Buch
Alex Woods weiß, dass er nicht den konventionellsten Start ins Leben hatte. Er weiß auch, dass man sich mit einer hellseherisch begabten Mutter bei den Mitschülern nicht beliebt macht. Und Alex weiß, dass die unwahrscheinlichsten Ereignisse eintreten können – er trägt Narben, die das beweisen.
Was Alex noch nicht weiß, ist, dass er in dem übellaunigen und zurückgezogen lebenden Mr. Peterson einen ungleichen Freund finden wird. Einen Freund, der ihm sagt, dass man nur ein einziges Leben hat und dass man immer die bestmöglichen Entscheidungen treffen sollte.
Darum ist Alex, als er sieben Jahre später mit 113 Gramm Marihuana und einer Urne voller Asche an der Grenze in Dover gestoppt wird, einigermaßen sicher, dass er das Richtige getan hat …
Autor
Gavin Extence, geboren 1982, wuchs in der englischen Grafschaft Lincolnshire in einem kleinen Dorf mit dem interessanten Namen Swineshead auf. In seiner Kindheit machte er eine kurze, aber glanzvolle Karriere als Schachspieler; er gewann zahlreiche nationale Turniere und reiste nach Moskau und St. Petersburg, um sich dort mit den besten jungen Denkern Russlands zu messen. Er gewann nur ein Spiel.
Mit seinem Debütroman Das unerhörte Leben des Alex Woods schrieb er sich in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen. Der Roman wurde in Großbritannien mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, eroberte auch in Deutschland die Bestsellerliste und gehört zu den meist empfohlenen Büchern 2014. Sein lang erwarteter zweiter Roman Libellen im Kopf erscheint im Limes Verlag.
Heute lebt Gavin Extence mit seiner Familie in Sheffield.
Von Gavin Extence bereits erschienen
Das unerhörte Leben des Alex Woods · Libellen im Kopf
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GAVIN EXTENCE
DAS
UNERHÖRTE
LEBEN DES
ALEX WOODS
ODER WARUM DAS UNIVERSUM
KEINEN PLAN HAT
ROMAN
DEUTSCH VON ALEXANDRA ERNST
Für Alix,
ohne die es dieses Buch nicht gäbe.
1
ENTENDER
Sie griffen mich in Dover auf, als ich wieder einreisen wollte. Ich hatte schon irgendwie damit gerechnet, aber trotzdem war es ein Schock, als die Schranke unten blieb. Es ist komisch, wie sich manche Dinge entwickeln. Nachdem ich so weit gekommen war, hatte ich gehofft, dass ich es unbehelligt bis nach Hause schaffen würde. Es wäre schön gewesen, wenn ich meiner Mutter alles hätte erklären können. Bevor sich andere Leute einmischen konnten.
Es war ein Uhr morgens. Ich hatte Mr. Petersons Wagen vor das Häuschen mit der Aufschrift »Nichts zu verzollen« gefahren, wo ein einzelner Beamter Dienst hatte. Er schaute aus dem Fenster des Zollhäuschens, dabei hatte er sein Gewicht auf die Ellbogen gestützt, die auf der Ablage ruhten, und das Kinn auf die Hände gelegt. Es sah so aus, als würde er ohne den Halt der Holzablage jeden Moment wie ein Sack Kartoffeln zu Boden sinken. Er hatte Nachtschicht – die Friedhofsschicht –, und das bedeutete tödliche Langeweile von Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen. Ein paar Herzschläge lang wirkte dieser Zollbeamte, als ob ihm die Willenskraft fehlte, auch nur die Augäpfel zu bewegen und meinen Ausweis zu begutachten. Doch dieser Moment ging vorbei. Sein Blick wanderte, seine Augen weiteten sich. Er bedeutete mir zu warten und sprach in sein Funkgerät. Alle Müdigkeit war von ihm gewichen. In diesem Augenblick wusste ich es. Später fand ich heraus, dass mein Bild an jeden größeren Hafen zwischen Aberdeen und Plymouth geschickt worden war. Die Suchmeldungen im Fernsehen taten ihr Übriges. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance.
