Carlos Ruiz Zafon
Der Schatten des Windes
Roman
Aus dem Spanischen
von Peter Schwaar
FISCHER E-Books
Carlos Ruiz Zafón begeisterte mit seinen Barcelona-Romanen um den Friedhof der Vergessenen Bücher ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt. ›Der Schatten des Windes‹, ›Das Spiel des Engels‹, ›Der Gefangene des Himmels‹ und ›Das Labyrinth der Lichter‹ waren allesamt internationale Bestseller. Auch ›Marina‹, der Roman, den er kurz vor den großen Barcelona-Romanen schuf, stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Seine ersten Erfolge feierte Carlos Ruiz Zafón mit den drei phantastischen Schauerromanen ›Der Fürst des Nebels‹, ›Mitternachtspalast‹ und ›Der dunkle Wächter‹.
Carlos Ruiz Zafón wurde 1964 in Barcelona geboren und starb 2020 in seiner Wahlheimat Los Angeles.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel ›La sombra del viento‹ bei Editorial Planeta S.A., Barcelona
© Dragonworks 2004
Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit Michi Strausfeld, Barcelona-Berlin
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2013
Für die Übersetzung:
© Insel Verlag, Berlin 2003
Covergestaltung: Hißmann/Heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Francesc Català-Roca, ca. 1955/ Photographic Archive F. Caralá-Roca/AHCOAC
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402770-8
Für Joan Ramon Planas, der etwas Besseres verdient hätte
Ich erinnere mich noch genau an den Morgen, an dem mich mein Vater zum ersten Mal zum Friedhof der Vergessenen Bücher mitnahm. Die ersten Sommertage des Jahres 1945 rieselten dahin, und wir gingen durch die Straßen eines Barcelonas, auf dem ein aschener Himmel lastete und dunstiges Sonnenlicht auf die Rambla de Santa Mónica filterte.
»Daniel, was du heute sehen wirst, darfst du niemandem erzählen«, sagte mein Vater. »Nicht einmal deinem Freund Tomás. Niemandem.«
»Auch nicht Mama?« fragte ich mit gedämpfter Stimme.
Mein Vater seufzte hinter seinem traurigen Lächeln, das ihn wie ein Schatten durchs Leben verfolgte.
»Aber natürlich«, antwortete er gedrückt. »Vor ihr haben wir keine Geheimnisse. Ihr darfst du alles erzählen.«
Kurz nach dem Bürgerkrieg hatte eine aufkeimende Cholera meine Mutter dahingerafft. An meinem vierten Geburtstag beerdigten wir sie auf dem Friedhof des Montjuïc. Ich weiß nur noch, daß es den ganzen Tag und die ganze Nacht regnete und daß meinem Vater, als ich ihn fragte, ob der Himmel weine, bei der Antwort die Stimme versagte. Sechs Jahre später war das Fehlen meiner Mutter für mich noch immer eine Sinnestäuschung, eine schreiende Stille, die ich noch nicht mit Worten zum Verstummen zu bringen gelernt hatte. Mein Vater und ich lebten in einer kleinen Wohnung in der Calle Santa Ana beim Kirchplatz. Die Wohnung lag direkt über der von meinem Großvater geerbten, auf Liebhaberausgaben und antiquarische Bücher spezialisierten Buchhandlung, einem verwunschenen Basar, der, wie mein Vater hoffte, eines Tages in meine Hände übergehen würde. Ich wuchs inmitten von Büchern auf und gewann auf zerbröselnden Seiten, deren Geruch mir noch immer an den Händen haftet, unsichtbare Freunde. Als Kind lernte ich damit einzuschlafen, daß ich meiner Mutter im dämmrigen Zimmer die Ereignisse zwischen Morgen und Abend, meine Abenteuer in der Schule erklärte und was ich an diesem Tag gelernt hatte. Ich konnte ihre Stimme nicht hören und ihre Berührung nicht fühlen, aber ihr Licht und ihre Wärme glühten in jedem Winkel der Wohnung, und mit der Zuversicht dessen, der seine Jahre noch an den Fingern abzählen kann, dachte ich, wenn ich nur die Augen schlösse und mit ihr spräche, könnte sie mich vernehmen, wo immer sie auch sein mochte. Manchmal hörte mir mein Vater im Eßzimmer zu und weinte verstohlen.
Ich erinnere mich, daß ich in jener Junimorgendämmerung schreiend erwachte. Das Herz hämmerte mir in der Brust, als wollte sich die Seele einen Weg bahnen und treppab stürmen. Erschrocken stürzte mein Vater ins Zimmer und nahm mich in die Arme, um mich zu trösten.
»Ich kann mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Ich kann mich nicht mehr an Mamas Gesicht erinnern«, keuchte ich.
Mein Vater umarmte mich fest.
»Hab keine Angst, Daniel. Ich werde mich für uns beide erinnern.«
Wir schauten uns im Halbdunkel an und suchten nach Worten, die es nicht gab. Das war das erste Mal, daß ich merkte, daß mein Vater alterte und seine Augen, Augen aus Nebel und Verlust, immer in die Vergangenheit blickten. Er stand auf und zog die Vorhänge zurück, um das laue Frühlicht hereinzulassen.
»Los, Daniel, zieh dich an. Ich möchte dir etwas zeigen.«
»Jetzt? Um fünf Uhr früh?«
»Es gibt Dinge, die man nur im Dunkeln sehen kann«, gab mein Vater mit einem rätselhaften Lächeln zu verstehen, das er vermutlich einem Roman von Alexandre Dumas entliehen hatte.
Noch dämmerten die Straßen matt in Dunst und Nachttau dahin, als wir aus dem Haus traten. Flimmernd zeichneten die Straßenlaternen der Ramblas eine diesige Allee, während die Stadt sich reckte und streckte und ihr blasses Nachtgewand ablegte. Bei der Calle Arco del Teatro angekommen, wagten wir uns unter dem sich in blauem Dunst abzeichnenden steinernen Bogen ins Raval-Viertel hinein. Ich folgte meinem Vater auf diesem engen Weg, eher Scharte als Straße, bis sich der Abglanz der Rambla hinter uns verlor. In schrägen Quentchen sickerte das helle Morgenlicht von Balkonen und Gesimsen bis knapp über den Boden. Endlich blieb mein Vater vor einem von Zeit und Feuchtigkeit schwarz gewordenen Portal stehen. Vor uns ragte etwas auf, was mir wie die verlassenen Überreste eines Palastes oder eines Museums aus Echos und Schatten vorkam.
»Daniel, was du heute sehen wirst, darfst du niemandem erzählen. Nicht einmal deinem Freund Tomás. Niemandem.«
Ein Männchen mit dem Gesicht eines Raubvogels und silbernem Haar öffnete uns die Tür. Unergründlich heftete sich sein durchdringender Blick auf mich.
