Carlos Ruiz Zafon

Der Schatten des Windes

Roman

Aus dem Spanischen
von Peter Schwaar

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Carlos Ruiz Zafon

Carlos Ruiz Zafón begeisterte mit seinen Barcelona-Romanen um den Friedhof der Vergessenen Bücher ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt. ›Der Schatten des Windes‹, ›Das Spiel des Engels‹, ›Der Gefangene des Himmels‹ und ›Das Labyrinth der Lichter‹ waren allesamt internationale Bestseller. Auch ›Marina‹, der Roman, den er kurz vor den großen Barcelona-Romanen schuf, stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Seine ersten Erfolge feierte Carlos Ruiz Zafón mit den drei phantastischen Schauerromanen ›Der Fürst des Nebels‹, ›Mitternachtspalast‹ und ›Der dunkle Wächter‹.

Carlos Ruiz Zafón wurde 1964 in Barcelona geboren und starb 2020 in seiner Wahlheimat Los Angeles.

 

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Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel ›La sombra del viento‹ bei Editorial Planeta S.A., Barcelona

© Dragonworks 2004

Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit Michi Strausfeld, Barcelona-Berlin

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2013

Für die Übersetzung:

© Insel Verlag, Berlin 2003

 

Covergestaltung: Hißmann/Heilmann, Hamburg

Coverabbildung: Francesc Català-Roca, ca. 1955/ Photographic Archive F. Caralá-Roca/AHCOAC

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-402770-8

»Daniel, was du heute sehen wirst, darfst du niemandem erzählen«, sagte mein Vater. »Nicht einmal deinem Freund Tomás. Niemandem.«

»Auch nicht Mama?« fragte ich mit gedämpfter Stimme.

Mein Vater seufzte hinter seinem traurigen Lächeln, das ihn wie ein Schatten durchs Leben verfolgte.

»Aber natürlich«, antwortete er gedrückt. »Vor ihr haben wir keine Geheimnisse. Ihr darfst du alles erzählen.«

Kurz nach dem Bürgerkrieg hatte eine aufkeimende Cholera meine Mutter dahingerafft. An meinem vierten Geburtstag beerdigten wir sie auf dem Friedhof des Montjuïc. Ich weiß nur noch, daß es den ganzen

»Ich kann mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Ich kann mich nicht mehr an Mamas Gesicht erinnern«, keuchte ich.

Mein Vater umarmte mich fest.

»Hab keine Angst, Daniel. Ich werde mich für uns beide erinnern.«

Wir schauten uns im Halbdunkel an und suchten nach Worten, die es nicht gab. Das war das erste Mal, daß ich merkte, daß mein Vater alterte und seine Augen, Augen aus Nebel und Verlust, immer in die Vergangenheit blickten. Er stand auf und zog die Vorhänge zurück, um das laue Frühlicht hereinzulassen.

»Los, Daniel, zieh dich an. Ich möchte dir etwas zeigen.«

»Jetzt? Um fünf Uhr früh?«

»Es gibt Dinge, die man nur im Dunkeln sehen kann«, gab mein Vater mit einem rätselhaften Lächeln zu verstehen, das er vermutlich einem Roman von Alexandre Dumas entliehen hatte.

Noch dämmerten die Straßen matt in Dunst und Nachttau dahin, als wir aus dem Haus traten. Flimmernd zeichneten die Straßenlaternen der Ramblas

»Daniel, was du heute sehen wirst, darfst du niemandem erzählen. Nicht einmal deinem Freund Tomás. Niemandem.«

Ein Männchen mit dem Gesicht eines Raubvogels und silbernem Haar öffnete uns die Tür. Unergründlich heftete sich sein durchdringender Blick auf mich.

»Guten Morgen, Isaac. Das ist mein Junge, Daniel«, verkündete mein Vater. »Er wird bald elf, und irgendwann übernimmt er das Geschäft. Er ist alt genug, um diesen Ort kennenzulernen.«

Mit einem leichten Nicken bat uns Isaac herein. Bläuliches Halbdunkel hüllte alles ein, so daß die Konturen einer breiten Marmortreppe und eine Galerie mit Fresken voller Engels- und Fabelfiguren gerade

»Willkommen im Friedhof der Vergessenen Bücher, Daniel.«

In den Gängen und Lichtungen der Bibliothek verstreut, zeichneten sich ein Dutzend Gestalten ab. Einige von ihnen wandten sich um und grüßten aus der Ferne, und ich erkannte die Gesichter mehrerer Kollegen meines Vaters aus der Gilde der Antiquare. Wie merkwürdig, wie verschwörerisch sahen diese wohlvertrauten Männer auf einmal aus! Mein Vater kauerte sich neben mir nieder, schaute mir fest in die Augen und sprach leise auf mich ein.

