„Unnahbar – Eine Liebe unter Frauen“ von Sigrid Lenz
herausgegeben von: Club der Sinne®, Club der Sinne®, Allee der Kosmonauten 28a, 12681 Berlin, Dezember 2008
zitiert: Lenz, Sigrid: Unnahbar – Eine Liebe unter Frauen, 1. Auflage
© 2008
Club der Sinne®
Inh. Katrin Graßmann
Allee der Kosmonauten 28a
12681 Berlin
www.Club-der-Sinne.de
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Stand: 01. Januar 2013
Gestaltung und Satz: Club der Sinne®, 13086 Berlin
Coverfoto: © Club der Sinne® 2008
Fotografin: Sandra Neumann, www.libertina.de
Covergestaltung: Club der Sinne®
ISBN 978-3-95527-090-2
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Sigrid Lenz
Unnahbar
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Eine Liebe unter Frauen
Amelia beugte sich über ihre Tastatur. Ihr volles kastanienbraunes Haar fiel ihr erneut über die Augen, und sie schüttelte es ärgerlich zurück. Ihr Rücken schmerzte, und die Stille im Haus wirkte beinahe furchteinflößend. Nicht dass es lauter gewesen sei, als ihre Großmutter noch lebte. Und doch gab es diesen Unterschied. Er war verwirrender, als sie es angenommen hätte, falls ihr jemals dieser Gedanke gekommen wäre.
Nicht nur, dass eine pflegebedürftige alte Dame ständiger Aufmerksamkeit und Pflege bedurfte. Allein die leisen Geräusche, die sie verursachte, die sachten Seufzer, das Stöhnen und Knarzen, wenn sie sich im Bett herumgedrehte. All dies, all die kleinen Unannehmlichkeiten und Ärgernisse waren doch auch Zeichen des Lebens. Sie waren Beweise der Anwesenheit einer weiteren Seele, die mit ihr, mit Amelia verbunden war. Sie waren nicht nur durch Blut, sondern auch durch das Schicksal bis zum letzten Atemzug aneinander gekettet. Ein halbes Jahr war es nun her, dass Amelias Großmutter diesen letzten Atemzug getan hatte, und Amelia bereute nichts. Nicht dass sie bis zum Ende für sie gesorgt, nicht die Mühen, den Ärger, die Verzweiflung oder die Kraft, welche die Pflege ihr abverlangt hatte. Es hatte für sie nie einen Zweifel gegeben, nie eine Alternative. Wenn jemand imstande gewesen war, der alten Dame einen menschenwürdigen Abschied zu schenken, dann war sie es.
Amelia starrte auf den Monitor und versuchte vergebens, sich auf die Übersetzung der erotischen Abenteuer eines englischen Grafen zu konzentrieren. Wenn sie ehrlich war, bearbeitete sie diese Art von Geschichten sogar lieber als die Dutzendware an Thrillern, die ihr ansonsten vorgesetzt wurde. Müsste sie noch einen unschuldigen Körper von Tausenden stahlharter Geschosse zerfetzt sehen, würde sie wohl kündigen und sich auf Gebrauchsanweisungen spezialisieren.
Amelia lehnte sich zurück und rieb ihre Schläfen. Es war vielleicht falsch, sich derartig von der Arbeit vereinnahmen zu lassen. Wovor fürchtete sie sich? Auf ihr lastete keine Schuld. Sie hatte ihr Bestes getan, man hatte es ihr von jeder erdenklichen Seite versichert. Ihre Großmutter hatte genug gelitten. Ihre wenigen lichten Augenblicke durfte sie dort verbringen, wo sie zu Hause war, anstatt in einer kalten Institution. Es war nur menschlich und verständlich, dass es schwer für Amelia war, dass sie ihr Schicksal auch manchmal verflucht, dass sie Gedanken an den Tod der alten Dame mit sich herumgetragen hatte. Niemand konnte ihr das übel nehmen. Und doch beunruhigte Amelia mehr als alles andere die Tatsache, dass sie nicht imstande gewesen war, auch nur eine Träne zu vergießen. Sie hatte nicht weinen können, konnte es auch jetzt nicht. Auch wenn Großmutter ihr fehlte, auch wenn das leere Haus ihr unerklärliche Ängste einjagte, auch wenn die Einsamkeit unerträglich schien. Die heilsamen Tränen saßen hinter ihren dunklen Augen fest, unfähig sich aus ihrer verkrusteten Schale zu lösen.
Es hatte keinen Sinn. Die Depression streckte bereits ihre langen Finger nach ihr aus. Amelia seufzte. Vielleicht würde es ihr helfen sich abzulenken. Ein Blick in ihren elektronischen Briefkasten, ein harmloser Flirt ohne Verpflichtungen und Zwänge, vielleicht konnte sie dem drohenden Abgrund auf diese Weise noch ein Schnippchen schlagen. Und tatsächlich zauberte der Anblick ihres Monitors ein schmales Lächeln auf Amelias Gesicht. Wie erwartet prangte eine Chateinladung der gesichtslosen und sich in sicherer Entfernung befindlichen Irene über allem anderen. Sie sah die Frau vor sich, von der sie nicht mehr wusste, als dass sie ebenfalls in Riesenschritten auf die Vierzig zu ging und dass sie ihr mit Sicherheit niemals begegnen würde, zumindest nicht wenn es nach ihr ginge. Amelia lächelte. Irene war eine Meisterin in belanglosem Geplänkel gewürzt mit kleinen Anzüglichkeiten. Genau das, was ihr der Arzt in einem Moment wie diesem verschrieben hätte.