»Guten Morgen, Isaac. Das ist mein Junge, Daniel«, verkündete mein Vater. »Er wird bald elf, und irgendwann übernimmt er das Geschäft. Er ist alt genug, um diesen Ort kennenzulernen.«
Mit einem leichten Nicken bat uns Isaac herein. Bläuliches Halbdunkel hüllte alles ein, so daß die Konturen einer breiten Marmortreppe und eine Galerie mit Fresken voller Engels- und Fabelfiguren gerade eben angedeutet wurden. Wir folgten dem Aufseher durch einen prächtigen Gang und gelangten in einen riesigen, kreisförmigen Saal, wo sich eine regelrechte Kathedrale aus Dunkelheit zu einer von Lichtgarben erfüllten Kuppel öffnete. Ein Gewirr aus Gängen und von Büchern überquellenden Regalen erstreckte sich von der Basis zur Spitze und formte einen Bienenstock aus Tunneln, Treppen, Plattformen und Brücken, die eine gigantische Bibliothek von undurchschaubarer Geometrie erahnen ließen. Mit offenem Mund schaute ich meinen Vater an. Er lächelte und blinzelte mir zu.
»Willkommen im Friedhof der Vergessenen Bücher, Daniel.«
In den Gängen und Lichtungen der Bibliothek verstreut, zeichneten sich ein Dutzend Gestalten ab. Einige von ihnen wandten sich um und grüßten aus der Ferne, und ich erkannte die Gesichter mehrerer Kollegen meines Vaters aus der Gilde der Antiquare. Wie merkwürdig, wie verschwörerisch sahen diese wohlvertrauten Männer auf einmal aus! Mein Vater kauerte sich neben mir nieder, schaute mir fest in die Augen und sprach leise auf mich ein.
»Was du hier siehst, Daniel, ist ein geheimer Ort, ein Mysterium. Jedes einzelne Buch hat eine Seele. Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seele derer, die es gelesen und erlebt und von ihm geträumt haben. Jedesmal, wenn ein Buch in andere Hände gelangt, jedesmal, wenn jemand den Blick über die Seiten gleiten läßt, wächst sein Geist und wird stark. Schon vor so vielen Jahren, als mein eigener Vater zum ersten Mal mit mir hierherkam, war dieser Ort uralt. Vielleicht so alt wie die Stadt selbst. Niemand weiß mit Bestimmtheit, seit wann es ihn gibt oder wer ihn geschaffen hat. Ich erzähle dir jetzt, was mir schon mein Vater erzählt hat. Wenn eine Bibliothek verschwindet, wenn eine Buchhandlung ihre Türen schließt, wenn ein Buch dem Vergessen anheimfällt, dann versichern wir uns, die wir diesen Ort kennen, also die Aufseher, daß es hierhergelangt. Hier leben für immer die Bücher, an die sich niemand mehr erinnert, die Bücher, die sich in der Zeit verloren haben, und hoffen, eines Tages einem neuen Leser in die Hände zu fallen. In einer Buchhandlung werden Bücher verkauft und gekauft, aber eigentlich haben sie keinen Besitzer. Jedes Buch, das du hier siehst, ist jemandes bester Freund gewesen. Jetzt haben sie nur noch uns, Daniel. Glaubst du, du wirst dieses Geheimnis für dich behalten können?«
Ich schaute meinen Vater fragend an und nickte dann. Er lächelte.
»Und weißt du das Beste?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Der Brauch will es, daß jemand, der diesen Ort zum ersten Mal besucht, sich ein Buch aussuchen muß, dasjenige, das ihm am meisten zusagt, und er muß es adoptieren und dafür sorgen, daß es nie verschwindet, daß es immer weiterlebt. Das ist ein ganz wichtiges Versprechen. Auf Lebenszeit. Heute bist du dran.«
Fast eine halbe Stunde spazierte ich durch dieses Labyrinth, das nach altem Papier, Staub und Magie roch. Sachte fuhr ich mit der Hand über die Rücken der ausgestellten Bücher, während ich meine Wahl prüfte. Auf den verwaschenen Bänden las ich Titel in Sprachen, die ich erkannte, und viele andere, die ich nicht einzuordnen vermochte. Ich lief durch gewundene Gänge und Galerien mit Hunderten, Tausenden von Bänden, die mehr über mich zu wissen schienen als ich über sie. Bald befiel mich der Gedanke, hinter dem Einband jedes einzelnen dieser Bücher tue sich ein unendliches, noch zu erforschendes Universum auf und jenseits dieser Mauern verschwendeten die Menschen ihr Leben an Fußballnachmittage und Radioserien, zufrieden damit, kaum über ihren Nabel hinauszusehen. Vielleicht war es dieser Gedanke, vielleicht der Zufall oder sein stolzer Verwandter, das Schicksal – jedenfalls war mir genau in diesem Moment klar, daß ich das Buch bereits gewählt hatte, das ich adoptieren würde. Oder vielleicht müßte ich sagen, das Buch, das mich adoptieren würde. In weinrotes Leder gebunden, stand es schüchtern am Ende eines Bords und raunte seinen Titel in Goldlettern, die im Licht der Kuppel leuchteten. Ich trat hinzu, strich mit den Fingerspitzen über die Wörter und las lautlos:
Julián Carax
Der Schatten des Windes
Noch nie hatte ich diesen Titel oder den Namen seines Autors gehört, doch das war mir egal. Der Entschluß war gefaßt. Von beiden Seiten. Äußerst behutsam ergriff ich das Buch und blätterte es durch. Aus der Gefangenschaft des Regals befreit, verströmte es eine goldene Staubwolke. Ich war zufrieden mit meiner Wahl und ging mit dem Buch unter dem Arm durch das Labyrinth zurück. Vielleicht hatte mich die Zauberstimmung dieses Orts bezwungen – jedenfalls hatte ich die Gewißheit, daß das Buch seit Jahren, wahrscheinlich seit der Zeit vor meiner Geburt, hier auf mich gewartet hatte.