»Was du hier siehst, Daniel, ist ein geheimer Ort, ein Mysterium. Jedes einzelne Buch hat eine Seele. Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seele derer, die es gelesen und erlebt und von ihm geträumt haben. Jedesmal, wenn ein Buch in andere

Ich schaute meinen Vater fragend an und nickte dann. Er lächelte.

»Und weißt du das Beste?« fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Der Brauch will es, daß jemand, der diesen Ort zum ersten Mal besucht, sich ein Buch aussuchen muß, dasjenige, das ihm am meisten zusagt, und er

Fast eine halbe Stunde spazierte ich durch dieses Labyrinth, das nach altem Papier, Staub und Magie roch. Sachte fuhr ich mit der Hand über die Rücken der ausgestellten Bücher, während ich meine Wahl prüfte. Auf den verwaschenen Bänden las ich Titel in Sprachen, die ich erkannte, und viele andere, die ich nicht einzuordnen vermochte. Ich lief durch gewundene Gänge und Galerien mit Hunderten, Tausenden von Bänden, die mehr über mich zu wissen schienen als ich über sie. Bald befiel mich der Gedanke, hinter dem Einband jedes einzelnen dieser Bücher tue sich ein unendliches, noch zu erforschendes Universum auf und jenseits dieser Mauern verschwendeten die Menschen ihr Leben an Fußballnachmittage und Radioserien, zufrieden damit, kaum über ihren Nabel hinauszusehen. Vielleicht war es dieser Gedanke, vielleicht der Zufall oder sein stolzer Verwandter, das Schicksal – jedenfalls war mir genau in diesem Moment klar, daß ich das Buch bereits gewählt hatte, das ich adoptieren würde. Oder vielleicht müßte ich sagen, das Buch, das mich adoptieren würde. In weinrotes Leder gebunden, stand es schüchtern am Ende eines Bords und raunte seinen Titel in Goldlettern, die im Licht der Kuppel leuchteten. Ich trat hinzu,

Julián Carax

Der Schatten des Windes

Noch nie hatte ich diesen Titel oder den Namen seines Autors gehört, doch das war mir egal. Der Entschluß war gefaßt. Von beiden Seiten. Äußerst behutsam ergriff ich das Buch und blätterte es durch. Aus der Gefangenschaft des Regals befreit, verströmte es eine goldene Staubwolke. Ich war zufrieden mit meiner Wahl und ging mit dem Buch unter dem Arm durch das Labyrinth zurück. Vielleicht hatte mich die Zauberstimmung dieses Orts bezwungen – jedenfalls hatte ich die Gewißheit, daß das Buch seit Jahren, wahrscheinlich seit der Zeit vor meiner Geburt, hier auf mich gewartet hatte.

 

Wieder zu Hause in der Calle Santa Ana, zog ich mich an diesem Nachmittag in mein Zimmer zurück und beschloß, die ersten Zeilen meines neuen Freundes zu lesen. Bevor ich es recht merkte, war ich schon rettungslos hineingestürzt. Der Roman erzählte die Geschichte eines Mannes auf der Suche nach seinem richtigen Vater, den er nie kennengelernt hatte und von dem er nur dank der letzten Worte erfuhr, die seine Mutter auf dem Totenbett sprach. Die

