich fortführen und verändert sich mit jedem Tag. Unter dem Strich steht kein Reingewinn, kein unanfechtbares Ergebnis, wie am Ende eines Fußballspiels.
Ich habe mit dem Einschnitt die Chance gehabt, die Leidenschaft für das Schreiben, für den Blick auf Menschen in mir zu wecken. Aufzurütteln vielmehr, weil ich sie brauchte, als Freundin in der widrigsten Phase der Veränderung. Und als Antrieb in den Momenten, als ungekannte Unsicherheiten mich manchmal beinahe hätten verzagen lassen.
In den vergangenen Jahren hatte ich in verschiedenen Managementfunktionen die Gelegenheit, viele Frauen und Männer mit exponierten Lebensläufen, einflussreichen Positionen und bedeutungsvollem Auftreten zu beobachten und auch kennenzulernen. Menschen, die politisch gestalten, Unternehmen zu Erfolgen führen, Meinung machen oder mit besonderen Fähigkeiten, Gedanken oder Werken unser Leben beeinflussen und bereichern. Oft habe ich mich gefragt, was diese Menschen antreibt. Wann die Entscheidung fällt, den Weg, gleich in welchem Umfeld, bis ganz an die Spitze zu gehen. An welcher Stelle der Weg selbst zum Antrieb wird.
Wann entsteht die Bereitschaft, die eigene Fähigkeit, das Selbstverständliche, die innere Leidenschaft, die Überzeugung für eine Sache der öffentlichen Bewertung auszusetzen? Oder ist die Resonanz auf das eigene Tun, Beachtung und Bestätigung von außen vielmehr die Droge, die zunehmend ihre Wirkung entfaltet? Ab wann und wofür sind Menschen bereit, unaushaltbaren Druck auszuhalten, feststehende Werte zu modellieren, unvermeidliche Persönlichkeitsveränderungen zu akzeptieren? Gibt es diesen Moment der Entscheidung überhaupt, oder entwickelt sich in jedem Prozess eine Dynamik, die eine ganz eigene Kraft entfaltet? Was vermag diese Kraft zu beeinflussen? Wann schubst der Zufall den Erfolg in eine Lebensbahn? Welche Voraussetzung eint all diejenigen, die nach Macht und Bedeutung streben? Sind sie alle Anstifter, Klassensprecher und Zaunrüttler gewesen? Wann prägen sich Siegermentalität, Führungsverhalten, Gestaltungswille, Machtanspruch aus?
Welche Kraft ist es, die eine junge Frau, deren Introvertiertheit sie zum Studium einer verborgenen Wissenschaft bewegte, zur Kanzlerin werden lässt, der öffentlichsten Aufgabe des Landes? Und wie hoch ist der Preis für die Überwindung nach wie vor erkennbarer Persönlichkeitsschranken? Ist es die Macht, die verliehen wird, von uns, die wir gleichermaßen bewundernd wie skeptisch zu denjenigen aufschauen, die Einfluss haben und nehmen, die Konzerne oder Ministerien lenken? Oder ist es der Wunsch zu gestalten, wie diejenigen sagen, die machtvoll Entscheidungen treffen, weil sie dazu imstande sind? Wie ist das Verhältnis zwischen der Gestaltungsfreiheit der machtvollen Rolle und der Enge der steten Beobachtung und Beurteilung? Wann beginnt dieser Aspekt inhaltliche Überzeugungen zu korrumpieren?
Was motiviert die Schülerin, die den Aufruf der Lehrer so sehr fürchtet, dass jede Schulstunde zur Qual wird, dazu, erste Solistin eines renommierten Ballett-Ensembles zu werden? Allabendlich bereit, sich bis auf den Kern der eigenen Leidenschaft zu entkleiden und ihr Innerstes dem Publikum hinzugeben.
Veranlasst reiner Machtwille den Konzernchef, der den Privatisierungsauftrag eines Staatsunternehmens nach politischen Vorgaben erfüllte und dennoch am Ende einsam entgleiste, das Geschenk seiner Privatheit aufzugeben und mit beinahe siebzig Jahren einen neuerlichen Sanierungsfall zu übernehmen?
Wenn es eine innere Kraft gibt, die so stark ist, dass sie nicht nur zu besonderer Leistung und herausragenden Karrieren führt, sondern dabei auch die eigenen Grenzen und Wesensgrundierungen zu überwinden imstande ist, was passiert dann, wenn diese Kraft an Wucht verliert? Wenn sie nicht mehr genährt wird von Anerkennung und Erfolgen? Wenn Zweifel an ihre Stelle treten, Kritik und Kontrollverlust? Wird dann das Innerste wieder nahbar oder der Machtwille umso größer, wenn der Status von außen bedroht oder von eigener Unsicherheit angenagt ist? Beginnt ein Aufbegehren mit dem Bewusstsein, dass die Macht zu schwinden droht, oder setzt an dieser Stelle sogar Erleichterung ein? Und wie verändert sich im jeweiligen Fall die Ausübung der Macht? An welcher Stelle beginnt man, den Nachlass zu regeln, dem Gesichtsverlust entgegenzuwirken? Welchen Einfluss haben die Karrierebegleiter, die Kollegen, die Trainer, die Berater? Werden sie im Krisenfall zu verlässlichen Vertrauten oder vielmehr zu Statisten des immer fremdbestimmteren Rollenspiels? Haben sie sich allzu sehr mit dem Erfolg und seinen Gesichtern verwoben, um auf dem Weg in die Veränderung objektive Ratgeber zu sein?
Wie bereitet man sich vor, wenn der Ausstieg ein zwangsläufiger Prozess ist, wenn Alter oder körperliche Leistungsfähigkeit das Ende vorgeben? Wird der Übergang durch Bewusstheit und Vorbereitungszeit erleichtert? Und bedeutet das gleichfalls, dass die Unterscheidung zwischen selbstgewähltem und fremdbestimmtem Abschied das entscheidende Zufriedenheitskriterium bei der Selbsterneuerung ist?
Ich habe diese Fragen, wie viele andere, die mich in diesem Zusammenhang bewegen, ganz unterschiedlichen Menschen mit besonderen Karriere- und Lebensläufen gestellt, neugierig darauf, ob die Antworten einander gleichen. Ob es verbindende Wesensmerkmale für Erfolg und simultane Handlungsmuster im Misserfolg tatsächlich gibt. Wie sehr sich Frauen von Männern, Sportler von Politikern und Journalisten von den Protagonisten ihrer Berichterstattung unterscheiden. Im Umgang mit Macht und Bedeutung, mit Siegen und Niederlagen, mit beruflichen Zäsuren und der Notwendigkeit einer Neuorientierung. Vor allem aber in der Beobachtung des eigenen Weges und all dessen, was eine exponierte Karriere orchestriert.
