Für Tom,
meinen dunklen Bruder
Dein dunkles Schwesterlein
Monika De Giorgi
EDENS ASCHE
„Edens Asche“ von Monika de Giorgi
herausgegeben von: Club der Sinne®, Allee der Kosmonauten 28a, 12681 Berlin, Januar 2010
zitiert: De Giorgi, Monika: Edens Asche, 3. Auflage
© 2010
Club der Sinne®
Inh. Katrin Graßmann
Allee der Kosmonauten 28a
12681 Berlin
www.Club-der-Sinne.de
kontakt@club-der-sinne.de
Stand: 01. September 2011
Gestaltung und Satz: Club der Sinne®, 12681 Berlin
Cover: © Thomas Papadhimas
Covergestaltung: Michaela Gote, www.visual-descent.com
ISBN 978-3-95527-042-1
eBooks sind nicht übertragbar!
Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken!
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Vorbemerkung
Personenverzeichnis
PROLOG
1. KAPITEL
Träume und Erinnerungen
Erwachen
Beobachtungen
Lehrmeister
Ein Hauch von Nachtwind
Tränen
2. KAPITEL
Geständnisse und Erkenntnisse
Herzrasen …
Dezember
Asche
Über die Autorin und ihr Werk:
Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden, toten oder untoten Personen ist rein zufällig und liegt nicht in meiner Absicht. Sämtliche Handlungsinhalte sind frei erfunden, bis auf folgende Orte: Rosenheim, Torre lapillo, Porto Ceasario, Edinburgh und München existieren natürlich. Ich habe mir aber bei jeder Stadt die Freiheit herausgenommen sie um Häuser, Bars, Nachtclubs nach meiner Phantasie zu bereichern, wenn es mir nötig erschien. Was heißt, dass ihr z. B. in Rosenheim, so leid es mir tut, umsonst nach einem MIDNIGHT, einem ECLIPSE oder einem FEVER DREAMS suchen werdet.
Die Geschichte spielt am Anfang dieses Jahrtausends.
Monika De Giorgi
Damian Krieger: Junger Besitzer des Nachtclubs „MIDNIGHT“ und Ex-Sänger von „ANGEL OF SIN“. Damian wurde von der Vampirin Michelle Jardin verwandelt und dadurch in ein blutiges Eifersuchts- und Rachedrama mit dem Vampir François de Noire verwickelt.
François de Noire: Der mächtige und alte Vampir ist Anhänger eines finsteren Vampirglaubens, der den Tod als höchste Gottheit verehrt.
Michelle Jardin: Schöpferin Damians und ehemalige Gefährtin von François de Noire.
Kim Krieger: Damian Kriegers sterblicher, jüngerer Bruder – ein Punk mit ständig wechselnder Haarfarbe.
Beatrice Sander: Damians beste Freundin und Vertraute.
Gabriel: Geliebter Joshuas in der Vergangenheit.
Joanna: Kims erste große Liebe.
Stefan: Joannas großer Bruder und DJ im MIDNIGHT
Frank: Barkeeper des MIDNIGHT.
Daniel: Damians bester Freund. Frontsänger von ANGEL OF SIN, Damians ehemaliger Band.
Sophie: Freundin von Daniel und enge Freundin von Beatrice, Damian und Kim.
Sieh mich an, ich stehe vor dir.
Meine Augen, leer und doch wissend ...
du gabst mir ewiges Leben.
Du stahlst meine Unschuld
Meine Tränen sind blutig,
mein Atem versiegt.
Kein Engel stieg herab
um mich zu begleiten.
Kein Herz mehr, das schlägt ...
ich ging fort aus dieser Welt.
Wurde von dir aus dem Leben gerissen
um in ein Neues wiedergeboren zu werden
Deine eisige Umarmung
nahm mir mein Licht ...
Du ergriffst meine Hand und nahmst mich mit dir
in deine Welt ...
Ich bin dein Kind und dein Geliebter.
Ich bin dein Leben
und du warst mein Tod
Wir sind eins.
Sieh mich an ... ich verlor meine Schwingen,
Blut tränkt mein Gewand
und bedeckt meine Lippen
Wir sind die Häresie ...
In unserer Kathedrale der Angst
beten wir um den Untergang
der unsere Erlösung bedeutet,
denn wir sind die Furchtsamen
Ewiges Leben tötet ...
ohne zu erschaffen,
sieh mich an, ich bin verdammt …
genau wie du.
Sieh mich an
von Karina Sangue
Damian schritt durch die dunkle Nebengasse. Dumpf klangen seine Schritte auf dem verwitterten Kopfsteinpflaster, Nebel wallte um seine Beine. Kalten Fingern gleich kroch die Feuchtigkeit unter seine schwarze Jeans und den engen, dunkelgrauen V-Ausschnittpullover. Das Leuchten der Straßenlaternen war spärlich und tauchte die Umgebung in ein diffuses, schweflig-gelbes Licht, welches aber nicht die schwarzen Schatten in den Winkeln und Nischen der dicht stehenden alten Häuser, die jene kleine Gasse begrenzten, zu vertreiben vermochte.
‚Eine Szenerie, wie aus einem Horrorfilm’, schoss es ihm durch den Kopf. ‚Gleich kommt eine Gummifledermaus vorbeigeflattert.’
Doch so spöttisch seine Gedanken auch sein mochten, sie konnten das Gefühl des Unheimlichen, Surrealen nicht vertreiben, das ihn befiel, kaum dass er Daniels Wohnung allein verlassen hatte. Außer seinen Schritten war sonst kein Geräusch zu vernehmen, nur ein paar Ratten huschten auf der Suche nach Nahrung über die Müllsäcke, die sich neben einem grauen Container stapelten, doch schenkten sie seiner einsamen, schlanken Gestalt keinerlei Beachtung. Fröstelnd zog er sein Lederjackett enger um sich und wandte nervös den Kopf. Er kannte diesen Weg wie seine Westentasche, schon seit Jahren benutzte er diese Abkürzung, wenn er von seinem besten Freund Daniel, der kaum einen Steinwurf von seinem Haus entfernt wohnte, nach Hause ging. Nie hatte er auch nur ansatzweise ein mulmiges Gefühl gehabt, wenn er durch dieses feuchte, vermüllte Gässchen schritt. Aber heute war es anders. Schon geraume Zeit hatte er das Gefühl verfolgt zu werden, doch an dem, was seine dunkelblauen Augen wahrnahmen, war nichts befremdliches, so setzte er zögernd seinen Heimweg fort, sich mühsam beherrschend nicht plötzlich los zu rennen.
„Benimm dich nicht wie ein paranoides Schulmädchen!“, ermahnte er sich und ging gezwungen langsam weiter ... doch war da nicht etwas? Schritte? Warum musste er auch ausgerechnet heute Machoallüren entwickeln und wider seinem Instinkt diese Gasse benutzen?
Erneut blickte er über seine Schulter zurück, aber er sah nur eine schwarzpelzige Ratte das Pflaster überqueren.
‚Du bildest dir nur etwas ein. Dich verfolgt kein Jack the Ripper’, sprach er im Geiste zu sich selbst.
„Nein, aber ich!“, kam die Antwort aus dem Dunkel.
Damian erstarrte. Es war eine seltsam sanfte Stimme, verlockend und erotisch. Damian beschloss zu flüchten, doch schon schlossen sich Arme um seine Schultern. Schlanke Arme. Der Griff war nicht schmerzhaft, aber von unterschwelliger Stärke. Eine zarte, blasse Hand legte sich auf seine Lippen.
