Göran Rosenberg
Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz
Aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer
Rowohlt E-Book
Göran Rosenberg, als Sohn zweier Auschwitz-Überlebender 1948 in Södertälje geboren, ist Journalist, Dokumentarfilmer, Schriftsteller und eine wichtige intellektuelle Stimme Schwedens. Seine Essays und Artikel wurden u.a. für die «Neue Zürcher Zeitung» und «Lettre International» übersetzt. Für «Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz» erhielt er 2012 den August-Preis, den renommiertesten schwedischen Literaturpreis. Das Buch war in Schweden ein Bestseller und erscheint in mehr als zehn Sprachen.
Zwölf Jahre alt war Göran Rosenberg, als sein Vater sich das Leben nahm. Nun, fünf Jahrzehnte später, zeichnet der Sohn das Leben des ihm beinah Unbekannten nach wie in einem literarischen Phantombild – erstellt aus Erinnerungen und so kargen wie bedeutsamen Spuren. Rosenberg wurde 1948 in der schwedischen Kleinstadt Södertälje geboren. Eine fast normale Kindheit – bis er langsam verstand, dass seine Eltern anders, jüdisch, waren, dass sie Auschwitz überlebt hatten, bevor sie eine neue Existenz aufbauten, die sein Vater nicht lange ertrug. Dieses hoffnungslos gerettete Leben versucht Rosenberg zu begreifen: Er vollzieht den Weg seines Vaters nach, besucht Gedächtnisorte und vergessene Leidensstationen, das ehemalige Ghetto von Lodz, das Arbeitslager der Firma Büssing bei Braunschweig, Auschwitz. «Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz» ist ein Erinnerungsbuch, Recherche und große Literatur, die sich einer zerbrochenen Biographie und der Frage nach der Möglichkeit des Lebens überhaupt in einer sensiblen, fesselnden und hochpoetischen Sprache nähert. Ein wichtiges, dringliches Buch, das uns nicht nur die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern die menschliche Existenz selbst besser begreifen lässt.
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Ett kort uppehåll på vägen från Auschwitz» im Albert Bonniers Förlag, Stockholm.
Die Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln des Swedish Art Council.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2013
Copyright © 2013 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
«Ett kort uppehåll på vägen från Auschwitz» Copyright © 2012 by Göran Rosenberg
Abbildungen im Textteil Copyright © 2012 by Göran Rosenberg
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nach der niederländischen Ausgabe von Atlas Contact
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(Titelfoto: Hollandse Hoogte)
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ISBN Printausgabe 978-3-499-22295-5 (1. Auflage 2014)
ISBN E-Book 978-3-644-11401-2
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-11401-2
Lange habe ich mir vorgestellt, er sei über die Brücke gekommen, weil die Brücke das Tor zum ORT ist und in Wirklichkeit auch der Schlüssel zu ihm, aber natürlich kann er nicht über die Brücke gekommen sein, weil er mit dem Zug von Süden her gekommen sein muss. Über die Brücke kommt man nur, wenn man mit dem Zug aus nördlicher Richtung kommt. Nur dann öffnet sich einem die schwindelerregende Schlucht über dem Kanal, und nur dann passiert man die gefährliche Grenze zwischen Heimat und Fremde. Es ist vielleicht nicht so sehr der Kanal, eher die Brücke. Der Kanal ist trotz allem ja nur Wasser, die Brücke aber ist eine höchst bedrohliche Passage, ein kaltes Skelett aus genieteten Stahlträgern, zu scharfen Winkeln und kantigen Bogen verschweißt und zu zwei knochigen Schultern verschraubt, die, getragen von vier massiven Steinkolossen, auf jeder Seite der aufklappbaren Brückentafel über dem Fahrwasser emporragen.
Wer mit dem Zug kommt, sieht davon natürlich nichts, vielleicht spürt er noch nicht einmal, wie die ganze Konstruktion unter der Lok und den Waggons vibriert und bebt, hört nicht, wie die Eisenbahngleise kreischen und die Stahlträger das metallische Hämmern und Schaben zurückwerfen, nimmt nicht den brenzligen Geruch von funkensprühenden Kontakten und Kabeln wahr. Wer mit dem Zug kommt, wird daher niemals die Angst kennenlernen, die man empfindet, wenn man zu Fuß über die Brücke geht. Will man die Brücke zu Fuß überqueren, muss man zunächst durch ein Wäldchen gehen, das zwischen dem Ort und dem Kanal liegt, anschließend über eine schmale, gewundene Holztreppe auf sechsundzwanzig Meter Höhe emporsteigen, um danach einen schmalen Fußgängersteg zu betreten, der auf der einen Seite der zweigleisigen Eisenbahnstrecke über den Kanal führt und wo man durch die Spalten zwischen den Holzplanken senkrecht hinunter in den Abgrund sehen und sich viel zu leicht über das niedrige Metallgeländer hinabschwingen kann. Ständig sind im Ort Schreckensgeschichten in Umlauf über solche, die das getan haben, und darüber, wie man hinterher ihre zerschmetterten, aufgedunsenen Körper aufgefischt hat, und was Gott zu so etwas sagt. Ich halte mich immer am inneren Geländer fest, das die Gleise vom Steg abgrenzt, um dem schwarzen Sog des Schwindels zu widerstehen. Es sei denn, über das danebenliegende Gleis donnert ein Zug, und der metallische Windstoß zerrt an den Kleidern, und die stark vibrierenden Planken drücken gegen die Füße, und es bleibt einem nur die Balance zwischen einer Hölle und einer anderen. In meinen Albträumen falle ich unaufhörlich von der Brücke. In meinen Albträumen erreiche ich auch die gegenüberliegende Seite. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals, unterhalb einer ebenso schmalen, gewundenen Treppe, hinter einer ebenso dunklen Waldpartie, wartet nämlich der Tod, oder zumindest warten dort namenlose Kinderbanden, gegen die die Banden auf meiner Seite des Kanals einen endlosen, gesetzlosen Krieg führen. Die Brücke überstanden zu haben, ist keine Garantie für das Überleben. Überfälle und Prügel im Feindesland sind ein nicht ganz unwirklicher Albtraum. Die Brücke ist die natürliche Grenze des Ortes, und selten gibt es einen Grund, sie auf eigene Faust zu überschreiten.
Kommt man mit dem Zug hingegen aus südlicher Richtung, passiert man keine solche Grenze, sondern lediglich ein identitätsloses Panorama aus Wäldern und Äckern, und daher fällt es schwerer, zu erkennen, wo der Ort beginnt. Schwerer auch zu verstehen, warum dieser Ort liegt, wo er liegt, und warum der Bahnhof, an dem die großen Züge aus der Welt und dorthin zurück halten, gerade hier gebaut wurde und nicht in der Stadt, deren Namen er trägt. Dies alles lässt sich am besten mit der BRÜCKE erklären, denn der Bahnhof liegt wegen der Brücke hier, und der Ort ist wegen des Bahnhofs hier entstanden, und vielleicht stelle ich mir deshalb so gerne vor, dass er über die Brücke kommt, als er am 2. August 1947 um sieben Uhr abends aus dem Zug steigt, um gerade an diesem Ort, unterhalb gerade dieses Bahnhofs zu versuchen, sein Leben noch einmal von vorn zu beginnen.