Jede Biographie kennt ihre Brüche. Es gibt unzählige Bilder erfolgsverlassener Leistungsträger, gefallener Helden und orientierungsloser Lenker. Wir alle erleben alltäglich Situationen des Scheiterns und beinahe jeder berufliche Weg ist mit Rückschlägen und Enttäuschungen, auch mit Statusverlust und unangemessener Beurteilung verbunden. Und doch bleibt das publikumsbegleitete Scheitern ein unauslöschbarer Makel, führt die eigene Erfahrung selten zu Verständnis und Mitgefühl bei der Bewertung der prominenten »Fälle«. Dabei sind es ganz ähnliche Gefühle, ist es dasselbe Spektrum, das die »großen« Karrieren mit den »kleinen« vergleichbar macht. Das Bedürfnis nach Wertschätzung, die Begegnung mit Ängsten und Zweifeln, Überforderungssignale und Selbstüberlistungen sind Faktoren des beruflichen Alltags, die unabhängig sind von Rang und Status. Weil in der Funktion der Mensch bleibt, der mit seiner Funktion und manchmal auch mit sich selbst in den Dialog geht, in den intimen Momenten.
Auch weil eine bedeutende Laufbahn in der nachträglichen Bewertung allzu oft nicht in ihrer Gesamtheit gesehen wird, sondern der Tabellenstand zum Zeitpunkt des Abschieds ausschlaggebend für die Bilanz ist, war es nicht einfach, Menschen zu finden, die bereit waren, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Es bedarf einer besonderen Offenheit, einen Blick von außen auf die ganz persönlichen, behüteten Momente scheinbar transparenter Karrieren zuzulassen. Und damit auch hinzunehmen, dass das mühevoll geschaffene, öffentlich etablierte Bild angetastet wird, durch das Bekenntnis zu Niederlagen, oder gar der eigenen Verletzung.
Ich bin froh, sie dennoch gefunden zu haben. Diejenigen, die bereit sind zu erzählen, was es für sie bedeutet, bedeutend zu sein. Wie es sich anfühlt, herauszuragen, anstoßen und entscheiden zu können, hofiert zu werden, auch aus den falschen Gründen. Wie sich Beziehungen verändern, wenn man an Einfluss und Status gewinnt. Und verliert. Was bleibt, wenn die Funktion auch den Menschen eingenommen hat, und wie man zurückfindet zum eigentlichen Kern. Was sich tatsächlich verändert, wenn das Leben eine andere Richtung nimmt, weil eine Zäsur gewollt oder aufgezwungen wird. Und was der Gewinn ist und was der Verlust, in der Zeit nach dem Ablegen einer machtvollen Rolle.
Ich traf Menschen, die nun glaubhaft erleichtert ohne berufliche Verantwortung und öffentliche Resonanz leben. Die es nicht drängt, eine neue Aufgabe zu finden, sondern für die das Leben selbst genug ist. Solche, die nach wie vor mit dem Abschied hadern. Manche so sehr, dass sie über der Beschäftigung mit dem Verrat und den Verrätern die eigene Verarbeitung vernachlässigen und den Veränderungsprozess nach Jahren nicht abgeschlossen oder noch gar nicht begonnen haben. Diejenigen, die nach der Aufgabe oder dem Verlust ihrer Berufung keine Kompensation gefunden haben, die sie auf gleiche Weise erfüllt, und die seither als Suchende durch die Welt gehen. Andere, die scheinbar unberührt pragmatisch mit den Begleitern der Macht und deren Einbuße umgehen und doch in ihrem Auftreten ganz anderes offenbaren. Ich traf Menschen, die noch Jahre nach dem Ausscheiden ganz und gar Funktionsträger waren. Solche, die sich auf ein neues Terrain wagen, das doch immer vom vorherigen Glanz überstrahlt wird, und andere, die sich an neuen Inhalten oder einfach an der Substanz ihrer Selbst erfreuen.
Die Zeit der Neuorientierung wird in den positiven Fällen gelenkt von der konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Vorherigen, der Versicherung des eigenen Wertes und der äußerlichen Unbeschadetheit. Wird der Aufprall des Scheiterns zudem durch eine neue Aufgabe mildernd gefedert, verläuft der Übergang mitunter reibungslos, oft sogar positiv aufgeladen durch wertvolle Erfahrungen.
In manchen Fällen allerdings erfährt die neue Aufgabe auch eine Idealisierung, die zum hastigen Übersprung verleitet, um den Prozess der Verarbeitung zu verkürzen oder ganz und gar auszulassen. Bleibt die Zeit jedoch ungefüllt, die eigene Tauglichkeit fraglich, das Schweigen des Telefons hörbar, so wird die Revision ein Schatten vieler Tage.
Trotz aller Bereitschaft, den Spalt zu einer oft leidlich beleuchteten Kammer zu öffnen, bleibt in all diesen Interview-Begegnungen das Ungewisse. Die Wahrhaftigkeit der offenbarten Gedanken und Gefühle kennt nur der Befragte selbst.
Mein Anspruch ist es nicht, eine objektive Wahrheit zu finden, die exakten Umstände des individuellen Erfolges oder Misserfolges zu recherchieren. Es erfolgt keine Überführung in den Momenten naheliegenden Selbstbetrugs, kein Versuch, die verborgenen Täuschungen aufzuspüren. Es ist die subjektive Wahrheit des Einzelnen, die sich in den Erzählungen wiederfindet. Die persönliche Wahrnehmung, die Selbsterklärung, manchmal die Selbstverklärung, die Basis ist für das Leben mit der eigenen Geschichte.
Ich habe versucht, die Reisen ein Stück zu begleiten, die die einen nach innen, die anderen nach außen führten. Für manchen schien sie noch kein klares Ziel zu haben. Manchmal haben neue Stationen sie bereits willkommen geheißen. Manche Reise braucht es einfach, um das Gefühl von Bewegung zu vermitteln, von Lebendigkeit. Unweigerlich bin ich dabei auch mit mir selbst gereist, habe mir diese und andere Fragen gestellt, manch eigene Antwort gefunden, manche revidiert, in der Spiegelung meiner Gesprächspartner.
