Planetenroman

 

Band 23

 

Expedition der Todgeweihten

 

Sie brechen auf – zu einer Reise ohne Wiederkehr

 

Peter Terrid

 

 

 

Die Geschichte der Menschheit ist voller Tragödien. Eine davon ereignete sich im Jahr 2326 alter galaktischer Zeitrechnung: Das Geisteswesen ES entzog den Terranern die Möglichkeit, mittels Zelldusche für einen Zeitraum von 62 Jahren relativ unsterblich zu werden. Als Ersatz gab es 25 Zellaktivatoren.

25 Unsterblichkeit spendende Geräte – für Hunderte möglicher Empfänger. Was geschah mit jenen Männern und Frauen, die keinen Zellaktivator zu erhalten hofften? Sie verschwanden, kehrten Terra schweigend den Rücken. Einzig eine Funksonde im All weist den Weg zu ihnen.

Jahrzehnte danach geht Reginald Bull gemeinsam mit einigen Nachkommen der Todgeweihten daran, das Schicksal der Verschwundenen zu klären. Die Spur führt sie nach Shakootee, einer Welt der tödlichen Überraschungen ...

Das Sterben der Unsterblichen – kosmische Tragik

 

Es ist unbestritten, dass der kosmische Weg der Menschheit dank der Vergabe der relativen Unsterblichkeit der Superintelligenz ES eine starke Beschleunigung erfuhr. Statt jede Generation die Anführer auswechseln zu müssen, konnten die Terraner auf Kontinuität setzen. Oder zumindest in längeren Zeiträumen planen, als dies normalerweise üblich ist.

Wie zu Beginn des Kapitels bereits beschrieben, musste sich Perry Rhodan schon sehr früh, nur fünf Jahre nach Gründung der Dritten Macht, dem Galaktischen Rätsel stellen. Nach dessen erfolgreicher Lösung wartete die Verleihung der relativen Unsterblichkeit in Form einer 62 Jahre währenden Zelldusche, die alle Altersfunktionen stoppte. Vor Ablauf dieser Zeit musste der Vorgang allerdings wiederholt werden, sonst drohte der sofortige Tod durch explosiven Zellverfall.

Waren es anfangs nur wenige unter Perry Rhodans engsten Mitarbeitern, die in den Genuss dieser lebensverlängernden Kur kamen, steigerte sich die Zahl schnell. Zu einfach war die Methode, bewährte Kräfte über ihre normale Lebenszeit hinaus jung und aktiv zu erhalten, zu groß der Nutzen für das Solare Imperium. Die Vergaben der Zellduschen sowie die Flüge nach Wanderer, der Heimat des Geisteswesens ES, wurden genau geplant und mit sicherem Vorlauf gebündelt durchgeführt, damit es keine Zwischenfälle gab. Das Imperium erblühte dank der etwa 200 Zellgeduschten zu Beginn des vierundzwanzigsten Jahrhunderts.

Im März des Jahres 2326 n.Chr. kam es zu einer Krise, die die Grundfesten des Solaren Imperiums erschütterte: ES floh vor einer seinerzeit unbekannten Gefahr und zerstörte Wanderer – und damit das Physiotron, das die Unsterblichkeit spendete. Seine Rolle nahmen 25 Zellaktivatoren ein, die ES in der Milchstraße verstreut hatte. Diese mussten die Terraner aber erst finden. Und dann war die Frage zu lösen: Wer von den fast 200 relativ Unsterblichen erhielt einen Aktivator, wer durfte weiterleben? Zu leicht, zu verführerisch war der leichte Zugang zur Langlebigkeit gewesen. Entsprechend schwer wogen auf einmal die nötigen Konsequenzen.

Perry Rhodan als Großadministrator des Solaren Imperiums verfügte über umfassende Rechte – es war letztlich seine Entscheidung. Hätte er sie gerecht fällen können? Wir werden es nie erfahren. Während Rhodan mit Reginald Bull, dessen Zelldusche kurz vor dem Ablaufen stand, in den Weiten der Galaxis unterwegs war, nahmen ihm einige seiner engsten Gefolgsleute die Entscheidung ab.

