Christiane Rösinger
Berlin - Baku
Meine Reise zum Eurovision Song Contest
Fischer e-books
Christiane Rösinger war Mitgründerin, Sängerin und Texterin der Berliner Bands »Lassie Singers« und »Britta«. In den 90er Jahren war sie eine der Betreiberinnen der legendären Flittchenbar am Berliner Ostbahnhof, die sie 2010 zu neuem Leben erweckte. Seitdem führt sie einmal im Monat durch eine musikalische Gala-Show im Kreuzberger Club Südblock. Neben ihrer Arbeit als Musikerin (»Songs Of L. And Hate«) schreibt sie für verschiedene Zeitungen und Magazine. Im Jahr 2008 veröffentlichte sie ihr erstes Buch »Das schöne Leben« und zuletzt »Liebe wird oft überbewertet«, ein humorvolles Plädoyer für das Alleineleben.
Erschienen bei FISCHER Ebooks
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Covergestaltung: buxdesign, München
Coverabbildung: Christiane Rösinger
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402493-6
In Bremen
Am 26. Mai 2011 wurde der 56. Eurovision Song Contest aus Düsseldorf übertragen, aber ich stand an diesem Abend mit meinem Mitmusiker in einem Fünfziger-Jahre-Jazzkeller in Bremen. Das Musicaltheater im gleichen Gebäude hatte gerade Insolvenz anmelden müssen, die Stimmung der Belegschaft war, wohl deswegen, ein wenig gedrückt. Wir sprachen über den Grand Prix und die Frage, ob Lena sich seit ihrem Sieg in Oslo sehr zum Nachteil verändert hatte, ob das leicht Durchgedrehte bei ihr noch originell oder schon zu sehr Masche sei, und darüber, wie sehr Fernsehen den Charakter verdirbt. Schon im Jahr zuvor hatte der Kulturwissenschaftler Johannes Arens von einer »Entschwulung« des ESC gesprochen. Stefan Raab habe den Schwulen den Grand Prix weggenommen, Männern, die Interpreten wie Vicky Leandros, Udo Jürgens, Johnny Logan oder Dana International verehrt hatten.
An Lena aber, so Arens, sei nichts mehr, in das sich nichtheterosexuelle Männer hineinversetzen könnten. Es seien fahle Mädchenträume, die sie serviere, keine Geschichten von Triumph und Scheitern.
Hier lässt sich anmerken, dass sich auch eine erwachsene Frau von Verstand schwerlich in Lena hineinversetzen kann, dass aber Lena trotzdem eine Wohltat war im Vergleich zu allen anderen, die zuvor ins Rennen geschickt worden waren, und einen neuen und zunächst unberechenbaren Typus Sängerin verkörperte.
Tragödienfähig ist Lena tatsächlich nicht, und natürlich war früher alles noch besser – da waren die Sängerinnen in Vorhänge gehüllt, es spielte ein Orchester, und es musste in der Landessprache gesungen werden.
Aber trotz der Globalisierung des Schlager- und Popwesens hatten die beiden Halbfinale des Jahres 2012 schon sehr viel Ergreifendes und Skurriles geboten. Es gab bizarre Bühnenbilder – die armenische Sängerin sang aus einem riesigen Boxhandschuh heraus –, es gab jede Menge knochige Euro-Trash-Blondinen, R&B-Imitatorinnen im fließenden Seidenmini mit windmaschinenbewegter Schleppe, Big-Hair-Kreationen, Trick-Kleider, eine wallonische Beatbox-Darbietung und russischen Show-Metal. Man sah Engelsflügel und zypriotische Diskuswerferinnen, andere ließen Frauen in lila Lackkleidern Sandmalereien ausführen, die als Hintergrundbild projiziert wurden.