Im Verlauf der Gespräche wurde mir klar, dass ich sie nur auf diese Weise führen konnte, weil es meine eigene Geschichte gibt. Ohne dass ich meinen Status gemein machen möchte mit denjenigen, die erhebliche Bedeutung für das Land, die Wirtschaft oder das Glück eines Publikums an unzähligen furiosen Abenden hatten. Die Vergleichbarkeit findet sich allein im Faktum, nicht in der Dimension der Erfahrungen. Sie ist erkennbar im Mechanismus der Verarbeitung, in den intrinsischen Auseinandersetzungen, im Innenleben.
Meine Erfahrungen mit Täuschungsmanövern, mir und anderen gegenüber, haben mir erleichtert, die Ausweich- und Rückzugsbewegungen meiner Gesprächspartner zu verstehen, die kleinen Augenblicke einzufangen, die Großes sichtbar machen. Manchmal musste und manchmal mochte ich den Gesprächspartner in seinem Kokon lassen, manchmal fühlte ich in der Begegnung, in einem Augenblick des Innehaltens, dass gerade eine Erkenntnis Raum nahm. Oft war Offenheit an der einen Stelle der Mantel, der anderes sorgsam bedeckt halten sollte.
Beim Versuch, Parallelen zu finden zwischen den so unterschiedlichen Menschen, Zeiten und Berufungen, sollte der Erkenntnismoment den Ausgangspunkt bilden. In jeder Biographie gibt es diesen Moment, der den Bruch kennzeichnet. Er passiert leise, im erstmaligen Bewusstsein für die kleinen Hinweise darauf, dass sich der gesetzte Rahmen verändert, die Hoheit über das eigene Handeln verlorengeht und der Einschnitt unausweichlich ist. Er kommt laut und brachial daher, mit einem Ereignis, das keine Wahl lässt und alles auf einen Schlag verändert. Manchmal ist er von außen längst unübersehbar, während der Betroffene noch versucht, Konstrukte zu bauen und Tatbestände zu leugnen. Selbst dann, wenn ein Sachverhalt faktisch unausweichlich ist, wie das berühmte Beispiel eines deutschen Bundeskanzlers am Wahlabend zeigt.
Die Realisierung eines notwendigen Schlusspunktes und die Art und Weise, wie man diese Einsicht umsetzt, sind maßgebliche Faktoren für den Verlauf der weiteren Karriere und die Beurteilung von außen. Die Dramaturgie und der Zeitpunkt des Endes entscheiden darüber, an welcher Stelle der Biographie die Bilanzierung erfolgt. Margot Käßmanns idealisierter Rücktritt hat ihre Karriere zunächst unterbrochen, ihre Person jedoch weit über die Funktion erhoben und in neue Bedeutungssphären gehievt.
Die ehemalige Bischöfin ist eines dieser Beispiele ehrenhaft Zurückgetretener, die zur rechten Zeit Verantwortung übernommen und mit der Konsequenz des Schrittes unterstrichen haben. Wenn die Verantwortung für das eigene Handeln oder eine Entwicklung, die man repräsentiert, nicht mit dem Eingeständnis von tatsächlicher Verantwortlichkeit einhergeht, bleibt der Abschied umso schmerzhafter. Der durch öffentlichen Druck oder internes Drängen erzwungene Rücktritt macht das erbrachte Opfer zum treuen Wegbegleiter des Veränderungsprozesses. Ein selbstgewähltes, wenn auch nicht von inhaltlicher Überzeugung getragenes Ende lässt hingegen oft den Spielraum der aktiven Gestaltung und damit den Schutz der eigenen Integrität.
Doch auch wenn das Ansehen in diesen Fällen häufig sogar wächst, vermag es allzu oft nicht das Konto der inhaltlichen Leere zu füllen.
Immer bleibt es schwer, den richtigen Zeitpunkt für den eigenen Bühnenabgang zu finden. Vielleicht weil es zum richtigen Zeitpunkt keinen Grund gibt zu gehen. Weil der richtige Zeitpunkt sich, wenn überhaupt, erst im Rückblick definieren lässt.
Es gibt viele Klischees rund um das Thema Macht, Sendungsbewusstsein und das Streben nach Reichtum und Status. Viele davon habe ich bestätigt gefunden, auch weil Klischees nun mal keine Fiktion sind, sondern genährt werden von frappierenden Anhäufungen realer Verhaltensmuster. Trotzdem hat jeder Mensch seine eigene, ganz persönliche Geschichte, jenseits klischeehafter Zuschreibungen, die eine differenziertere Betrachtung verdient.
Diejenigen, deren Lebenskurven ich auf den folgenden Seiten begleite, sind auf ihrem Erfolgsweg an eine Gabelung geraten. Ich habe versucht, sie in ihrer Funktion, aber vor allem als Individuen zu sehen, unabhängig davon, in welcher Rolle sie mir begegnet sind. Es ist mir kein Anliegen zu bewerten, mein Interesse gilt derjenigen Wahrheit, die meine Gesprächspartner mich in einem kleinen Lebensausschnitt haben sehen lassen.
Keiner von ihnen hat sich selbst als mächtig oder machtorientiert gesehen oder beschrieben. Ohne Koketterie, sondern vielmehr in arrivierter Noblesse vermeiden allesamt das Bekenntnis zur Macht oder zum Machtanspruch, als sei es ein vergifteter Orden. Vielmehr scheint es eine Tugend, die eigene Exponiertheit lediglich am Entscheidungs- und Gestaltungsraum zu messen.
Macht hat viele Assoziationen, Synonyme und ebenso viele Erscheinungsformen: Die Macht der Tänzerin ist der Bann, in den sie das Publikum allabendlich zu ziehen vermag; die des Politikers der Auftrag seiner Wähler zur Gesellschaftsgestaltung; die des Chefredakteurs die Legitimation zur Deutungshoheit; die des Wirtschaftsvertreters die unternehmerische Entscheidungsgewalt; die des Sportlers die Fähigkeit, Anhänger zu versammeln und Massen zu bewegen.
Die Zuschreibung von außen jedoch kennt keine Schnörkel und Interpretationsformen. Macht ist eindeutig.