‚Fuck!’, dachte er.
„Kein Schrei, wehre dich nicht dagegen“, flüsterte die Stimme sanft in sein Ohr, ihr Atem streifte seine Wange.
Ein seltsamer, dichter Nebel legte sich über seinen Verstand. Die Hand löste sich von seinen Lippen und glitt seinen Körper hinab bis zu seiner Taille. Die andere fuhr in sein dichtes, schulterlanges, schwarzes Haar. Warmer Atem streichelte seinen Hals. Damian seufzte leise auf. Ein Gefühl wonniger Schwäche begann ihn zu erfüllen. Seine Haut kribbelte und wurde seltsam empfindlich für jegliche Berührung. Er wandte sein Gesicht, um ihr Antlitz zu erblicken, sein Blick versank in zwei leuchtenden, smaragdgrünen, bannenden Augen. Er bemerkte, dass er sich in ihrem Griff herumdrehte um seine Arme ebenfalls um sie zu schlingen. Es war ein schlanker, fester Körper, den er unter seinen Fingern spürte, doch strahlte er keinerlei Wärme aus.
„Wer bist du?“, flüsterte Damian drängend, doch sie lachte nur leise.
„Ist das wichtig?“
Ihre Lippen suchten die seinen. Fanden sie zu einem leidenschaftlichen Kuss, den er hungrig erwiderte. Aufstöhnend presste er sich näher an diesen Nachtschatten, den er jäh so sehr begehrte. Er ließ seine Finger über ihren Rücken gleiten und genoss es, ihren biegsamen Körper durch den weichen Satin ihrer Bluse, unter den Fingerspitzen, zu spüren. Immer wieder suchten sich ihre Münder zu weiteren Küssen. Doch dann lösten sich ihre Lippen von den seinen, glitten über die scharfe Linie seines Kinns seinen Hals hinab. Damian sog scharf die Luft ein, als ihre Zunge liebkosend über seinen Puls glitt, welcher vor Erregung raste. Sanft saugte sie an seiner weichen Haut, dann durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz.
Doch dieser kurze Schmerz wurde aufgelöst in den brandenden Wogen sich steigernder Extase. Sein Körper bebte, orgiastisch stöhnte er auf. Sein eigener Herzschlag dröhnte in seinen Ohren wie ein Trommelwirbel. Er weilte fern der Realität in einer Welt, die nur aus Gefühlen bestand. Leidenschaft, Begierde und Sehnsucht. Sehnsucht nach Erfüllung. Wellen höchster Lust wogten gleich Ebbe und Flut durch seinen Körper, doch mit jedem Mal wurden diese Wellen schwächer, nur ihre Arme hielten ihn noch auf den Beinen, und doch presste er sich noch fester an ihre Gestalt. Er grub seine Finger in den zarten Satin ihrer Kleidung, bis er glatte, nackte Haut fühlte. Aber dann trat sie unvermittelt einen Schritt zurück. Damian brach in die Knie. Beinahe verließ ihn das Bewusstsein.
„Was ist mit mir?“, wisperte er mit schwacher Stimme, die nicht ängstlich – eher verwundert – klang.
Sie blickte sanft lächelnd auf ihn hinab. Damian konnte nicht umhin, bewundernd ihre Schönheit wahrzunehmen. Langes rotbraunes Haar umrahmte ein schmales Gesicht mit milchweißer Haut und den schönsten Augen, die er je gesehen hatte.
„Du bist geschwächt, ich habe dein Blut genommen“, antwortete sie.
Um Hilfe heischend reckte er die Hände in ihre Richtung. Er wusste, dass sie die Wahrheit sprach, doch hatte er keine Furcht, er wusste auch, sie wollte ihn nicht töten. Sie kniete neben ihm nieder und strich mit den Fingerknöcheln über seine Wange.
„Nein, du wirst nicht sterben“, sie schüttelte den Kopf. „Trink das!“
Sie ließ den langen silberweiß lackierten Fingernagel ihres Daumens über die Pulsadern ihres linken Handgelenks gleiten. Sogleich traten rubinrote Blutstropfen hervor. Der Nebel umgab sie gleich einem Schleier, als sie sich über ihn beugte.
„Komm Damian, trink!“
Wie ein Bann legte sich ihre Stimme über seine Gedanken, seine Fragen. Er streckte seine Hand nach der ihren aus. Zärtlich küsste er jede ihrer Fingerspitzen, dann erst senkte er seine Lippen auf die roten Tropfen nieder, welche verlockend im Laternenlicht funkelten, ohne sich zu fragen, was er da eigentlich tat. Sie hätte alles von ihm verlangen können, er hätte widerspruchslos gehorcht. Er nahm das Blut mit der Zunge auf, kostete es, nie war ihm etwas so süß erschienen und bald trank er willenlos von ihrem Handgelenk. Er hörte sie begehrlich aufseufzen und auch in ihm erwachte die Leidenschaft wieder. Er schmeckte die Süße ihres Blutes und spürte, wie mit jedem Tropfen wieder Kraft in seinen Körper zurückströmte. Immer hungriger nahm er den süßen Saft des Lebens auf. Er trank und eine Energie, wie er sie noch nie in seinem Leben verspürt hatte, floss in ihn und erfüllte ihn. Er hatte das Gefühl, gleich davon überwältigt zu werden. Plötzlich vernahm er ihren Herzschlag, der sich mit dem seinen vereinte und zu einem tosenden Donnergrollen anschwoll. Er fühlte, wie sein Körper davon geschüttelt wurde, von dieser neuen, kraftvollen Energie, gleich einem Baum im Novembersturm. Er drohte davon fortgerissen zu werden.
„Es ist genug!“, drang ihre Stimme heiser durch den wirbelnden Sturm seiner Gedanken.
Grob entzog sie sich ihm. Damian stieß einen leisen, sehnsüchtigen Schrei aus und wollte nach ihr greifen. Doch er versank in bodenloser Schwärze.
Nur schwer gelang es ihm die Augen zu öffnen, seine Lider wollten ihm nicht gehorchen. Sie waren zu schwer. Mann, was hatte er gestern nur getrunken? Und was zum Teufel piepste da so ekelhaft? Er versuchte seinen Kopf zu bewegen, ein aufblitzender Schmerz hinter seiner Stirn gebot ihm das zu unterlassen. Schließlich zwang er seine Augenlider, ihm zu gehorchen. Langsam und schwerfällig hob er die Hand, um seine Augen vor dem gleißenden Licht abzuschirmen, denn es brannte in ihnen. Damian blinzelte.
„Ich glaube, er ist wach.“
Das war die Stimme seines Bruders.
„Kim?“, fragte er.
Seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern.
„Ja, Dam, ich bin da.“
Kims Stimme klang besorgt, doch auch erleichtert. Was war nur los?
„Was machst du hier in meinem Zimmer? Weshalb sitzt du an meinem Bett, als würdest du Totenwache halten?“, wollte er verwundert wissen.
Damian seufzte. Das Sprechen schmerzte ihn, sein Hals war richtiggehend ausgedörrt. Die Party bei Danny musste von einem gemütlichen Videoabend mit der alten Band zu einem Gelage mutiert sein!
„In deinem Zimmer?“
Der Ausdruck der Sorge in Kims Gesicht vertiefte sich, bis ihm bewusst wurde, dass Damian sich seiner Umgebung noch nicht bewusst geworden war.