Ist es Zufall, dass er gerade hier aussteigt? Nein, dieser Zufall ist nicht größer als irgendein anderer Zufall auf seiner Reise hierher. Vermutlich sogar kleiner, denn der größte Zufall in seinem Leben ist, dass er lebt. Natürlich ist es bei jedem von uns Zufall, dass er lebt, aber auf seinem Lebensweg war der Tod fester eingeplant und vorhersagbarer als bei den meisten von uns, und darum handelt es sich bei der Tatsache, dass er lebt, um einen größeren Zufall. Außerdem weiß er ja sehr gut, warum er gerade hier aussteigt und nicht anderswo. Er hat den Namen der Bahnstation gewissenhaft auf einem Zettel notiert, den er dem Schaffner gezeigt hat, der versprach, ihn zu informieren, wenn sie sich dem Bahnhof nähern. Außerdem stehen wie vereinbart A. und S. auf dem Bahnsteig und erwarten ihn und tatsächlich noch eine dritte Person, die er zunächst für einen Klassenkameraden vom Gymnasium in Łódź hält. Natürlich ist das nicht so, und es ist auch höchst unwahrscheinlich, dass es so sein könnte, da aber so vieles auf seinem Weg unwahrscheinlich gewesen ist, erscheint es nicht unmöglich, sich noch ein oder zwei weitere Unmöglichkeiten hinzuzudenken. Jedenfalls stehen sie alle drei dort auf dem Bahnsteig und erwarten ihn, sie umarmen ihn und helfen ihm mit den Koffern aus dem Zug und begleiten ihn zu dem möblierten Zimmer, in dem er wohnen wird, und erzählen ihm an diesem noch hellen Augustabend, was sie über den Ort wissen, in den sie alle erst kürzlich gekommen sind und über den keiner von ihnen sonderlich viel weiß. Ihrerseits wollen sie alles über die Menschen und Ereignisse an jenem Ort erfahren, an dem der Mann den Zug bestiegen hat und wo sie sich alle zuletzt gesehen haben. Alle sind sie noch immer unterwegs, und nach wie vor ist jeder Ort nur ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg irgendwo anders hin, und jene, die vorübergehend hier sind, wollen sich so gut wie möglich auf dem Laufenden halten über die anderen, die vorübergehend hier sind, weil diese unstete, rastlose Gemeinschaft die einzige Gemeinschaft ist, die sie zurzeit haben. Nach und nach wird jeder von ihnen versuchen, sich einen von all den Orten anzueignen, und allmählich wird ein Ort nach dem anderen sie trennen, meist für immer, und mit der Zeit wird dieser Ort einer davon werden. Nur einer von ihnen wird versuchen, sich ausgerechnet diesen Ort anzueignen, und das ist der Mann, der soeben aus dem Zug gestiegen ist.
Nun gut, davon weiß ich noch nichts, da ich den Mann, der gerade aus dem Zug gestiegen ist, noch nicht kenne. Noch ist er nicht mein Vater, und noch weiß er nicht, dass dies sein letzter Aufenthalt sein wird. Ich glaube nicht, dass er sich überhaupt einen letzten Aufenthalt vorstellen kann, weil ich nicht glaube, dass er sich überhaupt irgendeinen Ort als seinen Ort vorstellen kann. Eigentlich glaube ich, dass er sich ununterbrochen neugierig umschaut, um herauszufinden, ob dies nicht dennoch ein solcher Ort sein könnte, da sich allmählich der dringende Wunsch nach zumindest einem längeren Aufenthalt meldet. Und dass er deshalb mit besonderem Interesse die gerade neu erbauten dreistöckigen Wohnblocks an der neu angelegten, gepflasterten und von frisch gepflanzten Ebereschen gesäumten Straße betrachtet, die durch das neue Viertel unmittelbar unterhalb des Bahnhofs führt, an dem er gerade ausgestiegen ist. Daher glaube ich auch, dass er unverzüglich wissen will, in welche Art von Stadt er gekommen ist und welche Art von Menschen dort lebt und wie die Arbeitsbedingungen in der großen Fabrik sind, bei der er eine Stelle zu finden hofft, und welche Art von Beschäftigung es hier womöglich auch für eine knapp zwanzigjährige Frau geben könnte, ohne Berufsausbildung und mit wenig Kenntnis der Sprache, die man hier spricht. Noch weniger Kenntnis, als er selbst sie besitzt. Eigentlich glaube ich, dass er sich nach einer solchen Beschäftigung bereits erkundigt hat und die Angelegenheit nur noch näher untersuchen muss und dass er vor allem feststellen muss, ob es möglich ist, das möblierte Zimmer gegen eine Wohnung zu tauschen, bevor er sie bitten kann, den Zug zu nehmen von jenem Ort, den er gerade verlassen hat, zu dem Ort, an dem er kaum eingetroffen ist.
Aber was er an jenem Augustabend 1947 über die Zukunft denkt, sind schließlich nur Spekulationen meinerseits, und am liebsten würde ich gar nicht spekulieren, und vor allem möchte ich seinem Leben nicht vorauseilen. Er hat erst vierundzwanzig Jahre gelebt und bereits so viel durchlebt, und er hat das Recht, in seinem Leben voranzuschreiten, ohne dass ich ihn im Voraus mit dem belaste, was mit dem Rest seines Lebens geschehen wird. Ich muss seine Tage hinnehmen, wie sie kommen, und da ich nicht richtig sehen kann, wie sie zu ihm kommen, muss ich sie zu mir kommen lassen.