An das, was als Nächstes geschah, kann ich mich nur noch verschwommen erinnern, aber ich bemühe mich, die Ereignisse so gut es geht zu beschreiben.
Die Seitentür des Zollhäuschens schwang auf, und im selben Moment spülte ein Duft von Flieder über mich hinweg, als stünde ich in einem blühenden Garten. Es kam ganz plötzlich, und ich wusste sofort, dass ich mich unbedingt konzentrieren musste, um in der Gegenwart zu bleiben. Im Nachhinein betrachtet, hatte sich ein solcher Vorfall schon eine ganze Weile angekündigt. Man muss bedenken, dass ich mehrere Tage kaum geschlafen hatte, und fehlende Nachtruhe war schon immer ein Auslöser gewesen. Stress ist ein weiterer.
Ich starrte stur geradeaus und konzentrierte mich. Ich konzentrierte mich auf die Scheibenwischer, die von rechts nach links schwangen. Ich versuchte, meine Atemzüge zu zählen, aber als ich bei fünf angelangt war, wurde mir klar, dass es nicht ausreichte. Alles verschwamm vor meinen Augen; die Zeit verlangsamte sich. Ich hatte keine andere Wahl: Ich drehte die Anlage im Auto voll auf. Händels Messias durchflutete den Wagen; der Chor sang sein Halleluja so laut, dass der Auspuff vibrierte. Ich hatte das nicht geplant. Wenn ich Zeit gehabt hätte, um mich vorzubereiten, hätte ich etwas Einfacheres und Ruhigeres gewählt. Chopins Nocturnes oder eine Cellosuite von Bach vielleicht. Aber seit Zürich hatte ich mich systematisch durch Mr. Petersons CD-Kollektion gearbeitet, und es war reiner Zufall, dass genau in diesem Moment der Chor das Halleluja aus Händels Messias schmetterte. Als würde das Schicksal mir eine lange Nase zeigen. Natürlich gereichte mir dieser Umstand später nicht zum Vorteil. Der Zollbeamte erstattete der Polizei einen ausführlichen Bericht, in dem er behauptete, dass ich mich lange Zeit der Festnahme verweigert hätte, dass ich einfach nur »dasaß und in die Nacht starrte, während diese religiöse Musik auf voller Lautstärke dröhnte. Er sah aus wie der Engel des Todes oder so etwas Ähnliches.« Vermutlich haben Sie dieses Zitat schon gelesen. Es stand in allen Zeitungen. Die lieben solche saftigen Details. Aber Sie müssen verstehen, dass ich zu dem Zeitpunkt einfach keine andere Wahl hatte. Ich konnte den Zollbeamten am Rande meines Blickfelds wahrnehmen, wie er mit krummem Rücken in seiner gelben Signalweste neben meinem Fenster stand, aber ich zwang mich, ihn zu ignorieren. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in meine Augen, aber auch das ignorierte ich. Ich starrte nur geradeaus und konzentrierte mich auf die Musik. Das war mein Anker. Der Flieder war immer noch da und tat sein Möglichstes, um mich abzulenken. Die Alpen schoben sich in meinen Sinn – zerklüftete, mit Eis bekränzte Erinnerungen, so spitz wie Nadeln. Ich wickelte sie in Musik ein. Ich redete mir ein, dass es nichts gäbe außer der Musik – rein gar nichts. Es gab nichts außer den Geigen und dem Schlagzeug und den Trompeten und diesen unzähligen Stimmen, die Gottes Lob sangen. Rückblickend betrachtet ist mir klar, wie verdächtig ich gewirkt haben muss, wie ich so dasaß mit ausdruckslosen Augen, gebadet in eine Musik, mit der man die Toten hätte aufwecken können. Vermutlich hörte es sich so an, als ob das gesamte Londoner Symphonieorchester auf meinem Rücksitz Platz genommen hätte. Aber was soll man machen? Wenn man es mit einer derart heftigen Aura zu tun bekommt, hat man keine Möglichkeit, allein damit fertigzuwerden. Um ehrlich zu sein, gab es mehrere Momente, wo ich am Abgrund stand. Ich war nur eine Haaresbreite von einem Anfall entfernt.