Der Historiker ist geneigt, ihr selbstloses Opfer zu einer der großen Sternstunden der kosmischen Menschheit zu zählen ...

(aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 14. Jahrhunderts NGZ; Kapitel 3.0.4, Voraussetzungen: Die relative Unsterblichkeit)

Kapitel 1

 

Als der Türsummer sich zum vierten Mal meldete, wurde Kamee Nyssen wach. Sie wollte wie gewohnt aus dem Bett springen, aber die Folgen einer ebenso langen wie feuchten Nacht warfen sie sofort wieder zurück in die Kissen. Die junge Frau stöhnte wehleidig.

Erst beim zweiten Anlauf schaffte sie es, auf die Beine zu kommen. Sie zog sich hastig an: ein paar helle Socken, die gegen die Kälte des Fußbodens schützten, dazu ein weites fliederfarbenes Hauskleid mit Gürtel. So hastete sie hinüber zur Tür und öffnete.

»Sie?«, entfuhr es ihr, als sie den jungen Mann auf der Schwelle erkannte.

»Tut mir leid«, sagte der Postbote. »Aber dieser Schrieb hier kommt mit einer Zustellungsurkunde. Da brauche ich schon Ihre Unterschrift.«

Kamee starrte auf den Brief. Der Umschlag war hellblau – und das konnte schwerlich etwas Gutes bedeuten. Kamee nahm den Stift und krakelte ihre Unterschrift auf das Formular, dann nahm sie den Brief in Empfang.

»Hier die andere Post«, sagte der Bote und drückte ihr einen Stapel Briefe in die Hand. »Demnächst wieder im Briefkasten.«

Kamee bedankte sich mit einem schmerzlichen Lächeln.

»Teufel auch«, sagte sie, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Was habe ich denn jetzt wieder verbrochen?«

Sie dachte kurz nach. Das Strafmandat wegen Falschparkens hatte sie zähneknirschend bezahlt. Die letzte Klausur im Öffentlichen Recht hatte sie zwar in den Teich gesetzt, aber das war kein Grund, der die Univerwaltung veranlasst hätte, Briefe mit Rückschein loszuschicken.

Vorsichtshalber ließ Kamee den Brief liegen. Er stammte, wie der Stempel in der linken unteren Ecke verriet, von einem Notar. Das veranlasste Kamee zu der Vermutung, irgendjemand sei gestorben – und Todesbotschaften wollte sie auf nüchternen Magen nicht annehmen.

Einer ihrer verflossenen Freunde, ein begabter Positroniktüftler, hatte sich ein paar Tage lang mit ihrer Bude beschäftigt. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Kamee brauchte nur einen einzigen Knopf zu betätigen, um ein ganzes Programm ablaufen zu lassen.

Die Vorhänge wurden aufgezogen. Das Licht eines strahlend schönen Sommermorgens fiel in die Räume. Die Kaffeemaschine lief an, das Wasser mit dem Frühstücksei darin wurde heiß, und im Backofen buken zwei Brötchen aus der Tiefkühltruhe hoch. Außerdem nahm die Musikanlage ihre Tätigkeit auf.

Kamee liebte alte Klassiker und barocke Musik. Es gab einen Sender in der Nähe, der fast nur solche Klänge produzierte. Begleitet von feierlichem Trompetengeschmetter, suchte Kamee die Dusche auf.

Etliche Liter heißen und kalten Wassers machten dann einen leidlich wachen Menschen aus der jungen Frau.

Kamee Nyssen war fünfundzwanzig Jahre alt, gutgewachsen, nicht zu üppig, nicht zu mager, dazu blond und blauäugig. Körperlich und geistig war sie vollkommen gesund. Sie studierte im zehnten Semester Rechtswissenschaften an der Universität in Terrania.

Ein Blick auf den Stundenplan zeigte Kamee, dass sie an diesem Tag das Haus nicht verlassen würde – es gab eine Menge aufzuräumen, Wäsche musste gewaschen werden, und auf dem Schreibtisch lag noch immer der Anfang einer schriftlichen Hausarbeit, mit der sich Kamee den Nachmittag und den Abend zu ruinieren gedachte. Dem Tagesablauf entsprechend, zog sie sich an – bequeme Hosen und darüber einen weiten Pullover mit Rollkragen.