Wieder zu Hause in der Calle Santa Ana, zog ich mich an diesem Nachmittag in mein Zimmer zurück und beschloß, die ersten Zeilen meines neuen Freundes zu lesen. Bevor ich es recht merkte, war ich schon rettungslos hineingestürzt. Der Roman erzählte die Geschichte eines Mannes auf der Suche nach seinem richtigen Vater, den er nie kennengelernt hatte und von dem er nur dank der letzten Worte erfuhr, die seine Mutter auf dem Totenbett sprach. Die Geschichte dieser Suche wurde zu einer rastlosen Odyssee, auf der der Protagonist darum kämpfte, eine verlorene Kindheit und Jugend wiederzufinden, und auf der man langsam den Schatten einer verfluchten Liebe entdeckte, deren Erinnerung ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen sollte. Je weiter ich in der Lektüre kam, desto mehr erinnerte mich die Erzählweise an eine dieser russischen Puppen, die immer weitere und kleinere Abbilder ihrer selbst in sich bergen. Die Minuten und Stunden verflogen im Nu. Gefangen in der Geschichte, vernahm ich Stunden später kaum die mitternächtlichen Glockenschläge der Kathedrale in der Ferne. Unter dem gelben Licht der Tischlampe tauchte ich in eine Welt von Bildern und Gefühlen, wie ich sie nie zuvor kennengelernt hatte. Figuren, die mir so wirklich erschienen wie meine Umwelt, saugten mich in einen Tunnel von Abenteuern und Geheimnissen hinein, dem ich nicht mehr entrinnen mochte. Seite um Seite ließ ich mich vom Zauber der Geschichte und ihrer Welt einhüllen, bis der Morgenhauch über mein Fenster strich und meine erschöpften Augen über die letzte Seite glitten. Im bläulichen Halbdunkel der Dämmerung legte ich mich mit dem Buch auf der Brust hin und lauschte dem Gemurmel der schlafenden Stadt. Traum und Müdigkeit klopften an, aber ich mochte mich nicht ergeben. Ich wollte den Zauber der Geschichte nicht verlieren und mich noch nicht von ihren Figuren verabschieden.
Einmal hörte ich einen Stammkunden in der Buchhandlung meines Vaters sagen, wenige Dinge prägten einen Leser so sehr wie das erste Buch, das sich wirklich einen Weg zu seinem Herzen bahne. Diese ersten Seiten, das Echo dieser Worte, die wir zurückgelassen glauben, begleiten uns ein Leben lang und meißeln in unserer Erinnerung einen Palast, zu dem wir früher oder später zurückkehren werden, egal, wie viele Bücher wir lesen, wie viele Welten wir entdecken, wieviel wir lernen oder vergessen. Für mich werden diese verzauberten Seiten immer diejenigen sein, die ich auf den Gängen des Friedhofs der Vergessenen Bücher fand.
1945–1949
Ein Geheimnis ist soviel wert wie der, der es uns anvertraut. Beim Erwachen war mein erster Impuls, meinen besten Freund an der Existenz des Friedhofs der Vergessenen Bücher teilhaben zu lassen. Tomás Aguilar war ein Mitschüler, der seine Freizeit und sein Talent der Erfindung höchst sinnreicher Vorrichtungen widmete, die jedoch von geringem praktischem Nutzen waren, wie der aerostatische Speer oder der Dynamokreisel. Keiner drängte sich mehr auf als Tomás, um dieses Geheimnis mit mir zu teilen. Mit offenen Augen träumend, stellte ich mir meinen Freund und mich mit Laternen und Kompaß bewehrt vor, bereit, die Mysterien dieser Bücherkatakombe zu lüften. Dann erinnerte ich mich an mein Versprechen und entschied mich für das, was in Kriminalromanen »ein anderer modus operandi« genannt wird. Am Mittag sprach ich meinen Vater auf dieses Buch und Julián Carax an, die ich mir in meiner Begeisterung beide weltberühmt vorgestellt hatte. Meine Idee war es, mir Carax' sämtliche Werke zu verschaffen und in weniger als einer Woche von A bis Z durchzulesen. Wie groß war aber meine Überraschung, als ich feststellte, daß mein Vater, ein Buchhändler reinsten Wassers und guter Kenner der Verlagskataloge, noch nie von Julián Carax und seinem Buch Der Schatten des Windes gehört hatte. Neugierig prüfte er die Seite mit den Verlagsangaben.
»Hiernach gehört dieses Exemplar zu einer Ausgabe von zweitausendfünfhundert Exemplaren, die im Dezember 1935 in Barcelona von Cabestany Editores gedruckt wurde.«
»Kennst du den Verlag?«
»Er hat schon vor Jahren geschlossen. Aber die Originalausgabe ist nicht die da, sondern eine andere vom November desselben Jahres, allerdings in Paris gedruckt. Der Verlag ist Galliano & Neuval. Sagt mir nichts.«
»Das Buch ist also eine Übersetzung?« fragte ich verwirrt.
»Das steht nicht da. Soweit man hier sieht, handelt es sich um den Originaltext.«
»Ein Buch auf spanisch, das zuerst in Frankreich verlegt wurde?«
»Das dürfte damals nicht das erste Mal gewesen sein. Vielleicht kann uns Barceló weiterhelfen …«
Gustavo Barceló war ein alter Kollege meines Vaters, Inhaber einer höhlenartigen Buchhandlung in der Calle Fernando, welcher die Antiquarenzunft anführte. Er hing tagaus, tagein an einer erloschenen Pfeife, die nach persischem Markt dunstete, und bezeichnete sich selbst als letzten Romantiker. Er behauptete, in seiner Familie gebe es eine entfernte Verwandtschaft mit Lord Byron, obwohl er selbst aus dem Flecken Caldas de Montbuy stammte. Vielleicht um diese Verbindung deutlich zu machen, kleidete er sich wie ein Dandy aus dem 19. Jahrhundert, mit Foulard, weißen Gamaschen und einem Monokel aus Fensterglas, das er, wie böse Zungen sagten, nicht einmal in der Intimität des Klos abnahm. In Wirklichkeit war die bedeutsamste Verwandtschaft, deren er sich erfreute, die mit seinem Vater, einem Industriellen, der sich Ende des 19. Jahrhunderts auf mehr oder weniger schmutzige Art bereichert hatte. Wie mir mein Vater erklärte, war Gustavo Barceló tatsächlich betucht und seine Buchhandlung weit eher eine Leidenschaft als ein Geschäft. Er liebte die Bücher vorbehaltlos, und wenn jemand seine Buchhandlung betrat und sich in einen Band vernarrte, den er sich nicht leisten konnte, setzte er, obwohl er das rundweg bestritt, den Preis soweit als nötig herunter oder verschenkte das Buch gar, wenn er den Käufer als echten Büchernarren und nicht als Sonntagsleser einschätzte. Abgesehen von solchen Eigentümlichkeiten verfügte Barceló über ein Elefantengedächtnis und konnte belehrend auftreten, daß einem die Ohren gellten, aber wenn jemand über merkwürdige Bücher Bescheid wußte, dann er. Nachdem mein Vater an diesem Abend die Buchhandlung geschlossen hatte, schlug er vor, ins Café Els Cuatre Gats in der Calle Montsió zu gehen, wo Barceló und seine Kollegen einen bibliophilen Stammtisch über poètes maudits, tote Sprachen und den Motten zum Opfer gefallene Meisterwerke unterhielten.