»Die Ära Hoffmann/Kraus ist beendet!«
Hamburger Abendblatt
Der Moment, in dem eine fehlende Tube Zahnpasta eine besondere Bedeutung in meinem Leben bekam, war ein kalter, spätwinterlicher Märzabend. Am Tag vorher erreichte mich die nach monatelangem Zerren erwartete Nachricht, dass mein auslaufender Vertrag nicht verlängert werden sollte. Der Aufsichtsrat hatte sich nach einer endlosen Sitzungsreihe auf eine endgültige Abstimmung geeinigt und dabei ein Votum erzielt, das mehrheitlich zu meinen Gunsten ausfiel, allerdings die erforderliche Satzungsmehrheit verfehlte. Die ebenso schnöde wie erfolgversprechende Formel der reinen Fußballlehre lautet: am Ende ein Tor mehr schießen als der Gegner. Sie sollte in diesem Fall nicht ausreichen. Das Ergebnis stand fest. Mit 7:5 Stimmen war das Spiel verlorengegangen. Eine karge Nachricht, lakonisch überbracht nach einem gewöhnlichen Bundesligaspiel. Einem Spiel, das ebenfalls verlorenging, weil der Gegner, Mainz 05, ein Tor mehr geschossen hatte. Und doch blieb die Erschütterung an diesem Tag aus. Acht Jahre und zwei Tage lang bin ich bis dahin Vorstand für Marketing und Kommunikation des Hamburger SV gewesen. Meine Aufgabe war es, aus einem traditionsreichen Fußballverein eine moderne, »emotionale Marke« zu machen. Die Attraktivität zu erhöhen, Vermarktungsergebnisse zu steigern. Und dabei die kommerziellen Anforderungen eines wettbewerbsorientierten Wirtschaftsunternehmens mit den Eigentümlichkeiten eines Sportvereins in Einklang zu bringen. Vor allem aber war es mir eine Herzensangelegenheit. Doch besonders in den letzten beiden Jahren hatten die Vereinspolitik, das Ringen um den richtigen Weg, die internen Diskussionen um Bewahren und Entwickeln überhandgenommen.
Der Abend der Entscheidung endete wie viele jener Tage zuvor bei einem Glas Wein gemeinsam mit denjenigen, die weiterhin kämpferisch, den Fakten trotzend, nach Lösungen suchten, das Spiel zu drehen. Ich war müde. Nicht geschockt von der Brachialität der Nachricht, nicht verletzt von der darin liegenden Missachtung, nicht mal aufgewühlt von Adrenalin. Zu jedem anderen Ereignis der vorausgegangenen acht Jahre habe ich in diesen Situationen eine Strategie zu entwickeln versucht, Szenarien entworfen, Erklärungen und Sprachregelungen gefunden. In dem Moment, der mich am persönlichsten betraf, war ich einfach zu müde. Wortlos.
Am nächsten Tag fuhr ich ins Büro, um den Mitarbeitern zu sagen, was die Hamburger Zeitungen schon großflächig verkündeten: »Die Ära Hoffmann/Kraus ist beendet!«
Nach einer aufgewühlten Versammlung war die stumme Fassungslosigkeit, die unsere Büroräume ausfüllte, unerträglich für mich geworden. Wie so oft in Ausnahmesituationen wollte ich auch diesmal zunächst mit mir allein einen Umgang mit der Erkenntnis finden, die mich nun nach und nach mit ihrer ganzen Kraft erreichte. Ich fuhr an die Ostsee.
Der Wintergarten des kleinen Hotels in einem vergessenen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern war auf eine romantische Weise einsam. In den vergangenen Jahren bin ich häufig an diesem Ort gewesen. Meistens mit Kollegen, in kleinen und größeren Gruppen, um Zukunftsperspektiven festzulegen, Konzepte zu entwickeln, Teamgeist zu stärken. Vor allem um die Rahmenbedingungen zu schaffen für das Ziel, das über allem stand: die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des sportlichen Erfolges. Gewonnene Bundesligaspiele. Ein Tor mehr als der Gegner, möglichst oft.
Die Bedächtigkeit der Szenerie, die Stille des Sees waren effektvolle Kontraste zum überdrehten Alltag des Fußballgeschäftes. In den vorausgegangenen Monaten war es mir immer schwerer geworden, die Getriebenheit als Normalität zu akzeptieren. Ich zweifelte zunehmend daran, ob diese Aufgabe mir und ich der Aufgabe imstande bin weiterhin zu geben, was wir einander für Jahre gegeben hatten. Immer wieder in den vergangenen Jahren gab es diese Tage des Haderns mit den Irrationalitäten der Branche, den unzähligen Einflussfaktoren, der stetigen Selbstüberhöhung und den Erfordernissen des Machterhaltes. Wie alle Menschen in Positionen, die eine erhebliche Entscheidungsgeschwindigkeit fordern und deren Beurteilung durch die Öffentlichkeit mindestens gleichermaßen die Handlungsoptionen bestimmt wie die inhaltliche Überzeugung, habe ich die Abnutzungserscheinungen längst gespürt. Und doch gab es immer Kräfte, die schwerer wogen. Die Bindung an liebgewonnene Menschen und eine prägende Aufgabe. Das wohlige Gefühl der eigenen Bedeutung für die Sache. Die Sicherheit, die berechenbare Herausforderungen, ein bekanntes Umfeld und etablierte Strukturen bieten. Der Status einer Position mit erheblicher Entscheidungskompetenz. Die Attraktivität, die eine öffentlich begleitete Funktion mit all ihren Vorzügen ausmacht. Insbesondere in guten Zeiten. Aber vor allem die Angst davor, dass es vielleicht keine Aufgabe mehr geben wird, die mich auf diese Weise ausfüllt, die ich in ähnlicher Weise auszufüllen imstande bin.
Die rührende Umtriebigkeit, mit der sich das Restaurantpersonal um die Betreuung des einzigen Gastes mühte, machte mich glauben, die Last, die ich gerade in ihren idyllisch katastrophenfreien Ort gebracht hatte, war für alle Anwesenden fühlbar. Nachdem die umliegenden Tische zum Frühstück gedeckt, die Serviettenkränze zum wiederholten Mal in die richtige Stellung geschoben waren, folgte ich der stillen Aufforderung und verabschiedete mich.
Auf dem Weg zu meinem Zimmer war aus dem ruhigen Ort ein verlassener geworden. Der Gasthof inzwischen verschlossen, andere Gäste hatte ich an diesem Montagabend nicht gesehen. Wie so oft in Situationen emotionaler Aufruhr suchte ich Linderung in Musik. Kurz nachdem ich mich, von Leonard Cohen einfühlsam dramatisch begleitet, in meinen Gedanken verloren hatte, holte mich ein unbarmherziges Hämmern an meiner Zimmerwand in die Welt zurück. Die Vehemenz dieses unerwarteten Aufbegehrens gegen die störende Musik schreckte mich auf, wie ein beim Schummeln ertapptes Kind. Ich nahm den iPod aus dem Verstärker und kehrte in die Stille zurück. Schlaf war unvorstellbar, bei der Schwere meines Kopfes, also versuchte ich mich stattdessen mit Ritualen zu beruhigen. Ich ging dazu ins Bad, wegen der ungeplanten Übernachtungsflucht nur unzulänglich ausgestattet, und bemerkte das Fehlen der Zahnpasta in meinem Notkosmetikfundus. An anderen Abenden wäre eine solche Entdeckung ärgerlich gewesen, an diesem warf sie mich aus der mühevoll gehaltenen Bahn.