An jenem Tag, dessen Abend noch jung und hell ist, schleppt er also an jenem Ort, an dem er gerade aus dem Zug gestiegen ist, mit seinen drei, wenn auch nicht ganz engen, so doch Freunden, zwei abgewetzte, aber recht schwere Koffer; schließlich wird er sich trotz allem auf unbestimmte Zeit hier niederlassen, und selbst die Habseligkeiten eines kürzlich wieder von vorn begonnenen Lebens wiegen ihren Teil. Selbstverständlich trägt er einen der Anzüge, vielleicht den eleganten hellgrauen, karierten, und ein weißes Hemd mit dazu passendem Schlips und einen Hut, obwohl noch Sommer ist. Es war der heißeste Sommer seit hundert Jahren, der Abend ist lau, und es wäre angenehmer gewesen, auf die Kopfbedeckung zu verzichten, aber den Hut hätte man ohnehin nicht in einen der Koffer packen können, und nicht im Traum wäre er hemdsärmelig mit dem Zug an einen fremden Ort in einem fremden Land gereist. Die vier Männer verlassen zu Fuß den Bahnhof, sie wechseln sich beim Tragen der Koffer ab, und A., der am längsten hier ist, sagt, an der nächsten Haltestelle müssten sie den Bus nehmen, weil es noch ziemlich weit sei und sonst zu spät werde, um noch etwas zu finden, wo man essen könne. Außerdem ist Samstagabend, und in der Stadt wird man einen guten Film zeigen, den sie noch sehen können, wenn sie sich beeilen. Darum beeilen sie sich, so sehr sie können, und der Mann, der gerade aus dem Zug gestiegen ist, kann kaum das möblierte Zimmer in dem frisch errichteten Einfamilienhaus in Augenschein nehmen und sich der Hausbesitzerin vorstellen, deren Mann kürzlich verstorben ist, weshalb sie die Zimmer an alleinstehende Fabrikarbeiter vermieten muss, anstatt sich das Haus als gemütliches Heim einzurichten. Gleichwohl ist sie freundlich und heißt ihn herzlich willkommen. Anschließend machen sie sich wieder auf den Weg, um zu feiern, dass sie sich alle vorübergehend an einem Ort und in Gesellschaft der anderen befinden. Der Film, zu dem sie gerade noch rechtzeitig kommen, spielt auf einem Sklavenschiff und wird im Filmtheater «Cäsar» am idyllischen Hafenbecken mitten in der Stadt gezeigt, wo in samstäglicher Ruhe die Fischerboote liegen und die Stadtbewohner auf dem Kai ihren Abendspaziergang machen. Der Kapitän des Sklavenschiffs will mit dem Sklavenhandel aufhören, weil er heiraten und ehrenhaft werden möchte, und er befiehlt seinem Ersten Offizier, Ladung und Besatzung auszutauschen, entdeckt aber, als er mit seiner jungen Ehefrau zur geplanten Hochzeitsreise an Bord geht, dass Ladung und Besatzung unverändert sind. Es ist eine spannende Geschichte, das Drehbuch stammt von William Faulkner, mit Mickey Rooney und Wallace Beery in den Hauptrollen, und auch wenn die Geschichte im neunzehnten Jahrhundert spielt, stelle ich mir vor, dass sie sich ein wenig mit ihr identifizieren können, weil sie alle erfahren haben, dass scheinbar gewöhnliche Schiffe oder in ihrem Fall scheinbar gewöhnliche Züge sich als etwas völlig anderes erweisen können. Und ganz sicher wird sich wohl noch keiner von ihnen sein, auf welchem Schiff oder Zug sie sich befinden oder an welchem Ort sie gerade ausgestiegen sind. Vielleicht gehen sie hinterher zu einem von ihnen auf das möblierte Zimmer und unterhalten sich über den Film und trinken ein Glas lauwarmen Wodka oder zwei und rauchen sich in einen Nebel hinein, erzählen einander Geschichten, spielen Karten und vergessen für einen Augenblick, dass sie sich an einem Ort befinden, den sie nicht kennen und für den sie Unbekannte sind. Sie sind noch jung, es ist Samstagabend, die Nacht ist vollmondsilbrig, und sie möchten so viel wie möglich haben von diesem kurzen Aufenthalt auf der langen Reise, die sie alle vorübergehend und wahrscheinlich höchst zufällig gerade hier zusammengeführt hat.
Mehr weiß ich nicht über die drei Männer, die auf dem Bahnsteig warten, abgesehen davon, dass sie wie die meisten anderen auf dieser Reise bald weiterfahren werden. Hingegen weiß ich, dass der Mann, der mein Vater werden wird, am folgenden Tag an die Frau, die meine Mutter werden wird und seit einem halben Jahr seine Ehefrau ist, einen Brief schreibt. Die Stadt, in die er gerade gekommen ist und die Södertälje heißt, scheine größer zu sein als jene, die er gerade verlassen hat, die Alingsås heißt. Ihm fällt auf, dass sie wie alle Städte in diesem neuen Land offenbar dünn bebaut ist und dass man lange zu Fuß gehen muss, um von einem Stadtteil in einen anderen zu gelangen, und dass sich rund um einen kleinen, jedoch nicht sonderlich kompakten Stadtkern weite Gebiete mit neu errichteten Einfamilien- und Mietshäusern erstrecken, die großzügig eingebettet sind in Licht, Luft und Grün. Überall scheint es auch große Bäume, ja tatsächlich richtige Wälder zu geben, die ganz in der Nähe beginnen, und vor allem steht dort eine große pharmazeutische Fabrik, die Medikamente herstellt, und dort bieten sich viele Arbeitsmöglichkeiten für junge Frauen, die Medikamente flink in Kartons und Dosen stecken können, und je flinker diese Frauen sind, desto mehr können sie verdienen. «Gestern bin ich nicht spät nach Hause gekommen, nicht später als elf», versichert er, «weil ich die Koffer auspacken und mich mit dem Zimmer bekannt machen wollte, aber mein neuer Zimmergenosse hat schon geschlafen, darum musste ich das aufschieben.» Der Zimmergenosse ist ein «junger, ruhiger Zeitgenosse», der am Morgen einiges erzählte, denn es ist Sonntag, und alle haben frei, und im Speisezimmer des Hauses werden der Frühstückskaffee und ein Käsebrot serviert, weil auf den Zimmern sogar die Zubereitung von Teewasser untersagt ist. Der Arbeitstag in der großen Lastwagenfabrik beginnt um sieben Uhr morgens und endet um vier Uhr nachmittags mit einer halben Stunde Mittagspause um halb eins, und man kann in normaler Kleidung an den Arbeitsplatz kommen und sich dort umziehen, weil man sich dort nach der Arbeit ordentlich waschen und duschen kann. Auch moderne Wasserklosetts haben sie dort, aber wenn man während der Arbeitszeit ein Bedürfnis hat, muss man um Erlaubnis bitten, und die Türen lassen sich nicht schließen und erst recht nicht absperren, damit sich dort niemand hinsetzen und ausruhen oder ein Nickerchen machen kann. Aber nichts davon erscheint ihm eigentlich sonderlich berichtenswert. Er schreibt knapp und ein wenig pflichtschuldig und mit viel zu hastiger Handschrift, weil er den Brief gleich aufgeben möchte. Das einzig Wichtige sei, so schreibt er, eine Wohnung oder wenigstens ein Zimmer zu finden, «wo wir für uns sein und ein wenig Wasser warm machen und uns ein Zuhause schaffen können, sodass Du Dich in den Zug setzen und herkommen kannst».