Aber nach einer Weile ebbte die Krise ab. Etwas in mir rutschte wieder an seinen Platz. Mir war undeutlich bewusst, dass der Strahl der Taschenlampe weitergewandert war. Er war nun starr auf etwas gerichtet, das ungefähr vierzig Zentimeter links neben mir sein musste, aber ich war in diesem Moment noch zu erschöpft und erkannte nicht, was es war. Erst später fiel mir wieder ein, dass sich Mr. Peterson noch immer auf dem Beifahrersitz befand. Ich hatte nicht daran gedacht, ihn woanders unterzubringen. Die Sekunden tickten vorbei, und irgendwann bewegte sich der Schein der Taschenlampe und verschwand aus dem Wageninneren. Ich schaffte es, meinen Kopf um fünfundvierzig Grad zu drehen, und sah, dass der Zollbeamte wieder in sein Funkgerät sprach. Mittlerweile war er putzmunter und erkennbar erregt. Dann klopfte er mit der Taschenlampe gegen die Seitenscheibe und gestikulierte, ich solle das Fenster öffnen. Ich kann mich nicht daran erinnern, den elektrischen Fensterheber bedient zu haben, aber so muss es gewesen sein, denn ich erinnere mich an den Schwall kalter, feuchter Luft, der hereinzog, als die Scheibe nach unten glitt. Der Mund des Zollbeamten bewegte sich; er sagte etwas, aber ich verstand nicht, was es war. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass er durchs offene Fenster griff und die Zündung ausschaltete. Der Motor erstarb, und eine Sekunde später verklang das letzte Halleluja in der Nachtluft. Ich hörte das leise Zischen des Nieselregens auf dem Asphalt, das langsam die Stille ausfüllte, als löse sich die Realität in Säure auf. Der Zollbeamte sagte wieder etwas und wedelte mit seinen Armen. Er vollführte merkwürdige, wackelige Bewegungen, aber mein Gehirn war nicht in der Lage, irgendetwas von dem, was er sagte oder tat, zu decodieren. Denn da war etwas anderes, was mich beschäftigte – ein Gedanke, der sich mühsam den Weg ans Licht bahnte. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich meine Gedanken zu Worten organisiert hatte, und als ich schließlich da angekommen war, wo ich hinwollte, sagte ich Folgendes: »Sir, ich muss Ihnen mitteilen, dass ich nicht länger in der Lage bin, ein Fahrzeug zu führen. Ich fürchte, Sie müssen sich jemand anderen suchen, der den Wagen wegfährt.«
Aus irgendeinem Grund schien dem Zollbeamten die Luft wegzubleiben. Auf seinem Gesicht zeigte sich eine ganze Reihe von seltsamen Ausdrücken, und dann stand er eine Zeit lang nur mit offenem Mund da. Wenn ich mit offenem Mund dagestanden hätte, hätte man mich für sehr unhöflich gehalten, aber ich glaube nicht, dass es der Mühe wert ist, sich über solche Dinge aufzuregen. Und so wartete ich einfach ab. Ich hatte gesagt, was gesagt werden musste, und es hatte mich verhältnismäßig große Mühe gekostet. Es machte mir nichts aus, geduldig zu sein.