1945–1949

Ein Geheimnis ist soviel wert wie der, der es uns anvertraut. Beim Erwachen war mein erster Impuls, meinen besten Freund an der Existenz des Friedhofs der Vergessenen Bücher teilhaben zu lassen. Tomás Aguilar war ein Mitschüler, der seine Freizeit und sein Talent der Erfindung höchst sinnreicher Vorrichtungen widmete, die jedoch von geringem praktischem Nutzen waren, wie der aerostatische Speer oder der Dynamokreisel. Keiner drängte sich mehr auf als Tomás, um dieses Geheimnis mit mir zu teilen. Mit offenen Augen träumend, stellte ich mir meinen Freund und mich mit Laternen und Kompaß bewehrt vor, bereit, die Mysterien dieser Bücherkatakombe zu lüften. Dann erinnerte ich mich an mein Versprechen und entschied mich für das, was in Kriminalromanen »ein anderer modus operandi« genannt wird. Am Mittag sprach ich meinen Vater auf dieses Buch und Julián Carax an, die ich mir in meiner Begeisterung beide weltberühmt vorgestellt hatte. Meine Idee war es, mir Carax' sämtliche Werke zu verschaffen und in weniger als einer Woche von A bis

»Hiernach gehört dieses Exemplar zu einer Ausgabe von zweitausendfünfhundert Exemplaren, die im Dezember 1935 in Barcelona von Cabestany Editores gedruckt wurde.«

»Kennst du den Verlag?«

»Er hat schon vor Jahren geschlossen. Aber die Originalausgabe ist nicht die da, sondern eine andere vom November desselben Jahres, allerdings in Paris gedruckt. Der Verlag ist Galliano & Neuval. Sagt mir nichts.«

»Das Buch ist also eine Übersetzung?« fragte ich verwirrt.

»Das steht nicht da. Soweit man hier sieht, handelt es sich um den Originaltext.«

»Ein Buch auf spanisch, das zuerst in Frankreich verlegt wurde?«

»Das dürfte damals nicht das erste Mal gewesen sein. Vielleicht kann uns Barceló weiterhelfen …«

Gustavo Barceló war ein alter Kollege meines Vaters, Inhaber einer höhlenartigen Buchhandlung in der Calle Fernando, welcher die Antiquarenzunft anführte. Er hing tagaus, tagein an einer erloschenen

 

Els Cuatre Gats lag einen Steinwurf von zu Hause entfernt, und diese vier Katzen hatten es mir angetan. Dort hatten sich im Jahr 1932 meine Eltern kennengelernt, und meine Eintrittskarte fürs Leben schrieb ich zum Teil dem Charme dieses alten Cafés zu. Steinerne Drachen bewachten die tief verschattete Fassade, und die Gaslaternen an der Ecke froren Zeit und Erinnerungen ein. Im Innern verschmolzen die Menschen mit den Echos aus andern Zeiten. Buchhalter, Träumer und Geisteslehrlinge teilten den Tisch mit den Schimären von Pablo Picasso, Isaac Albéniz, Federico García Lorca oder Salvador Dalí. Zum Preis eines kleinen Kaffees konnte sich hier jeder Habenichts für ein Weilchen als historische Figur fühlen.

»Na sowas, Sempere«, rief Barceló, als er meinen Vater hereinkommen sah, »der verlorene Sohn. Was verschafft uns die Ehre?«

»Die Ehre verschafft Ihnen mein Sohn Daniel, Don Gustavo, der soeben eine Entdeckung gemacht hat.«

»Kasuarlilie?« flüsterte ich meinem Vater zu.

»Barceló redet nur in Fremdwörtern«, antwortete mein Vater halblaut. »Und du sag nichts, er plustert sich gern auf.«

Die Stammtischgäste machten uns Platz in ihrem Kreis, und Barceló, der sich gern freigebig zeigte, bestand darauf, uns einzuladen.

»Wie alt ist denn der Grünschnabel?« fragte er und musterte mich von der Seite.

»Fast elf«, erklärte ich.

Barceló lächelte mir verschmitzt zu.

»Also zehn. Mach dich nicht älter, du Halunke, das wird das Leben schon noch übernehmen.«

Mehrere der Stammtischgäste murmelten zustimmend. Barceló winkte einen Kellner herbei, der aussah, als würde er demnächst unter Denkmalschutz gestellt.

»Einen Kognak für meinen Freund Sempere, und zwar vom guten, und für den Sprößling da eine Merenguemilch, er muß noch wachsen. Ach ja, und bringen Sie noch ein paar Schinkenwürfelchen, aber nicht wie die vorher, ja? Für Gummi ist die Firma Pirelli zuständig.«

Der Kellner nickte und schlurfte, seine Seele im Schlepptau, davon.