Am Frühstückstisch ging Kamee langsam die Post durch. Da waren die üblichen Werbeschriften, Sonderangebote von Fachverlagen, Kredithaie, die nach Kunden suchten. In der Buchhandlung lag eine Nachlieferung der Loseblattgesetzessammlung für Kamee bereit, was Kamee einen leisen Seufzer entlockte. Die 237 Blatt einzusortieren, würde einen halben Nachmittag kosten, obendrein riss diese Anschaffung ein beachtliches Loch in Kamees kärgliches Budget.

Der ominöse Brief im hellen Blau war noch immer ungeöffnet. Kamee hatte ihn zwischen die Blüten eines bunten Straußes gesteckt, der auf der Mitte des ovalen Kiefertisches stand.

Sie köpfte das Frühstücksei und dachte über den Brief nach. Was konnte wohl darin stehen?

Verwandte hatte sie keine. Ihre Eltern waren bei einem Unfall gestorben, als sie sechs Jahre alt gewesen war. Danach hatte sich der Staat um die Vollwaise gekümmert – gar nicht einmal schlecht, wie Kamee in ihrem Fall zugeben musste.

Ihr Studium finanzierte Kamee wie Zehntausende andere auch – sie jobbte in den Semesterferien und sparte dabei das Geld für die Semesterzeit zusammen. Mit diesem Verfahren ließen sich die normalen Semester relativ gut durchstehen, bei Examenssemestern wurde es kritisch – auch die Ferien wurden dann für Prüfungsvorbereitungen benötigt. Hatte der geheimnisvolle Brief mit finanziellen Dingen zu tun?

Kamee beschloss, dem Rätsel endlich die Stirn zu bieten. Sie nahm den Umschlag auf und öffnete ihn. Abgesandt war er von einem renommierten Anwaltsbüro, Armstrong, Armstrong & Armstrong, Kamee hatte davon gehört, ein piekfeiner Laden.

»Was wollen denn die von mir?«, fragte sie sich.

Der Inhalt war knapp und klar.

»Sie werden ersucht, sich am 1.7.2400 in unseren Räumlichkeiten einzufinden. Auslagen werden erstattet.«

Das war alles. Kein Hinweis auf irgendwelche Absichten, auf Forderungen, Erbschaften, weder Unangenehmes noch freudige Überraschungen. Sie sollte einfach kommen.

Automatisch sah Kamee auf die Uhr. Die Digitalanzeige verriet ihr zum einen, dass es eigentlich Zeit war für die Frühvorlesung – Thema: Das Institut der culpa in contrahendo – und dass man zum zweiten den 14.6.2400 schrieb. Kamee hatte also noch ein paar Tage Zeit, sich zu überlegen, ob sie die Einladung annehmen sollte oder nicht.

Hastig schlang die junge Frau die letzten Reste des Frühstücks hinunter. Wenn sie schon die Vorlesung verbummelte, wollte sie in dieser Zeit wenigstens auf anderem Gebiet etwas geleistet haben. Kamee räumte das Geschirr fort, danach entfernte sie aus ihrem Wohnzimmer alle Spuren der letzten Feier. Geburtstage konnten zur Strapaze werden, wenn man trinkfeste Freunde hatte.

Sie bewohnte ein nicht eben kleines Appartement am Rand von Terrania; regelmäßig half sie dem Sohn des Besitzers bei den Hausarbeiten, und so hielt sich die Miete in erschwinglichen Grenzen. Eingerichtet waren die Räume in einem für Kamee typischen Stil – viel helles Holz, viel Leder, möglichst wenig Metall, keinerlei Kunststoffe. An den Wänden hingen zum Teil eigene Schnappschüsse, aber auch preiswerte, technisch gute Reproduktionen alter Meister.

Aus den Lautsprechern klang eine Flötensonate von Johann Sebastian Bach, während Kamee ihre Blumen goss und in Gedanken immer wieder zu dem ominösen Brief zurückkehrte.