Nachdem er seine Atemwege freigeräuspert hatte, befahl mir der Zollbeamte, aus dem Wagen zu steigen und mit ihm zu kommen. Und zwar sofort. Aber in dem Augenblick, in dem er das sagte, merkte ich, dass ich noch nicht bereit war, mich vom Fleck zu bewegen. Meine Hände umklammerten noch immer mit weißen Knöcheln das Lenkrad, und sie machten keinerlei Anstalten, ihren Griff zu lockern. Ich bat ihn, er möge noch einen Moment warten.
»Freundchen«, sagte der Zollbeamte, »du wirst jetzt sofort mitkommen.«
Ich schaute zu Mr. Peterson. »Freundchen« genannt zu werden, war kein gutes Zeichen. Es sah ganz so aus, als ob ich in einem überdimensionalen Haufen Scheiße hockte.
Meine Hände lösten sich vom Lenkrad.
Es gelang mir, aus dem Wagen zu steigen. Ich schwankte und lehnte mich ein paar Sekunden lang gegen die Karosserie. Der Zollbeamte versuchte, mich zum Mitkommen zu bewegen, aber ich machte ihm klar, dass er warten müsse, bis ich meine Füße wiedergefunden hatte, es sei denn, er wolle mich tragen. Der Nieselregen stach in die nackte Haut auf meinem Nacken und meinem Gesicht, und kleine Tränen aus Regen sammelten sich auf meiner Kleidung. Ich merkte, wie sich meine Sinne wieder einfanden und an ihren richtigen Platz zurückkehrten. Ich fragte, seit wann es regnete. Der Zollbeamte schaute mich an, ohne etwas zu sagen. Sein Blick zeigte deutlich, dass er an Geplauder nicht interessiert war.
Ein Streifenwagen kam, und man brachte mich zu einem Zimmer in der Polizeiwache von Dover, das man Gesprächszimmer C nannte. Aber vorher musste ich in einem kleinen Container im Zentrum der Hafenanlage warten. Ich musste lange warten. Ich bekam jede Menge Beamte von der Hafenbehörde zu Gesicht, aber niemand redete mit mir. Sie gaben mir bloß diese knappen Anweisungen, die meistens nur aus zwei Wörtern bestanden, wie »Warte hier« und »Nicht bewegen«, oder sie sagten mir, was als Nächstes mit mir passieren würde, wie ein Chor in einem antiken griechischen Drama. Und nach jeder Äußerung fragten sie nach, ob ich sie verstanden hätte, als ob ich ein Schwachkopf wäre. Aber vermutlich wirkte ich so auf sie. Ich weiß es nicht. Ich hatte mich immer noch nicht von meinem Anfall erholt. Ich war müde, meine Koordination glich der eines Betrunkenen, und insgesamt fühlte ich mich ziemlich abwesend, als wäre mein Kopf in Watte eingewickelt. Ich hatte Durst, aber ich wollte nicht fragen, ob irgendwo ein Getränkeautomat stand, weil sie sonst vielleicht dachten, ich wollte abhauen. Wenn man in Schwierigkeiten steckt, reicht schon eine einfache, völlig berechtigte Frage, um einen in noch mehr Schwierigkeiten zu bringen. Vielleicht haben Sie diese Erfahrung auch schon gemacht. Ich weiß nicht, warum das so ist. Man könnte fast meinen, dass man eine unsichtbare Linie überschritten hat, und plötzlich erscheint den Leuten das Vorhandensein ganz alltäglicher Dinge wie Getränkeautomaten und Cola light als etwas Ungeheuerliches. Möglicherweise werden einige Situationen als derart gravierend betrachtet, dass man sie nicht mit kohlensäurehaltigen Getränken trivialisieren will.
Auf jeden Fall kam irgendwann die Streife und brachte mich zum Gesprächszimmer C, wo sich meine Lage nicht im Mindesten verbesserte. Das Gesprächszimmer C war kaum größer als ein Wandschrank und nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Die Wände und der Boden waren nackt. In der Mitte stand ein rechteckiger Tisch mit vier Plastikstühlen, und hoch oben in der rückseitigen Wand befand sich ein Fenster, das aber nicht so aussah, als ob man es öffnen könnte. An der Decke hing ein Feuermelder und in einer Ecke eine Überwachungskamera. Das war alles. Es gab nicht einmal eine Uhr.