Das Personal hatte das Haus lange schon sich selbst überlassen, nur die unsichtbaren Leonard-Cohen-Gegner konnten mir aus dieser Lage helfen. Ich klopfte an die Tür des Nachbarzimmers. Laut, über meine Scham hinweg. Doch die Tür blieb verschlossen. Dahinter wohnten Menschen, die ich nicht kannte und die ihrerseits nicht ahnen konnten, dass sich für mich in ihrem Zimmer die stille Aggression, die Unerreichbarkeit des Gegenübers, die unterdrückten Kränkungen der vergangenen Wochen versammelten. Dass die jahrelang von mir geforderte Lautstärke hier jäh unterbrochen wurde. Die Tür blieb verschlossen. Und öffnete damit alle Schleusen.
»Wenn ich alles richtig mache, bin ich vorn.«
Sven Hannawald
Bei der Bestellung der zweiten Portion Pommes frites in einem Hamburger Nobelhotel gelingt es ihm nicht mehr, die Ausschweifung unkommentiert zu lassen. Zu lange schon ist sich Sven Hannawald der aufmerksamen Beobachtung seiner Essgewohnheiten bewusst. Wenn er über das Thema spricht, das ihn in seiner Karriere so konsequent begleitete wie die Vierschanzentournee, schleicht sich ein Schatten in sein strahlendes Jedermanns-Lieblingsgesicht. Dass die professionelle Umsicht in seinem Essverhalten als Magersucht missverstanden wurde, hat ihn immer irritiert und geärgert. Euphorisch wurde er für seinen historischen Triumph gefeiert, als er als erster Springer alle vier Wettbewerbe einer Tournee gewann. Dass manche Menschen semantisch nicht unterscheiden können zwischen dem Gesamtsieger der Vierschanzentournee, den es in jedem Jahr gibt, und seinem einzigartigen Erfolg, kränkt ihn. Schließlich ist es das, »was am Ende stehenbleibt, wofür man all das macht«. Oder eben Selbstverständliches nicht macht. Wie essen. Jetzt, da lange schon nicht mehr jedes Gramm weniger an seinem Körper die Sprungweite erhöht, die am Ende über seinen Seelenfrieden entscheidet, empfindet er Erleichterung. Es ist diese Sehnsucht nach der inneren Zufriedenheit, nach der Erfüllung des eigenen Anspruchs, die ihn zu einem Superstar gemacht hat. Und zum Getriebenen. Für Athleten sind Erfolg und Misserfolg am unmittelbarsten messbar. Gewinnen oder verlieren, Held oder Versager unterscheidet sich in Hundertstelsekunden, Millimetern oder eben Gramm.
Das Gespräch mit Sven Hannawald ist mir durch meine eigene Zeit als Fußballtorhüterin auf eine besondere Weise vertraut. Es gibt ein intimes Verständnis zwischen Sportlern, insbesondere denjenigen, die für ihre Leistung allein aus sich heraus Verantwortung tragen. Die keine äußeren Umstände als Erklärung finden für den zu kurzen Sprung oder das haltbare Gegentor. Die Offensichtlichkeit jeder Blöße ist Antrieb und Bedrohung zugleich. Die Überzeugung: »Wenn ich alles richtig mache, bin ich vorn« kehrt sich auf ungnädigste Weise um und lässt keine Linderung durch die Erklärung der Bedingungen zu. Es ist der eigene Anspruch, der den Maßstab setzt, der verhängnisvolle Glaube an die Hoheit über die eigene Leistung.
Sven Hannawald hat immer versucht, den perfekten Sprung zu springen. Als Kind hat er geweint, wenn ihm nicht der weiteste Satz gelungen ist. Heute zeigt er seinem Manager stolz ein Foto von einem Fußballspiel, bei dem er gerade drei Tore geschossen hat. Sein Verein spielt in der Kreisliga, die lokale Zeitung berichtete darüber. Fußball ist sein Hobby. Sein Beruf ist es jetzt, Autorennen zu fahren. Wenn er verliert, weint er nicht mehr. Dazu gewinnt er zu selten. Aber er hat wieder einen Inhalt, der ihm hilft, mit der Vergangenheit abzuschließen. Nach seinem letzten Sprung versuchte er als TV-Kommentator eine neue Rolle in seiner vertrauten Welt zu finden. Das hat nicht funktioniert. Weil er nicht funktionierte. Als Beobachter am Rande der eigenen Leidenschaft zu stehen, in Sichtweite der selbstgewählten Leerstelle, das hat er nicht ausgehalten.
Erst seit er im Motorsport eine neue Aufgabe fand, traut er sich wieder an die Schanze. Seit er eine Vorstellung davon hat, sein Auto auf eine ähnliche Weise zu beherrschen, wie es ihm mit seinem Sprungski von klein auf selbstverständlich war, empfindet er wieder Sinn und Lebensfreude. Vielleicht sogar eine ganz neue Form der Lebensfreude, eine, die ihn befreit vom Druck der eigenen Verantwortlichkeit. Und er hat jetzt verstanden, was seine Faszination ist: Das Adrenalin, das seinen Körper auf eine einzigartige Weise ausfüllt, ihn eins mit dem umkämpften Partner sein lässt, das spürt er auf der Rennstrecke auf eine Weise, wie er es bis dahin nur auf der Schanze zu spüren vermochte.
Sein Perfektionismus hat Sven Hannawald zum besten deutschen Skispringer aller Zeiten werden lassen. Der Preis war seine Gesundheit. Zu seiner Burnout-Erkrankung hat er sich öffentlich bekannt, weil er »keine Schwäche darin sieht, dazu zu stehen, dass ein glamouröses Leben auch seine Schattenseiten hat«. Aber er mag nicht darauf reduziert sein, in der Nachbetrachtung seiner Karriere zur Symbolfigur der Salonfähigkeit psychischer Erkrankungen gemacht zu werden.
Die Bereitschaft, für den Erfolg einen Preis zu zahlen, der über das natürliche Quantum dessen, was das Leben an jedem Tag an Handel verlangt, hinausgeht, ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner der Erfolgreichen.