Endlich hatte sie genug nachgedacht. Sie ließ die Gießkanne stehen, drehte dem Flötenspieler die Luft ab und griff nach dem Interkom. Auf dem Briefkopf war die Nummer aufgedruckt.

Die Robotstimme, die sich am anderen Ende der Leitung meldete, schaffte es sogar, so blasiert zu klingen, wie man es bei einer auf altenglisch frisierten Kanzlei vermuten durfte.

»Ich hätte gerne Mister Armstrong gesprochen«, sagte Kamee aufs Geratewohl.

»Bedauere, Mister Armstrong ist verstorben, bereits vor längerer Zeit«, antwortete der Robot vornehm. Auf dem Bildschirm erschien gleichzeitig das Firmenschild – drei stark verschnörkelte, ineinander verschlungene As.

»Dann hätte ich gerne Mister Armstrong Zwo gesprochen«, fuhr Kamee fort. Auch der zweite Inhaber der Firma war schon vor längerer Zeit verstorben. Kamee ersparte es sich, nach dem Gesundheitszustand des dritten Inhabers zu fragen – vermutlich lag er auch schon im Grab.

»Geben Sie mir irgendeinen kompetenten Mitarbeiter«, sagte Kamee leicht gereizt.

»Ich verbinde Sie mit Mister Armstrong«, teilte der Robot mit. Er schaltete durch.

»Guten Tag«, sagte eine freundliche Männerstimme. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Kamee war fassungslos.

Auf dem Bildschirm war ein Mann aufgetaucht, knapp dreißig Jahre alt, dunkelhaarig, sonnengebräunt, sehr regelmäßige weiße Zähne. Er trug einen sehr konservativen Anzug.

»Konnte diese elende Maschine nicht gleich durchschalten?«, fragte Kamee instinktiv.

Armstrong lächelte.

»Ein kleiner Trick«, gab er zu. »Die meisten Kunden rechnen damit, dass auch der dritte Inhaber bereits unter der Erde liegt, und sind dann ein wenig verblüfft, wenn durchgestellt wird. Das gibt mir ein paar Augenblicke Zeit, den neuen Kunden zu beschnuppern. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin Kamee Nyssen«, sagte die junge Frau. Sie wedelte mit dem Brief vor der Aufnahmeoptik. »Sie haben mir diese obskure Einladung geschickt?«

»Ich erinnere mich«, sagte Armstrong. »Ja, der Brief stammt von uns.«

»Kann ich Einzelheiten erfahren?«, fragte Kamee. »Was soll das alles? Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich zu absonderlichen Zusammenkünften einladen zu lassen.«

»Ich bin nicht befugt, darüber Auskünfte zu geben, Miss Nyssen«, sagte der Notar. Kamee sah, dass seine Rechte in einem Stapel Handakten suchte – vermutlich das Dossier mit dem Brief.

»Dann komme ich nicht«, sagte Kamee. »Was weiß ich, was Sie für Absichten haben und an was für einen Ort Sie mich locken wollen?«

»Sie können ganz beruhigt sein«, konterte Armstrong trocken. »Meine Absichten in diesem Fall sind eindeutig – ich will die Gebühren verdienen, die in diesem Fall zu verdienen sind. Im Übrigen kann ich Ihnen andeuten, dass Sie nicht die einzige Person sind, die eine solche Einladung erhalten hat.«

»Sie machen es aber sehr spannend, Mister ...«

»Paquor Armstrong«, stellte sich der Notar vor. Nach Kamees Geschmack sah er ein wenig zu gut aus. »Ich bitte Sie, mir zu glauben, dass diese Geheimniskrämerei nicht auf meinem Mist gewachsen ist. Wo unsere Büros sind, wissen Sie?«

»Constitution Avenue«, sagte Kamee. »Es steht auf dem Briefkopf.«

»Werden Sie die Adresse finden? Wenn nicht, nehmen Sie ein Taxi – Ihre Auslagen werden erstattet.«

Kamee ließ ihn gar nicht erst ausreden. Sie trennte die Verbindung mit einem Knopfdruck.