„Damian, du bist im Krankenhaus“, erklärte er und fuhr sich durch den pink gefärbten Haarschopf.
„Im Krankenhaus?“
Damian blickte sich um, endlich schmerzte das Licht ihn nicht mehr. Tatsächlich, er lag in einem Krankenhausbett, neben ihm stand ein Gerät, das seine Herztätigkeit überwachte. Das war also der Urheber des nervigen Gepiepses. Kim saß auf einem Hocker an seinem Bett.
„Warum bin ich hier?“ Er runzelte die Stirn. „Ich kann mich nicht erinnern.“
Er versuchte sich zu entsinnen, weshalb er hier lag, doch er fand nur schwarze Nebelschwaden, die er nicht zu durchdringen vermochte. Doch er ahnte, hinter ihnen lag die Antwort. Ein Anflug von Furcht befiel ihn. Was war nur geschehen?
„Du weißt also nichts mehr?“
Kim blickte in Damians blasses Gesicht, welches beinahe so weiß war wie der Bezug des Kissens, auf dem sein Haupt ruhte. Das schwarze Haar gab einen Kontrast, der Damian wie einen Geist erscheinen ließ, hinzu kamen noch die dunklen Schatten, die seine dunkelblauen Augen umgaben und ihnen eine seltsame, leuchtende Tiefe verliehen. Kim hatte das Gefühl, vor Angst um seinen Bruder gleich in Tränen auszubrechen. Er atmete tief durch, die Ärzte hatten ihm versichert, dass Dam nicht sterben würde. Als er heute Morgen hier eingetroffen war, war er hysterisch wie ein kleines Kind gewesen. Er hatte schon seine Eltern verloren, ohne Dam würde er ... wahnsinnig werden, sterben ... erst das eine, dann das andere.
„Ich erzähle dir, was ich weiß ...“, begann er und vergewisserte sich, dass Damian noch wach war.
Sein Bruder wirkte so schwach. So kannte Kim Damian gar nicht. Es war schrecklich, doch er zwang sich zur Gelassenheit. Er würde Dam nicht helfen, wenn er an seinem Bett zum Klageweib wurde.
„Man fand dich heute Morgen zwischen Müllsäcken in einer Nebengasse, in der Nähe der Stadtbücherei. Du warst bewusstlos. Vollkommen weggetreten. Ein älteres Ehepaar hat dich gefunden, die beiden dachten zuerst, du seiest tot. Du hast nur ganz schwach geatmet. Sie verständigten den Notruf und das Krankenhaus verständigte mich.“
„Was fehlt mir?“, erkundigte sich Damian.
„Du scheinst Blut verloren zu haben, aber man fand keine Wunden. Sie verabreichten dir eine Transfusion, danach ging es dir schlagartig besser, nur aufgewacht bist du nicht. Du hast den ganzen Tag verschlafen.“
Kim lächelte sanft. Damian sah ihn nur abwesend an. „... Blut verloren ...“ Ein Bild stieg vor seinen Augen auf. Leuchtende, smaragdgrüne Augen. Er bemühte sich, es zu ergreifen, doch es verschwand wieder, bevor er es festhalten konnte. Die Angst wandelte sich in Ärger. Eine Schwester trat in den Raum.
„Sind Sie nun aufgewacht, Herr Krieger?“, erkundigte sie sich mit einem routinierten Lächeln.
„Offensichtlich“, erwiderte Damian unfreundlich.
Er war nicht direkt auf sie wütend, eher auf sein Gedächtnis, aber das konnte er ja nicht anmaulen. Also bekam die Schwester seinen Zorn zu spüren, was ihn noch wütender machte, denn ungerechtfertigte Unfreundlichkeit fand er kindisch.
„Ich hole Dr. Schling“, verkündete sie mit festgeleimtem Lächeln.
Weg war sie wieder.
Als der Arzt erschien, ließ Damian die kurze Untersuchung über sich ergehen. Er machte jedoch vehement seinen Standpunkt klar, am nächsten Tag nach Hause zu wollen und setzte sich schließlich auch durch. Wie sollte er sich an einem Ort erholen, den er hasste?
„Auf eigenes Risiko“, betonte der Arzt noch einmal, bevor er ging.
Die Schwester erschien bald darauf und holte das Gerät ab, das Damians Herztätigkeit überwacht hatte, dafür ließ sie eine Kanne Tee zurück, die Damian in Rekordzeit leerte. Er war so durstig. Auch machte sie Kim darauf aufmerksam, dass die Besuchszeit vorüber sei.
„Ich hole dich dann morgen früh ab“, sagte Kim und wollte sich verabschieden.
„Wie denn? Mit dem Motorrad?“
Damian war gerade ein erschreckender Gedanke gekommen. Nicht sein Baby!
„Nein“, grinsend zog Kim Damians Autoschlüssel aus seiner Jackentasche.
Damian stöhnte theatralisch auf und ließ sich in das Kissen sinken.
„Pass bitte auf meinen Wagen auf“, bat er in flehendem Ton.
„Klar, du kennst mich doch“, Kim lachte auf.
Jetzt, wo er wusste, dass Damian morgen wieder heim kommen würde, ging es ihm viel besser.
„Eben“, knurrte Damian ironisch.
„Bis morgen.“
Breit grinsend beugte Kim sich zu seinem Bruder hinab und küsste ihn herzhaft auf die Wange. Deutlich stand die Erleichterung darüber, dass Damian erwacht war und ihm offenbar nichts Ernstes fehlte, in seinem Gesicht zu lesen.
Als Kim ihn schließlich verlassen hatte, kehrte die Krankenschwester mit einem Imbiss zurück. Sie richtete den Nachttisch so aus, dass er ihn als Tisch verwenden konnte. Ihr Duft stieg ihm in die Nase, sie verwendete ein zartes, nach Frühlingsblumen duftendes Parfüm und plötzlich überkam ihn der Drang sie zu packen und ... Damian erschrak! Was war nur mit ihm los?!
‚Nur Reste eines vergessenen Traumes von heute’, sagte er sich. Er biss sich auf die Unterlippe und wünschte sich Kim wäre noch da. Mit seinem Bruder zu reden würde ihn ablenken.
„Ich hole das Tablett später wieder ab. Sie sollten essen, es wird Ihnen gut tun.“
Sie lächelte ihn an, doch diesmal war das Lächeln echt. Ihr gefiel der junge Patient mit den schönen, dunkelblauen Augen. Er strich sich das lange schwarze Haar aus der Stirn, von dem ihm einige ungebändigte Strähnen ins Gesicht gefallen waren. Er sah aus, als wäre er direkt einem Vampirfilm entstiegen. Mit dem schmalen, feingeschnittenen Gesicht, seinem blassen Elfenbeinteint und diesen leuchtenden Augen unter den schmalen, kühn geschwungenen Brauen. Wie alt mochte er sein? Höchstens 23, schätzte sie. Sie verließ das Zimmer, bevor ihm noch auffiel, dass sie ihn anstarrte.
Lustlos betrachtete Damian das Tablett. Nach diesem „Anfall geistiger Verwirrtheit“ zuvor war ihm der Appetit gründlich vergangen. Trotzdem beschloss er, der Bitte der Schwester Folge zu leisten. Er nahm vorsichtig den Deckel von dem abgedeckten Teller, der vor ihm stand, so als könne dessen Inhalt ihn
gleich anspringen.
„Ausgerechnet Grießbrei. Das musste natürlich sein“, seufzte er leidgeprüft.