Nicht weit von ihr entfernt, doch getrennt durch Mauern, Fenster und sich sanft im Luftzug bewegende Gardinen, stand eine blonde Frau im Schatten des Hochhauses, das Amelias Heim Sonne und Sicht nahm. Unbeirrt starrte Felice in die Höhe, fixierte mit ihrem Blick die Außenwände des Zimmers, von denen sie wusste, dass Amelia sich dahinter verbarg. Ihr Haar schimmerte golden im Licht des schwindenden Tages. Ihre Stirn war gerunzelt, die Augen wirkten verloren in dem blassen Gesicht. Es half nichts. Wenn die Frau sich nicht bald ihr zeigte, nicht bald eine Chance böte, sie anzusprechen, auf irgendeine Art Kontakt zu ihr aufzunehmen, dann bliebe ihr nichts anderes übrig, als einen neuen Weg zu gehen, um ihr Ziel zu erreichen.
Felice nahm ihren schwarzledernen Rucksack von der Schulter und kramte in einer Seitentasche, aus der sie eine zerdrückte Packung Menthol-Zigaretten ans Licht beförderte. Sie verdrehte die Augen in Erinnerung an all die dummen Bemerkungen, die sie sich im Lauf der Zeit hatte anhören müssen und zuckte mit den Achseln. Jeder nach seinem Geschmack und ein bisschen außergewöhnlich dürfte es wohl sein. Sie steckte sich eine Zigarette zwischen ihre kalten Lippen. Mit steifen Fingern gelang es ihr schließlich, sie anzuzünden. Felice inhalierte tief. Diese Nacht würde sie noch abwarten. Dann jedoch war es an der Zeit sich einen neuen Schritt zu überlegen. Länger konnte Felice die nächtliche Kälte des beginnenden Frühlings nicht mehr ertragen.
Amelia verließ das Haus vorzugsweise während der Zeitspanne, in der sich tröstende Dunkelheit über das hektische Treiben der Großstadt legte. Die Dämmerung versprach scheinbar Ruhe und Frieden, und doch reichte ihr die Illusion, um den Mut zu fassen, die eigenen Wände hinter sich zu lassen. Sei es auch nur, um belanglose Besorgungen zu machen, einen Weg hinter sich zu bringen, der ihr bei grellem Tageslicht zu schwer gefallen wäre. Die Momente, in denen das Leben begann, sich Schutz und Geborgenheit zu suchen, in denen es aufhörte, sich pausenlos zu präsentieren, sondern Platz machte für andere, heimliche Werte, diese Momente waren ihr stets die kostbarsten gewesen. Sie hatten ihr geholfen, ihren Weg weiter zu gehen, so schwer es ihr manchmal auch gefallen war.
Sie packte die unförmige Einkaufstasche fester, als sie die Haustür hinter sich schloss. Die Zeit der langen Nächte machte vieles einfacher. Es war leicht, sich vorzustellen, der Tag sei überstanden. Leicht, sich einzureden, im Dunkel unsichtbar zu sein, ein Schatten nur, der keine Bedeutung, keinen Einfluss auf den Lauf der Welt hatte.
Und doch ließ das vertraute Gefühl sie frösteln, sobald ihre Schritte auf dem Asphalt ertönten. Nicht einmal die zerschlissenen Turnschuhe ermöglichten ihr die Lautlosigkeit, die sie sich ersehnte. Sie hasste es, als ihr Puls sich beschleunigte, das Herz zu rasen begann. Amelia bemühte sich, ruhig zu atmen, verkrampfte ihre Hände um den dunkelgrünen Kunststoff. Wenn sie nur ein wenig besser geplant hätte, wäre ihr der heutige Weg vielleicht erspart geblieben.
Einen Moment überlegte Amelia, ob sie umkehren, ob sie versuchen sollte, ohne den umständlichen Beistand der doch so notwendigen Tampons auszukommen. Sie schluckte trocken. Nein, es brachte nichts. Im Gegenteil, der Stress nahm zu mit jedem Zugeständnis an ihre Schwäche. Trotzdem konnte sie es nicht verhindern, dass die Angst ihr kalt den Rücken empor kroch. Sicher, es handelte sich nur um Einbildung. Natürlich, niemand hätte einen Grund sie, ausgerechnet sie zu verfolgen, anzustarren, seine Blicke auf sie zu richten, während sie versuchte, sich kleiner zu machen, versuchte, der Schatten zu werden, der sie schon immer sein wollte.