Was dachte sich dieser Schnösel eigentlich?

 

Es war warm an diesem Tag. Kamee hatte ein leichtes Seidenhemd angezogen, das ihr sehr gut stand, dazu trug sie wie fast immer Hosen.

»Sollen wir auf dich warten?«, fragte Kheera, eine Kommilitonin aus dem gleichen Kursus. Neben ihr saß ein baumlanger Sportstudent auf dem Rücksitz, Kheeras augenblickliche Liebe.

»Ich glaube nicht, dass sie mich entführen und an irgendeinen Springer verschachern wollen«, sagte Kamee. »Außerdem weiß ich nicht, wie lange sich die Prozedur hinziehen wird.«

»Vielleicht hast du einen Erbonkel, einen alten Arkoniden, der seit dem zehnten vorchristlichen Jahrtausend seinen Notsoli für dich aufbewahrt hat. Vielleicht bist du auch ein Wechselbalg, und man hat dich gegen eine wunderschöne Prinzessin ...«

»Noch eine Bemerkung in dieser Art, und ich werde meine Kenntnisse im Strafprozessrecht aufbessern müssen«, sagte Kamee lächelnd. »Macht euch davon. Wir treffen uns später an der Ecke, bei Faruqh.«

Der Gleiter zog davon. Kamee klemmte die Kollegmappe unter den Arm und ging die Straße entlang. Die Constitution Avenue war lang und sehr heiß, und Kamee stellte einmal mehr fest, dass es sich um eine der ersten Adressen der Stadt handelte. Wer um alles in der Welt beauftragte ihretwegen eine Anwaltskanzlei, die ihre Büros auf der Constitution Avenue aufgeschlagen hatte? Kamee hatte gewiss keine schlechte Meinung von sich selbst und auch wenig Ursache, eine solche zu haben – aber für so wichtig hatte sie sich nie gehalten.

Die drei Armstrongs, von denen nur noch einer lebte, hatten ihre Büros in einem der elegantesten Hochhäuser der Straße, einem kleinen Kunstwerk aus Glas, Stahl und bemaltem Beton. Das Reliefband aus Beton, das sich über die Fläche zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stockwerk zog, war ein sehr bekanntes Kunstwerk – der Name des Künstlers allerdings wollte Kamee nicht einfallen.

An einem misstrauisch blickenden Pförtner vorbei betrat Kamee das Innere des Hauses. Hier war es angenehm kühl, dafür sorgten hochwertige Klimaanlagen, die von dem Pförtnerrobot mit dem strengen Gesicht gewartet und beaufsichtigt wurden.

Ein Antigravlift brachte Kamee hinauf in das oberste Stockwerk. Von dort aus hatte man einen prachtvollen Überblick über Terrania. Kamee hatte ein wenig Mühe, den Anblick zu genießen – ihr machte wie immer die Höhenangst zu schaffen.

Vor einer gläsernen Tür blieb die junge Frau stehen. Armstrong, Armstrong & Armstrong stand auf dem Glas geschrieben, in demselben verschnörkelten Schriftzug, der auch auf dem Briefpapier prangte. Kamee zog das seltsame Dokument aus der Tasche, dann betätigte sie den Summer. Fast im gleichen Augenblick glitt die Tür lautlos zur Seite; dahinter wurde das Vorzimmer sichtbar, ein Raum, der mit kalt wirkendem Gerät und einer ebenfalls recht frostig aussehenden Sekretärin ausgefüllt war.

»Ich werde erwartet«, behauptete Kamee und hielt der Frau den Brief unter die hoheitsvoll gerümpfte Nase.

»Gehen Sie bitte durch«, sagte die Sekretärin. Mit einem Knopfdruck ließ sie die Tür zur Seite fahren. Dahinter wurde ein weiterer Raum sichtbar, entschieden gemütlicher ausgestattet, und – wie Kamee nicht anders erwartet hatte – dort war der dritte Armstrong zu finden. Er stand aus einem tiefen Ledersessel auf und ging mit ausgestreckter Hand auf Kamee zu.