Auch Sorgen macht er sich um sie, das merkt man, übertriebene Sorgen, könnte man meinen. «Sei vorsichtig beim Radfahren und wenn Du badest», schreibt er, als wäre sie ein kleines Kind. Knapp ein Jahr lang sind sie nun fast ununterbrochen zusammen gewesen, nachdem sie fast zwei Jahre lang ununterbrochen voneinander getrennt waren, falls man das so ausdrücken kann. Ja, vielleicht ist voneinander getrennt nicht der geeignete Ausdruck, wenn der Ort, an dem man voneinander getrennt wurde, die Selektionsrampe in Auschwitz-Birkenau war. Und sich umeinander Sorgen machen ist vielleicht nicht der geeignete Ausdruck, wenn alles, von dem man befürchten kann, dass es einem Menschen zustoßen könnte, ihnen beiden bereits zugestoßen ist, abgesehen von dem, was man sich nicht vorstellen konnte, was aber dennoch geschehen ist, alles, nur das Letzte nicht, das nach wie vor geschehen kann, aber keinesfalls geschehen darf, und wofür das Wort Sorge nicht länger angebracht zu sein scheint. Nicht wenn sich eine Sorgenmasse, groß genug, um eine Welt zu vergiften, konzentriert zu einem einzigen, schwarzen Tropfen aus ätzender Angst, ununterbrochen über dem zurzeit schwächsten Punkt in dieser höchst unwahrscheinlichen und deshalb noch nicht ganz wirklichen Beziehung zweier junger Menschen schwebt, die zuletzt auf der Selektionsrampe in Auschwitz-Birkenau voneinander getrennt wurden. Oder, nein, die zuletzt auf einem Bahnsteig in Alingsås voneinander getrennt wurden.
Doch lässt sich der eine Abschied vom anderen Abschied nicht mehr so leicht unterscheiden. Nein, sie darf beim Radfahren nicht ums Leben kommen oder in einem See ertrinken oder auf einer Treppe stolpern oder irgendeinem denkbaren oder undenkbaren Ereignis zum Opfer fallen, das den letzten, dünnen Draht zu einem neuen Leben zerschneiden würde. «Um mich musst Du Dir absolut keine Sorgen machen», fügt er übermütig hinzu. «Und morgen Vormittag werde ich mich um diese Stelle in der Lastwagenfabrik bewerben, die ich, wie M. meint, aufgrund meiner ausgezeichneten ‹Meriten› ganz sicher bekomme, und schon heute werde ich meine arme Wirtin fragen, die ihren Mann verloren hat, ob nicht bald ein Zimmer frei wird, und ich mache mir, wie gesagt, schreckliche Sorgen um Dich, und nicht eine Sekunde lang entlasse ich Dich aus meinen Gedanken, und eigentlich wäre es vielleicht am besten gewesen, wenn Du mit mir gefahren wärst, denn dann hätten wir uns keine Sorgen machen müssen, und alles wäre bestimmt trotzdem in Ordnung gekommen. Und bestimmt kommt recht bald alles in Ordnung, und bald wirst Du hier bei mir sein.»
Als Absenderadresse gibt er an: R 639 B. Södertälje. Was ist das für eine Adresse? Keine Straße, kein Name, nur ein Code. Die Adresse einer weiteren Baracke, in einem weiteren Lager? Kann man einer solchen Adresse einen Antwortbrief zustellen? Wie lange darf eine solche Adresse sie trennen?
Zwei Tage später beginnt er die Arbeit in der großen Lastwagenfabrik. Seine Aufgabe besteht im Verschweißen von Benzinrohren auf Fahrgestellen. Probleme, die Stelle zu bekommen, hatte er nicht. «Ordentlich und fleißig», hat der Personalchef der Baumwollweberei von Alingsås mit der Maschine auf Firmenpapier geschrieben, mehr braucht der Personalchef von Scania-Vabis vermutlich nicht zu wissen, sicherheitshalber erfährt er aber noch, dass der vor ihm stehende Mann obendrein Erfahrungen in der Lastwagenproduktion hat. «Drehen von Lastwagenachsen bei der Firma Büssing in Braunschweig/Vechelde von September 1944 bis März 1945», trägt er pflichtschuldig in der neu angelegten Personalakte unter «Erfahrungen und Qualifikationen» ein. Nicht weil das, wie gesagt, eine besondere Rolle spielen würde. Die Nachfrage nach Lastwagen ist zu dieser Zeit in Europa so groß, dass Scania-Vabis sie mit seiner Produktion nicht befriedigen kann, und Scania-Vabis benötigt mehr Arbeiter, als zu dieser Zeit verfügbar sind. Viele europäische Lastwagenfabriken sind noch zerstört und können die vielen Lastwagen nicht herstellen, die zu ihrem Wiederaufbau benötigt werden, ganz abgesehen von all dem anderen, was in Europa wiederaufgebaut werden muss und wozu man Lastwagen benötigt. Was Scania-Vabis einen Konkurrenzvorteil gewährt gegenüber beispielsweise den Büssing-Werken in Braunschweig, die in den vergangenen zwei Jahren überhaupt keine Lastwagenachsen drehen konnten.
Zwei Wochen später ergibt sich unter der Postadresse R 639 B in Södertälje eine weitere Möglichkeit, und die Sorgen, die sich auf andere Weise nicht vertreiben lassen, werden vertrieben, indem die Frau, die meine Mutter werden wird, mit dem Zug zu dem Mann fährt, der mein Vater werden wird, um sich mit ihm ein möbliertes Zimmer ohne Küche zu teilen. Dort wärmen sie an frühen, rasch dunkler werdenden Herbstmorgen auf einem umgedrehten Bügeleisen heimlich ihr Teewasser, bevor er sich auf den Weg zur Lastwagenfabrik macht und sie zur Arzneimittelfabrik und nach einiger Zeit zu der Konfektionsfabrik in Familienbesitz, wo sie im Akkord und zu Musikbegleitung Futter in Mäntel näht. «Die Mädchen mögen keine Marschmusik, sonst alles, von klassischer Musik bis zu populären Ohrwürmern», sagt der Direktor gegenüber der Lokalzeitung. Sie ist jung und flink, hat schon ein Jahr Erfahrung als Näherin in einer Wäschefabrik, der Sveriges Förenade Linnefabriker AB in Alingsås, und an einem guten Tag und bei acht Stunden Arbeit kann sie auf 75 Öre in der Stunde kommen, was ihnen zusammen mit dem geringen, aber höheren Lohn aus der Lastwagenfabrik einen festeren Boden unter den Füßen garantiert. Schon am 1. Oktober 1947 erhalten sie zur Untermiete eine Einzimmerwohnung, mit Kochnische und richtiger Adresse, Villagatan 22. Unter dieser Adresse, in einem Haus, an das ich keine Erinnerungen habe, wird ein Jahr später der junge Mann mein Vater und die junge Frau meine Mutter.
In jenes Haus, an das ich umso mehr Erinnerungen habe, ziehen wir nach einem weiteren Jahr, oder nach zwei Jahren, die Unterlagen sprechen für das eine, die gealterte Erinnerung für das andere, aber das spielt keine Rolle. Dort nimmt alles seinen Anfang, im Haus unterhalb des Bahnhofs, an dem der junge Mann, der mein Vater sein wird, im Jahr 1947 an einem Augustnachmittag aus dem Zug steigt, in jenem Haus, das auf der linken Waggonseite liegt, wenn man mit dem Zug aus nördlicher Richtung kommt, über die Brücke.