Dann mussten wir unser Gespräch beenden und auf die Bühne. Später, im Hotelzimmer, sahen wir nur noch ein junges Sangespaar, Ell und Nikki, die unentwegt kreischten und alles »Unbelievable!« fanden, und eine überglückliche Lena, die augenscheinlich sehr erleichtert war, den drückenden Titel »ESC-Gewinnerin« weitergeben zu können. »Aserbaidschan also!«, wunderten wir uns. »Wo ist denn das? Gehört das überhaupt zu Europa, und wenn ja, warum eigentlich?«
Nun, wer jemals in seinem Leben Grand Prix, wie wir alten ESC-Hasen sagen, geguckt hat, der weiß ja, dass dort immer schon Länder mitgemacht haben, die geographisch und politisch nicht direkt zu Europa gehören, Israel zum Beispiel, und später dann Georgien und Russland. Zum Grand-Prix-Raum gehören auch Ägypten, Algerien, Tunesien und der Vatikanstaat, auch wenn diese Länder noch nie teilgenommen haben. Der Grand Prix stellte immer schon so etwas wie die Utopie eines geeinten maximalen Europas dar, ist er doch eine Veranstaltung der Europäischen Rundfunkunion EBU (European Broadcasting Union), und hier gilt grob gesagt: Wer Empfang hat, ist drin. Und dieses Europa war seit jeher größer als die Europäische Union, der Euroraum oder die im Schengener Abkommen vereinigten Euro-Staaten.
Aber wo liegt Aserbaidschan? In der Nähe vom Iran, behauptete der nach Bremen mitgereiste Herr Spechtl. Aber wie kann das sein – es hat doch früher zur Sowjetunion gehört und grenzt doch wohl auch an die Türkei? Vergebens versuchten wir in unserem Hotelzimmer, die Weltkarte vor dem geistigen Auge auszulegen, was schwierig ist, so ganz ohne Google Maps und wenn man wie ich von Jugend an unter einer starken Geographie-Schwäche leidet.
»Wir sehen uns im nächsten Jahr zum Eurovision Song Contest in Baku«, sagte dann ein Kommentator, da hörte ich zum ersten Mal den Namen der Hauptstadt dieses seltsamen Landes, von dem keiner so richtig wusste, wo es eigentlich liegt.
Ein sehnsüchtiges Gefühl, nennen wir es Reiselust, überkam mich plötzlich, war ich doch in den letzten zwanzig Jahren Hunderte Male die deutschen und österreichischen Autobahnen abgefahren, war zwar in New York und Kairo, auf Elba und Korsika, in Südfrankreich und am Atlantik, aber noch nie mal so richtig weit weg gewesen.
»Ach, Baku! Da sollte man mal mit dem Auto hinfahren«, dachte ich sehnsüchtig an diesem Grand-Prix-Abend in Bremen.
Wer keinen Sinn fürs Autofahren hat, würde natürlich von Berlin aus in sechs Stunden über Moskau nach Baku fliegen und sich die Strapaze ersparen. Außerdem hat das Autofahren ja ein schlechtes Image. Nur mit viel Lust zum Tabubruch und Spaß am Ökos-Schocken kann man frei und laut sagen: Ich fahre gerne Auto! Ich bin begeisterte Autofahrerin!
In vielen Kreisen, ob man sie nun Lohas (Lifestyle of Health and Sustainability) oder Bobos (Bourgeois Bohemien), öko oder alternativ nennt, ist die Autofahrerin eine kritisch beäugte Ausnahmeerscheinung. Wer etwas auf sich hält, fährt Rad und bemüht sich so, ganz nebenbei, eine mühelos-selbstverständliche Sportlichkeit durchscheinen zu lassen (»Wieso, von meiner Wohnung bis zum Prenzlauer Berg sind es doch nur zwölf Kilometer!«). Wer in Berlin aufgewachsen ist, hat oft gar keinen Führerschein und wozu auch – schließlich braucht man dort kein Auto, um vorwärts zu kommen. Die Zugezogenen schätzen ebenfalls den öffentlichen Nahverkehr, und so gilt das Autofahren auch in diesen Kreisen als schlechte Angewohnheit bornierter Bleifußcharaktere mit Silberhaar oder als zweifelhaftes Vergnügen der uneinsichtigen Unterschicht. Wer Auto fährt, ist unsozial, hinterlässt einen riesigen Klima-Fußabdruck, ist faul und undiszipliniert.
Und dann sind da noch die städtischen SUV-Fahrer, die zu Recht unbeliebt sind und sich auch regelmäßig lächerlich machen, wenn sie in den engen, zugeparkten Straßen von Berlin Mitte einen Parkplatz suchen oder sich mit ihren Karossen in ausweglose Situationen manövrieren, in Sackgassen stecken bleiben und sich beim Wendeversuch hoffnungslos verkeilen.