»Ich freue mich, Sie zu sehen. Nehmen Sie Platz.«

»Wo sind die anderen?«, fragte Kamee.

Sie setzte sich in einen Ledersessel. Die Firma Armstrong mal drei hatte sich ganz offenkundig an zahlreichen Trivid-Filmen über die Zeit des Sherlock Holmes orientiert. Das Mobiliar bestand aus wertvollem Mahagoni; die Sessel dazu, dunkel und ledern, passten hervorragend, desgleichen der Teppich. Die Gemälde an den Wänden waren von vornehmer Patina, größtenteils englische Landschaften darstellend, angefüllt mit Hunden, Füchsen und rotgekleideten Reitern. In einem Aschenbecher glomm duftend eine Pfeife.

Kamee konnte angesichts von soviel edler Perfektion nur grinsen.

»Sie werden mir doch sicher einen hundertjährigen echten Scotch anbieten wollen, nicht wahr?«, fragte sie.

»Ich würde den Sherry empfehlen«, sagte Armstrong lächelnd. »Er ist weniger alt, entschieden preiswerter und nicht ganz so durchschlagskräftig. Sie werden einen klaren Kopf brauchen.«

»Wozu?«, fragte Kamee. Sie lehnte mit einem Kopfschütteln den Sherry ab. Kamee trank grundsätzlich keinen Alkohol bei solchen Gelegenheiten.

Armstrong verzichtete ebenfalls.

»Sie haben nicht die leiseste Ahnung, weshalb wir sie hierher gebeten haben?«

Kamee schlug die Beine übereinander. »Nicht die geringste«, gab sie zu. »Sind Sie der Sohn oder der Enkel?«

»Weder noch«, sagte Armstrong. »Angestellter, aber ich trage zufällig den gleichen Namen wie die drei Firmengründer. Sie heißen Kamee Nyssen?«

»Mit vollem Namen Kamee Alexandra Tarimoto Nyssen«, verriet Kamee. »Man kann es in meinen Papieren nachsehen. Meine Eltern waren sehr kosmopolitisch eingestellt.«

»Sie haben Ihre Eltern nie gekannt?«

»Ein wenig«, sagte Kamee. »Aufgewachsen bin ich in einem Waisenhaus, einem sehr guten, wie ich bemerken möchte. Ich habe es gut gehabt dort.«

Armstrong lehnte sich im Sessel zurück und nahm die Pfeife auf. Meerschaum, stellte Kamee fest, und zwar echter, der im Jahre 2400 ebenfalls ein ordentliches Stück Geld kostete.

»Weitere Verwandtschaft existiert nicht?«

Kamee warf einen bezeichnenden Blick auf den Einladungsbrief.

»Bis jetzt nicht.«

»Sie brauchen keine Angst zu haben, ich habe keine neue Stiefmutter für Sie in petto, auch keine Erbtante.«

»Schade«, sagte Kamee. »Mit einer Erbtante hätten sich viele hübsche Möglichkeiten aufgetan ...«

»Haben Sie eigentlich Ihren Großvater gekannt?«

»Woher, bitteschön?«, fragte Kamee. »Zwar ist es in der Galaxis ruhig gewesen in den letzten Jahrzehnten, aber in den Jahren davor ist es ganz schön turbulent zugegangen, und meine ehrenwerten Vorfahren haben immer mittendrin gesteckt.«

»Das scheint in der Familie zu liegen«, sagte Armstrong. »Sie wissen also auch nicht, von wem Sie eigentlich abstammen?«

»Wenn Sie schon so fragen – wahrscheinlich vom alten Lordadmiral Atlan, aus erster Ehe.«

Armstrong verschluckte fast seine Pfeife bei dem vergeblichen Versuch, den Lachanfall zu unterdrücken.

»Sehr gut«, kicherte er. »Das werde ich ihm erzählen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.«

»Sie kennen Atlan?«

Armstrong wurde wieder ruhig.