Eben das ist der Ort. Genau hier erhält meine Welt ihre ersten Farben, Lichter, Schatten, Gerüche, Laute, Stimmen, Gesten, Namen, Worte. Ich bin mir nicht sicher, ab welchem Alter die Erinnerung eines Menschen einsetzt. Manche behaupten, sie könnten sich an Dinge aus ihrem zweiten Lebensjahr erinnern, meine ersten Erinnerungen sind Schnee und Kälte, und deshalb sind sie vermutlich jünger, da ich im Oktober geboren bin. Ganz sicher bin ich mir aber, dass diese Welt, bereits bevor mein Erinnerungsvermögen einsetzt, in so vielem ihre Spuren hinterlassen hat, weshalb auch das, woran ich mich nicht mehr erinnern kann, nicht vergessen ist. Dies ist der Ort, der mich prägen wird, auch wenn ich glaube, ganz sicher zu sein, dass ich mich selbst geprägt habe.
Das ist der Unterschied zwischen ihnen und mir. Sie sind der Welt zum ersten Mal an einem völlig anderen Ort begegnet, und sie tragen eine völlig andere Welt in sich. So vieles hat für sie bereits begonnen, so vieles wurde bereits beendet, und noch immer ist nicht sicher, ob hier etwas wieder von vorn beginnen kann, weil es so vieles gibt, an das sie sich nicht erinnern können oder nicht mehr erinnern wollen, so vieles auch, was sie nicht vergessen können. Farben, Licht und Dunkel, Gerüche und Geräusche und Stimmen an diesem Ort erinnern sie häufig an etwas anderes, ohne dass sie sich stets bewusst wären, woran. Denn damit es ihnen dennoch gelingt, auch von diesem Ort einigermaßen Besitz zu ergreifen, müssen sie ihn gut genug kennenlernen und es ihm gestatten, in ihrem Inneren Spuren zu hinterlassen, die tief genug sind, um gerade an diesen Ort zu denken, wenn sie nachts einen Güterzug vorbeirattern hören oder den Geruch von gebratenem Salzhering im Treppenhaus wahrnehmen oder unter hoch aufragenden Kiefern spazieren gehen oder auf einen Windhauch von Teer und Binnenmeer treffen oder im Herbst das Leuchten der Vogelbeeren sehen, oder wenn sie ihre Kinder betrachten.
Früh an den Ort gefesselt werden sie durch das KIND, bei dem es sich zufällig um mich handelt. Ich will meine eigene Bedeutung in diesem Zusammenhang nicht überschätzen, und ich kann mich irren, aber ein Kind verkompliziert eine Weiterreise zumindest in praktischer Hinsicht. Weiterzureisen mit der Hoffnung im Sinn, dem Koffer in der Hand und dem Hut auf dem Kopf ist eine Sache. Mit einem Neugeborenen weiterzureisen ist etwas völlig anderes. Im Interesse des Kindes muss ein kurzer Aufenthalt auf unbestimmte Zeit verlängert werden, und große Pläne, die sich mit der Weiterreise verbinden, werden gegen kleine Pläne eingetauscht, die sich auf den Ort beschränken, an dem sie sich zufällig befinden, was der Ort mit einem Wunder bestätigt.
Wohnungsnot ist eines der ersten Wörter, das die Sprache dieses Ortes ihnen aufnötigt. Mangel an Wohnungen und Wohnungsnot. In der Lokalzeitung, sie heißt Stockholms Läns & Södertälje Tidning, in der Alltagsprache kurz Länstidning genannt, eine Reportage über eine Familie, die am Strandbad in einem Zelt lebt. Mehr als fünfhundert Bewerber auf sechzig Wohnungen. Über die Junggesellenbaracken der Lastwagenfabrik. «Die katastrophale Wohnungsnot in grellem Licht», schreit die Titelseite am 19. Juli 1948.
Nicht dass sie die Lokalzeitung lesen können müssten, um das zu wissen. Alle im Ort können berichten, dass eine eigene Wohnung ein Wunder ist.
Und dennoch tritt es ein. Eine fast neu errichtete Wohnung mit einem kleinen Zimmer und einer kleinen Küche, einem Badezimmer mit Toilette und fließendem Warmwasser, einer mit Holz beheizten Waschküche im Keller des Nachbarhauses und mit der Luke des Müllschluckers im Treppenhaus, mit einem Briefschlitz und einem Namensschild an der Wohnungstür. In dem kleinen Zimmer eine elegante Bettcouch, ein in der Höhe verstellbarer Ausziehtisch und vier dazu passende Stühle mit stoffbezogener Sitzfläche. In einer Schlafnische ein Kinderbett. In einer Ecke, auf einem kleinen Zeitungstisch, ein Radioapparat der Marke Philips, auf dem ein weißes Spitzendeckchen liegt. Irgendwo auch ein Wäscheschrank mit Schubladen für Laken, Handtücher und Kinderbekleidung. In der Küche ein Schlafsofa aus hellem Holz, ein Kühlschrank und eine Spülbank, ein Wandschrank mit grau gestrichenen Masonitschüben, ein blau gemustertes, sechsteiliges Essservice. An der Wand über dem Radio ein Ölgemälde, gelbe und rote Blumen in einer blauen Vase. Im Fahrradkeller zwei gebrauchte Fahrräder, die an Haken unter der Decke hängen, eines davon mit Kindersitz. Ich suche auch nach einem Sportkinderwagen, kann ihn aber nicht recht unterbringen. Ich weiß nur, dass er irgendwo Platz gefunden haben dürfte, so wie es später auch Platz gegeben haben muss für eine Spielzeugeisenbahn aus Holz, ein Regal mit Kinderbüchern aus der Stadtbibliothek und eine in Fächer unterteilte Kiste mit dem Grundsortiment eines Metallbaukastens und einigen wenigen, aber kostbaren Automobilmodellen aus Metallguss, darunter ganz bestimmt ein schwarzer Volvo PV 444. In einer Wohnung, die aus einem einzigen Zimmer besteht, lässt sich leicht erkennen, wie viel Platz selbst ein Einzelkind benötigt.
In dieser Wohnung beansprucht das Kind mehr Raum, als es sich mit den Augen feststellen lässt. Um das Kind herum ein wachsendes Gewebe aus ehrgeizigen Zielen und Plänen. Der kleine Pappkarton mit handgesägten, mit der Hand beschrifteten hölzernen Buchstabentäfelchen ist nicht nur ein SPIELZEUG, sondern auch ein PROJEKT, und die immer neuen Buchstabenkombinationen, die das Kind zusammen mit dem jungen Mann, der nun sein Vater ist, an langen Sonntagnachmittagen auf dem Fußboden des Wohnzimmers bildet, sind nicht nur die Wörter einer neuen Sprache, sondern auch die Bausteine einer neuen Welt. Das Projekt Das Kind soll sich den Ort aneignen, damit ihnen eine neue Welt möglich wird erfüllt rasch die kleine Wohnung mit seinem unsichtbaren Inventar aus Träumen und Erwartungen. Die beiden Neuankömmlinge brauchen schließlich kein Dach über dem Kopf, sondern festen Boden unter den Füßen, und wo das Kind Wurzeln schlagen kann, finden vielleicht auch sie mit der Zeit Grund.