Noch unangenehmer sind aber überzeugte Radfahrer, wenn zum normalen Geltungs- und Umweltbewusstsein noch eine unglückliche persönliche Veranlagung hinzu kommt – dann entsteht der Typus des aggressiven Kampfradlers, der alle gnadenlos vom Bürgersteig fegt. Aber auch der sanftmütige Berliner Radler wähnt sich grundsätzlich dem Autofahrer moralisch überlegen, weil er das ökologisch korrektere Verkehrsmittel benutzt: Der radelnde Umweltengel gegen die gasgebende Ökosau.
Und dann gibt es noch die Sorte Menschen, die Auto fahren, es aber total ungern tun. Dabei handelt es sich oft um Frauen über vierzig, die noch von Fahrlehrern der alten Schule dermaßen getriezt und gedemütigt wurden, dass ihnen jedes Vertrauen in die eigenen Fahrkünste fehlt und jedes Einparken zur nervlichen Belastung wird.
Und es gibt die leidenschaftlichen Autofahrer, zu denen ich mich zähle. Wir passionierten Autofahrer sitzen gerne im Auto – nicht nur, weil uns das U-Bahn-Fahren in Berlin zu sehr deprimiert. Das Autofahren beruhigt uns, die Stadtlandschaft zieht gemächlich vorüber. Wer vom Land kommt und eine Jugend mit einmal täglichen Busverbindungen und schauerlichen Tramper-Erlebnissen durchgemacht hat, für den war der Führerschein mit achtzehn der Weg in die Freiheit. Dieses Gefühl bleibt wohl ein Leben lang.
Nachts kann man in Berlin besonders gut Auto fahren, die Straßen sind leer, und man kommt schnell voran. Auch die Überlandfahrt ist etwas Herrliches. Das Rumfahren ist halt immer das Schönste, manchmal ist es so gemütlich im Auto, dass man gar nicht mehr aussteigen will.
Die stille Grundtrauer, die den Melancholiker doch immer und überall begleitet, lässt beim Fahren ein bisschen nach, man hat ja was zu tun – vorwärts kommen, Kilometer und Landschaften hinter sich lassen! Fahrend hat alles plötzlich ein bisschen Sinn.
Die Fernreise mit dem Auto ist inzwischen schon etwas ganz Exotisches – warum den langen Landweg nehmen, wenn man nach zwei Stunden Flugzeit schon die europäischen Traumstrände und Hauptstädte erreichen kann, denkt sich der autoferne Mensch. Dabei ist die tagelange, wochenlange Autoreise über Länder- und Zeitgrenzen doch die Königsdisziplin der Autofahrer.
Zum Glück fand sich direkt in meiner Kreuzberger Nachbarschaft eine andere begeisterte Autofahrerin, die, nachdem sie von meiner Idee hörte, sofort sagte: »Ich fahr mit.«
Wie bei fast jeder Reise kristallisierten sich schon zu Anfang zwei Wege heraus: Obenrum und untenrum.
Obenrum, das hieße Berlin – Polen – Ukraine – Russland – Georgien – Aserbaidschan. Die Grenze zwischen Russland und Georgien ist aber wegen des Kaukasuskonflikts nur für Bürger der GUS-Staaten passierbar. Eine andere Möglichkeit wäre: Berlin – Polen – Ukraine – Russland – Dagestan – Aserbaidschan. Aber Dagestan hat nicht nur sehr, sehr schlechte Straßen, sondern gilt auch als Schurkenstaat und Rückzugsgebiet der tschetschenischen Rebellen, vor Reisen durch Dagestan wird eindrücklich gewarnt.
Untenrum sah es auch nicht viel besser aus: Die Grenze zwischen Armenien und der Türkei ist dicht, ebenfalls die zwischen Armenien und Aserbaidschan, da geht es um den Nagorny-Karabach-Konflikt.
Also bleibt nur der lange Weg über Tschechien – Slowenien – Ungarn – Serbien – Bulgarien – Istanbul, dann an der türkischen Schwarzmeerküste entlang nach Georgien und Aserbaidschan.