In einer Zeit, in der nur noch die Wenigsten in ein Amt hineingeboren werden, liegt selbst den aufsehenerregenden Karrieren meist kein klarer Plan zugrunde. Kaum einer meiner Gesprächspartner hat seinen unvermeidlichen Erfolg schon im Kindesalter verkündet. Sie wollten einfach ihre Traumrolle tanzen, eine Idee verwirklichen oder gleich die ganze Welt verändern und waren dafür bereit, geschundene Körper, ermüdende »Wahlkampf-Tingeltouren«, den Verlust der Privatheit, Bindungslosigkeit und auch das Scheitern in Kauf zu nehmen. Das Bewusstsein, Grenzen zu überschreiten, tritt dabei fraglos hinter den eigenen Anspruch zurück und bleibt oft lange, manchmal ganz und gar unbemerkt. Doch wird der Preis gezahlt für das Versprechen auf ein Ziel, eine Beförderung, eine Medaille, einen Wahlsieg? Oder auf die Erfüllung des Versprechens? In welchen Momenten findet die Belohnung statt?
Bei seinem Lauf zur Eckfahne, nachdem der Ball im Tor zappelte, habe er für vier oder fünf Sekunden uneingeschränktes Glück empfunden, schildert der ehemalige Fußball-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger ergriffen seine ganz persönliche Belohnung. Die Szene, die er als kleiner Junge nächtelang geträumt, auf der Straße im verschwitzten Nickipulli tausendfach vorgespielt hatte. Das entscheidende Tor im entscheidenden Spiel. Der Treffer, der den VfB Stuttgart 2007 am letzten Spieltag der Bundesligasaison zum Deutschen Meister machte. Eine tollkühne Bolzplatzphantasie und deren spektakuläre Verwirklichung.
Er schaut sich die Aufnahmen heute noch manchmal an. Die vom Tor, dem Jubel und den Momenten danach. Doch das Gefühl kommt nicht zurück. Das bedauert er. Aber er erinnert sich daran, dass er diesen Tag als Belohnung empfunden hat. Dass alles Erfüllung fand, in einem beherzten Schuss auf das Cottbusser Tor. Alles, was er vermeintlich geopfert hat, in seiner Jugend als angehender Fußballprofi. Partys mit Klassenkameraden, sommerlange Interrailreisen, Schulhofturteleien und exzellente Mathenoten. Vermisst hat er all das damals nicht. Er wollte einfach Fußball spielen, besser als andere und besser auch als er selbst.
Lange war der Perfektionismus sein Freund. Sein innerer Ansporn, sein strengster Trainer. Mit achtzehn Jahren ging er nach England, angezogen von der rauen Ehrlichkeit des Kick-and-Rush-Fußballs. Diese britischen Jahre beschreibt er als einen Rausch: die ersten Profieinsätze; die Premiere-League, das begehrenswerteste Anstellungsverhältnis für einen Berufsfußballspieler; Berufung zur Deutschen Jugendnationalmannschaft; der besondere Status, schon als Jungprofi aus dem Ausland eingeflogen zu werden; die ersten aufmerksamen Zeitungsberichte; die ständigen Besuche von bewundernden Freunden aus Deutschland.
Er stockt jetzt, nach jedem einzelnen Satz, so, als würde er sich beim Aufzählen nachträglich vor jeder Station und vor seinem eigenen Mut verbeugen wollen. Vor der ambitionierten Neugierde, die ihn in die Fremde hat ziehen lassen, heraus aus der beschaulichen Provinz und der behüteten Großfamilienidylle mit den sechs Geschwistern. Heute, da ihm alles so viel mehr Kraft und Opfer abverlangt, wirkt er beim Erzählen dieser lebensleichten Phase so leuchtend, als fabuliere der kleine Thomas von damals über seinen Traum von der ruhmreichen Profilaufbahn.
Thomas Hitzlsperger hat sich nicht ausgeruht auf seiner aufsehenerregenden Leistung im Teenageralter. Er hat sich nicht bremsen lassen durch die Bejubelungen seines Umfeldes, das ihn schon früh an der Spitze sah. Auch die Verlockungen der Popularität konnten ihn nicht ablenken. Er wollte besser werden, der Beste sein. »Ich habe immer wieder die Geschichten gehört, von David Beckham, der nach dem Training noch stundenlang Freistöße übt, obwohl er längst ein Superstar ist.« Also hat er auch Freistöße geschossen. Schüsse, die ihn zum nächsten Verein, einem Top-Club, bringen sollten, und in die Nationalmannschaft. Es gab immer noch eine Station weiter oben. Ein gewonnenes Spiel war gut, »aber zufrieden war ich erst, wenn ich ein Tor geschossen oder das Spiel maßgeblich beeinflusst hatte«. Der Druck, sagt er leise, sei immer aus ihm selbst heraus entstanden.
Sven Hannawald spricht auch über widrige Phasen und kalte Winter in gleichbleibender Lautstärke und ohne hörbare Nachdenklichkeit. Er ist überhaupt ein extrem entspannter Gesprächspartner. Keine Vorsicht, kein Argwohn hemmen ihn beim geteilten Blick auf seine außergewöhnliche Sportlerlaufbahn. Das Urteil der Öffentlichkeit hat er nie gefürchtet, dazu weiß er zu genau, dass die Menschen ihm wohlgesonnen sind. Selbst unter Journalisten gibt es viele »kleine Hannawald-Fans«. Er macht es ihnen auch leicht. Während unseres Gesprächs nimmt er kurz einen Anruf an. Der Termin für ein Fotoshooting am nächsten Tag soll um zwei Stunden, auf 7 Uhr frühmorgens, vorverlegt werden. Wegen des besseren Lichtes. Sven Hannawald hört kurz zu, lässt sich überzeugen und kündigt sein pünktliches Erscheinen so umgänglich an, als sei die Verlegung seine Idee gewesen. Frühstück, sagt er der Frau am anderen Ende der Leitung, nein danke, das brauche er um diese Zeit noch nicht. Er hält Konzilianz nicht für seine professionelle Pflicht, sondern für eine Selbstverständlichkeit. »Diejenigen, die Ärger mit Leuten haben, sind immer die, die Leuten Ärger machen.« Dazu will er nicht gehören.
Die unzähligen Zeitungsartikel, die es über ihn gab, hat er allesamt gesammelt, aber seither noch nicht angesehen. Aus Zeitgründen. Gelesen hat er sie ohnehin selten. Sein Image zu gestalten, sich immer wieder neu zu erfinden, wie es für viele Künstler und Kunstfiguren ein stetiges Trachten ist, das brauchte es für ihn nicht.