Das Kind bin also ich. Und der Ort, den ich zu ihrem machen werde, indem ich ihn zu meinem mache, hat sein geographisches Zentrum in einem gelb verputzten Wohnblock mit zwei Hauseingängen, drei Stockwerken und achtzehn Wohnungen. Unterhalb von Bahnsteig eins des Bahnhofs, an dem die großen Personenzüge auf dem Weg nach Süden stets einen kurzen Aufenthalt einlegen, auch die Schnellzüge, auch die Nachtzüge, auch die Züge nach Kopenhagen und Hamburg. Vom Küchenfenster und vom Wohnzimmerfenster der kleinen Einzimmerwohnung im Wohnblock am Wald kann man sehen, wie sich in den Waggons Menschen bewegen. Und Menschen bewegen sich mit den Waggons. Mit jedem Zug eine neue Welt hinter den spiegelnden Wagenfenstern, stumm, sich ihres kurzen Aufenthaltes in jener Welt, die zu meiner Welt werden soll, nicht bewusst.
Es heißt, auch ausländische Könige hätten hier kurz Aufenthalt eingelegt und seien von fähnchenschwenkenden Menschen auf dem Bahnsteig begrüßt worden, während ihre Salonwagen zum königlichen Frühstück auf ein Nebengleis rangiert und an den Hofzug des schwedischen Königs angekuppelt wurden, zur letzten Paradefahrt hinein nach Stockholm Central und zum königlichen Schloss. An eine solche Welt vor unserem Küchenfenster aber habe ich keine Erinnerung. Vermutlich war das vor dem Krieg, ehe unser Haus erbaut wurde und bevor es mich gab. Als jemand, der zufällig aus dem Wagenfenster in unsere Richtung schaute, nur Sandheide und lichten Kiefernwald sah.
Ganz sicher ist hingegen, dass einige Monate nach Kriegsende der US-amerikanische Panzergeneral Patton an Bahnsteig eins einen kurzen Aufenthalt einlegte, bevor er den Zug 21.53 nach Malmö bestieg. Früher an diesem Tag hatte er dem sörmländischen Panzerregiment in Strängnäs einen Besuch abgestattet und den 22 Tonnen schweren schwedischen Panzer Modell 42 und den in Schweden produzierten gepanzerten Truppentransporter SKP studiert und war zu dem Ergebnis gelangt, dass der schwedische Wagen besser sei als sein amerikanisches Gegenstück. Vielleicht wollte er auch nur höflich sein. Und außerdem nicht ganz konform mit der amerikanischen Militärführung, die ihm gerade den Befehl über die 3. US-Armee entzogen hatte. Das war am Abend des 3. Dezember 1945, und eine große Menschenmenge hatte sich auf dem Bahnhof versammelt, um «den berühmten General zu feiern». Als sich der Zug mit Patton in Richtung Süden in Bewegung setzte, hörte man laute Hurrarufe. Auch dies geschah vor meiner Geburt, zu dieser Zeit aber stand das Haus bereits auf seinem Parkettplatz, gerade fertiggestellt und frisch bezogen, und vielleicht hatten einige der soeben Eingezogenen an jenem späten Dezemberabend eines ihrer Fenster zum Bahnsteig geöffnet, um flüchtig jenen Mann zu sehen, der nur ein Jahr zuvor den deutschen Widerstand in Nordfrankreich mit einer aufsehenerregenden Kombination aus Genialität und Rücksichtslosigkeit niedergeschlagen hatte. George S. Patton lautete sein voller Name. Ich erinnere mich an ihn nur als George S. Scott in Patton – Rebell in Uniform und hätte darum zurückhaltender «Hurra» gerufen. Jene aber, die ohne den geringsten Vorbehalt den echten Patton auf dem Bahnsteig vor unserem künftigen Küchenfenster mit Hurrarufen feierten und vielleicht noch die Unruhe des Krieges in den Knochen hatten und ihn leibhaftig den Zug nach Malmö besteigen sahen, haben vermutlich nie vergessen, was sie gesehen hatten, denn sie sollten zu den Letzten gehören, die George S. Patton lebend sahen. Knapp drei Wochen später, am 21. Dezember 1945, starb er an den Folgen eines Autounfalls in der Nähe von Mannheim im besiegten und besetzten Deutschland.
Meine erste eigene Erinnerung an den Bahnhof vor dem Küchenfenster sind im Übrigen jene Züge, die niemals anhalten und niemals enden, sondern endlos durch die Nächte donnern mit ihren dicht aneinandergekuppelten Karawanen aus offenen und geschlossenen Güterwagen, ächzend und wimmernd wie überladene Kettensträflinge auf Strafexpedition. An sie erinnere ich mich vor allem, weil sie mich als Erste wecken, wenn die Fensterscheiben klappern und die Räder gegen die Schienenstöße schlagen und knisternde Blitze von den zwei vorgespannten Loks die Gardinen durchschneiden und sich ein sumpfiger Geruch nach Chemikalien und Fäulnis vom Bahnsteig herunter in unsere Betten und in unsere Träume wälzt.
Auf dem schmalen Landstreifen zwischen den Wohnblocks und der steilen Böschung, die hinaufführt zu dem Zaun vor den Bahnsteigen, haben die Architekten des Ortes einige der ursprünglichen Kiefern stehen lassen, und zwischen den Stämmen durfte sich Gras und Weißklee ausbreiten. Dort liegt mein erster Spielplatz. Im Gras suche ich nach vierblättrigen Kleeblättern und spiele zwischen den Baumstämmen Verstecken und lege Kiefernrindenstückchen in die Wasserpfützen auf dem Fußweg unterhalb des Bahndamms. Ein vierblättriges Kleeblatt ist ein frühes Zeichen für Glück, ein doppeltes vierblättriges Kleeblatt ein frühes Wunder. Nach und nach werden die Spiele kühner und anspruchsvoller und dehnen sich immer weiter in den Nachmittag aus und können nicht unverzüglich abgebrochen werden, weil jemand das Küchenfenster öffnet und ruft, es sei Zeit, nach Hause zu kommen. Chodź do domu, ruft die Stimme aus meinem Küchenfenster. Das ist die junge Frau, die nun meine Mutter ist, und sie ruft in der ersten Sprache, die ich erlerne, und der ersten Sprache, die ich vergesse. Im Winter wird der größte Grasfleck zwischen den Kiefern mit Wasser begossen, und die größeren Jungen kommen mit ihren Hockeyschlägern herunter, die Spiele werden härter, und es wird früher dunkel, und die Rufe aus dem Fenster klingen besorgter. Und bald erfolgen sie in einer anderen Sprache.