Oder lieber über Rumänien oder Mazedonien? Oder doch obenrum mit einem sagenumwobenen Schiff, der »Greifswald«, die von Odessa aus zu nicht vorhersehbaren Zeiten in die georgische Hafenstadt Poti fährt? Viele reden von diesem Schiff, aber keiner ist jemals damit gefahren.
Es schien alles sehr kompliziert, besonders für mich, da ich nicht nur sehr schlecht in Erdkunde bin, sondern auch keinen Orientierungssinn habe. Letzteres ist allerdings nicht meine Schuld. Die moderne Orientierungssinnforschung sagt nämlich, dass Kinder, die man nicht frei krabbeln lässt, keinen Orientierungssinn entwickeln können. Aber in den sechziger Jahren wurde nicht gekrabbelt, meine Eltern hätten als Landwirte gar keine Zeit gehabt, mir immer hinterher zu rennen! Meine älteren Geschwister fuhren mich entweder unlustig mit dem Kinderwagen durch die Gegend, oder ich wurde in den Laufstall gesperrt. Wie soll man da einen Orientierungssinn entwickeln?
Auf dem Dorf und in der Kleinstadt kam ich mit dieser Behinderung noch zurecht, aber die erste Zeit in Berlin war voller Irrwege. Wenn ich in meiner Straße in die alte Markthalle ging, die zwei Ausgänge hatte, irrte ich, wenn ich den falschen Ausgang benutzt hatte und in der Parallelstraße gelandet war, oft eine Stunde lang in Kreuzberg herum, bis ich zu meiner Wohnung zurück fand.
Auch für meine mangelnde geographische Bildung kann ich nichts. In den Siebzigern kam für die Realschule eine neue Lehrmethode auf. Man vermittelte nicht mehr anhand einer Landkarte die geographische Lage eines Landes oder Erdteils, sondern teilte gleich Arbeitshefte aus, in denen dann in Gruppenarbeit Fragen über Bewässerungsprobleme bei der südamerikanischen Orangenernte beantwortet werden sollten. Ich hasste die Arbeitshefte, dann war der Lehrer lange krank, und es gab keine Vertretung. Später, auf dem Abendgymnasium, konzentrierte man sich auf die sogenannten Kernfächer, zu denen Geographie offenbar nicht gehörte, und das anschließende Literaturwissenschaftsstudium verbesserte meine geographischen Kenntnisse nur rein fiktiv.
Aber je mehr man sich mit einer Reise beschäftigt, desto kürzer werden die Strecken. Berlin, Budapest, Belgrad, Sofia, Istanbul, dann hoch zum Schwarzen Meer nach Samsun und weiter bis zur georgischen Grenze. Was zuerst eine halbe Weltreise schien, wird ganz überschaubar. Bis Istanbul kann man es in drei Tagen schaffen.
Ich hatte in meiner ersten Berliner Zeit immer die türkischen Nachbarn beneidet, die schon am Abend vor dem ersten Sommerferientag ihre Autos vollpackten. Manchmal, wenn ich in meinen melancholischen Berlin-Jahren, entmutigt vom Nachtleben und dem immer gleichen Weg nach Hause, zu meiner Kreuzberger Wohnung trottete, sah ich sie, spürte ihre Aufregung schon Hunderte Meter vorher, beobachtete neidisch, wie sie ihre schläfrigen oder aufgedrehten Kinder verstauten, Koffer auf dem Dachgepäckträger festzurrten, endlich losfahren wollten und dann doch noch durchs geöffnete Autofenster Pakete, Küsse und letzte Worte mitnehmen mussten und dann endlich doch losfuhren, schwer bepackt, so dass die Passats und Opel Kombis fast am Boden schleiften.
Der berühmte Autoput durch Ex-Jugoslawien ist ja die große europäische Ost-West-Verbindung. Erst später habe ich erfahren, dass diese »Gastarbeiterroute« auch »Todesroute« genannt wird.
Meine Mitreisende, Frau Fierke, kannte sich zwar mit den Himmelsrichtungen, den Ländern und Erdteilen ein bisschen besser aus – sie hatte schließlich schon viele Reisen unternommen, war auch mit dem Bus nach Simbabwe und mit dem Motorrad durch die Ukraine gefahren, war dem Mekong gefolgt und mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Myanmar unterwegs gewesen –, was die Kalkulation anging, zeigte sie sich allerdings als ähnlich versierte Mathematikerin wie ich.