Er hatte Grießbrei nie gemocht. Trotzdem griff er nach dem Löffel und tauchte ihn in die Masse. Doch dann hielt er inne. Blitzartig befiel ihn ein bittersüßes Sehnen, als würde eine Geliebte ihn aus der Ferne rufen. Damian erschauerte. Was war letzte Nacht mit ihm geschehen? Er ging in sich, konzentrierte sich darauf, in der Zeit zum letzten Abend zurückzugehen. Da waren sie wieder, diese grünen Augen. Doch gerade als er die Nebel zu durchbrechen versuchte, die sich über seine Erinnerungen gelegt hatten, entwischte ihm das Bild wieder. Resignierend schüttelte er den Kopf und gähnte. Plötzlich fühlte er sich unglaublich erschöpft. Er würde essen und dann etwas schlafen. Die Erinnerung würde von selbst wiederkommen, hoffte er.
Sie saß auf ihrem großen Messingbett, das mit grüner Satinbettwäsche bezogen war. Die Vorhänge an den Balkontüren wehten im Nachtwind. Es war jene Stunde, die sie immer mit besonderem Frieden erfüllte. Die Stunde, in der die Dämmerung vollkommen der Nacht wich. Der schmale Sichelmond war im Aufgehen begriffen und sie war erwacht. Er auch, sie spürte es. Er war hungrig und verwirrt. Er wusste nicht mehr, was mit ihm geschehen war. Michelle gab ein leises Seufzen von sich. Es war ein Fehler gewesen, ihn zu erschaffen. Diese Erkenntnis hatte sie heute wie ein Pfeil getroffen, als sie sich schlaflos, bis in den Nachmittag, auf ihrem Bett gewälzt hatte und versucht hatte, nicht an ihn zu denken. Doch was half ihr die Reue? Sie hatte keine Wahl gehabt. Das Schicksal hatte es so bestimmt. Damian war so ... so schön. Sie fand kein anderes Wort, das ihm gerecht geworden wäre. Ihr Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, wenn sie an ihn dachte.
„Er ist zu schön, um als Sterblicher dahin zu welken“, vertraute sie wispernd dem Abendwind an. Außerdem war sie es leid, alleine durch die Nachtwelt zu streifen. Sie sehnte sich so sehr nach einem Gefährten. Es würde sein wie damals, als sie geschaffen wurde. Oh, sie erinnerte sich noch so gut ...
Michelle stand verschüchtert neben einer weißen Marmorsäule im großen Opernhaus, an der Seine. Mit aufgerissenen Augen betrachtete sie das bunte Treiben um sich herum. Damen in rauschenden Gewändern, in allen Farben des Regenbogens, schlenderten durch das Foyer und flirteten mit eleganten Kavalieren. Nervös strich sie immer wieder über den dunkelblauen Samtrock ihres Abendkleides.
‚Wo Vater nur so lange bleibt?’, fragte sie sich selbst.
Die Achtzehnjährige bebte vor Aufregung. Es war ihr erster Opernbesuch und ihr erster Aufenthalt in Paris. Michelle fühlte sich vollkommen fehl am Platze und sehnte sich nach der ländlichen Abgeschiedenheit des väterlichen Gutes zurück. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Sie beobachtete die Damen in ihren eleganten Roben und deren kokette Blicke, die sie den Herren über die Ränder ihrer Fächer hinweg zuwarfen. Ob sie auch einmal mit so einem eleganten Mann verheiratet sein würde? Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie war hübsch und ihre Garderobe stand jener, welche die Damen hier trugen, in nichts nach, doch sie war keine von ihnen. Sie beherrschte nicht das Spiel mit dem Fächer, das Flirten mit den Kavalieren, all das war ihr fremd. Erneut wanderte ihr Blick durch den Raum ... da war er wieder! Ein Mann, der ihr schon zuvor aufgefallen war. Er war in einen Rock aus dunkelviolettem Samt gekleidet, kombiniert mit einer schwarzen, im gleichen violett bestickten, Seidenweste. Ein Hemd aus feinstem Leinen und ebenfalls dunkelviolette Kniehosen vervollständigten das Bild. All dieses war offensichtlich vom besten Schneider Paris’ gefertigt worden. Doch das war es nicht, was sie so faszinierte. Nein, es waren seine leuchtenden grauen Augen, deren Blick sie quer durch das große Foyer getroffen hatte und direkt in ihre Seele eingedrungen war. Langes goldblondes Haar umrahmte das schmale, feingeschnittene Gesicht des Monsieurs. Er schien ihren forschenden Blick bemerkt zu haben, denn er lächelte ihr zu. Bezaubernd und geheimnisvoll. Dann begann er, auf sie zuzugehen. Michelle hatte das Gefühl, als würde ihr Herzschlag einen Moment aussetzen. Errötend fächelte sie sich Luft zu. Sein Gang war geschmeidig, dem eines Raubtieres gleich. Sie klappte den Fächer wieder zu. Schüchtern blickte sie auf ihre Hände nieder, die Fächer und ihr Samttäschchen umklammerten. Als sie wieder aufblickte war er verschwunden, doch ihr Vater stand endlich vor ihr. Einen kurzen Moment verspürte sie Enttäuschung, doch entschlossen vertrieb sie diese wieder. Was sollte solch ein Mann, mit einem Mädchen wie ihr?
„Was ist mit dir, mon ange?“, erkundigte er sich.
„Nichts, Vater“, antwortete sie im Bewusstsein, dass sie log.
Sie lächelte gezwungen und spielte glückliches Töchterchen, aber innerlich bebte sie. Zu deutlich spürte sie seine Anwesenheit im Raum.
Der blonde Mann zog sie in seine Arme und sie schmiegte sich an ihn. Obwohl sie wusste, dass es falsch war, gab sie sich seinen Zärtlichkeiten hin, denn sie weckten bittersüße Gefühle in ihr, die sie bisher nicht gekannt hatte. Michelle hatte nicht schlafen können. Sein Bild hatte sie verfolgt wie ein Teufel, der ihre Seele stehlen wollte ... dabei besaß er sie schon. So hatte sie ihren Umhang übergeworfen und war in den Garten hinaus gegangen um dort, an ihrem Lieblingsplatz, einer Bank unter einer alten Blutbuche, noch ein wenig frische Luft zu schnappen. Diesen Platz hatte sie gleich am ersten Tag in Paris entdeckt. Hierher zog sie sich immer zurück, um die Eindrücke, der für sie neuen Großstadtwelt, zu verarbeiten.
Doch diesmal wurde sie von jemandem erwartet ... Seine Hände hatten sich um ihre Taille geschlungen, um sie neben sich auf die Bank zu ziehen. Ihre Schreie wurden mit Küssen erstickt und unbegreiflicherweise bemerkte sie, dass ihr Widerstand schwand und sie schließlich seine leidenschaftlichen Küsse sogar erwiderte. Sie vergaß alles um sich herum und genoss die süßen Gefühle, die seine Berührungen, welche er ihrem Körper durch die Seide ihres Nachtgewandes zukommen ließ, in ihr auslösten und sie trotz der milden Sommerluft erschauern ließen. Schließlich rückte er von ihr ab.
„Wer seid Ihr?“, fragte sie atemlos und versuchte das Aufbegehren ihres Körpers, der sich nach seinen Zärtlichkeiten sehnte, zu ignorieren.