Els Cuatre Gats lag einen Steinwurf von zu Hause entfernt, und diese vier Katzen hatten es mir angetan. Dort hatten sich im Jahr 1932 meine Eltern kennengelernt, und meine Eintrittskarte fürs Leben schrieb ich zum Teil dem Charme dieses alten Cafés zu. Steinerne Drachen bewachten die tief verschattete Fassade, und die Gaslaternen an der Ecke froren Zeit und Erinnerungen ein. Im Innern verschmolzen die Menschen mit den Echos aus andern Zeiten. Buchhalter, Träumer und Geisteslehrlinge teilten den Tisch mit den Schimären von Pablo Picasso, Isaac Albéniz, Federico García Lorca oder Salvador Dalí. Zum Preis eines kleinen Kaffees konnte sich hier jeder Habenichts für ein Weilchen als historische Figur fühlen.
»Na sowas, Sempere«, rief Barceló, als er meinen Vater hereinkommen sah, »der verlorene Sohn. Was verschafft uns die Ehre?«
»Die Ehre verschafft Ihnen mein Sohn Daniel, Don Gustavo, der soeben eine Entdeckung gemacht hat.«
»Dann setzen Sie sich zu uns, diese Kasualie will gefeiert sein«, rief Barceló.
»Kasuarlilie?« flüsterte ich meinem Vater zu.
»Barceló redet nur in Fremdwörtern«, antwortete mein Vater halblaut. »Und du sag nichts, er plustert sich gern auf.«
Die Stammtischgäste machten uns Platz in ihrem Kreis, und Barceló, der sich gern freigebig zeigte, bestand darauf, uns einzuladen.
»Wie alt ist denn der Grünschnabel?« fragte er und musterte mich von der Seite.
»Fast elf«, erklärte ich.
Barceló lächelte mir verschmitzt zu.
»Also zehn. Mach dich nicht älter, du Halunke, das wird das Leben schon noch übernehmen.«
Mehrere der Stammtischgäste murmelten zustimmend. Barceló winkte einen Kellner herbei, der aussah, als würde er demnächst unter Denkmalschutz gestellt.
»Einen Kognak für meinen Freund Sempere, und zwar vom guten, und für den Sprößling da eine Merenguemilch, er muß noch wachsen. Ach ja, und bringen Sie noch ein paar Schinkenwürfelchen, aber nicht wie die vorher, ja? Für Gummi ist die Firma Pirelli zuständig.«
Der Kellner nickte und schlurfte, seine Seele im Schlepptau, davon.
»Ich sag's ja immer«, bemerkte Barceló. »Wie soll es da Arbeit geben? In diesem Land wird man nicht einmal pensioniert, wenn man gestorben ist. Schauen Sie sich doch den Cid an. Da ist nichts zu wollen.«
Er nuckelte an seiner erloschenen Pfeife, während sein scharfer Blick interessiert nach dem Buch spähte, das ich in den Händen hielt. Hinter seiner Komödiantenfassade und dem ganzen Wortschwall roch er eine gute Beute wie ein Wolf das Blut.
»Na«, sagte er mit gespieltem Desinteresse, »was bringen Sie beide mir also mit?«
Ich schaute meinen Vater an. Der nickte. Wortlos reichte ich Barceló das Buch. Er ergriff es mit kundiger Hand. Seine Pianistenfinger überprüften rasch Textur, Konsistenz und Zustand. Mit listigem Lächeln schlug er die Seite der Verlagsangaben auf und inspizierte sie eine Minute lang wie ein Kriminalbeamter. Die andern schauten ihm schweigend zu, als warteten sie auf eine Offenbarung oder die Erlaubnis, wieder zu atmen.
»Carax. Interessant«, murmelte er in undurchdringlichem Ton.
Ich streckte die Hand ein zweites Mal aus, um das Buch wiederzubekommen. Barceló zog die Brauen hoch, gab es mir aber mit eisigem Lächeln zurück.
»Wo hast du es gefunden, mein Junge?«
»Das ist ein Geheimnis«, antwortete ich und wußte, daß mein Vater bei sich lächelte.
Barceló runzelte die Stirn und schaute meinen Vater an.
»Mein lieber Sempere, weil Sie es sind und wegen der Hochachtung, die ich Ihnen entgegenbringe, und um der langen, tiefen Freundschaft willen, die uns eint wie Brüder – sagen wir vierzig Duros, und damit basta.«
»Das werden Sie mit meinem Sohn aushandeln müssen«, sagte mein Vater. »Das Buch gehört ihm.«
Barceló schenkte mir ein wölfisches Lächeln.
»Was meinst du, Jungchen? Vierzig Duros, zweihundert Peseten, das ist nicht schlecht für einen ersten Verkauf … Sempere, der Junge da wird Karriere machen in diesem Geschäft.«
Eifrig beklatschten die Stammtischgäste den Satz. Barceló schaute mich zufrieden an und zog seine lederne Brieftasche. Er zählte die vierzig Duros ab, damals ein ordentliches Vermögen, und streckte sie mir hin. Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Barceló machte ein böses Gesicht.
»Habsucht ist eine hoffnungslose Todsünde, ja? Also, sechzig Duros, und damit legst du ein Sparbuch an – in deinem Alter muß man an die Zukunft denken.«
Ich schüttelte erneut den Kopf. Durch sein Monokel warf Barceló meinem Vater einen zornigen Blick zu.
»Mich brauchen Sie nicht anzuschauen«, sagte mein Vater. »Ich bin nur als Begleiter hier.«
Barceló seufzte und betrachtete mich aufmerksam.
»Na, mein Kleiner, was willst du denn nun?«
»Ich will wissen, wer Julián Carax ist und wo ich weitere Bücher finden kann, die er geschrieben hat.«
Barceló lachte leise und steckte seine Brieftasche wieder ein; er sah seinen Gegner nun mit andern Augen an.
»Nanu, ein Intellektueller. Sempere, womit füttern Sie denn dieses Kind?«
Er neigte sich in vertraulichem Ton zu mir herüber, und einen Moment glaubte ich in seinem Blick einen gewissen Respekt zu erhaschen, der vor Augenblicken noch nicht dagewesen war.
»Wir werden einen Handel schließen«, sagte er zu mir. »Morgen ist Sonntag, da kommst du am Nachmittag in die Athenäumsbibliothek und fragst nach mir. Du bringst das Buch mit, damit ich es genau untersuchen kann, und ich erzähle dir, was ich über Julián Carax weiß. Quidproquo.«
»Quidprowas?«
»Latein, Junge. Es gibt keine toten Sprachen, nur abgestumpfte Geister. Umschrieben bedeutet das, daß ein Duro immer fünf und niemals vier Peseten hat, daß du mir aber sympathisch bist und ich dir einen Gefallen tun werde.«
Mit der Beredsamkeit, die der Mann verströmte, war er imstande, die Fliegen im Fliegen zu vernichten, doch ich ahnte, daß ich mich, wollte ich etwas über Julián Carax herausfinden, besser in gutem Einvernehmen mit ihm befand. Ich lächelte ihn selig an, um mein Vergnügen an seinem Küchenlatein und seiner Redegewandtheit zu zeigen.