Ich wurde angewiesen, mich zu setzen, und dann ließ man mich allein. Die Zeit kam mir endlos lang vor. Ich denke, das war vermutlich Absicht, damit ich unruhig und nervös wurde, aber ich habe keine Beweise für meine Vermutung. Glücklicherweise macht mir das Alleinsein nichts aus; ich fühle mich wohl mit mir selbst und kann mich gut beschäftigen. Ich kenne mindestens eine Million verschiedener Übungen, um ruhig und konzentriert zu bleiben.
Wenn man müde ist, aber wach bleiben muss, braucht man etwas Kniffeliges, um die Gedanken zu beschäftigen. Daher konjugierte ich unregelmäßige spanische Verben, angefangen mit dem Präsens und dann immer weiter durch die Zeiten. Ich sprach sie nicht laut aus, wegen der Überwachungskamera, sondern sagte sie im Stillen auf, dabei bemühte ich mich, die Betonung und die Aussprache in Gedanken korrekt wiederzugeben. Ich war gerade bei entiendas, dem Konjunktiv Präsens der zweiten Person Singular von entender (verstehen), als sich die Tür öffnete und zwei Polizisten hereinkamen. Einer war der Beamte, der mich am Hafen abgeholt hatte. Er hatte ein Klemmbrett dabei, auf dem sich einige Blätter Papier befanden. Den anderen Polizisten hatte ich noch nie gesehen. Beide sahen nicht erfreut aus.
»Guten Morgen, Alex«, sagte der Polizist, den ich nicht kannte. »Ich bin Chief Inspector Hearse. Deputy Inspector Cunningham hast du ja schon kennengelernt.«
»Ja«, sagte ich. »Hallo.«
Ich werde Sie nicht mit einer ausführlichen Beschreibung von Chief Inspector Hearse oder Deputy Inspector Cunningham langweilen. Mr. Treadstone, mein alter Englischlehrer, hat immer gesagt, wenn man über eine Person schreibt, muss man nicht jedes Detail bezüglich dieser Person erwähnen. Stattdessen soll man sich ein charakteristisches Merkmal herauspicken, das es dem Leser ermöglicht, sich diese Figur vorzustellen. Chief Inspector Hearse hatte ein Muttermal von der Größe einer Fünfpencemünze auf der rechten Wange. Deputy Inspector Cunningham trug die glänzendsten Schuhe, die ich je gesehen hatte.
Sie setzten sich mir gegenüber und wiesen mich an, ebenfalls Platz zu nehmen. Erst da wurde mir bewusst, dass ich aufgestanden war, als sie den Raum betreten hatten. Das lernte man in meiner Schule – aufzustehen, wenn ein Erwachsener das Zimmer betritt. Eigentlich sollte es eine Respektsbezeugung sein, aber nach einer Weile tat man es, ohne nachzudenken.
Sie betrachteten mich eine Zeit lang wortlos. Ich wollte wegschauen, aber das hätte vielleicht unhöflich gewirkt, und deshalb starrte ich sie an, so wie sie mich anstarrten, und wartete.
»Weißt du, Alex«, sagte Chief Inspector Hearse schließlich, »du hast in der letzten Woche für ziemliche Aufregung gesorgt. Du bist regelrecht berühmt geworden …«
Die Richtung, in die dieses Gespräch lief, gefiel mir gar nicht. Ich hatte keine Ahnung, was sie von mir erwarteten. Auf manche Bemerkungen gibt es einfach keine passende Antwort, also hielt ich den Mund. Dann zuckte ich mit den Schultern, was ziemlich ungeschickt wirkte, aber in einer solchen Lage nichts zu tun, ist fast unmöglich.