Nichts wollen sie dem Zufall überlassen. Nichts soll zwischen dem Kind und dem Ort stehen. Kein fremdes Wort. Keine fremden Namen. Nichts, was verhindern könnte, dass das Kind für sie alle Fuß fasst. Als ihnen auffällt, dass die ersten Worte des Kindes zu einer fremden Sprache gehören, zwingen sie sich, das Kind in einer Sprache anzusprechen, die ihnen noch fremd ist, und ihm zeitig Bücher in dieser neuen Sprache in die Hand zu geben und zeitig die Worte dieser neuen Sprache mit selbstgebastelten Buchstabentäfelchen auf dem Boden des Wohnzimmers auszulegen.
Das Kind haben sie auf Anraten neuer Freunde mit dem gebräuchlichsten Jungennamen der neuen Sprache versehen. Der Name ist wichtig, haben die Freunde gesagt. Ein fremder Name sticht heraus und wird zur Belastung. Damit wurde der ursprünglich ins Auge gefasste Name Gershon, nach dem Großvater des Kindes, ausgestochen von Göran, einem Namen, der wie geschaffen scheint, um Fremde von Einheimischen zu unterscheiden, wobei das Trennende in der heiklen Betonung des langen Ös liegt. Sie hätten ihn auch Jakob nennen können, nach dem Großvater mütterlicherseits, was einfacher auszusprechen gewesen wäre und eigentlich überhaupt nicht aufgefallen wäre, da dieser Name auch hier zu Hause ist, aber ich glaube, sie wollten in der Namensfrage ganz einfach sichergehen. Den Namen Jakob erhält er zusätzlich, aber einen zweiten Vornamen ruft man nicht aus dem Küchenfenster.
Bei der SPRACHE haben sie richtig kalkuliert. Vielleicht auch beim Namen, das aber lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Sicher ist hingegen, dass das Kind zunächst durch die Sprache mit dem Ort verbunden ist. An diesem Ort nämlich sieht das Kind alles zum ersten Mal, und das heißt wirklich alles, ohne die müde Unterscheidung, die sich mit dem Wissen einstellt, wie alles auf der Welt zu heißen habe, und mit der Erfahrung, wie alles auf der Welt aussehen müsse.
Der erste Vogel ist ein Haussperling in der Berberitzenhecke vor dem Milchladen. Das erste Eichhörnchen klettert über die erste Rinde der ersten Kiefer vor dem Küchenfenster. Am ersten Schulweg erhebt sich der erste Waldrand. Der erste Waldweg ist bedeckt von den ersten warmen Tannennadeln, und an seinem Rand stehen die ersten Blaubeersträucher. Der erste Surströmmingsgestank kommt von Hedmans im ersten Stock. Die erste Straße heißt Hertig Carls väg und wird gesäumt vom ersten Trottoir (spiel nur auf dem Trottoir!), dem ersten Fahrradweg (gib auf die Fahrräder acht!) und den ersten Ebereschen. Er ist auch mit den ersten Pflastersteinen gepflastert, auf denen die ersten Autoreifen gummiartig tuckern und wummern. Das erste Auto gehört dem Papa von Anders aus der Wohnung nebenan und muss ab und zu mit der Kurbel gestartet werden und hat eine Windschutzscheibe, zu der ich nicht hinaufreiche, wenn wir auf dem Fahrersitz spielen und am Lenkrad drehen dürfen. Die ersten Müllmänner meines ersten Müllwagens hängen die ersten Mülltonnen in eine Hebevorrichtung auf der Rückseite des Müllautos ein und drücken einen Knopf, sodass die Mülltonne in die Höhe fährt, gegen eine runde Öffnung gepresst und nach vorn gekippt wird, wodurch der Müll in den Bauch des Müllautos fällt, die letzten Reste werden durch Betätigung eines Hebels herausgeschüttelt, die Tonne wird wieder heruntergelassen, ausgehängt und auf starken Rücken zurückgetragen in den geheimnisvollen Raum hinter der verschlossenen Tür im betonkalten Keller des neuerbauten Wohnblocks, in dem wir wohnen. Mein erstes Müllauto ist vom Typ Norba, es wurde in drei kostspieligen Exemplaren von der Stadtreinigung Södertälje erworben und wird als Schritt zu einer zunehmend hygienischeren, bequemeren Müllbehandlung bezeichnet, da es über eine «haubenförmige Öffnung zur staubfreien Entleerung, eine mechanische Schüttung nebst einer Förderschnecke zur Verteilung des Mülls im Laderaum sowie eine Kippanlage zum Entladen des Wagens» verfügt. Mein erster Müllschlucker ist vermutlich ein Rückschritt, da der Schacht, der den Müll hinunter in den Müllraum befördert, falsch angelegt wurde und am Ende einen Knick aufweist, was mit sich bringt, dass der Müll gelegentlich stecken bleibt und der Müllschlucker verstopft ist. Und das, obwohl die Verordnung der Baubehörde über die Errichtung von Müllabwurfeinrichtungen klar und deutlich festlegt, dass der «Schacht in seiner gesamten Erstreckung vertikal und gerade zu verlaufen hat und am unteren Ende mit seiner gesamten Fläche über einem Müllbehälter enden muss, und zwar dergestalt, dass der innere Rand des Schachts mindestens 5 cm innerhalb des Müllbehälterrandes liegt». Dort steht auch, dass der «Müllraum mit elektrischer Beleuchtung ausgestattet» sein muss, «sodass der Müllraum in seiner Gesamtheit ausreichend beleuchtet ist». Mein erster Müllraum ist nicht ausreichend beleuchtet. Er ist dunkel und kalt und verströmt einen süßlich-sauren Geruch nach Küchenabfall und einen herben Hauch von feuchtem Beton.
An einem frühen Morgen darf ich mit dem ersten Müllmann auf meinem ersten Müllwagen mitfahren, während die beiden Neuankömmlinge, mein Vater und meine Mutter, noch auf der Ausziehcouch im Wohnzimmer schlafen, das Rollo ist heruntergelassen, und auf der Straße ist es still, abgesehen vom Tschilpen der Spatzen in der Berberitzenhecke und dem Bremsenknirschen der ersten nach Süden fahrenden Morgenzüge. Meine ersten Morgen sind immer früh und immer hell, und an einem solchen Morgen schleiche ich mich aus der Wohnungstür, über die Treppe vor dem Eingang, hinaus auf das von der Sonne beschienene Trottoir, weil ich nicht die Geduld habe, weiter auf dem Schlafsofa in der Küche zu liegen, und die beiden nicht wecken will, die schlafen, bis der Wecker klingelt und die Straße von den Rufen und den Geräuschen der anwachsenden Fahrradkarawane erfüllt wird, die mit rasselnden Fahrradketten und knirschenden Sätteln und ihrer täglichen Ladung aus gefüllten Frühstücksbehältern und halb schlafenden Rittern durch die Ebereschenallee rollt.