»Ich kenne ihn; ob er mich ohne fotografisches Gedächtnis wiedererkennen würde, steht auf einem anderen Blatt. Nein, Sie stammen nicht von Atlan ab. Aber Sie haben dennoch einen recht prominenten Großvater – es war Rod Nyssen.«

Kamee hob die Schultern. »Nie gehört«, sagte sie leichthin. »Hätte ich ihn kennen sollen?«

Armstrongs Blick schien durch sie hindurchzugehen. Leise sagte er: »Das Wenige, was ich über Rod Nyssen weiß, sagt mir, dass Sie vielleicht sehr stolz gewesen wären, diesen Mann zu kennen.«

Kamee zog die Brauen in die Höhe. »Ach, wirklich?«

Armstrong stand auf. Mit einer freundlichen Handbewegung forderte er Kamee auf, sich ebenfalls zu erheben.

Der Notar führte die junge Frau in einen benachbarten Raum. Dort saßen zwei junge Männer, ungefähr in Kamees Alter.

»Ich darf Sie miteinander bekannt machen – dies ist Miss Nyssen, der Herr dort heißt Yigael Cummings, der andere ist Shaktar Deringhouse.«

Skeptisch musterte Kamee die Männer. Cummings war dreißig, blond wie sie und wirkte ein wenig schlaksig. Shaktar Deringhouse – wo hatte Kamee den Namen schon einmal gehört? – hatte dunkle Haut und sehr dunkle Augen. Er begrüßte Kamee zuerst.

»Setzen Sie sich«, forderte Armstrong seine Gäste auf. Auf dem Tisch stand eine Kaffeemaschine, daneben fünf Gedecke, wie Kamee rasch zählte.

»Kommt noch jemand?«, fragte sie, als sie sich setzte.

Shaktar Deringhouse goss ihr Kaffee ein. »Ich erwarte noch jemanden«, sagte der Notar freundlich. »Da dieser Gast für seine Pünktlichkeit bekannt ist, wird er in wenigen Minuten hier eintreffen.«

Eine Pause entstand.

»Miss Nyssen weiß nicht, worum es geht«, sagte Armstrong. »Sie kennt ihre Vorfahren überhaupt nicht.«

»Ist das meine Schuld?«, fragte Kamee leicht gereizt. Der Ausdruck der Verwunderung in den Gesichtern der beiden jungen Männer ließ sie vermuten, dass diese Wissenslücke als peinlich empfunden wurde.

»Seltsam«, sagte Cummings lächelnd. »Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass jemand diese Namen nicht kennt – Deringhouse, Nyssen, Freyt.«

Kamee hob wieder die Brauen.

»Mein voller Name ist Yigael Cummings-Freyt. Mein Großvater mütterlicherseits war Michael Freyt.«

Kamee erinnerte sich, den Namen irgendwo einmal gelesen zu haben.

Der Türsummer ertönte, wenig später glitt die Tür zur Seite.

Kamee riss die Augen weit auf. Mit vielem hatte sie gerechnet, nur damit nicht. Der Gast, der in diesem Augenblick den Raum betrat, war kein anderer als Perry Rhodan!

Kapitel 2

 

»Ich bin gespannt, was sie wohl sagen«, murmelte der hochgewachsene Mann, der nicht selten mit Perry Rhodan verwechselt wurde. »Ob sie zustimmen werden?«

Conrad Deringhouse zuckte mit den Schultern, desgleichen Rod Nyssen. Die drei Männer bereiteten eine der seltsamsten Versammlungen vor, die es in der Geschichte der Menschheit bislang gegeben hatte.

»Sind alle gekommen?«, fragte Freyt, Solarmarschall und Stellvertreter Rhodans.

Nyssen überflog die Liste. Sie umfasste insgesamt 182 Namen, Männer und Frauen. Hinter jedem Namen stand ein Datum.

»Sie sind alle erschienen«, sagte er. »Das Thema ist schließlich heikel genug.«

Freyt wischte sich mit der Hand über die Augen. Die Belastung der letzten und der zukünftigen Tage und Stunden war größer als alles, was er bisher zu ertragen gehabt hatte.

»Gehen wir«, sagte er.