»Ich sag's ja immer«, bemerkte Barceló. »Wie soll

Er nuckelte an seiner erloschenen Pfeife, während sein scharfer Blick interessiert nach dem Buch spähte, das ich in den Händen hielt. Hinter seiner Komödiantenfassade und dem ganzen Wortschwall roch er eine gute Beute wie ein Wolf das Blut.

»Na«, sagte er mit gespieltem Desinteresse, »was bringen Sie beide mir also mit?«

Ich schaute meinen Vater an. Der nickte. Wortlos reichte ich Barceló das Buch. Er ergriff es mit kundiger Hand. Seine Pianistenfinger überprüften rasch Textur, Konsistenz und Zustand. Mit listigem Lächeln schlug er die Seite der Verlagsangaben auf und inspizierte sie eine Minute lang wie ein Kriminalbeamter. Die andern schauten ihm schweigend zu, als warteten sie auf eine Offenbarung oder die Erlaubnis, wieder zu atmen.

»Carax. Interessant«, murmelte er in undurchdringlichem Ton.

Ich streckte die Hand ein zweites Mal aus, um das Buch wiederzubekommen. Barceló zog die Brauen hoch, gab es mir aber mit eisigem Lächeln zurück.

»Wo hast du es gefunden, mein Junge?«

»Das ist ein Geheimnis«, antwortete ich und wußte, daß mein Vater bei sich lächelte.

»Mein lieber Sempere, weil Sie es sind und wegen der Hochachtung, die ich Ihnen entgegenbringe, und um der langen, tiefen Freundschaft willen, die uns eint wie Brüder – sagen wir vierzig Duros, und damit basta.«

»Das werden Sie mit meinem Sohn aushandeln müssen«, sagte mein Vater. »Das Buch gehört ihm.«

Barceló schenkte mir ein wölfisches Lächeln.

»Was meinst du, Jungchen? Vierzig Duros, zweihundert Peseten, das ist nicht schlecht für einen ersten Verkauf … Sempere, der Junge da wird Karriere machen in diesem Geschäft.«

Eifrig beklatschten die Stammtischgäste den Satz. Barceló schaute mich zufrieden an und zog seine lederne Brieftasche. Er zählte die vierzig Duros ab, damals ein ordentliches Vermögen, und streckte sie mir hin. Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Barceló machte ein böses Gesicht.

»Habsucht ist eine hoffnungslose Todsünde, ja? Also, sechzig Duros, und damit legst du ein Sparbuch an – in deinem Alter muß man an die Zukunft denken.«

Ich schüttelte erneut den Kopf. Durch sein Monokel warf Barceló meinem Vater einen zornigen Blick zu.

»Mich brauchen Sie nicht anzuschauen«, sagte mein Vater. »Ich bin nur als Begleiter hier.«

»Na, mein Kleiner, was willst du denn nun?«

»Ich will wissen, wer Julián Carax ist und wo ich weitere Bücher finden kann, die er geschrieben hat.«

Barceló lachte leise und steckte seine Brieftasche wieder ein; er sah seinen Gegner nun mit andern Augen an.

»Nanu, ein Intellektueller. Sempere, womit füttern Sie denn dieses Kind?«

Er neigte sich in vertraulichem Ton zu mir herüber, und einen Moment glaubte ich in seinem Blick einen gewissen Respekt zu erhaschen, der vor Augenblicken noch nicht dagewesen war.

»Wir werden einen Handel schließen«, sagte er zu mir. »Morgen ist Sonntag, da kommst du am Nachmittag in die Athenäumsbibliothek und fragst nach mir. Du bringst das Buch mit, damit ich es genau untersuchen kann, und ich erzähle dir, was ich über Julián Carax weiß. Quidproquo.«

»Quidprowas?«

»Latein, Junge. Es gibt keine toten Sprachen, nur abgestumpfte Geister. Umschrieben bedeutet das, daß ein Duro immer fünf und niemals vier Peseten hat, daß du mir aber sympathisch bist und ich dir einen Gefallen tun werde.«

Mit der Beredsamkeit, die der Mann verströmte, war er imstande, die Fliegen im Fliegen zu

»Denk dran, morgen im Athenäum. Aber bring das Buch mit, sonst gibt's keinen Handel.«

»Einverstanden.«

Langsam löste sich das Gespräch im Gebrabbel der andern Stammtischgäste auf, die über einige im Keller des Escorial gefundene Dokumente zu diskutieren begannen, welche die Möglichkeit andeuteten, daß Don Miguel de Cervantes nur das Pseudonym einer behaarten Matrone aus Toledo gewesen war. Barceló schien abwesend und beteiligte sich nicht an der spitzfindigen Debatte, sondern betrachtete mich mit verschleiertem Lächeln durch sein Monokel. Oder vielleicht schaute er auch nur das Buch an, das ich in Händen hielt.