Und doch waren da Augen, die an ihr klebten. Sie spürte mit beängstigender Gewissheit, dass sie nicht allein war, dass sie sich im Fokus eines anderen Menschen befand.
Amelia beschleunigte ihre Schritte. Ihr Atem ging hastig, ihr Herz pochte. Es war nicht weit zum Supermarkt. Zudem wusste sie, dass sich diese absurden Gefühle lediglich in ihrer ausufernden Einbildung austobten, dass es keinen Grund gab, nicht einmal den Hauch einer Möglichkeit geben konnte, dass irgendjemand an ihr, ausgerechnet an ihr, Interesse haben sollte, um ihr aufzulauern, um ihr zu folgen.
Und doch spähte sie zurück, wann immer die Bewegung ihr unauffällig schien. Der Blick über die Schulter, Versuchung und erschreckend zugleich. Und schließlich, beim Überqueren der Straße, über die haltenden Autos und ihre funkelnden Lichter hinweg, sah sie die Frau. Nein, verbesserte sie sich stumm, das Mädchen, nicht viel älter als Zwanzig. Was sie nicht hatte zugeben wollen, wurde Gewissheit. Sie war es, hinter ihr, neben ihr, um sie. Immer in Entfernung, doch stets in ihrer Nähe.
Amelia konnte nicht angeben, wie lange die Unbekannte ihr folgte, für wie viele Tage ihre Paranoia auf einer real existierenden Ursache beruhte. Doch in diesem Moment sah sie es klar und deutlich. Keine Verdrängung, keine Einbildung konnte ausreichend erklären, was vorging.
Amelias Wangen brannten. Ihr Hals schien ausgekleidet mit Sandpapier. Es war unsinnig. Einbildung, nicht mehr. Sie war einfach zu lange allein, zu lange ohne Gesellschaft, ohne Gesprächspartner geblieben. Kein Wunder, dass ihre Fantasie begann, Purzelbäume zu schlagen.
„Ist das Ihres?“
Ein leichter englischer Akzent, seltsam vertraut. Weite grüne Augen, die in ihre tauchten. Amelia öffnete den Mund, doch die Antwort wollte ihre Kehle nicht verlassen. Glänzendes, helles Haar, am Kopf gehalten durch einen breiten Schal, umrahmte ein zartes Gesicht. Stumm schüttelte Amelia ihren Kopf, das dünne Tuch, das die Fremde ihr entgegenhielt, nur aus den Augenwinkeln wahrnehmend.
„Oh, I’m sorry“, murmelte das Mädchen und zog scheu ihre Hand zurück.
„No problem.“
Amelia konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als die andere unvermittelt und natürlich in die englische Sprache wechselte. Achtzehn Jahre war es nun her, dass sie dieses Land und ihre Träume dort verlassen hatte. Und immer noch fiel es ihr leichter, fand sie sich ohne Schwierigkeiten in den Lauten, der Melodie, dem Tonfall wieder, der ihr doch fremder sein sollte, als jede andere Sprache, die sie einst gelernt hatte.
Das Mädchen, die junge Frau, sah sie immer noch an, und Amelia konnte nicht anders, als den Blick zu erwidern. Sie war es, das Mädchen, das ihr wiederholt aufgefallen war. Direkt vor ihr erschien sie ihr erfahrener, älter, als sie von weitem angenommen hatte. Kleine Fältchen zeichneten sich um Mund und Augen, dunkle Ringe unter den Lidern. Jung war sie, wenn auch vielleicht nicht so jung, wie Amelia zuerst angenommen hatte. Das Leben hatte sie schon gezeichnet.
Amelia stoppte ihren Gedankengang. Erneut schüttelte sie ihren Kopf, setzte zu einer abwehrenden Geste an. Doch bevor sie ihre Hand erheben konnte, trat das Mädchen einen Schritt zurück, beinahe als geniere es sich seiner Dreistigkeit. Gleichzeitig und unerwartet knickte es in der Bewegung ein, strauchelte und wäre beinahe zu Boden gestürzt, hätte Amelia sich nicht unwillkürlich vorgebeugt und unkontrolliert ins Leere gegriffen. Welch spontaner Einfall sie zu diesem untypischen Verhalten getrieben hatte, entzog sich ihrer Kenntnis, und doch konnte sie nicht anders, als dem Impuls nachzugeben. Und wie durch ein Wunder ergriff die Fremde den täppischen Versuch der Hilfestellung und zog sich geschwinder, als Amelia es für möglich gehalten hätte, in die Höhe, ihren Stand problemlos stabilisierend.
„Danke“, murmelte sie leise und schenkte Amelia einen vertrauensvollen Blick. Ein Augenaufschlag nur enthüllte den durch lange, seidige Wimpern nebelig wirkenden Glanz. Ein Zauber, der verging, noch bevor sie ihn erkannt, noch bevor sie sich seiner Existenz bewusst geworden. Und gleichzeitig registrierte Amelia das Zerbrechliche in der schmalen Gestalt, die sich ein wenig zu schnell, ein wenig zu ängstlich von ihr gelöst hatte, bereit, wieder in den Schatten zu verschwinden. Noch etwas bemerkte die Dunkelhaarige, ohne es zu wollen. Tatsächlich wehrte sie sich gegen diesen Eindruck, bemühte sich, ihn fortzustoßen. Doch wollte es ihr nicht gelingen. Zu auffällig, zu deutlich sprang ihr das Verwahrloste der Erscheinung, das Verfrorene des dünnen Körpers in den klammen Klamotten, ins Auge.