„Der Mann, mit dem du dein ewiges Leben teilen wirst“, antwortete der Fremde aus der Oper voller Ernst. Seine grauen Augen ruhten auf ihren Lippen.
„Monsieur, wie meint Ihr das?“ Michelle war verwirrt.
„Ich bin dein Traum. Dein geheimster Wunsch, deine dunkelste Sehnsucht. Ein Märchenwesen aus deinen Träumen. Unsterblich und magisch. Ich bin schon 100 Jahre auf dieser Welt und streife mehr als 75 davon durch die Nacht. Und dich habe ich mir als Gefährtin erwählt“, flüsterte er eindringlich an ihrem Ohr.
Sein Atem streifte ihren Hals, es schien ihr wie eine zärtliche Berührung.
„Ohne zu altern.“ Er hauchte Küsse auf ihr Gesicht, „Ohne je deine Schönheit zu verlieren. Ich will dich, um die Unsterblichkeit mit mir zu teilen.“ Er küsste ihren Hals, seine Hände liebkosten ihre Brüste. „Klingt das nicht wie ein Traum? Willst du sie nicht, die unsterbliche Liebe?“
Sanft wollte er ihr einen Kuss auf die Lippen hauchen, doch Michelle rückte von ihm ab.
„Wie könnt Ihr so etwas sagen, Monsieur?! Ich kenne nicht einmal Euren Namen und ihr mich auch nicht“, widersprach sie schwach.
Oh ja, es klang wie ein Märchen. Unsterbliche Liebe. Konnte so etwas auf Erden möglich sein?
„Oh doch, ich kenne dich, Michelle Jardin. Ich weiß, du hast dasselbe leidenschaftliche Herz wie ich. Ich habe dich beobachtet und mit jeder Sekunde, in der ich deine anmutige Gestalt betrachtete, wuchs meine Liebe, meine bittersüße Sehnsucht nach dir. Michelle ...“
Während er so sprach, umklammerte er ihre Hände. Sein Mund bewegte sich dicht an ihren Lippen, seine Stimme klang leise und flehend wie bei einem Gebet, doch Michelle nahm sie kaum wahr. Sie trank seinen Atem und sehnte sich nach dem Geschmack seiner Lippen. Und doch ließen seine Worte heiße Schauer durch ihren Körper rieseln. Unendliche Sehnsucht erfüllte sie plötzlich auf das heftigste.
„Ja“, wisperte sie, „Ja, ich will“, und fühlte sich wie eine Braut.
Er zog sie in seine Arme. „Dann komm mit mir!“
Er stand auf und hob sie hoch, als wöge sie nicht mehr als eine Feder. Er trug sie aus dem Garten. Vor dem Tor wartete schon eine prächtige Kutsche. Das Gefährt war aus glänzendem, schwarzem Holz mit silbernen Beschlägen und Radkappen. Gezogen wurde es von vier Grauschimmeln, wie Fabeltiere erschienen sie ihr mit ihrem glänzenden Fell, vom Mondlicht beschienen. Ein in dunkelblauer Livree gekleideter Kutscher saß zusammengesunken auf dem Kutschbock. Michelle kam sich wahrhaftig wie eine Märchenprinzessin vor, die vom geliebten Prinzen in sein Königreich entführt wurde.
„Wie ist eigentlich Ihr Name?“, entfuhr es Michelle plötzlich.
Er lächelte: „François …“
Für einen Moment stiegen Zweifel in ihr auf, doch mit der Berührung seiner kühlen Hände, die ihr in die Kutsche halfen, verschwanden diese. Ewiges Leben, ewige Liebe, was konnte sie mehr verlangen? Schon jetzt war sie in glühender Liebe zu diesem gutaussehenden Fremden entbrannt, aber da war ein Gefühl in ihr ...
Er stand an der steinernen Brüstung eines Balkons und blickte hinab auf eine vom Mondlicht beschienene Landschaft. Ein dunkler Wald lag zu seiner Rechten, unter ihm breiteten sich weitläufige Wiesen aus, nur durchbrochen von einem breiten Flussbett. Das schwarze Gewässer, auf dessen Wellen silberne Lichter tanzten, wand sich aus einem Wald heraus und fand seinen Ursprung wohl in den fernen Bergen, deren Gipfel am Horizont als schwarze Gebilde erkennbar waren.
Damian riss sich vom Anblick der zauberhaften Landschaft los und drehte sich herum. Der Nachtwind spielte mit seinem Haar und wehte es ihm ins Gesicht. Weit geöffnete Glastüren baten ihn in das dahinter liegende Zimmer, die zarten, weißen Vorhänge, die sich im Wind bewegten, schienen ihn hinein zu winken. Langsam schritt Damian durch die Türen. Seine nackten Füße erzeugten keinen Laut auf dem kühlen, schachbrett-gemusterten Marmorboden. Neugierig blickte er sich um. Dunkle Schränke standen an der hintersten Wand, zu seiner Linken. Vor ihm, auf dem Boden, lag ein flauschiger Schaffellteppich. Doch dann wurde seine Aufmerksamkeit auf das Bett gelenkt, welches sich zu seiner Rechten in den Raum erstreckte. Es war ein großes Himmelbett, aus dunklem Mahagoni gefertigt und kunstvoll mit Schnitzereien verziert. Die Vorhänge des Bettes waren aus einem hauchdünnen, silbrig schimmernden weißen Stoff. Sie tanzten gleich Geistern im milden Wind der Sommernacht, der durch die geöffneten Balkontüren eindrang.
Damian trat an das Bett. Jemand schlief darin. Er erkannte eine weibliche Gestalt, die sich unter dem cremefarbenen Laken abzeichnete. Neugierig trat er näher. Rotbraunes Haar umrahmte ihr Gesicht, das von einer Zartheit war, wie er sie noch nie zuvor erblickt hatte. Die Lippen, von der Farbe zarter Rosenblätter, waren leicht geöffnet. Unwillkürlich verspürte er den Wunsch, sie zu küssen. Zögernd streckte er die Hand aus, um die Pfirsichhaut ihres engelhaften Antlitzes zu berühren. Sanft strichen seine Fingerspitzen über ihre glatte weiche Haut. Da schlug sie ihre Augen auf. Sie waren groß und glänzend, ihre Farbe war die von Smaragden. Er kannte diese Augen, nur woher?
„Du bist also gekommen“, sprach sie, und es klang mehr wie eine Frage als eine Feststellung. Ihre Stimme war sanft und leise. Wie eine verführerische Liebkosung berührte ihn ihr Klang.
„Ja“, flüsterte er.
Sie setzte sich im Bett auf, und das seidene Laken glitt von ihr. Sie war darunter unbekleidet. Erregung durchzuckte ihn wie ein Stromschlag, als er ihren perfekt geformten, makellosen Körper erblickte. Sie griff nach den Streichhölzern auf dem Nachttischchen neben dem Bett und entzündete den dreiarmigen Messingleuchter, der daneben stand. Im Schein der Kerzenflammen erschien sie ihm noch schöner. Goldene Lichter funkelten in ihren Augen und auf ihrem Haar. Er betrachtete ihren feingliedrigen Körper und seine Sehnsucht, sie zu berühren, verwandelte sich in pures Begehren. Dann streckte sie ihre Arme nach ihm aus und zog ihn zu sich auf ihr Lager. Ihre Lippen suchten die seinen und fanden sich zu einem tiefen Kuss, den er voller Leidenschaft erwiderte. Ihre Finger glitten von seinen Schultern zu der Knopfleiste seines blutroten Hemdes, geschwind begann sie, es aufzuknöpfen und streifte es von seinen
Schultern. Zärtlich von sanft gehauchten Küssen verfolgt, die Damian laut aufstöhnen ließen, strichen ihre Finger über seine harte Brust, umkreisten seine Brustwarzen, um dann, die Linien seiner Bauchmuskeln nachzeichnend, nach unten zu gleiten, wo sie am Gürtel seiner schwarzen Wildlederhose verharrten. Liebevoll küsste sie ihn, als ihre Hände seinen Gürtel lösten.