Sven Hannawald hat es dennoch genossen, auf der Schanze zu stehen und mitzuerleben, wie clevere TV-Manager aus einer seit Jahrzehnten verbindenden deutschen Familienfeiertags-Veranstaltung ein Medienereignis gemacht haben. Wie sich Zeitungsseiten und Zuschauerraum synchron füllten und aus einer Gruppe von Athleten, Kontrahenten und Kameraden eine Boygroup wurde, deren »Shining Star« er war. Die Skispringer haben diese Entwicklung damals gern mitgenommen, die Aufmerksamkeit hat ihnen Fans, Sponsoren und Geld gebracht, »aber mit der Realität hatte das natürlich nichts zu tun«. Er hat es als Teil seines Jobs verstanden. Nachdem er erstmal seinen Sport als Job verstanden hatte. Wenn er sagt, »man hört als erwachsener Sportler mit einem anderen Verhältnis zu seinem Sport auf, als man als Junge damit anfängt«, drückt er die Anerkenntnis all der Kräfte aus, die zu wirken beginnen, wenn Talent und Leistung sich über die Masse erheben. Aber er erklärt zugleich die Entzauberung, die Entfernung vom Ursprünglichen. Auch von der reinen Freude am gelungenen Sprung.
Zum Genuss oder zum Glücksempfinden bleibt oft keine Zeit, weil selbst der Erfolg nach einer Erklärung verlangt, nach öffentlich geteilten Gefühlen und spektakulären Bildern. Magdalena Neuner, Deutschlands Biathlonheldin mit dem Engelsgesicht, hat dieser Befremdung für sich nur mit dem Ausstieg begegnen können. Als ihr selbst ein Olympiasieg nichts mehr bedeutete, weil die eigene Bedeutung zu schwer auf ihr lastete, verkündete sie mit fünfundzwanzig Jahren lächelnd ihr Karriereende.
Für all diejenigen, die sich vor dem Fernseher über deutsche Medaillen und geliehenen Gesprächsstoff freuen, wird nur das andere Bild erkennbar. Das des bewunderten Helden, der für Ruhm und Reichtum springt, schießt und rennt und ein privilegiertes Leben führt. Und dabei die Spielfreude verliert, die ganz früher der erste Antrieb war. Oft habe ich mich darüber gewundert, dass Männer, die sich den Kindheitstraum beinahe jedes kleinen Jungen erfüllt haben und im Trikot ihres Lieblings- oder wenigstens eines Profivereins in der Kabine sitzen, ihr Spiel plötzlich als Last empfinden, die Begeisterung nach und nach aus den Augen schwindet.
Von außen betrachtet strebt der Herausragende zwangsläufig nach Popularität und Exponierung: »Die haben sich das doch so ausgesucht«, oder »dafür haben sie Millionen auf dem Konto«, sind die obligatorischen Parolen beim Sichtbarwerden leidvoller Aspekte überbordender Aufmerksamkeit. Oftmals führen diese erwartbaren Reaktionen zum Schweigen der Betroffenen. Zur Akzeptanz inakzeptabler Bewertung, zur Inkaufnahme oder zum Vertuschen der Auswirkungen des unaushaltbaren Drucks. In den seltensten Fällen ist zu Beginn einer Laufbahn vorhersehbar oder gar angestrebt, dass aus der Begabung überragende Erfolge und damit publizistisches Interesse und unbegrenzte Vereinnahmung folgen. Diejenigen, die nichts suchen als Öffentlichkeit und schnellen Ruhm, sind die, die parasitäre Beziehungen suchen oder in Castingshows um Beachtung buhlen. Selten jedoch die, deren Idealismus, Talent oder Gestaltungswille sie frühzeitig prägt und auf Basis derer sie eine belastbare Karriere aufbauen. Steffi Graf ist ein Beispiel für die Last der Durchleuchtung und Bewunderung, die zum anhänglichen Begleiter und im Laufe ihrer Karriere zum unüberwindbaren Gegner der Freude am Tennis wurde. Irgendwann war die Anstrengung nicht mehr nur in ihrem Gesicht, sondern auch in ihrem Spiel ablesbar. Ihr Mann Andre Agassi, zeitgleich mit ihr Nummer 1 der Weltrangliste, bringt diese abseitigen Phänomene der Popularität in seiner vielbeachteten Biographie »Open« mit dem Satz: »Ich hasse Tennis« auf den Punkt. Wie schwer Steffi Graf die Überwindung ihrer Schüchternheit aufgrund der ständigen Präsenz von Journalisten, Fotografen und distanzloser Fans während ihrer phantastischen Tennis-Ära tatsächlich gefallen ist, hat sie erst im Rückblick offen bekannt. Und durch die Zurückgezogenheit ihres nun selbstgewählten Lebens unterstrichen.
Ganz ohne Frage gibt es auch die anderen Beispiele. Diejenigen, die angesichts der Vorzeichen des Ruhmes in Ekstase über sich selbst geraten. Die beim Hecheln nach Anerkennung die Aufgabe aus dem Blick verlieren. Der Gefahr der Realitätsverzerrung erliegen. Es sind diese Beispiele, die das öffentliche Bild dominieren. Aber es bedarf der Bereitschaft zur Unterscheidung und zum genaueren Hinschauen, um die Dynamik der Popularität zu erkennen, die beinahe jeder anfangs freundlich begrüßt, auf seine Weise an einer Stelle befördert und an einer anderen durchbricht.
Manchmal misslingt die Verortung der eigenen Bedeutung, manchmal die Entschlüsselung der »Déformation professionelle«, weil die Rolle im Außen so selbstverständlich interpretiert oder gar gefordert wird.
Die Insignien des Erfolges sind verlockend und in vielen Biographien sind es deren drogengleiche Wirkung, die zu besonderer Leistung und auch zum Verlust der Leichtigkeit führen, der Ursprung herausragender Karrieren sind sie jedoch in der Regel nicht.
Als Ron Sommer als junger Mann durch New York schlenderte, orientierungslos auf den Boulevards und im Blick auf seine Zukunft, ausgestattet mit dem »falschen Studium« für das, was ihn tatsächlich interessierte, galt sein erster Ehrgeiz festem Schuhwerk. Im stetigen Anblick der Geschichte des amerikanischen Traums, der jedem alles möglich – und damit jeden selbst zum Architekten seines Lebens macht, suchte er nach einer Aufgabe, die seine Grundbedürfnisse sicherstellt. »Keine nassen Füße zu bekommen und auf Dauer lieber Auto fahren als U-Bahn«, waren die ersten Zielsetzungen seines folgenden Karriereweges.