Wir rechneten mit Hilfe von Google Maps die Entfernung aus, was schwierig genug war, denn Google wollte uns partout von der Türkei aus über Armenien nach Aserbaidschan führen und Georgien immer großräumig umfahren. Widerspenstig schnellte die Linie, die man mit der Maus durch Georgien ziehen wollte, immer wieder zu der unpassierbaren Türkei-Armenien-Strecke zurück. Aber schließlich überlisteten wir Google Maps, gaben immer nur die Orte vor und nach den Grenzen ein, addierten die Entfernungen und errechneten so, dass die einfache Strecke etwa 4800 Kilometer lang war. Wir veranschlagten einen Spritpreis von durchschnittlich einem Euro pro Liter und rechneten mit einem Benzin- bzw. Dieselverbrauch von acht bis zehn Litern auf hundert Kilometer. Mit Hilfe des Dreisatzes und seinen kreativen Erweiterungen kamen dann aber, o weh! o weh!, Spritkosten von zehntausend Euro heraus!
Aber wenn ich die Strecke von Berlin nach Hügelsheim (750 Kilometer) fahre, tanke ich doch für höchstens hundert Euro! Und so konnte ich Frau Fierke, die in Mathematik noch schwächer ist als ich, davon überzeugen, dass die Fahrt nach Baku etwa tausend Euro kosten würde. Es kann losgehen.
In einem alten Tocotronic-Lied heißt es: »Gitarrenhändler, ihr seid Schweine, Gitarrenhändler, ich verachte euch zutiefst!« Das mag wohl wahr sein, aber eines ist sicher, die schlimmsten Verbrecher sind die Autohändler: allesamt Gauner und Betrüger! Halsabschneider! Rosstäuscher! Halunken! Banditen, Lumpenhunde, moderne Wegelagerer, Schurken der übelsten Sorte! Nicht umsonst heißt ein bekanntes Sprichwort: Augen auf beim Gebrauchtwagenkauf!
Die Halbwelt, in der die Händler agieren, ist die der Autobörsen im Internet – nur auf den ersten Blick eine freundliche Warenwelt. Es war zwar für uns beide nicht das erste Mal, dass wir einen Gebrauchtwagen kauften, aber bei einem Bus, der zehntausend Kilometer fahren soll, muss man einfach genauer hinschauen.
Und um was man sich alles kümmern muss: Baujahr, Kilometerstand, Benziner oder Diesel? Wenn Diesel – hat der Bus eine grüne Plakette und wenn nicht, kann nachgerüstet werden und was, ja, was kostet das dann? Wurde bei 200000 Kilometern ein Zahnriemenwechsel vorgenommen, wie steht es mit der Wasserpumpe, sind die Schweller verrostet?
Es gibt so viele gebrauchte Autos auf der Welt, in Deutschland, Berlin und Brandenburg, in der Schweiz, in Griechenland und in Manchester. Die verbrecherische Zunft der Autohändler versucht es auf alle Arten: mal sind die Verkäufer jovial und väterlich, mal überheblich und unverschämt. Meistens verlangen sie Phantasiepreise und verhöhnen kluge Käufer, die sich abwenden: »Billiger gibt es nichts, nur Rostlauben! Sie werden schon sehen, wie weit Sie kommen!« Andere geben sich rätselhaft und machen viel zu günstige, unseriöse Angebote. Stilisieren sich, wenn man kritisch nachfragt, als männliche Scheidungsopfer: Müssen den Wagen aus reiner Not verkaufen und ziehen das schicksalhafte Ereignis, diese persönliche Krisensituation, als Erklärung und Blankoscheck für ihre fadenscheinigen Angebote heran.
Da sollen fast neue Autos mit Luxusausstattung, mit weißen Ledersitzen und verchromten Felgen, integrierten Flachbildschirmen oder Palisanderholzarmaturen zum Spottpreis zu haben sein, Autos, die in Athen und Manchester stehen. Bei Kauf wird das Shipping bezahlt, und man hat fünf Tage Rückgaberecht. Aber nicht mit uns!