„Das erste Mal macht dich unsterblich“, sprach sie zu ihm und es klang wie eine Lehre.
Aber was meinte sie? Sie war nicht seine erste Frau und er auch garantiert nicht ihr erster Mann. Ihre kühlen Finger, die in seine geöffnete Hose glitten, löschten jeglichen Gedanken aus. Er bestand nur noch aus flammender Erregung. Bald lag auch er nackt neben ihr auf dem Bett. Zärtlich ließ er seine Hände, Lippen und Zunge ihren Körper erforschen. Genüsslich liebkoste er ihre Haut und erfreute sich an den lustvollen Schauern ihres Körpers, dem sehnsuchtsvollen Aufbäumen ihres Schoßes als er seine Hände die Innenseite ihrer Oberschenkel hinauf wandern ließ. Sanft küsste er sie dort, wo sich das Brennen der Leidenschaft zu einem glühenden Zentrum sammelte. Ein leiser Schrei entfuhr ihr.
„Damian!“
Langsam und spielerisch ließ er seinen Mund wieder an ihrem Körper hinauf wandern. Bis er das Zögern nicht mehr aushielt und sich zwischen ihre Schenkel legte. Sie bog sich ihm entgegen. Er sah ihr tief
in die Augen, küsste sie auf den Mund, seine Zunge fand die ihre zu einem lustvollen Reigen. Begierig schlang sie ihre Arme um ihn und presste ihren Schoß an seine Lenden. Als er in sie eindrang, mischte sich ihr ekstatisches Stöhnen mit dem seinen. Ihre Fingernägel gruben sich in seinen Rücken, ihre Beine schlangen sich um ihn. Hart bewegte er sich in ihr. Immer neue, immer stärkere Wogen der Lust brandeten durch ihre Körper, die von ihren Lustschreien begleitet wurden.
So war es noch nie gewesen, noch nie hatte er eine derartige Begierde empfunden. Immer näher kamen sie beide dem Höhepunkt und als sie sich unter ihm aufbäumte und sich stöhnend an ihn klammerte, hörte er plötzlich ihren Herzschlag. Er schien laut in seinen Ohren zu pochen. Noch einmal stieß er in sie und als er sich in ihr ergoss, fanden im gleichen Moment seine spitzen Eckzähne die weiche Haut ihres Halses, bohrten sich hinein, bis der süße rote Lebenssaft über seine Zunge und heiß und befriedigend durch seinen, noch immer mit dem ihren vereinigten Körper flutete. Erst als ihr Pulsschlag erlosch, ließ er von ihr ab.
Mit einem kurzen Aufschrei schreckte Damian hoch. Verwirrt fand er sich im Krankenhaus wieder. Sein Körper bebte und er war in Schweiß gebadet. Er fühlte das Rasen seines Herzschlages. Sein Haar fiel ihm in feuchten Strähnen auf die Schultern. Langsam, mit wackeligen Beinen verließ er sein Bett und ging zum Waschbecken. Noch immer schien er ihr Blut auf der Zunge zu schmecken. Alles war ihm so real erschienen. Die Empfindungen, die ihn erfüllten, als er sie tötete, diese Lust, die er irgendwo noch immer empfand, machten ihm Angst. Er blickte in den Spiegel. Sein feingeschnittenes, schmales Gesicht blickte ihm entgegen. Er war blass, beinahe war seine Haut so weiß wie die Laken des Krankenhausbettes. Seine dunkelblauen Augen leuchteten, in ihnen stand der Hunger zu lesen, den er empfunden hatte als ... – den er noch immer empfand! Kälte kroch seinen Rücken hinauf, ließ ihn erzittern. Er drehte den Hahn mit dem kalten Wasser auf und trank einen Schluck. Gründlich spülte er sich den Mund, bis das eisige Wasser ein taubes Gefühl in seiner Mundhöhle hervorrief und der Geschmack des Blutes fortgespült war. Dann wusch er sich das Gesicht. Was war nur mit ihm los? Was war in der vorigen Nacht geschehen? Woher kamen diese fremden, ja blutrünstigen Empfindungen in ihm? Er kannte sexuelle Träume und Phantasien, doch einer dieser vampirischen Art war ihm fremd. Er fuhr sich durch das Haar und wünschte sich sehnlich eine Zigarette. Noch immer bohrte dieser fremde Hunger in ihm und auch, da war er sich gewiss, das Nikotin würde diesen nicht betäuben, aber – da fiel ihm etwas ein.
Damian öffnete den Schrank, der neben dem Waschbecken stand. Sein schwarzes Lederjackett hing dort auf einem Bügel, ein Morgenmantel hing daneben. Ob der gegen die Kälte helfen würde, die ihn zittern machte? Er war nur in schwarze Shorts und ein dunkelblaues T-Shirt gekleidet. Schnell schlüpfte er in den Bademantel aus schwarzem Frottee.
Kim musste diese Sachen mitgebracht haben. Die Kleidung, die er gestern getragen hatte, war bis auf die Jacke verschwunden. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und spürte neben seinem Geldbeutel eine Schachtel. Er holte seine Zigarettenschachtel, die noch halb voll war und ein hellgrünes Wegwerffeuerzeug hervor. Ohne sich um das strenge Rauchverbot, das in jedem Krankenhaus herrschte, zu kümmern zündete er sich eine Zigarette an. Seine Hände bebten dabei. Genüsslich tat er einen tiefen Zug, bevor er nach dem Stuhl neben dem Fenster griff, um sich an dieses an der Wand gegenüber seines Bettes zu setzen. Er öffnete es weit, dann ließ er sich auf dem Stuhl nieder und war froh, in einem Einzelzimmer zu liegen. Er stützte die Ellenbogen auf die Fensterbank und blickte hinaus. Die Mondsichel stand über dem kleinen Krankenhauspark. Eine Fledermaus huschte am Fenster vorbei. Grillen zirpten. Die Luft war lau.
‚Ganz anders als letzte Nacht’, dachte er.
Es war kalt gewesen, sehr kalt für eine Julinacht, neblig und unheimlich. Er hatte eine kleine Nebengasse durchquert als, ... nein. Er konnte sich nicht erinnern. Er zog an seiner Zigarette und inhalierte den Rauch tief. Damian seufzte. Wenn er sich doch nur erinnern könnte!
‚Was ist gestern mit mir geschehen? Hängt es mit diesen neuen abscheulichen Empfindungen zusammen?’, fragte er sich.