Hastig wich sie zurück, bereute ihre Bewegung sofort, als ihr die Verletzlichkeit des jungen Mädchens bewusst wurde. Was wusste sie schon? Die Stadt war angefüllt mit armseligen Existenzen, mit Menschen, die Pech gehabt, die es nicht so gut getroffen hatten wie sie. Gerade in den letzten Jahren nahm die Anzahl streunender Jugendlicher, Ausreißer und Flüchtlinge rapide zu. Amelia versuchte stets, die Augen zu verschließen, doch es gelang ihr nicht, würde ihr nie gänzlich gelingen. Das Leben war schwer genug. Was wollte sie von dem Elend anderer wissen? Was konnte sie schon tun? Doch irgendetwas in dem Blick des Mädchens ließ ihre Nerven vibrieren.
Amelia presste die Lippen zusammen und riss sich los. Sie würde sich nicht von ihrer Einsamkeit dazu verleiten lassen, eine Dummheit zu begehen, sie nicht. Ohne sie noch einmal anzusehen, trat sie an der jungen Frau vorbei und steuerte direkt auf den Laden zu, den sie ins Auge gefasst hatte.
Ihr Herz schlug immer noch bis in den Hals hinauf, als sie den Supermarkt mit ihrem Einkauf wieder verließ. Nicht das grelle Licht in seinem Inneren, nicht die sanfte Musik im Hintergrund, nicht ihr gewohntes Ungeschick, das sie dazu gezwungen hatte, vor der Kasse die beim Versuch zu zahlen heruntergefallenen Münzen wieder aufzuheben, nichts davon hatte gereicht, Amelia die kurze Begegnung vergessen zu lassen. Wie immer, wenn sie nervös war, fuhr sie mit der Zunge über ihre neueste Zahnkrone, während ihre Augen versuchten, sich wieder an die durch Straßenlaternen, bunte Reklamen und erleuchtete Fenster erhellte Umgebung zu gewöhnen.
Und als hätte sie es geahnt. Als hätte sie es im Stillen erhofft, als wäre es unvermeidbar, vorherbestimmt gewesen, wartete die Fremde auf sie. Auch ohne sie zu sehen, spürte sie deren Anwesenheit. Ob es ihr Wunsch war, der ihr dieses Bild diktierte, oder eine Eingebung, ein Wink des Schicksals, Amelia war sich nicht sicher. Doch einer Sache war sie sicher: Der Gestalt, die ihr auflauerte, die ihr folgen würde, und die nun, endlich, ein Gesicht erhalten hatte.
„Entschuldigung noch mal.“
Da war sie wieder, die Stimme, die diesen vertrauten Klang in sich trug, diese leichte Schwingung, die unnötige Dehnung mancher Vokale, den unmerklichen Beigeschmack, der sie so sehr an Joanne erinnerte. Der sie zu sehr an Joanne erinnerte, einen Schmerz erweckte, den sie vergessen geglaubt.
Die junge Frau versuchte sich an einem schwachen Lächeln. „Ich wusste, dass das Tuch nicht Ihnen gehört. Ich wollte nur ein Gespräch mit Ihnen beginnen.“
„Wie bitte?“ Amelia bemühte sich, schnippisch zu klingen, abweisend. Sie hatte Besseres zu tun, als sich von wildfremden Menschen bequatschen zu lassen. „Ich habe leider keine Zeit.“
‚Für so etwas‘, wollte sie noch hinzufügen, doch der Strahl silbernen Lichtes, der in die weit geöffneten Augen des Mädchens traf, sie zum Schimmern brachte, ließ Amelia verstummen.
„Ich wüsste wirklich nicht…“, setzte sie etwas sanfter hinzu, doch ertappte sich dabei, wie ihr Blick sich in dem der anderen verfing. Diese Augenfarbe, dieser eigentümliche Ton zwischen Grün und Blau, nur wenig heller als die sternenlose Dunkelheit, die über ihnen lastete, auch sie war ihr vertraut, blieb seit langen Jahren unverändert in ihr Gedächtnis eingebrannt.
„Es tut mir leid“, stammelte das Mädchen, doch packte sie zugleich mit eisernem Griff um ihr Handgelenk.
„He!“
„Ich bin Felice.“ Sie verstummte, als wäre sie sich ihres ungebührlichen Verhaltens bewusst geworden, zog hastig ihre Finger zurück. „Erinnerst du dich an mich?“
Amelia blinzelte. Eine Erinnerung flackerte auf. Schwach und so rasch, dass sie nicht imstande war, den Eindruck festzuhalten. Und doch wuchs da etwas in ihr, ein Bild, eine Gestalt. Lachen, Sonnenschein, ein Kind. Ein Mädchen in einem hellen Sommerkleid. Sie selbst, glücklich, geliebt. Arm in Arm mit Joanne. Gemeinsam Joannes kleines Töchterchen beobachtend. Das kleine Mädchen, das unbeschwert auf der grünen Wiese, dem satten, englischen Rasen umher tollte. Wie alt mochte das Kind gewesen sein, fünf, sechs?