2

Am Sonntag hingen die Wolken tief am Himmel, und die Straßen schmachteten unter einer glühenden Dunstglocke, die die Thermometer an den Wänden zum Schwitzen brachte. Gegen Abend, als es noch um dreißig Grad war, zog ich mit meinem Buch unter dem Arm und einem Schweißvorhang auf der Stirn los, Richtung Calle Canuda und Athenäum zur Verabredung mit Barceló. Das Athenäum war – und ist – einer der vielen Winkel Barcelonas, wo das 19. Jahrhundert noch nichts von seiner Pensionierung mitbekommen hat. Die steinerne Vortreppe führte von einem höfischen Patio zu einem geisterhaften Netzwerk aus Galerien und Lesesälen empor, wohin neumodische Erfindungen wie Telefon, Eile oder Armbanduhr noch nicht vorgedrungen waren. Der Pförtner, oder vielleicht war es bloß eine Statue in Uniform, zuckte bei meinem Kommen kaum mit der Wimper. Ich glitt in den ersten Stock hinauf und pries die Flügel eines Ventilators, der inmitten von eingeschlummerten, auf ihren Büchern und Zeitungen wie Eiswürfel dahinschmelzenden Lesern schnurrte.

Don Gustavo Barcelós Silhouette zeichnete sich neben den Glastüren einer Galerie ab, die auf den Innengarten des Hauses führte. Trotz der fast tropischen Luft steckte der Buchhändler in seiner gewohnten Geckengala. Neben ihm erkannte ich eine Gestalt in einem weißen Mohairkleid, die mir wie ein in Nebel modellierter Engel erschien. Beim Echo meiner Schritte schloß Barceló halb die Augen und bedeutete mir mit einer Handbewegung, näherzutreten.

»Daniel, nicht wahr?« fragte er. »Hast du das Buch mitgebracht?«

»Willst du mir jetzt also sagen, wo du dieses Buch herhast?« fragte er.

»Das würde ich schon, aber ich habe meinem Vater versprochen, das Geheimnis zu hüten.«

»Ich sehe schon – Sempere und seine Geheimnisse. Ich kann mir etwa vorstellen, wo. Da hast du ein Riesenschwein gehabt, mein Junge. Das nenne

Ich gab ihm das Buch, und Barceló ergriff es mit unendlicher Behutsamkeit.

»Ich nehme an, du hast es gelesen.«

»Jawohl.«

»Ich beneide dich. Ich habe immer gedacht, der richtige Zeitpunkt, um Carax zu lesen, ist, wenn man noch ein junges Herz und einen reinen Geist hat. Hast du gewußt, daß das der letzte Roman ist, den er geschrieben hat?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Weißt du, wie viele Exemplare davon auf dem Markt sind, Daniel?«

»Vermutlich Tausende.«

»Keines – außer deinem. Die übrigen wurden verbrannt.«

»Verbrannt?«

Einmal mehr lächelte Barceló unergründlich, während er die Seiten durch die Finger gleiten ließ und das Papier streichelte, als bestünde es aus einer Seide, die es auf der Welt nur einmal gab. Langsam wandte sich die Dame in Weiß um. Ihre Lippen deuteten ein schüchternes, zitterndes Lächeln an. Ihre Augen ertasteten das Leere, marmorweiße Pupillen. Ich schluckte. Sie war blind.

»Du kennst meine Nichte Clara nicht, was?« fragte Barceló.