Michelle stand hinter einem Baum und sah an der Fassade des Krankenhauses hinauf. Dort saß er, am Fenster. Sie verfolgte die anmutigen Bewegungen, mit denen er seine Zigarette rauchte, an welchen nicht einmal die Verwirrung etwas änderte, die er empfand. Sie verspürte diese Verwirrung so deutlich, als wäre sie ihre eigene. Sie bemerkte auch die Angst in ihm. Angst vor diesen neuen Gefühlen, die ihn heimsuchten, dieselbe Angst, die auch sie empfunden hatte, als sie zu dem Wesen wurde, das sie jetzt war. Doch im Gegensatz zu Damian Krieger hatte sie noch alle Erinnerungen an ihre Wandlung. Erinnerungen, die sie in ihm erst wieder würde wecken müssen, bevor es ein anderer tat, oder etwas anderes. Sie wäre gerne zu ihm gegangen und hätte ihn getröstet. Doch nun musste sie Nahrung finden.
Der blonde Mann lachte lautlos in sich hinein. Michelle hatte ihn nicht bemerkt, die Ahnungslose. Er trat hinter dem Gebüsch hervor, in dessen Schatten er sich verborgen hatte. Nun kannte er ihr Begehr. Einen Gefährten hatte sie sich geschaffen. Ein junger Bursche, der noch nicht wusste, welche Macht er jetzt in seinen Händen hielt, sollte ihn an ihrer Seite ersetzen! Siedende Wut kochte in seinem Inneren auf. Doch das würde er nicht zulassen. Seine Macht war größer, als das kleine Mädchen dachte. Ein kleines Mädchen, mehr war sie nicht für ihn, Franςois de Noire. Er wandelte schon länger mit den Schatten der Nacht als sie auf Erden. Geflohen war sie vor ihm! Vor ihm, der sie mehr liebte als alles andere auf dieser Welt, ihm, der sie geschaffen hatte, ihm, der alles für sie getan hätte, ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatte. Lange Jahre hatte er sie gesucht, länger als ein Menschenleben, aber jetzt hatte er sie wiedergefunden und er würde sie nicht ziehen lassen, mit so einem jungen Vampir an ihrer Seite, der noch nicht einmal sein erstes Opfer getötet hatte! Einem Vampir, der so jung und ahnungslos war wie sie damals. Vor unzähligen Nächten ... Er betrachtete sie, wie sie so dalag auf dem kunstvoll, mit Goldfäden bestickten, dunkelgrünen Diwan. Das lange, rotbraune Haar, ausgebreitet wie ein Fächer, umrahmte ihr Haupt, gleich einem Heiligenschein. Ein glückliches Lächeln lag auf ihren unschuldigen Zügen. Ihre Haut schimmerte golden im Licht der Kerzen. Der zarte Stoff ihres Nachtgewandes umgab sie wie eine Wolke. Der Umhang, den sie getragen hatte, lag neben ihr auf dem Boden.
„Dornröschen, das auf seinen Prinzen wartet“, assoziierte er und kniete neben ihr nieder.
Sanft hauchte er einen Kuss auf ihre Lippen. Wie er hatte sie den ganzen Tag verschlafen, nachdem er sie letzte Nacht in sein Landhaus gebracht hatte, das einige Stunden außerhalb der Stadt lag. Der Morgen war schon hereingebrochen, als sie hier ankamen. Ihre romantische Seele hatte sie fast ohne Bedenken mit ihrem alten Leben brechen lassen. Sie wollte ihrem Vater schreiben, er würde es verstehen, dachte sie, denn auch er war mit ihrer Mutter durchgebrannt. Jetzt schlug sie die Augen auf und schenkte ihm ihr unvergleichliches Lächeln, das ihn so verzaubert hatte. Sie setzte sich auf und streckte ihm ihre Hand entgegen. Liebevoll ergriff er sie und küsste ihre Handfläche.
„François“, flüsterte sie und der von Liebe erfüllte Tonfall ihrer Stimme erwärmte sein Innerstes, wie es sonst nur das Blut eines Sterblichen vermochte.
„Bist du bereit? Willst du bei mir bleiben?“, fragte er sie, obwohl er die Antwort kannte.
Sie war ihm längst verfallen. Atemlos nickte sie. Er zog sie in seine Arme und genoss das Gefühl, wie sie unter seinen Küssen erschauerte. Sein Mund glitt von ihrem Mund über ihre Wangen zu ihrem rasenden Puls hinab. Seine Eckzähne senkten sich in das weiße Fleisch ihres Schwanenhalses. Ihr süßes Blut rann ihm köstlich über die Zunge. Sie würde sein Geschöpf werden. Seine ewige Gefährtin, die ihm in Liebe zugetan war. Die ihn lieben würde bis in alle Ewigkeit, so wie er sie. Die ihn nicht verlassen würde wie ER es getan hatte. Wie ER ihn im Stich gelassen hatte.
François zuckte zusammen. Er starrte noch immer hinauf zum Fenster von Michelles ... neuem Gefährten. Doch dieser hatte es längst geschlossen. Wie lange stand er schon hier wie ein Mondanbeter? Er bemerkte, dass er hungrig war. Brüsk wandte er sich ab und ging. Den schlanken Schatten, der ihm folgte, bemerkte er nicht. Ein langer Mantel wehte im Nachtwind.
„Hey, Damian! Dam, Bruderherz!“ Kim rüttelte seinen Bruder an der Schulter. Seine grünen, mit schwarzem Kajal umrandeten Augen blitzten spöttisch. „Komm, es geht nach Hause.“
Damian vergrub leise fluchend das Gesicht im Kopfkissen.
„Wie spät ist es?“, vernahm Kim schließlich ein undeutliches Gemurmel, unter dem Kopfkissen hervor. „Acht Uhr morgens. Ich weiß, es ist eine unchristliche Zeit am Montagmorgen!“ Kim grinste sarkastisch. Damian setzte sich blinzelnd auf. Das helle Licht der Sommersonne, die durch das Fenster herein schien, schmerzte in seinen Augen. Igitt. Er würde gerne noch ein paar Stunden schlafen. Aber natürlich viel lieber zuhause als hier!
„Vor allem da ich die ganze Nacht im MIDNIGHT geschuftet habe. Der Barkeeper ist nämlich wieder nicht aufgetaucht“, informierte Kim ihn und reichte ihm eine Blue Jeans und ein schwarzes T-Shirt aus seinem Rucksack.
Damian schlüpfte gähnend in die Jeans und zog sich das Shirt, das er getragen hatte, über den Kopf. Der Club! Damian hatte noch gar nicht daran gedacht. Das MIDNIGHT befand sich im Keller des zweistöckigen Wohnhauses, das er mit Kim bewohnte. Das Haus und der Club hatte ihren Eltern gehört, die vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Er war damals 20, Kim 16 Jahre alt gewesen. Damian hatte das Lokal und die Vormundschaft für Kim übernommen, so war er schnell erwachsen geworden. Damian hätte sich damals zuerst am liebsten vor allem versteckt. Am Morgen ist man noch ein unbeschwerter Twen und am Abend … Er hatte nur schreien wollen, nur weinen. Doch irgendwie hatte er sich aufgerafft – aus Liebe für Kim und seine Eltern –, seine Pflicht getan und gemerkt, dass er die neuen Aufgaben bewältigen konnte. Und irgendwann war er wieder glücklich gewesen. Denn sie hatten zusammengehalten, die Brüder und geschafft, was ihre Eltern sich gewünscht hätten.
„Du wirst dir einen neuen Barkeeper suchen müssen. Frank ist einfach zu unzuverlässig“, sprach Kim weiter. „Ja, da hast du wohl Recht“, stimmte Damian zu und griff nach dem T-Shirt, das Kim mitgebracht hatte. Er erhob sich und wankte einen Moment. Er fühlte sich noch etwas schwach auf den Beinen, aber das würde schon vergehen. Er schlüpfte in das T-Shirt und ging zum Schrank, um Lederjacke, Morgenmantel und seine Doc Martens’ herauszunehmen. Als er sich nach den Schuhen bückte, schwindelte ihm leicht. Er übergab den Morgenmantel Kim und dieser reichte ihm im Gegenzug Socken und einen Kulturbeutel.