„Ich war klein.“ Die junge Frau sah Amelia fragend an. „Ein Kind noch. Meine Mutter und du… und Sie…“
Amelia ließ ihren Kopf sinken, bis ihr Haar das Gesicht verdeckte, das, wie sie wusste, entweder blass oder knallrot geworden war. Das Brennen in ihren Wangen sprach für Letzteres.
„Ich verstehe nicht. Joanne?“ Sie schüttelte die Locken zurück, sah suchend nach links und rechts, als würde ein Geist aus der Vergangenheit plötzlich neben ihr auftauchen.
„Mum ist gestorben, schon vor vielen Jahren.“ Felice sah sie aufmerksam an. Sie waren ungefähr gleich groß, zumindest wären sie es, wenn Felice ebenfalls flache Absätze tragen würde. Amelia rieb sich die Stirn und schloss die Augen. Welch seltsame Gedanken einen Menschen in einem solchen Augenblick einholten? Natürlich hatte sie schon vor sehr langer Zeit mit dieser Episode ihres Lebens abgeschlossen. Es gab keinen Grund, für irgendein Gefühl der Trauer, war doch ihre Zeit damals unschön zu Ende gegangen. Sie war verzweifelt und benutzt zurückgelassen worden, ohne dass Joanne einen Zweifel daran gelassen hatte, dass sie für immer aus ihrem Leben verschwinden sollte.
Und doch versetzte ihr die Erkenntnis des Verlustes einen schmerzhaften Stich. Ein weiterer Beweis der eigenen Vergänglichkeit und der Vergänglichkeit derer, die einst geliebt worden waren.
Amelia fing sich wieder, den Blick der anderen förmlich in ihrem Gesicht spürend. „Es tut mir leid, das zu hören.“
Felice zuckte mit den Schultern.
„Sie hatte mich schon lange weggegeben. Da war nichts mehr, weswegen ich sie vermissen könnte.“
„Aber…“ Amelia presste die Lippen zusammen. „Wieso bist du hier? Was führt dich hierher?“
Felices Augenlider senkten sich. Ihre zuvor aufrechte Haltung erhielt einen Knick. „Das ist wirklich schwer zu erklären.“
Unter seidigen Wimpern sah sie scheu nach oben, ihre Erscheinung verwandelte sich von der einer jungen Frau in die eines unsicheren Kindes.
„Aber woher weißt du denn, wer ich bin, wo du mich finden konntest?“
„Ich wusste es nicht.“ Felice lächelte zaghaft. „Aber du warst nicht schwer zu entdecken. Mum hatte immer noch deine Adresse.“
„Aber wieso hast du nicht angerufen?“ In Amelias Kopf brummte es.
„Hab mich nicht getraut.“ Das Mädchen lächelte unvermutet. „Und was hätte ich sagen sollen?“
Amelia errötete. Verlegen sah sie sich um. „Wo wohnst du eigentlich?“
Wieder zuckte Felice die Achseln, schwieg beinahe trotzig.
Seufzend resignierte die Ältere. Bevor ihr bewusst werden konnte, wie ungewöhnlich ihr Verhalten war, trotteten die beiden Frauen bereits nebeneinander her, nahmen den direkten Weg zum Haus, in das Amelia schon viel zu lange niemanden mehr eingeladen hatte.
Amelias Herz schlug bis in ihren Hals hinauf, als sie den Schlüssel im Türschloss drehte. Er verursachte ein unangenehm knarzendes Geräusch. Amelia begann sich zu genieren. Sie war nicht eingerichtet auf Besuch, wusste nicht, was in sie gefahren war, welcher Teufel sie geritten hatte, diesem fremden Menschen Einlass in ihr Heim, in ihre Burg zu gewähren. Die Tür quietschte und Amelia fuhr unwillkürlich zusammen, leckte sich nervös die Lippen, als sie rasch hineinging und das Licht einschaltete. Ihr Blick fuhr prüfend über die altmodische Einrichtung, die schon seit längerem einer gründlicheren Reinigung oder zumindest eines gründlichen Staubwischens bedurfte. Sie seufzte innerlich, schluckte jedoch dann die Peinlichkeit resolut hinunter und stieß die Tür weit auf, um die junge Frau einzulassen.
Felice lächelte, als sie eintrat. Erwartungsvoll sah sie sich um, einerseits froh, endlich ihr Ziel erreicht zu haben, andererseits mit einem Hauch von Unsicherheit, der darin begründet lag, dass die Frau, auf die sie getroffen war, eine Vielzahl widersprüchlicher Signale aussandte, auf die Rücksicht zu nehmen mit Sicherheit einen Teil des Erfolges ausmachte.