»Im Grunde ist Clara die Expertin für Julián Carax, darum habe ich sie mitgebracht«, sagte Barceló. »Ja, wenn ich's mir richtig überlege, ziehe ich mich, glaube ich, mit eurer Erlaubnis in einen andern Raum zurück, um dieses Buch zu studieren, während ihr euch über eure Dinge unterhaltet. Ist euch das recht?«

Verdutzt schaute ich ihn an. Ohne sich weiter um mich zu kümmern, klopfte mir der Buchhändler, Gauner durch und durch, leicht auf die Schulter und zog mit meinem Buch unterm Arm ab.

»Du hast ihn beeindruckt, weißt du«, sagte die Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und sah, wie das leichte Lächeln von Barcelós Nichte im Leeren tastete. Sie hatte eine so zarte Kristallstimme, daß ich glaubte, ihre Worte würden zersplittern, wenn ich sie mitten im Satz unterbräche.

»Mein Onkel hat mir gesagt, daß er dir für Carax' Buch eine ordentliche Summe angeboten hat, aber du hast sie abgelehnt. Du hast seinen Respekt gewonnen.«

»Schwer zu glauben«, seufzte ich.

Ich stellte fest, daß Clara beim Lächeln den Kopf

»Wie alt bist du?« fragte sie.

»Fast elf. Und Sie?«

Clara lachte über meine unverschämte Naivität.

»Fast doppelt so alt, aber das ist auch wieder nicht so alt, daß du mich zu siezen brauchst.«

»Sie sehen jünger aus«, bemerkte ich in der Ahnung, das könnte ein guter Ausweg aus meiner Indiskretion sein.

»Dann traue ich dir – ich weiß ja nicht, wie ich aussehe«, antwortete sie und lächelte weiter ihr halbes Lächeln. »Aber wenn ich dir jünger vorkomme, ist das ein Grund mehr, daß du mich duzt.«

»Wie Sie meinen, Señorita Clara.«

Aufmerksam betrachtete ich ihre wie Flügel auf dem Schoß ausgebreiteten Hände, ihre zarte, sich unter dem flauschigen Stoff abzeichnende Taille, die Linie ihrer Schultern, die außerordentliche Blässe ihres Halses und den Verschluß ihrer Lippen, die ich am liebsten mit den Fingerspitzen liebkost hätte. Nie zuvor hatte ich Gelegenheit gehabt, eine Frau aus solcher Nähe und so genau zu studieren, ohne befürchten zu müssen, ihrem Blick zu begegnen.

»Was guckst du?« fragte Clara nicht ohne eine gewisse Boshaftigkeit.

»Ihr Onkel sagt, Sie sind Expertin für Julián Carax«, improvisierte ich mit trockenem Mund.

»Das ist mir, ehrlich gesagt, gar nicht in den Sinn gekommen.«

»Dafür, daß du fast elf bist, lügst du nicht schlecht. Sieh dich vor, oder du endest noch wie mein Onkel.«

Da ich befürchtete, abermals ins Fettnäpfchen zu treten, blieb ich schweigend sitzen und starrte sie fasziniert an.

»Na los, komm her«, sagte sie.

»Wie bitte?«

»Komm her und hab keine Angst. Ich werde dich schon nicht auffressen.«

Ich stand vom Stuhl auf und trat zu Clara. Sie hob die rechte Hand und tastete nach mir. Ohne recht zu wissen, wie ich mich verhalten sollte, reichte ich ihr die Hand. Sie nahm sie in die eine und bot mir die andere Hand. Instinktiv begriff ich, worum sie mich bat, und führte sie zu meinem Gesicht. Ihre Berührung war kräftig und zart zugleich. Ihre Finger wanderten über meine Wangen und die Backenknochen. Ich rührte mich nicht und wagte kaum zu atmen, während Clara mit der Hand meine Züge las. Dabei lächelte sie vor sich hin, und ich konnte sehen, daß sich ihre Lippen wie in stummem Murmeln halb

3

An diesem Dunst- und Nieselabend raubte mir Clara Barceló das Herz, den Atem und den Schlaf. Im Licht des Athenäums schrieben ihre Finger meiner Haut einen Fluch ein, der mich jahrelang verfolgen sollte. Während ich sie mit offenem Mund betrachtete, erzählte mir die Nichte des Buchhändlers ihre Geschichte und wie sie, ebenfalls durch Zufall, auf Julián Carax gestoßen war. Das war in einem Dorf der Provence geschehen. Ihr Vater, ein renommierter, dem Kabinett des Präsidenten Companys verbundener Anwalt, hatte den Weitblick gehabt, Tochter und Gattin bei Ausbruch des Bürgerkriegs auf die andere Seite der Grenze zu seiner Schwester zu schicken. Manche Leute waren zwar der Meinung, das sei übertrieben, in Barcelona werde schon nichts geschehen und in Spanien, Wiege und Inbegriff der