„Hab ich gestern vergessen mitzubringen.“ Kim stopfte die anderen Sachen achtlos in den Rucksack.
Damian ging zum Waschbecken und betrachtete sich – einen Moment über seinen Anblick erschrocken – im Spiegel. Es war nicht so, dass er schrecklich aussah, auch wenn seine Frisur starke Ähnlichkeit mit der von Robert Smith aufwies – er war verändert. Letzte Nacht war ihm dies nicht so aufgefallen, da er zu sehr in seinem Traum gefangen gewesen war, aber jetzt ... Seine dunkelblauen Augen waren von einem seltsamen Glanz erfüllt und schienen von innen heraus zu leuchten, die Haut seines Gesichtes war so glatt und rein wie die eines Babys. Sie hatte die Farbe frischer Milch und schimmerte matt. Auch seine vollen Lippen waren von einem ungewöhnlich blassem Rosé.
‚Ich sehe aus wie ein Gespenst’, dachte er und griff in den Kulturbeutel, um seine Zahnbürste herauszunehmen.
Auf dem Parkplatz wartete schon die schwarze Corvette ZR-1, sorgsam im Schatten einer großen Kastanie geparkt. Sie war unbeschädigt, soweit Damian feststellen konnte. Erleichtert atmete er auf und rückte seine Sonnenbrille zurecht. Draußen im Freien brannte das Licht ohne Sonnenbrille regelrecht in seinen Augen.
„Keine Angst. Ich habe gut auf dein Baby aufgepasst. Wir hatten viel Spaß zusammen“, wollte Kim Damian beruhigen und klopfte auf den Kotflügel des schwarzen Flitzers.
„Das habe ich befürchtet“, erwiderte Damian und versuchte das Bild eines irre grinsenden Kims, der am Steuer seines Autos mit 200 km/h über die nächtliche Autobahn raste, das vor seinem inneren Auge aufstieg, zu verscheuchen. „Autoschlüssel!“, forderte er.
„Damian“, flehend blickte Kim zu seinem Bruder auf. Viel zu selten kam er in den Genuss diesen Wagen fahren zu dürfen.
„Autoschlüssel!“, wiederholte Damian gefährlich leise.
„Lass mich wenigstens noch ... “ Kim holte den Schlüssel für den Wagen aus der Tasche seiner Jeans. Damian riss sie ihm sogleich aus der Hand. „... nach Hause fahren“, beendete er resigniert den Satz.
Er wusste, dass jedes Betteln und Flehen vergebens war, wenn es um die Corvette ging. Das Auto hatte ihrem Vater gehört und Damian liebte es. Damians und Kims Vater hatte nie Gelegenheit gehabt es selbst zu fahren. Die Eltern waren unterwegs gewesen, es abzuholen, als der Unfall geschah.
„Komm jetzt, Kim. Lass das Trauern und steig ein!“
Damian drehte den Zündschlüssel und öffnete das Verdeck.
Damian fuhr das Auto in die Garage und stellte den Motor ab. Mit einem Seufzer stieg er aus und warf die Wagentür ins Schloss. Auch Kim war inzwischen ausgestiegen und betätigte die Fernbedienung, um die Garagentür wieder zu verschließen. Damian rieb sich die Schläfen, sein Kopf schmerzte. Ihm war, als hätte er eine leichte Migräne. Durch die Verbindungstür trat er direkt in das Wohnzimmer und war erleichtert darüber, endlich wieder zuhause zu sein. Es war ein großes, helles Zimmer. Ein bis zum Boden und beinahe die Decke erreichendes, dreiteiliges Fenster nahm die gesamte Wand zu Dams Linker ein. Weiße Stores hingen am Fenster, am Parkettboden lag ein ebenfalls weißer, flauschiger Plüschteppich. Der Teppich lag nahe am Fenster, darauf standen ein schwarzer Dreisitzer und zwei passende, gemütliche Sessel im rechten Winkel zueinander. Davor fand ein Couchtisch mit Rauchglasplatte seinen Platz. Nah anbei stand das TV-Set mit großem Markengerät und Videorecorder. Zu Damians Rechter führte eine Wendeltreppe durch die Decke ins obere Stockwerk, wo sich neben seinem und Kims Zimmer das Badezimmer und ein Gästezimmer befanden. Die Wand hinter der Wendeltreppe nahm eine Regalwand ein, welche allerdings weniger Bücher als CDs, Schallplatten und MCs enthielt. Denn dort befand sich auch die Stereoanlage, zu der Kim jetzt, wie meist, wenn er die Wohnung betrat, eilte. Die Bücher befanden sich im obersten Stockwerk, direkt unter dem Dach. Die Wendeltreppe führte vom ersten Stockwerk direkt in ein einziges großes Zimmer hinauf – das war die Bibliothek. Schon Damians Urgroßeltern väterlicherseits hatten Bücher geliebt, gesammelt und dieses Faible weitervererbt. Auch Damian liebte Bücher und las für sein Leben gerne.
Dam ließ seine Jacke, nachdem er seine Zigaretten aus der Tasche genommen hatte, auf Kims Rucksack fallen, den dieser neben der Tür abgelegt hatte und ging zur Couch. Mit einem Gähnen ließ er sich in die Polster fallen und nahm den Aschenbecher aus schwarzem Glas vom Tisch. Er wollte die Erleichterung, endlich wieder zuhause zu sein, eine Weile auskosten und fühlte, wie er sich ein wenig entspannte, und wie auch seine Kopfschmerzen nachließen, all dies genoss er wohlig. Er kuschelte sich in die Polster und stellte den Ascher auf seinem Oberschenkel ab. Kim legte ein Tape ein und ließ sich in einem der zwei Sessel nieder, die vor der Regalwand um ein kleines Tischchen herum standen. Es versetzte ihn offensichtlich in gute Stimmung, Damian wieder bei sich zu haben, denn er summte dabei leise vor sich hin. Sogleich erfüllte harter Düsterrock den Raum, eine Männerstimme, die dunkle Melancholie vermittelte, verlieh dem Lied ein Ambiente, das sofort an einsame Vollmondnächte denken ließ. Damian entzündete seine Zigarette und blickte zu Kim, der sich mit schwarzem Nagellack bewaffnet, an seinen Nägeln zu schaffen machte.
„Wie findest du das Tape?“, frage Kim. „Ich habe es gestern von Stefan bekommen.“
Stefan war Kims bester Freund und arbeitete außerdem manchmal als DJ im MIDNIGHT.
„Bis jetzt echt gut. Erinnert ein wenig an die Sisters of Mercy. Allerdings tendiert es noch etwas mehr in die Rockschiene. Ein bisschen The Cult würde ich sagen.“ Damian klopfte seine Zigarette ab und blies den Rauch aus. Interessiert lauschte er den Klängen. „Ja, die haben echt etwas drauf!“
Kim betrachtete prüfend seine linke Hand und wandte sich dann seiner Rechten zu, wobei er konzentriert die Stirn runzelte.
„War gestern viel los?“, erkundigte sich Damian dann.
„Alles schwarz“, antwortete Kim, was soviel hieß wie „volles Haus“