„Es ist nicht aufgeräumt“, wandte Amelia sich ihr entschuldigend zu.
Felice zuckte mit den Schultern und verstärkte ihr Lächeln. Sie war sich des Zaubers bewusst, den sie ausstrahlen konnte, wenn sie es darauf anlegte. Nicht selten war ihr Äußeres eine große Hilfe für sie gewesen, hatte ihre Schönheit ihr Wege geebnet und Kontakte ermöglicht. Warum auch nicht hier die Vorzüge benützen, die ihr von der Natur in die Wiege gelegt worden waren?
„Ich bin ganz anderes gewohnt“, erwiderte sie und ließ die Worte dunkel und samtig erklingen, vertrauenerweckend und zugleich verführerisch, wie sie hoffte.
Amelia sah sie mit unverhohlenem Erstaunen an, so als könnte sie es kaum fassen, diesen Besuch zu erhalten, zumal der versprach, interessanter zu werden, als sie es sich hätte vorstellen können. Amelia schluckte und wand sich ab, bemüht, den Anschein zu erwecken, als gebe es auf dem schmalen Telefontischchen etwas Wichtiges zu ordnen. Sie rückte die Zettel gerade, glättete, soweit es ihr möglich war, das Kabel des altmodischen Apparates, bevor sie tief Luft holte und Felice erneut über ihre Schulter hinweg ansah.
„Möchtest du etwas trinken? Einen Tee vielleicht?“
Felice nickte. „Sehr gerne.“ Sie rieb mit der rechten Hand ihren linken Unterarm. „Es ist etwas kalt.“
„Ja.“ Amelia antwortete rasch, dankbar für das unverfängliche Thema. Sie deutete Richtung des Wohnzimmers und räusperte sich, unfähig ihrer Nervosität Herr zu werden. „Ich gehe vor“, stotterte sie schließlich leise und wies den Weg zu einer Couchecke, die gemütlich, wenn auch gebraucht aussah. Amelia bückte sich, um die Sofalampe einzuschalten, deren Licht einen rötlichen Schein über die Polster und durcheinander gewürfelten Kissen warf und eine einladende Stimmung erzeugte.
Mit einem erleichterten Seufzer ließ Felice sich auf die Couch sinken. „Das tut gut“, stöhnte sie und sah Amelia entschuldigend an. „Ich konnte schon so lange nicht mehr richtig ausruhen“, fügte sie hinzu und blinzelte der Dunkelhaarigen neckisch zu.
Amelia konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. „Der Tee kommt gleich“, murmelte sie und betrat die eingebaute Küche. „Es dauert nicht lang“, fügte sie hinzu, sich längst vergessener Pflichten als Gastgeberin erinnernd.
„Das hat keine Eile“, erwiderte Felice. „Ich bin so froh, dass du mich überhaupt hereingelassen hast.“ Sie zögerte. „Ich meine, nach all dem, was geschehen ist.“
Ihr Blick wanderte geistesabwesend über die wenigen gerahmten Bilder, welche die Wände schmückten. „Im Grunde kennen wir uns ja gar nicht. Du hast nur mein Wort.“
Amelia holte zwei Tassen aus dem Schrank und brachte sie in das Wohnzimmer. Sie stellte sie vor Felice, überlegte einen Moment, fügte eine Dose Zuckerwürfel aus der Anrichte neben sich hinzu, bevor sie sich ebenfalls niedersetzte, den Wasserkessel im Auge behaltend.
„Wieso sollte ich dir nicht glauben?“, fragte sie schließlich und sah Felice mit schiefgelegtem Kopf an. „Das Schlimmste, was mir passieren könnte, wäre wohl, dass du mich niederschlägst, ausraubst oder umbringst.“
„Na ja, das wäre dann wohl schlimm genug“, unterbrach Felice sie.
„Wenn du meinst.“ Amelia lächelte traurig, ein kleines, resigniertes Lächeln.
„Du hast es doch schön hier“, setzte Felice hinzu, bewusst die Stimmung des Augenblickes abwehrend.
„Es sind viele Erinnerungen überall, Erinnerungen, die nicht unbedingt erfreulich sind.“
Felice schwieg. „Ich wusste nie etwas über dich, außer der unklaren Erinnerung an meine Kindheit. Es war, als wäre dies die schönste Zeit für mich gewesen. Eine Zeit, in der ich noch eine Mutter, eine Familie haben durfte.“
„Aber, ich dachte, Joanne und Stephen hätten wieder zueinander gefunden.“
Felice schnalzte mit der Zunge. „Das war wohl nichts.“ Sie schenkte Amelia ein trauriges Lächeln.