Die drei Männer verließen den Raum. Rod Nyssen sorgte dafür, dass die Liste mit den Namen nicht liegen blieb. Auch sein Name stand darauf.

Sie betraten einen der kleineren Säle in der Administration. Normalerweise wurde er für Betriebsratssitzungen und ähnliche Veranstaltungen verwendet.

Stimmengewirr klang auf, als Freyt den Raum betrat. Jedes der einhundertneunundsiebzig Gesichter war Freyt zugewandt. Er war Rhodans Stellvertreter, wenn sowohl Rhodan als auch Reginald Bull unterwegs waren. Im Augenblick waren beide in der Nähe von Atlans Hauptquartier zu finden, in Quinto-Center.

Die drei Männer nahmen hinter einem Tisch vor dem Auditorium Platz, Freyt in der Mitte.

»Machen wir es kurz«, sagte der Mann mit den grauen Augen. »Sie alle haben die Nachricht gehört – unser Freund von Wanderer hat sie schließlich laut genug in die Galaxis hinausposaunt.«

Murmeln setzte ein.

Jeder wusste, welche Nachricht gemeint war. ES, das Fiktivwesen vom Kunstplaneten Wanderer, war auf der Flucht. Die Vergeistigung eines ganzen Volkes hatte vor einer unbekannten Gefahr für die gesamte Galaxis Reißaus genommen – das galt bei einem solchen Wesen, dessen Machtfülle bei einigen Beobachtern Gedanken an Allmacht auslöste, besonders viel. Wenn ES floh, wer sollte noch widerstehen können?

Indessen brannte den 182 Männern und Frauen eine andere Sorge auf den Nägeln.

»Jeder von uns ist in ganz besonderer Weise von dieser Botschaft des Fiktivwesens betroffen«, fuhr Freyt fort. »Es wird in Zukunft keine Zelldusche mehr für die Mitarbeiter von Perry Rhodan geben. Stattdessen wurden von ES fünfundzwanzig so genannte Zellaktivatoren ausgestreut. Wohlgemerkt, sie wurden ausgestreut, nicht etwa dem Chef zur Verfügung gestellt. Ich brauche wohl keinem hier zu erklären, was es zu bedeuten hat, diese Aktivatoren auch nur aufspüren zu wollen.«

Freyt hielt inne. Ein Arm war in die Höhe gereckt worden. Der Solarmarschall nickte.

Eine Frau mittleren Alters stand auf. Freyt kannte sie, eine der hervorragendsten Mikrobiologinnen, eine Mitarbeiterin des berühmten Robotwissenschaftlers Van Moders.

»Warum fehlen in dieser Versammlung wichtige Leute? Bully, Adams und etliche andere Unsterbliche?«

»Das kann ich Ihnen sagen«, antwortete Freyt. Er nahm die Liste aus der Hand von Rod Nyssen entgegen.

»Ich habe eine unabhängige Instanz ...«

»Wen?«

»NATHAN, die Mammutpositronik auf dem Mond. Beruhigt?«

»Vorläufig, fahren Sie fort.«

»... ich habe NATHAN um diese Liste gebeten. Die Aufgabe, die ich der Positronik damit gestellt habe, war grässlich, aber es erschien mir besser, sie von NATHAN erledigen zu lassen. Die Frage lautete sehr einfach: Wer von den relativ Unsterblichen, der bisher die Zelldusche empfangen hat, ist für das Vereinte Imperium von Akonen, Arkoniden und Terranern so wichtig, dass Perry Rhodan ihm einen Zellaktivator geben darf, wenn er einen bekommt.«

Schweigen breitete sich aus.

»Heißt das ...?«

Die Stimme verriet Panik. Freyt nickte. Mit mühsam beherrschter Stimme sagte er: »Keiner von uns steht auf dieser Vorschlagsliste. Sie nicht, und auch wir drei nicht. NATHAN hat unser Todesurteil ausgesprochen.«

Das Datum hinter jedem Namen auf der Liste zeigte an, an welchem Tag dieses Todesurteil vollstreckt werden würde. Es lag exakt zweiundsechzig Jahre nach dem letzten Termin der Zelldusche.