»Denk dran, morgen im Athenäum. Aber bring das Buch mit, sonst gibt's keinen Handel.«
»Einverstanden.«
Langsam löste sich das Gespräch im Gebrabbel der andern Stammtischgäste auf, die über einige im Keller des Escorial gefundene Dokumente zu diskutieren begannen, welche die Möglichkeit andeuteten, daß Don Miguel de Cervantes nur das Pseudonym einer behaarten Matrone aus Toledo gewesen war. Barceló schien abwesend und beteiligte sich nicht an der spitzfindigen Debatte, sondern betrachtete mich mit verschleiertem Lächeln durch sein Monokel. Oder vielleicht schaute er auch nur das Buch an, das ich in Händen hielt.
Am Sonntag hingen die Wolken tief am Himmel, und die Straßen schmachteten unter einer glühenden Dunstglocke, die die Thermometer an den Wänden zum Schwitzen brachte. Gegen Abend, als es noch um dreißig Grad war, zog ich mit meinem Buch unter dem Arm und einem Schweißvorhang auf der Stirn los, Richtung Calle Canuda und Athenäum zur Verabredung mit Barceló. Das Athenäum war – und ist – einer der vielen Winkel Barcelonas, wo das 19. Jahrhundert noch nichts von seiner Pensionierung mitbekommen hat. Die steinerne Vortreppe führte von einem höfischen Patio zu einem geisterhaften Netzwerk aus Galerien und Lesesälen empor, wohin neumodische Erfindungen wie Telefon, Eile oder Armbanduhr noch nicht vorgedrungen waren. Der Pförtner, oder vielleicht war es bloß eine Statue in Uniform, zuckte bei meinem Kommen kaum mit der Wimper. Ich glitt in den ersten Stock hinauf und pries die Flügel eines Ventilators, der inmitten von eingeschlummerten, auf ihren Büchern und Zeitungen wie Eiswürfel dahinschmelzenden Lesern schnurrte.
Don Gustavo Barcelós Silhouette zeichnete sich neben den Glastüren einer Galerie ab, die auf den Innengarten des Hauses führte. Trotz der fast tropischen Luft steckte der Buchhändler in seiner gewohnten Geckengala. Neben ihm erkannte ich eine Gestalt in einem weißen Mohairkleid, die mir wie ein in Nebel modellierter Engel erschien. Beim Echo meiner Schritte schloß Barceló halb die Augen und bedeutete mir mit einer Handbewegung, näherzutreten.
»Daniel, nicht wahr?« fragte er. »Hast du das Buch mitgebracht?«
Ich nickte zweifach und setzte mich auf den Stuhl, den mir Barceló neben sich und seiner geheimnisvollen Begleiterin anbot. Mehrere Minuten lang lächelte er unbekümmert um meine Anwesenheit still vor sich hin. Bald gab ich jede Hoffnung auf, daß er mich der Dame in Weiß vorstellte, wer immer sie sein mochte. Er benahm sich, als ob sie nicht da wäre und keiner von uns beiden sie sehen könnte. Ich betrachtete sie verstohlen, voller Angst, ihrem Blick zu begegnen, der noch immer im Nirgendwo schwebte. Die Haut ihres Gesichts und der Arme war blaß, beinahe durchsichtig. Sie hatte feine Züge, die unter schwarzem, wie ein feuchter Stein glänzendem Haar mit kräftigem Strich gezeichnet waren. Ich schätzte sie auf höchstens zwanzig Jahre, aber etwas in ihrem Verhalten brachte mich auf den Gedanken, sie sei alterslos. Sie war wie in dem Zustand ewiger Jugend gefangen, der sonst den Schaufensterpuppen in piekfeinen Auslagen vorbehalten ist. Ich versuchte, an ihrem Schwanenhals den Puls abzulesen, als ich bemerkte, daß mich Barceló aufmerksam beobachtete.
»Willst du mir jetzt also sagen, wo du dieses Buch herhast?« fragte er.
»Das würde ich schon, aber ich habe meinem Vater versprochen, das Geheimnis zu hüten.«
»Ich sehe schon – Sempere und seine Geheimnisse. Ich kann mir etwa vorstellen, wo. Da hast du ein Riesenschwein gehabt, mein Junge. Das nenne ich eine Stecknadel in einem Heuschober finden. Na, darf ich mal sehen?«
Ich gab ihm das Buch, und Barceló ergriff es mit unendlicher Behutsamkeit.
»Ich nehme an, du hast es gelesen.«
»Jawohl.«
»Ich beneide dich. Ich habe immer gedacht, der richtige Zeitpunkt, um Carax zu lesen, ist, wenn man noch ein junges Herz und einen reinen Geist hat. Hast du gewußt, daß das der letzte Roman ist, den er geschrieben hat?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Weißt du, wie viele Exemplare davon auf dem Markt sind, Daniel?«
»Vermutlich Tausende.«
»Keines – außer deinem. Die übrigen wurden verbrannt.«
»Verbrannt?«
Einmal mehr lächelte Barceló unergründlich, während er die Seiten durch die Finger gleiten ließ und das Papier streichelte, als bestünde es aus einer Seide, die es auf der Welt nur einmal gab. Langsam wandte sich die Dame in Weiß um. Ihre Lippen deuteten ein schüchternes, zitterndes Lächeln an. Ihre Augen ertasteten das Leere, marmorweiße Pupillen. Ich schluckte. Sie war blind.
»Du kennst meine Nichte Clara nicht, was?« fragte Barceló.
Ich verneinte, unfähig, den Blick von diesem Geschöpf mit dem Porzellanpuppenteint und den weißen Augen abzuwenden, den traurigsten Augen, die ich je gesehen habe.
»Im Grunde ist Clara die Expertin für Julián Carax, darum habe ich sie mitgebracht«, sagte Barceló. »Ja, wenn ich's mir richtig überlege, ziehe ich mich, glaube ich, mit eurer Erlaubnis in einen andern Raum zurück, um dieses Buch zu studieren, während ihr euch über eure Dinge unterhaltet. Ist euch das recht?«
Verdutzt schaute ich ihn an. Ohne sich weiter um mich zu kümmern, klopfte mir der Buchhändler, Gauner durch und durch, leicht auf die Schulter und zog mit meinem Buch unterm Arm ab.
»Du hast ihn beeindruckt, weißt du«, sagte die Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um und sah, wie das leichte Lächeln von Barcelós Nichte im Leeren tastete. Sie hatte eine so zarte Kristallstimme, daß ich glaubte, ihre Worte würden zersplittern, wenn ich sie mitten im Satz unterbräche.