Claras Mutter las die Briefe vor, kämpfte dabei mit den Tränen und übersprang die Absätze, die ihre Tochter erahnte, ohne sie hören zu müssen. Später, um Mitternacht, brachte Clara ihre Kusine Claudette dazu, ihr die väterlichen Briefe noch einmal, diesmal vollständig, vorzulesen. Das war ihre Art zu lesen, mit geliehenen Augen. Nie sah jemand sie eine Träne vergießen, weder als die Briefe des Anwalts ausblieben, noch als die Nachrichten vom Krieg das Schlimmste befürchten ließen.

»Mein Vater wußte von Anfang an, was geschehen würde«, sagte Clara. »Er blieb an der Seite seiner Freunde, weil er dachte, das sei seine Pflicht. Das Leben gekostet hat ihn die Treue zu Leuten, die ihn

Die Härte ihrer Worte schien von einem jahrelangen Leben in Geheimnissen und Schatten geschmiedet. Ich verlor mich in ihrem Porzellanblick, Augen ohne Tränen und Trug, und hörte sie von Dingen sprechen, die ich damals nicht verstand. Clara beschrieb Menschen, Schauplätze und Gegenstände, die sie selbst nie gesehen hatte, mit der Detailtreue eines Meisters der flämischen Schule. Sie erzählte mir, wie sie und ihre Kusine Claudette in den Jahren des französischen Exils einen Vormund und Privatlehrer geteilt hatten, einen versoffenen Fünfziger, der sich für einen Literaten hielt und sich damit brüstete, Vergils Äneis auf lateinisch rezitieren zu können, und dem sie den Spitznamen Monsieur Roquefort gegeben hatten, da er trotz der römischen Bäder mit Kölnisch Wasser und Parfüm, mit denen er seine Schlemmergestalt beizte, einen sehr besonderen Geruch verströmte. Bei all seinen beträchtlichen Eigentümlichkeiten (unter denen eine feste, ja kämpferische Überzeugung hervorstach, Würste und insbesondere die Blutwürste, die Clara und ihre Mutter von den Verwandten aus Spanien bekamen, seien ein Wundermittel für den Kreislauf und gegen die Gicht) war Monsieur Roquefort ein Mann mit erlesenem

Das rote Haus schilderte das gepeinigte Leben eines geheimnisvollen Mannes, der Spielwarenläden und Museen überfiel, um Puppen und Marionetten zu stehlen; denen riß er danach die Augen aus und brachte sie in seine Bleibe, ein gespenstisches verlassenes Gewächshaus am Seineufer. Als er eines Nachts in eine Luxusvilla in der Avenue Foch einbrach, um die private Puppensammlung eines während der industriellen Revolution mit dunklen Machenschaften zu Geld gekommenen Magnaten zu plündern, verliebte sich seine Tochter, eine sehr belesene, feine junge Dame der guten Pariser Gesellschaft, in den Eindringling. Je weiter der verworrene Plot gedieh, in dem sich heikle Zwischenfälle und zwielichtige Episoden häuften, desto tiefer drang die Heldin in das Rätsel ein, das den undurchsichtigen Protagonisten, der seinen Namen nie preisgab, dazu brachte, die Puppen zu blenden. Sie entdeckte ein schreckliches Geheimnis über ihren eigenen Vater und seine Porzellanfigurensammlung und mußte am Ende in einer schaurigen Szene untergehen.