„Ich kann mich an fast nichts mehr aus dieser Zeit erinnern.“ Sie seufzte. „Zum Glück löschen sich wohl die unschönen Gedanken wie von selbst aus dem Gedächtnis, zumindest manchmal.“
Amelia sah sie skeptisch an. „Wieso unschön?“ Sie räusperte sich. „Was ist mit dir passiert, nachdem ich weg war?“
Felice zuckte mit den Schultern. „Mum und Stephen haben es wohl eine Weile versucht. Schließlich war sie ganz wild darauf, ein Vorstadtleben im klassischen Sinn zu führen. Aber dann lief wohl Einiges schief. Ich weiß noch von einer Menge Krach, Geschrei bis tief in die Nacht, und dann schickte sie mich auf ein Internat. Und von meinem Vater hörte ich seitdem gar nichts mehr. Ist wohl auch für ihn nicht so gelaufen, wie er sich das erhofft hatte.“ In Felices Stimme schlich sich ein bitterer Unterton ein.
„Das tut mir leid“, flüsterte Amelia. „Wenn ich das gewusst hätte… ich meine, ich mochte dich immer.“
Felice schüttelte den Kopf. „Du hättest gar nichts tun können. Schließlich hat Joanne dich wohl ziemlich unfreundlich hinauskatapultiert. Und mich kanntest du doch eigentlich kaum.“
„Wir waren noch sehr jung“, wisperte Amelia entschuldigend. „Ich wusste wenig über mich selbst, und noch weniger verstand ich Joanne. Es war alles wie ein merkwürdiger Traum. Als mein Auslandsaufenthalt beendet und ich wieder hier war, da kam mir alles so unwirklich vor, als wäre es nie geschehen.“
Unvermittelt sprang sie auf, noch bevor der Teekessel beginnen konnte zu pfeifen. „Ich hoffe, Pfefferminz ist okay für dich?“
„Klar, alles, was schön warm ist.“ Felice streckte sich, faltete die Hände über dem Kopf. „Trotzdem ist es nett, dass du mich rein gelassen hast.“ Sie starrte bewundernd an die hohe Decke. „Ist echt toll hier, bisschen groß vielleicht.“
Amelia setzte die Teekanne und einen Teller mit trockenen Keksen vor ihnen ab, wartete einen Moment und begann dann, das Gebräu in die Tassen zu sieben. „Ich war nicht allein. Meine Großmutter lebte bis vor kurzem noch bei mir. Sie starb.“
„Das tut mir leid“, war es diesmal an Felice, ihr Beileid zu bekunden.
„Sie war nicht unglücklich darüber“, dachte Amelia laut. „Die letzten Jahre waren schwer für sie. Manchmal sehnte sie sich ihr Ende wirklich herbei.“
Felice nahm ein Stück Zucker. „Das ist schwer zu ertragen, schwer auch für den, der zusehen muss“, meinte sie dann.
„Ja.“ Amelia blickte auf ihre Tasse. „Aber für jeden kommt die Zeit. Amerikanische Ureinwohner glauben, dass jeder Mensch ein Totenlied hat, das er singen soll, wenn es soweit ist.“ Sie seufzte. „Ich wünschte, meine Großmutter hätte ihres gekannt, und gesungen. Das stelle ich mir einfacher vor, richtiger als der Weg, den wir hier zu gehen gezwungen sind.“
„Ja.“ Felice hob ihre Tasse, nippte vorsichtig an dem heißen Tee. „Wenn es die Möglichkeit gibt.“
„Entschuldige.“ Amelia wandte sich an die Jüngere. „Was ist mit Joanne passiert? Mich hat niemand benachrichtigt.“ Sie zögerte. „Im Grunde wusste wohl auch kaum jemand von uns. Es war so kurz, obwohl es mir damals wie eine Ewigkeit vorgekommen ist.“ Sie lächelte entschuldigend. „Eine Ewigkeit im positiven Sinne, Felice. Ich habe für deine Mutter sehr viel empfunden.“
Felice lehnte sich zurück, setzte ihre Tasse ab, schlüpfte aus ihren Schuhen und zog die Beine an, verschränkte die Arme über den Knien. „Das glaub ich dir“, erwiderte sie leise. „Es ist so schade, dass es nicht anders ausgegangen ist.“ Sie legte den Kopf auf ihre Arme, drehte sich zu Amelia. „Hast du noch irgendetwas von ihr gehört, oder von sonst jemandem aus dieser Zeit?“
Amelia legte die Stirn in Falten, zögerte. „Ich glaube nicht. Ich wollte das alles am liebsten so schnell wie möglich vergessen, und dann ist es so lange her.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist eigentlich schon gar nicht mehr wahr.“ Entschuldigend drehte sie sich zu Felice. „Es tut mir wirklich leid, aber ich fürchte, ich habe noch nicht mal mehr ein Foto von deiner Mutter. Nur noch meine Erinnerung.“ Sie schluckte. „Aber du hast ihre Augen. Das ist mir schon damals aufgefallen.“
Felice lächelte. „Das sagen alle.“ Sie verstummte erneut.
„Zumindest alle, die sie gekannt haben.“ Felice wartete einen Augenblick, schloss ihre Augen. „Es war ein Unfall“, sagte sie schließlich. „Ich war im Internat, als die Nachricht kam. Ist wohl nie richtig aufgeklärt worden. Irgendein Raser, jemand Betrunkenes, der sie von der Straße gedrängt und sich dann nicht mal mehr umgesehen hat.“
„Das ist furchtbar“, flüsterte Amelia. „Es tut mir so leid.“
„Ist auch schon wieder eine Weile her.“ Felice öffnete ihre Augen wieder.