Was im Blick auf den weiteren Verlauf Ron Sommers und anderer vielbeachteter Lebensgeschichten nach Koketterie klingen mag, ist die unprätentiöse und verbindende Wirklichkeit vieler vermeintlicher Helden.
Keiner meiner Gesprächspartner erzählte mir von einem Karriereplan, der dem eigenen Weg als Motor oder Leitlinie diente. Selten war die Strahlkraft von Macht und Status treibender Impuls, sich auf die Strecke zu begeben. Ganz im Gegenteil: Die Freiheit der Unbedarftheit, die Unkenntnis der Anforderung einer Position und der Radikalität der begleitenden Faktoren machten den Start oft überhaupt erst möglich.
»Es gab mehrere Situationen in meinem Leben, in denen ich, hätte ich gewusst, wie groß die Aufgabe ist, gar nicht losgegangen wäre«, beschreibt die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast, in einem Radiointerview eine wiederkehrende Situation ihrer beruflichen Laufbahn. Abgehalten haben diese Gedanken sie jedoch nicht davon, sich in ihrem politischen Leben immer wieder um neue Positionen zu bewerben. Auch, als die Größe der Aufgaben und der Verantwortung längst fassbar für sie geworden war und damit auch das Ausmaß des Risikos. Irgendwann setzt eine Kraft ein, die stärker ist als die eigenen Zweifel. Die durch Erfahrungen gewonnene Verlässlichkeit der eigenen Fähigkeiten. Und eine Dynamik, die den Werdegang über das eigene Tempo hinaus zu beschleunigen vermag.
Eine besondere Begabung verleiht eine Identität, die den Begabten über seine eigentliche Persönlichkeit erhebt. Oder die eigene Persönlichkeit erst zu entdecken hilft. Die Balletttänzerin Heather Jurgensen, achtzehn Jahre lang erste Solistin an John Neumeiers gefeiertem Hamburger Ballett, hat nie daran gedacht, Berufstänzerin zu werden. Obwohl tanzen längst viel mehr als ihre Berufung war. In der Schule wurde sie rot, wenn sie aufgerufen wurde. Forderten die Lehrer sie gar zu mündlicher Mitwirkung auf, kamen ihr die Tränen. Sie hat sich nirgends richtig gefühlt, »alles war eine Qual«. Mit dem Tanz findet sie Sicherheit, eine Identifikation. »Ich wurde ein anderer Mensch, als ich tanzen konnte.« Wenn die Bedeutung der Leistung für die Persönlichkeit ein solches Gewicht hat, definiert sich daraus auch der Maßstab: »Mein Anspruch war immer viel höher als mein Leistungsvermögen«, erzählt die Primaballerina von ihrem Drang nach Perfektion, der sie zu ergreifenden Aufführungen und zu psychischer Dauerbelastung führte. Das Ideal habe sie nie erreicht, aber manchmal, wenn sie in die Nähe kam, hat sie Zufriedenheit empfunden. Bis zum Training am nächsten Tag. Nach einer ihrer Meinung nach mäßigen Vorstellung hat sie mit sich gehadert, auch wenn das Publikum hingerissen war. »Ich habe immer die ideale Interpretation angestrebt, das war mein Antrieb. Tanz ist so persönlich, ich stand nackt vor den Menschen auf der Bühne.« Rot wurde sie dabei nie. Sie hat sich in eine andere Person hineingetanzt, mit ihrer ganzen Hingabe. Das Publikum sollte die totale Verschmelzung mit ihren Figuren fühlen. Jeden Abend. Acht Vorstellungen in der Woche.
Warum sie, das angstbesetzte Mädchen, bereit war, für das Ballett ihre Familie in der Provinz zu verlassen und sich in New York einer hochcompetitiven Tanzakademie anzuschließen, kann sie sich heute nicht mehr erklären. Vermutlich, weil es keine Erklärung gibt. Ihr Talent zeigte ihr einen Weg auf, der keine Entscheidung verlangte, der einfach vor ihr lag. Auf einmal war alles so, wie es in ihre Welt gehörte. Kein Gefühl der Fremdheit beim Bemühen zu verstehen, was ihre Mitschülerinnen beschäftigte, keine Scham über den zu knabenhaften Körper, keine Anstrengung mehr, dazugehören zu müssen. Hier waren alle wie sie. Alles war Tanz. Und sie war mit allem, was sie tat, Tänzerin.
In Heather Jurgensen gab es keine Disposition für ihre Kunst, auch keine Vorbilder. Sie hatte die Bereitschaft, sich ihrer besonderen Begabung ganz und gar hinzugeben und dabei über Grenzen, auch schmerzvolle, zu gehen.
Das Glück derjenigen, die eine vergleichbare Lebensleidenschaft für sich entdecken, liegt darin, dass die Grenzüberschreitungen für sie selbst nicht fühlbar sind. Oder aufgewogen werden durch Anerkennung, Erfolg oder einfach die ganz eigene Zufriedenheit. Zumindest für eine Zeit.
Als begünstigender Karrierebegleiter spielen Vorbilder bei meinen Gesprächspartnern nahezu keine Rolle. Zumindest für den Zeitpunkt, an dem Weichen gestellt werden, ist der Stellenwert einer einzelnen Orientierungsperson gering. Erst in der Retrospektive wird dem Werdegang, oft zum Zwecke der Aufhübschung, das passende Idol hinzugefügt. So fühlen sich Generationen von Politikern je nach Gesinnung beeinflusst von Konrad Adenauer oder Willy Brandt. Als Impulsgeber mehr denn als Vorbildfigur werden Eltern genannt, zumeist Väter, die das charakterliche Rüstzeug für die Ausbildung des Talentes erzieherisch geformt haben.
Udo Röbel ist ohne leiblichen Vater groß geworden. Sein Rüstzeug für eine spektakuläre Reporterkarriere war das lebensbegleitende Ringen um Anerkennung. Aufgewachsen in den fünfziger Jahren mit einer alleinerziehenden Mutter in der »unteren Mittelschicht« und mit dem quälenden Gefühl, eine Belastung zu sein, erlebt sich der ehemalige Bild-Chefredakteur als »ein ungewolltes Kind, das immer um seinen Stellenwert und Liebe kämpfen musste«. Diese Prägung hat sich manifestiert. Zwei Möglichkeiten habe er gehabt: zu verkümmern oder Knöpfe zu drücken. Er hat sich für die zweite, aktive Variante der Lebensgestaltung entschieden. Doch das Defizit ist immer sein Antrieb geblieben. Journalismus sollte ihm Ruhm und Ehre bringen. Und ein vernünftiges Auskommen, zur Linderung seiner von klein auf erlernten Existenzangst.