»Mein Onkel hat mir gesagt, daß er dir für Carax' Buch eine ordentliche Summe angeboten hat, aber du hast sie abgelehnt. Du hast seinen Respekt gewonnen.«
»Schwer zu glauben«, seufzte ich.
Ich stellte fest, daß Clara beim Lächeln den Kopf zur Seite neigte und ihre Finger mit einem Ring spielten, von dem es nur so blitzte.
»Wie alt bist du?« fragte sie.
»Fast elf. Und Sie?«
Clara lachte über meine unverschämte Naivität.
»Fast doppelt so alt, aber das ist auch wieder nicht so alt, daß du mich zu siezen brauchst.«
»Sie sehen jünger aus«, bemerkte ich in der Ahnung, das könnte ein guter Ausweg aus meiner Indiskretion sein.
»Dann traue ich dir – ich weiß ja nicht, wie ich aussehe«, antwortete sie und lächelte weiter ihr halbes Lächeln. »Aber wenn ich dir jünger vorkomme, ist das ein Grund mehr, daß du mich duzt.«
»Wie Sie meinen, Señorita Clara.«
Aufmerksam betrachtete ich ihre wie Flügel auf dem Schoß ausgebreiteten Hände, ihre zarte, sich unter dem flauschigen Stoff abzeichnende Taille, die Linie ihrer Schultern, die außerordentliche Blässe ihres Halses und den Verschluß ihrer Lippen, die ich am liebsten mit den Fingerspitzen liebkost hätte. Nie zuvor hatte ich Gelegenheit gehabt, eine Frau aus solcher Nähe und so genau zu studieren, ohne befürchten zu müssen, ihrem Blick zu begegnen.
»Was guckst du?« fragte Clara nicht ohne eine gewisse Boshaftigkeit.
»Ihr Onkel sagt, Sie sind Expertin für Julián Carax«, improvisierte ich mit trockenem Mund.
»Mein Onkel wäre imstande, alles zu sagen, wenn er nur eine Weile mit einem Buch allein sein kann, das ihn fesselt. Aber du fragst dich gewiß, wie eine Blinde Expertin für Bücher sein kann, ohne lesen zu können.«
»Das ist mir, ehrlich gesagt, gar nicht in den Sinn gekommen.«
»Dafür, daß du fast elf bist, lügst du nicht schlecht. Sieh dich vor, oder du endest noch wie mein Onkel.«
Da ich befürchtete, abermals ins Fettnäpfchen zu treten, blieb ich schweigend sitzen und starrte sie fasziniert an.
»Na los, komm her«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Komm her und hab keine Angst. Ich werde dich schon nicht auffressen.«
Ich stand vom Stuhl auf und trat zu Clara. Sie hob die rechte Hand und tastete nach mir. Ohne recht zu wissen, wie ich mich verhalten sollte, reichte ich ihr die Hand. Sie nahm sie in die eine und bot mir die andere Hand. Instinktiv begriff ich, worum sie mich bat, und führte sie zu meinem Gesicht. Ihre Berührung war kräftig und zart zugleich. Ihre Finger wanderten über meine Wangen und die Backenknochen. Ich rührte mich nicht und wagte kaum zu atmen, während Clara mit der Hand meine Züge las. Dabei lächelte sie vor sich hin, und ich konnte sehen, daß sich ihre Lippen wie in stummem Murmeln halb schlossen. Ich spürte die leichte Berührung ihrer Hände auf der Stirn, im Haar und auf den Lidern. Bei meinen Lippen hielt sie inne und zeichnete sie mit Zeige- und Ringfinger schweigend nach. Sie rochen nach Zimt. Ich mußte schlucken, als ich feststellte, daß mein Puls gewaltsam emporschnellte, und war heilfroh, daß es keine Augenzeugen für mein glühendes Erröten gab.
An diesem Dunst- und Nieselabend raubte mir Clara Barceló das Herz, den Atem und den Schlaf. Im Licht des Athenäums schrieben ihre Finger meiner Haut einen Fluch ein, der mich jahrelang verfolgen sollte. Während ich sie mit offenem Mund betrachtete, erzählte mir die Nichte des Buchhändlers ihre Geschichte und wie sie, ebenfalls durch Zufall, auf Julián Carax gestoßen war. Das war in einem Dorf der Provence geschehen. Ihr Vater, ein renommierter, dem Kabinett des Präsidenten Companys verbundener Anwalt, hatte den Weitblick gehabt, Tochter und Gattin bei Ausbruch des Bürgerkriegs auf die andere Seite der Grenze zu seiner Schwester zu schicken. Manche Leute waren zwar der Meinung, das sei übertrieben, in Barcelona werde schon nichts geschehen und in Spanien, Wiege und Inbegriff der christlichen Zivilisation, sei die Barbarei eine Sache der Anarchisten und die brächten es, zu Rad und mit Flicken auf den Strümpfen, nicht sehr weit. Die Völker betrachten sich nie im Spiegel, sagte Claras Vater immer, und erst recht nicht, wenn sie einen Krieg am Hals haben. Der Anwalt war ein guter Kenner der Geschichte und wußte, daß die Zukunft eher auf den Straßen, in den Fabriken und Kasernen zu lesen war als in den Morgenblättern. Monatelang schrieb er ihnen jede Woche. Anfänglich aus seiner Kanzlei in der Calle Diputación, dann ohne Absender und schließlich heimlich aus einer Zelle im Kastell des Montjuïc, wo ihn, wie so viele andere, niemand hineingehen sah und wo er nie wieder herauskam.
Claras Mutter las die Briefe vor, kämpfte dabei mit den Tränen und übersprang die Absätze, die ihre Tochter erahnte, ohne sie hören zu müssen. Später, um Mitternacht, brachte Clara ihre Kusine Claudette dazu, ihr die väterlichen Briefe noch einmal, diesmal vollständig, vorzulesen. Das war ihre Art zu lesen, mit geliehenen Augen. Nie sah jemand sie eine Träne vergießen, weder als die Briefe des Anwalts ausblieben, noch als die Nachrichten vom Krieg das Schlimmste befürchten ließen.