„Und dein Vater?“
Felice winkte ab. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo er steckt, und was er treibt.“
„Und was machst du nun hier?“
„Ach.“ Felice lächelte wieder. „Ich hab mir eine Auszeit genommen.“ Sie zögerte, berichtigte sich dann. „Nein, um ehrlich zu sein, ich hatte genug. Und dann…“ Sie sah auf Amelia.
„Ich sah ein Foto oder besser gesagt ein Fotoalbum.“ Felice seufzte. „Es war mir bestimmt seit über zehn Jahren nicht mehr in die Hände gefallen. Aber auf einmal konnte ich es nicht mehr weglegen.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Mum hatte Namen und Daten notiert. Und als ich die Bilder von dir sah, von uns, da stieg etwas in mir hoch.“
„Und dann?“
„Dann musste ich einfach etwas tun, es ging nicht anders.“ Felice hob wieder den Blick zur Decke. „Es war, als hätte mich etwas dazu gezwungen.“
Amelia folgte ihrem Blick. „Ich hatte wirklich keine Ahnung.“ Felice wandte langsam ihr Gesicht der anderen zu. Aufmerksam studierte sie die blasse Haut, die braunen Locken, die merkwürdige Schatten warfen, bis Amelia verschämt weg sah.
„Nein, die hattest du sicher nicht.“ Felice seufzte wieder. „Und ich habe mich nicht getraut, einfach anzurufen oder zu schreiben. Es kam mir falsch vor.“
„Ich verstehe.“ Amelia nickte. „Manchmal ist so etwas viel schwieriger, als eine wirkliche Begegnung.“ Sie stockte, lachte dann unsicher. „Obwohl das auch nicht mein Ding ist.“
Felice lächelte. „Ich sehe schon, du bist eher schüchtern. Das finde ich süß.“
„Was?“ Amelia errötete, schüttelte den Kopf. „Das ist alles andere als süß. Es ist ein Fluch, eine Qual, wenn man so will.“
Felice sah sie verständnislos an. „Aber du musst dich doch nur trauen? Ich habe nie verstanden, worin das Problem liegt.“
Amelia senkte den Kopf, erlaubte ihren Haaren, das Gesicht zu verbergen. „Das ist auch nicht zu verstehen. Nicht für jemanden, der nicht darunter leidet.“ Sie schluckte, schüttelte ihr Haar zurück. „Manche kokettieren damit, aber es kann auch, eine richtige Krankheit sein oder ausarten, bis man sich vor allem und jedem zu fürchten beginnt.“
„Geht es dir so?“, erkundigte Felice sich teilnahmsvoll.
„Aber nein.“ Amelia lächelte unsicher. „Mir geht es gut.“
„Okay.“ Felice gähnte.
Amelia, froh über die erneute Möglichkeit, das Thema zu wechseln, reagierte sofort. „Es ist ohnehin schon spät. Wo übernachtest du?“
Felice biss sich auf die Unterlippe, wischte sich ein unsichtbares Staubkorn von der Jeans. „Mal hier, mal da“, meinte sie schließlich. „Wo immer ich etwas finde.“
„Du kannst hier bleiben“, schlug Amelia nervös vor. „Ich meine, nur wenn du möchtest.“
„Natürlich möchte ich.“ Felice strahlte. „Das ist wirklich nett von dir. Ich mache dir auch bestimmt keine Umstände.“
Amelia lächelte zurück. „Ich fürchte eher, dass ich zu wenige Gastgeber-Qualitäten aufweisen könnte.“
Felice schubste sie seitlich an und lachte. „Mach dir nur darüber keine Gedanken. Du hast keine Ahnung, was ich gewohnt bin.“
„Das fürchte ich auch“, entgegnete Amelia, und ertappte sich dabei, wie sie die Gestalt vor sich einer bewundernden Begutachtung unterzog. So jung und so schön. Wie musste es sein, sich so fühlen zu dürfen? Amelia schrak zusammen und senkte rasch den Blick. Das fehlte ihr gerade noch, dass sie anfing, ein junges Mädchen anzuhimmeln, das wahrscheinlich eine derartige Menge an Problemen mit sich herumtrug, wie Amelia es sich nicht einmal vorzustellen vermochte. Und wieder tat es ihr leid, dass sie nicht über ihren Schatten gesprungen und sich nur ein einziges Mal nach Joanne erkundigt hatte. Doch dieser vermaledeite Stolz hatte sie daran gehindert. Ihr dummer Egoismus und das Gefühl, sich selbst zu erniedrigen, einen Bedarf zuzugeben, der nicht gestanden werden durfte. Zumindest nicht in einer Welt wie der Ihren, in der es verboten war, den Emotionen zu erlauben, den Verstand zu regieren. In der Haltung und Erfolg, der schöne Schein wichtiger waren, als das eigene Seelenheil.
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