Da Autos in Berlin teurer als anderswo sind, suchten wir zuerst im Umland – in Brandenburg. Trostloseres als Gebrauchtwagen-Areale in Brandenburg gibt es wohl nicht auf dieser Welt. Ihr Erkennungszeichen, die flitternden Fähnchen als luftige Umzäunung, sollen wohl von der tonnenschweren Tristesse des Ortes und Selbstmordgedanken ablenken – vergebens. Man kommt in Todeszonen, in die Welt der Musterhäuser und Reihenhaussiedlungen, in Spielstraßen, in denen keiner spielt, in denen nur vor den Vorgärten die Familienkutschen parken – der »Speckgürtel« Berlins.
In Brandenburg sind die Autohändler, wie überall anderswo auch, zwielichtige Existenzen, halbseidene Typen, überhebliche Quadratschädel mit fiesen Visagen. Und die Autos erst! Rostlauben, Rostschüsseln, Katastrophenvehikel!
Es gibt verstunkene, verkeimte Autos, verschimmelte, verklebte, versporte Busse. Busse, in denen es riecht, als ob Pilze darin wachsen würden. Busse mit vermoderten Bodenbelägen – mit verklebten, verranzten Polstern. Versiffte, verschleimte Armaturen, befleckte Kopfstützen, aufgequollene Türverkleidungen, verhagelte, verbeulte Karosserien! Die Achsen verbogen und verzogen, der Dachhimmel vergilbt und vermilbt, die Sitze verschlissen und zerrissen, als wären Raubkatzen darin gehalten worden. Nach der Besichtigung steht man dann betreten auf diesen Kiesplätzen im Nichts und versucht, irgendwie wegzukommen, am Ende heilfroh, den rettenden Maschendrahtzaun mit der eingelassenen Aluminiumtür trotz des aggressiven Bellens des Kettenhundes und der missgünstigen Blicke des bösen Händlers erreicht zu haben. Auf dem Rückweg drehen sich die Gespräche dann oft um bemitleidenswerte Bekannte, die ins Berliner Umland gezogen sind.
Im trüben Monat November fuhren wir durch den feuchten Nebel in die Hansestadt Lübeck. Durch Internetrecherchen hatte ich einen Händler gefunden, der mehrere Busse zu verkaufen hatte und außerdem Bootshändler war – dieser Mann schien mir vertrauenswürdig! Ein Seemann praktisch, ein ehrlicher Händler, einer aus einer bodenständigen Zunft, wo noch die Kaufmannsehre gilt und Geschäfte per Handschlag gemacht werden!
Ach, deprimierend war es, die Fahrt im Regen anstrengend und der freundliche Bootsmann ein unsympathischer Kerl. Vom Typ her ging er eher Richtung Swingerclubbesitzer (schmierig, solariumsgebräunt, Schnauzer), die Autos viel zu teuer, verrostet, ungepflegt. Er ließ uns nach dem ersten Rundgang stehen, weil er jetzt zu Mittag essen musste, und wir fuhren enttäuscht und entmutigt, demoralisiert und zornig die dreihundert Kilometer wieder zurück.
Beim Gebrauchtwagenkauf kommt man ja, wie so oft im Leben, an den gedanklichen Punkt der Resignation: Ich finde nie mehr was! Und doch schaut der Gebrauchtwagenjunkie immer wieder ins Internet und fährt halt dann in Gottes Namen noch mal ins hintere Köpenick (oder ist es schon Lichtenberg?), dorthin, wo es nur noch Tankstellen, Baumärkte, Zaunläden und dann gar nichts mehr gibt und auf brachliegenden Grundstücken mit Plakaten für Po-Partys in Großraumdiscos geworben wird. Wo die einspurigen Straßen an einer Schranke zu einem Gewerbegebiet enden, links eine Kleingartensiedlung liegt und man rechter Hand einer Art Pipeline folgen muss, bis man vor einem großen Gelände steht – einer Science-Fiction-Landschaft wie in den Filmen, die so um 2050 spielen, in denen nach einem Krieg oder Ausbruch eines tödlichen Virus nur noch wenige Menschen überlebt und sich in einer Schrottlandschaft provisorisch eingerichtet haben.