»Mein Vater wußte von Anfang an, was geschehen würde«, sagte Clara. »Er blieb an der Seite seiner Freunde, weil er dachte, das sei seine Pflicht. Das Leben gekostet hat ihn die Treue zu Leuten, die ihn verrieten, als es darauf angekommen wäre. Trau nie jemandem, Daniel, vor allem nicht Menschen, die du bewunderst. Die werden dir die schlimmsten Stiche zufügen.«
Die Härte ihrer Worte schien von einem jahrelangen Leben in Geheimnissen und Schatten geschmiedet. Ich verlor mich in ihrem Porzellanblick, Augen ohne Tränen und Trug, und hörte sie von Dingen sprechen, die ich damals nicht verstand. Clara beschrieb Menschen, Schauplätze und Gegenstände, die sie selbst nie gesehen hatte, mit der Detailtreue eines Meisters der flämischen Schule. Sie erzählte mir, wie sie und ihre Kusine Claudette in den Jahren des französischen Exils einen Vormund und Privatlehrer geteilt hatten, einen versoffenen Fünfziger, der sich für einen Literaten hielt und sich damit brüstete, Vergils Äneis auf lateinisch rezitieren zu können, und dem sie den Spitznamen Monsieur Roquefort gegeben hatten, da er trotz der römischen Bäder mit Kölnisch Wasser und Parfüm, mit denen er seine Schlemmergestalt beizte, einen sehr besonderen Geruch verströmte. Bei all seinen beträchtlichen Eigentümlichkeiten (unter denen eine feste, ja kämpferische Überzeugung hervorstach, Würste und insbesondere die Blutwürste, die Clara und ihre Mutter von den Verwandten aus Spanien bekamen, seien ein Wundermittel für den Kreislauf und gegen die Gicht) war Monsieur Roquefort ein Mann mit erlesenem Geschmack. Von jung auf reiste er einmal monatlich nach Paris, um seinen Kulturfundus mit den letzten literarischen Neuheiten anzureichern, Museen zu besichtigen und, wie gemunkelt wurde, einen freien Abend in den Armen eines Nymphchens zu verbringen, das er Madame Bovary getauft hatte, obwohl sie Hortense hieß und eine Anlage zum Gesichtsflaum hatte. Auf seinen Kulturexkursionen pflegte Monsieur Roquefort einen Bouquinisten am linken Seineufer aufzusuchen, und dort stieß er an einem Nachmittag des Jahres 1929 zufällig auf einen Roman eines unbekannten Autors namens Julián Carax. Unbekanntem gegenüber stets offen, kaufte er das Buch, und zwar vor allem weil ihm der Titel attraktiv erschien und er auf der Rückfahrt im Zug gern etwas Leichtes las. Der Roman hieß Das rote Haus, und auf der Umschlagrückseite war ein verschwommenes Bild des Autors abgedruckt, vielleicht ein Foto oder eine Kohlezeichnung. In der Angabe zur Person hieß es nur, daß Julián Carax ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren war, der mit dem Jahrhundert in Barcelona geboren wurde und jetzt in Paris lebte, auf französisch schrieb und sich hauptberuflich als Nachtpianist in einem Animierlokal betätigte. Der gespreizte, wichtigtuerische Klappentext verkündete, es handle sich um das erste Werk eines blendenden Geistes, eines proteischen, bahnbrechenden Talents, einer Zukunftsverheißung für die europäische Literatur ohnegleichen in der Welt der Lebenden. Doch die folgende Inhaltszusammenfassung ließ durchblicken, daß die Geschichte ziemlich reißerische Elemente enthielt, was in Monsieur Roqueforts Augen immer ein Pluspunkt war, denn am meisten gefielen ihm gleich nach den Klassikern leicht anrüchige Sensationsromane.
Das rote Haus schilderte das gepeinigte Leben eines geheimnisvollen Mannes, der Spielwarenläden und Museen überfiel, um Puppen und Marionetten zu stehlen; denen riß er danach die Augen aus und brachte sie in seine Bleibe, ein gespenstisches verlassenes Gewächshaus am Seineufer. Als er eines Nachts in eine Luxusvilla in der Avenue Foch einbrach, um die private Puppensammlung eines während der industriellen Revolution mit dunklen Machenschaften zu Geld gekommenen Magnaten zu plündern, verliebte sich seine Tochter, eine sehr belesene, feine junge Dame der guten Pariser Gesellschaft, in den Eindringling. Je weiter der verworrene Plot gedieh, in dem sich heikle Zwischenfälle und zwielichtige Episoden häuften, desto tiefer drang die Heldin in das Rätsel ein, das den undurchsichtigen Protagonisten, der seinen Namen nie preisgab, dazu brachte, die Puppen zu blenden. Sie entdeckte ein schreckliches Geheimnis über ihren eigenen Vater und seine Porzellanfigurensammlung und mußte am Ende in einer schaurigen Szene untergehen.
Monsieur Roquefort, ein Langstreckenläufer in literarischen Gefechten und stolz darauf, eine große Briefsammlung mit den Unterschriften sämtlicher Pariser Verleger zu besitzen, die seine ihnen unentwegt zugeschickten Gedicht- und Prosabände ablehnten, identifizierte den Verlag, der den Roman veröffentlicht hatte, als unbedeutendes Haus, bekannt allenfalls für seine Koch- und Häkelbücher. Der Bouquinist erzählte ihm, der Roman sei wenig verkauft worden und habe einzig in zwei Provinzblättern eine neben den Nachrufen plazierte Rezension erhalten. Auf wenigen Zeilen hätten die Kritiker mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg gehalten und dem Anfänger Carax empfohlen, seinen Pianistenjob nicht aufzugeben, denn in der Literatur, soviel sei klar, werde er nicht den Ton angeben. Monsieur Roquefort, dem bei hoffnungslosen Fällen Herz und Börse weich wurden, beschloß, einen halben Franc zu investieren, und nahm den Roman dieses Carax zusammen mit einer exquisiten Ausgabe von Salammbô des großen Meisters Gustave Flaubert mit, als dessen noch zu entdeckender Erbe er sich fühlte.
Der Zug nach Lyon war überfüllt, so daß Monsieur Roquefort nichts anderes übrigblieb, als sein Zweiter-Klasse-Abteil mit zwei Nonnen zu teilen, die ihm, kaum hatten sie die Gare d'Austerlitz hinter sich gelassen, unaufhörlich mißbilligende Blicke zuwarfen und dabei miteinander tuschelten. Angesichts dieser Observation beschloß Monsieur Roquefort, den Roman aus der Aktentasche zu ziehen und sich hinter seinen Seiten zu verschanzen. Zu seiner großen Überraschung entdeckte er Hunderte Kilometer später, daß er die Schwestern, das Rütteln des Zuges und die wie ein schlechter Traum der Gebrüder Lumière an den Fenstern vorüberziehende Landschaft vergessen hatte. Er las die ganze Nacht, ohne auf das Schnarchen der Nonnen und die vorbeihuschenden Bahnhöfe in der Dunkelheit zu achten. Als er im Morgengrauen die letzte Seite umblätterte, stellte er fest, daß er Tränen in den Augen und das Herz von Neid und Schrecken vergiftet hatte.