So nehme ich früh den Ort in Besitz, ohne dass sie etwas bemerken, manchmal sogar, während sie schlafen. Ich habe die Anweisung erhalten, nicht mit Fremden mitzugehen und nichts von fremden Menschen anzunehmen. Aber die Müllmänner sind keine fremden Menschen. Sie gehören zum Ort wie die Schauermänner und die Seeleute im Außenhafen, wo ich meine erste Plötze fange, und die weißgekleideten Bäcker und die Verkäuferinnen in der Bäckerei auf der anderen Straßenseite, wo ich mein erstes knuspriges Brötchen kaufe und wo man aus einer Öffnung in der Ladentheke mit einem Litermaß, das an einem langen Stiel befestigt ist, meine erste Milch schöpft. Die Spezialität der Bäckerei ist ein süßes Brot, das sich SS-Laib nennt, weil die Bäckerei den Namen SS-Bäckerei trägt, nach dem Ort, der Södertälje Södra heißt, aber dieses Brot kaufen wir nicht. Betritt man den Milchladen, befinden sich unmittelbar links meine ersten Limonadenflaschen in dunkelgrünen Holzkästen, die an der Wand übereinandergestapelt sind. Die allererste Limonade heißt Pomril und schmeckt nach Apfel.
Im Führerhaus des Müllautos darf ich mitfahren vom einen Ende der Ebereschenallee, wo unser Haus steht, das letzte Haus vor dem Waldrand, an dem der Weg zum STRANDBAD beginnt, bis zu jenem Ende der Allee, an dem die Wohnblocks aufhören und die Straße scharf nach links abknickt und unter einem Eisenbahnviadukt verschwindet. Der Wald und der Weg zum Strandbad gehören zum Hoheitsgebiet, nicht aber die Straße hinter dem Eisenbahnviadukt. Hinter dem Eisenbahnviadukt liegt die große Fabrik, die Fahrradkarawanen verschlingt und Lastwagen ausspuckt und hinter deren Toren sich eine Welt verbirgt, für die ich keinen Namen habe. Papa ist Rohrmonteur, was aber Rohrmonteur mit Papa zu tun hat, weiß ich nicht. Er kann ebenso gut Gießer sein, Bohrer, Ritzer, Schreiber, Klempner, Hollerithkartenoperator, Direktor, Schmied, Vorarbeiter, Feiler, Lagerverwalter oder Ingenieur. Die Wörter aus der Welt hinter den Fabriktoren kann man nicht sehen oder anfassen, man kann nicht an ihnen riechen, und darum kann man mit ihnen nichts, was zu meiner Welt gehört, benennen. Das unterscheidet früh jene Welt, die ich zu meiner Welt machen kann, von jener Welt, die Papa versuchen muss, zu seiner zu machen, da er jeden Morgen um sieben Uhr mit seinem Fahrrad hinter etwas verschwindet, das Chassistor heißt, und ich ihn erst wiedersehe, wenn Mama aus dem Küchenfenster ruft, das Essen sei fertig.
Die Grenzen meiner Welt sind scharf und voller Verbote, und den beiden Müllmännern, die mich im Führerhaus auf den Platz mit der besten Aussicht gesetzt haben, ist sehr wohl bekannt, wo sie verlaufen; die stark befahrenen Eisenbahngleise der Hauptstrecke, die Eisenbahnüberführung über die Straße, die Eisenbahnbrücke über den Kanal, der Kanal selbst, die steilen Kais im Außenhaufen, die scharfspitzigen Zäune um die Fabriken und die Kohlenlager an der Hallbucht.
Stahl und Wasser. Zäune und Einbahnstraßen. Barrieren und jähe Abgründe.
Der einzige Weg, der nicht mit etwas Hartem, Undurchdringlichem endet, ist der, wo die Pflastersteine enden und Wald beginnt und der im Frühjahr gesäumt wird von Schlüsselblumen und Maiglöckchen, und der im Sommer voller Fahrräder ist und nach und nach von Autos, und der während der langen Sonntagsspaziergänge mit Papa überhaupt kein Ende zu nehmen scheint. Das ist der Weg zum Strandbad an der Ostsee, der in einen Sandstrand ausmündet. Das Strandbad ist die offenste, einladendste meiner Begrenzungen, eine Grenze aber ist es, nur bis hierher führt der Weg, und größer kann meine Welt nicht werden.
Das im Großen und Ganzen neu errichtete Gebiet, in dem das Müllauto vor jedem Haus hält und jeden Müllraum entleert und sorgfältig die Reste aus jeder Mülltonne klopft, ist gerade so groß, dass es von einem Kind früh zu Fuß erforscht werden kann. In Wirklichkeit handelt es sich um eine gnadenlos zernierte Enklave, bestehend aus einer Bahnstation aus roten Ziegelsteinen mit zugehörigen Dienstwohnungen, sechzehn neu erbauten, gelb oder grau verputzten dreistöckigen Wohnhäusern auf beiden Seiten einer gepflasterten Allee, etwas kleineren Nebenstraßen mit zweistöckigen Einfamilienhäusern, einem Platz, zwei Spielplätzen, einem Kinderhort, einem Postamt, zwei Lebensmittelläden; «Klings», wo am Schaufenster zur Kühlung Wasser hinunterläuft, und «Konsum», mit der ersten Tiefkühltheke; einem Tabakladen, einem Kurzwarenladen, einer Bäckerei und einer Konditorei. Auf dem Platz vor dem Bahnhofsgebäude ein Zeitungskiosk von Pressbyrån und ein Telefonhäuschen, unter dessen herausnehmbarem Bodenrost verlorene Zehn-Öre-Stücke blitzen. Es ist ein perfekt umfriedetes Idyll, das man nur betreten oder verlassen kann, indem man durch dunkle Eisenbahnunterführungen oder über schwindelerregende Eisenbahnbrücken geht oder über verbotene Bahndämme klettert oder auf trügerische Eisschollen springt oder Löcher in Zäune reißt, die mit Totenköpfen markiert sind.
Andererseits ist dies ein Ort, den man leicht erforschen und in Besitz nehmen kann. Nicht nur, weil er so klein und begrenzt ist, sondern auch, weil er so neu ist. Ja, tatsächlich fast geschichtslos. Kurz zuvor hat es hier überhaupt keine Menschen gegeben, nur Nadelwald und Heideland, kurz zuvor ist die Eisenbahn hier noch nicht entlanggefahren, und das war auch nicht beabsichtigt gewesen. Kurz zuvor sollte hier noch etwas ganz anderes entstehen, etwas Großartiges, Visionäres. Noch kurz zuvor hatte sich hier aus ungeordnetem Brachland eine bis ins Einzelne geplante Idealgemeinde erheben sollen. Aus dem «Waldgebiet Näs südlich der Stadt» hatte ein Eigenheim-Paradies für Arbeiter werden sollen; gruppenweise arrangierte Einfamilienhäuser mit jeweils einem Stückchen Gartenland, eine von Parks und Hügeln durchbrochene Promenade, ein Marktplatz mit Markthalle, ein Badehaus, auf einer kleinen Anhöhe eine Kirche, unten bei den Fabriken ein Volks- und Stadtpark, ein Badestrand.
Erst viel später im Leben erfahre ich, dass es sich bei dem Ort, an dem ich die Welt mit meinen ersten Worten benenne, um einen verunglückten Planungstraum handelt.
1901