Ein Areal voller Autowracks, Busse, windschiefer Bretterbuden und Aluminiumverschläge, ein kleines Häuschen mit Windspielen im Vorgarten, verfallene Beton-Flachbauten, Blechhäuser. Ein freundlicher Kerl, eher so der Schraubertyp mit ölverschmierten Händen, wahrscheinlich Araber, zeigt uns seinen ganzen Busbesitz. Auch hier ist viel Elend zu besichtigen, aber trotzdem gibt es Hoffnung. Man erkundigt sich genau, zu welchem Zweck wir das Auto brauchen, wie viel Geld wir ausgeben wollen, überlegt, was in Frage käme, und scheint ehrlich bemüht, irgendwie ins Geschäft zu kommen. Auch der arabische Co-Händler ist freundlich und zugewandt – welche Wohltat ist dieser mediterrane Umgangston nach all diesen unguten brandenburgisch-norddeutschen Begegnungen der vergangenen Wochen. Aber man darf als geübte Käuferin natürlich nicht wegen ein paar guter Worte zu vertrauensselig sein!
Unser Vorhaben, die Autofahrt nach Aserbaidschan, stößt hier auf wenig Verwunderung, schließlich fahren die beiden einmal im Jahr zur Familie in den Libanon. Frau Fierke war natürlich schon dort und erzählt von ihrer Reise nach Beirut, sie kam damals mit dem Bus aus Syrien.
Der Mann in der Mechanikerkluft und mit den ölverschmierten Händen hat bei »Beirut« schon Tränen in den Augen und fängt dann wirklich zu weinen an – ich verstehe ihn schlecht, will nicht nachfragen, starre betreten auf den laufenden Fernseher in der Bürobaracke. Al-Dschasira zeigt Demonstrationen von aufgebrachten Menschen mit Fahnen in Grün-Weiß-Schwarz und Grün-Schwarz-Rot – von Palästinensern oder Libanesen, Jordaniern oder Syrern? Unser Mechaniker bricht seine Erzählung ab, schaut auf den Boden, winkt ab und sagt nur noch leise: »Zwölf Panzer! Zwölf Panzer übereinandergestapelt auf dem Grundstück meines Onkels!«
Viel Schrott hat sich in diesem Wellblechbüro angesammelt, Kartons voller kleinerer Auto-Ersatzteile, ineinander verkantete Autoschlüssel, verstaubte Papiere, alte Faxrollen, Kartons mit Altpapier, Milchtüten, ein leeres Stempelkarussell. Tacker, Lötkolben, Klemmbretter, alte Bedienungsanleitungen für verschiedene Bus-Fabrikate, aufgedunsene Leitzordner, ein deformierter Foto-Kalender von 2009, Holzscheite und Kohlenstücke in einem Blecheimer, Pappkartons mit Papieren, zwei Fressnäpfe mit eingeweichten Brekkies.
Auf dem zerbeulten Lederimitatsofa schläft zusammengerollt eine große getigerte Katze, Marke Europäisch Kurzhaar. Eine andere liegt in einem Karton mit Altpapier, sie werden mir vorgestellt: Es sind Geschwister, vier Jahre alt. Im Sommer sind sie den ganzen Tag draußen unterwegs und kommen nur zum Fressen rein, aber ab Herbst, wenn es kalt wird, wollen sie nur noch drinnen im Warmen liegen, erzählt der Chef in zärtlichem Tonfall. Auch mir wird es warm ums Herz – haben wir hier vielleicht endlich gefunden, was wir gesucht haben? Autohändler, die gut zu Katzen sind, können doch keine schlechten Menschen, können doch keine Betrüger sein!
Der Bus wurde gekauft und wenig später auf der Berliner Zulassungsstelle angemeldet. Als mir, rein zufällig, das Kennzeichen B-AQ- zugewiesen wurde, da wusste ich: Das ist ein gutes Omen. Wir würden mit diesem Auto in Baku ankommen.
Eigentlich bin ich kein großer Grand-Prix-Fan. Zwar habe ich den alljährlichen Grand Prix Eurovision de la Chanson schon als Kind gerne geschaut, aber die aktuelle pseudo-campe Grand-Prix-Verherrlichung, die Erbsenzählerei und die Angeberei, die Gewinner sämtlicher Jahrgänge auswendig aufzählen zu können, scheint mir doch recht sinnlos und langweilig.