Noch am selben Montag rief er den Verlag in Paris an, um Informationen über Julián Carax zu erbitten. Nach langem Drängen sagte ihm eine Telefonistin mit asthmatischer Stimme und einem Hang zur Bosheit, Señor Carax verfüge über keine bekannte Adresse, er stehe jedenfalls nicht mehr mit dem fraglichen Verlag in Verbindung und vom Roman Das rote Haus seien seit dem Tag seiner Veröffentlichung genau siebenundsiebzig Exemplare verkauft worden, mehrheitlich wohl an die leichten Mädchen und an andere Stammgäste des Lokals, wo der Autor für ein paar Münzen Nocturnes und Polonaisen herunterklimpere. Die restlichen Exemplare seien zurückgekommen und eingestampft worden, um Meßbücher, Strafzettel und Lotterielose zu drucken. Das elende Schicksal des geheimnisvollen Autors hatte Monsieur Roqueforts Sympathien gewonnen. In den folgenden zehn Jahren ging er bei jedem seiner Pariser Besuche von Antiquariat zu Antiquariat und suchte weitere Werke von Julián Carax. Nie fand er eines. Kaum jemand hatte je von diesem Autor gehört, und die, denen der Name etwas sagte, wußten nur wenig über ihn. Jemand meinte, er habe einige weitere Bücher veröffentlicht, immer in unbedeutenden Verlagen und in lächerlich wenig Exemplaren. Wenn sie überhaupt existierten, waren diese Bücher jedenfalls unmöglich zu finden. Ein Buchhändler gab an, einmal ein Exemplar eines Carax-Romans mit dem Titel Der Kathedralendieb in den Händen gehabt zu haben, aber das sei schon lange her, und er sei sich nicht ganz sicher. Ende 1935 erhielt er Kenntnis, daß ein kleiner Pariser Verlag einen neuen Roman von Julián Carax herausgebracht habe, Der Schatten des Windes. Er schrieb dem Verlag, um mehrere Exemplare zu kaufen. Er erhielt nie eine Antwort. Im folgenden Jahr, im Frühling 1936, fragte ihn sein alter Freund, der Bouquinist am linken Seineufer, ob er sich noch immer für Carax interessiere. Monsieur Roquefort sagte, er gebe sich nie geschlagen: Wenn die Welt es darauf angelegt habe, Carax der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, habe er noch lange keine Lust, sich dem zu fügen. Sein Freund erklärte ihm, Wochen zuvor habe ein Gerücht über Carax die Runde gemacht. Endlich scheine sich sein Schicksal geändert zu haben. Er habe eine gutgestellte Dame ehelichen wollen und nach mehreren Jahren des Schweigens einen neuen Roman publiziert, der erstmals in Le Monde eine vorteilhafte Rezension bekommen habe. Doch genau in dem Moment, als sich das Blatt zu wenden schien, erklärte der Bouquinist, sei Carax in ein Duell auf dem Friedhof Père Lachaise verwickelt worden. Die Umstände dieses Vorfalls seien unklar. Alles, was man wisse, sei, daß das Duell am frühen Morgen des Tages, an dem Carax hätte heiraten sollen, stattgefunden habe und daß der Bräutigam nie in der Kirche erschienen sei.
Es gab Meinungen für jeden Geschmack: Die einen dachten, er sei bei diesem Duell umgekommen und sein Leichnam liege in einem anonymen Grab; andere, Optimistischere glaubten eher, Carax sei in eine undurchsichtige Affäre verstrickt gewesen und habe seine Braut beim Altar verlassen und von Paris zurück nach Barcelona fliehen müssen. Das namenlose Grab wurde nie gefunden, und kurz darauf kam eine weitere Version in Umlauf: Vom Unglück verfolgt, sei Julián Carax in seiner Geburtsstadt gänzlich verelendet gestorben. Die Mädchen des Bordells, in dem er Klavier gespielt hatte, hätten Geld gesammelt, um ihm eine menschenwürdige Bestattung zu ermöglichen. Als die Überweisung eingetroffen sei, sei er bereits in einem Massengrab beerdigt gewesen, neben den Leichen von Bettlern und im Hafenwasser treibenden oder auf der Treppe zur Untergrundbahn erfrorenen Menschen.
Und sei es aus bloßem Widerspruchsgeist, Monsieur Roquefort vergaß Carax nicht. Elf Jahre nachdem er Das rote Haus entdeckt hatte, beschloß er, den Roman seinen beiden Schülerinnen auszuleihen, in der Hoffnung, dieses merkwürdige Buch werde sie vielleicht dazu ermuntern, sich die Gewohnheit des Lesens anzueignen. Zu jener Zeit waren Clara und Claudette zwei fünfzehnjährige Mädchen, deren Blut in Aufruhr war und denen die Welt durchs Fenster des Studierzimmers zublinzelte. Trotz der Bemühungen ihres Hauslehrers hatten sie sich bisher unzugänglich für den Zauber der Klassiker, Äsops Fabeln oder Dante Alighieris unsterbliche Verse gezeigt. Da Monsieur Roquefort befürchtete, sein Vertrag werde gekündigt, wenn Claras Mutter entdeckte, daß sein Lehrerwirken nichts als zwei wirrköpfige Analphabetinnen heranbildete, gab er ihnen Carax’ Roman unter dem Vorwand, es handle sich um eine Liebesgeschichte von der Sorte, bei der man Rotz und Wasser heule, was nur die halbe Wahrheit war.
»Noch nie hatte ich mich von einer Geschichte so gefangengenommen, betört und hineingezogen gefühlt wie von der, die dieses Buch erzählte«, erklärte Clara. »Bis dahin war Lesen für mich eine Pflicht gewesen, eine Art Buße, die es Lehrern und Erziehern zu bezahlen galt, ohne daß ich genau wußte, warum. Ich hatte die Freude am Lesen nicht gekannt, die Freude daran, Räume auszukundschaften, die sich einem in der Seele auftun, sich der Fantasie zu überlassen, der Schönheit und dem Geheimnis von Dichtung und Sprache. All das ist für mich bei diesem Roman entstanden. Hast du schon einmal ein Mädchen geküßt, Daniel?«
Ich hatte einen Kloß im Hals, und der Speichel wurde mir zu Sägemehl.
»Na ja, du bist ja auch noch sehr jung. Aber es ist genau dieses Gefühl, dieser Funke des ersten Mals, den man nicht vergißt. Wir leben in einer Schattenwelt, Daniel, und Magie ist ein rares Gut. Dieser Roman hat mich gelehrt, daß ich durch Lesen mehr und intensiver leben, daß Lesen mir das verlorene Sehen wiedergeben konnte. Allein deshalb hat dieses Buch, das keinem etwas bedeutete, mein Leben verändert.«
An diesem Punkt konnte ich nur noch offenen Mundes staunen, ganz diesem weiblichen Wesen ausgeliefert, dessen Worten und Reizen ich nicht widerstehen konnte noch wollte. Ich wünschte, sie möchte nie mehr zu sprechen aufhören, ihre Stimme möchte mich für immer einhüllen und ihr Onkel würde nie zurückkommen und den Zauber dieses Augenblicks brechen, der nur mir gehörte.