Der Zug nach Lyon war überfüllt, so daß Monsieur Roquefort nichts anderes übrigblieb, als sein Zweiter-Klasse-Abteil mit zwei Nonnen zu teilen, die ihm, kaum hatten sie die Gare d'Austerlitz hinter sich gelassen, unaufhörlich mißbilligende Blicke zuwarfen und dabei miteinander tuschelten. Angesichts

Noch am selben Montag rief er den Verlag in Paris an, um Informationen über Julián Carax zu erbitten. Nach langem Drängen sagte ihm eine Telefonistin mit asthmatischer Stimme und einem Hang zur Bosheit, Señor Carax verfüge über keine bekannte Adresse, er stehe jedenfalls nicht mehr mit dem fraglichen Verlag in Verbindung und vom Roman Das rote Haus seien seit dem Tag seiner Veröffentlichung genau siebenundsiebzig Exemplare verkauft worden, mehrheitlich wohl an die leichten Mädchen und an andere Stammgäste des Lokals, wo der Autor für ein paar Münzen Nocturnes und Polonaisen herunterklimpere. Die restlichen Exemplare seien zurückgekommen und eingestampft worden, um Meßbücher, Strafzettel und Lotterielose zu drucken. Das elende

Es gab Meinungen für jeden Geschmack: Die einen dachten, er sei bei diesem Duell umgekommen und sein Leichnam liege in einem anonymen Grab; andere, Optimistischere glaubten eher, Carax sei in eine undurchsichtige Affäre verstrickt gewesen und habe seine Braut beim Altar verlassen und von Paris zurück nach Barcelona fliehen müssen. Das namenlose Grab wurde nie gefunden, und kurz darauf kam eine weitere Version in Umlauf: Vom Unglück verfolgt, sei Julián Carax in seiner Geburtsstadt gänzlich verelendet gestorben. Die Mädchen des Bordells, in dem er Klavier gespielt hatte, hätten Geld gesammelt, um ihm eine menschenwürdige Bestattung zu ermöglichen. Als die Überweisung eingetroffen sei, sei er bereits in einem Massengrab beerdigt gewesen, neben

Und sei es aus bloßem Widerspruchsgeist, Monsieur Roquefort vergaß Carax nicht. Elf Jahre nachdem er Das rote Haus entdeckt hatte, beschloß er, den Roman seinen beiden Schülerinnen auszuleihen, in der Hoffnung, dieses merkwürdige Buch werde sie vielleicht dazu ermuntern, sich die Gewohnheit des Lesens anzueignen. Zu jener Zeit waren Clara und Claudette zwei fünfzehnjährige Mädchen, deren Blut in Aufruhr war und denen die Welt durchs Fenster des Studierzimmers zublinzelte. Trotz der Bemühungen ihres Hauslehrers hatten sie sich bisher unzugänglich für den Zauber der Klassiker, Äsops Fabeln oder Dante Alighieris unsterbliche Verse gezeigt. Da Monsieur Roquefort befürchtete, sein Vertrag werde gekündigt, wenn Claras Mutter entdeckte, daß sein Lehrerwirken nichts als zwei wirrköpfige Analphabetinnen heranbildete, gab er ihnen Carax’ Roman unter dem Vorwand, es handle sich um eine Liebesgeschichte von der Sorte, bei der man Rotz und Wasser heule, was nur die halbe Wahrheit war.

»Noch nie hatte ich mich von einer Geschichte so gefangengenommen, betört und hineingezogen gefühlt wie von der, die dieses Buch erzählte«, erklärte Clara. »Bis dahin war Lesen für mich eine Pflicht gewesen, eine Art Buße, die es Lehrern und Erziehern zu bezahlen galt, ohne daß ich genau wußte, warum. Ich hatte die Freude am Lesen nicht gekannt, die Freude daran, Räume auszukundschaften, die sich einem in der Seele auftun, sich der Fantasie zu überlassen, der Schönheit und dem Geheimnis von Dichtung und Sprache. All das ist für mich bei diesem Roman entstanden. Hast du schon einmal ein Mädchen geküßt, Daniel?«

Ich hatte einen Kloß im Hals, und der Speichel wurde mir zu Sägemehl.

»Na ja, du bist ja auch noch sehr jung. Aber es ist genau dieses Gefühl, dieser Funke des ersten Mals, den man nicht vergißt. Wir leben in einer Schattenwelt, Daniel, und Magie ist ein rares Gut. Dieser Roman hat mich gelehrt, daß ich durch Lesen mehr und intensiver leben, daß Lesen mir das verlorene Sehen wiedergeben konnte. Allein deshalb hat dieses Buch, das keinem etwas bedeutete, mein Leben verändert.«

An diesem Punkt konnte ich nur noch offenen Mundes staunen, ganz diesem weiblichen Wesen