Chief Inspector Hearse kratzte sich das Muttermal. Dann sagte er: »Dir ist doch klar, dass du in großen Schwierigkeiten steckst, oder?«
Das mochte als Frage gemeint sein, konnte aber genauso gut eine reine Tatsachenbehauptung sein. Ich nickte trotzdem, nur für alle Fälle.
»Und weißt du auch, warum du in Schwierigkeiten steckst?«
»Ja. Ich denke schon.«
»Und dir ist klar, wie ernst die Lage ist?«
»Ja.«
Chief Inspector Hearse schaute Deputy Inspector Cunningham an, der bislang noch nichts gesagt hatte. Dann blickte er wieder zu mir. »Nun, Alex, einige deiner Verhaltensweisen in den letzten Stunden lassen uns daran zweifeln. Wenn du wirklich wüsstest, wie ernst die Situation ist, wärst du mit Sicherheit sehr viel beunruhigter, als du es zu sein scheinst. Wenn ich da sitzen täte, wo du jetzt sitzt, wäre ich auf jeden Fall beunruhigter als du.«
Er hätte sagen müssen: Wenn ich da sitzen würde – das fiel mir sofort auf, weil ich beim Satzanfang den korrekten Konjunktiv bereits im Kopf hatte –, aber ich verbesserte ihn nicht. Die Leute mögen es nicht, wenn man sie auf derartige Fehler aufmerksam macht. Das war etwas, das mir Mr. Peterson immer wieder gesagt hatte. Er meinte, wenn ich mitten in einem Gespräch anfinge, die Grammatik meines Gesprächspartners zu korrigieren, würden alle denken, ich sei ein Oberklugscheißer.
»Sag mal, Alex«, fuhr Chief Inspector Hearse fort, »bist du denn wenigstens ein bisschen beunruhigt? Ich meine, du wirkst irgendwie zu ruhig, zu lässig, wenn man deine Lage bedenkt.«
»Ich kann es mir nicht leisten, in Stress zu geraten«, sagte ich. »Das ist nicht gut für meine Gesundheit.«
Chief Inspector Hearse stieß den Atem aus. Dann schaute er Deputy Inspector Cunningham an und nickte. Deputy Inspector Cunningham reichte ihm ein Blatt Papier von seinem Klemmbrett.
»Alex, wir haben deinen Wagen durchsucht. Du wirst verstehen, dass es ein paar Dinge gibt, die wir besprechen müssen.«
Ich nickte. Ein Ding fiel mir sofort ein. Aber dann überraschte mich Chief Inspector Hearse: Er stellte nicht die Frage, die ich erwartet hatte. Stattdessen bat er mich – für das Protokoll –, meinen vollen Namen und mein Geburtsdatum anzugeben. Das brachte mich etwas aus der Fassung. Alles in allem schien mir das reine Zeitverschwendung zu sein. Sie wussten doch bereits, wer ich war. Sie hatten meinen Ausweis. Es gab keinen Grund, nicht gleich zur Sache zu kommen. Aber ich hatte keine andere Möglichkeit, als das Spielchen mitzumachen.
»Alexander Morgan Woods«, sagte ich. »23. September 1993.«
Ich bin nicht so glücklich mit meinem Namen, besonders mit dem mittleren Teil nicht. Aber die meisten Leute nennen mich Alex, genauso wie die Polizisten. Wenn man auf den Namen Alexander getauft ist, muss man damit rechnen, abgekürzt zu werden. Meine Mutter treibt es auf die Spitze und kürzt sogar die Abkürzung ab. Sie nennt mich Lex, wie Lex Luthor – und das tat sie bereits, lange bevor mir die Haare ausfielen. Heute sieht sie darin etwas Prophetisches, früher fand sie es einfach nur süß.
Chief Inspector Hearse runzelte die Stirn, schaute wieder zu Deputy Inspector Cunningham und nickte. Er machte das ständig, als wäre er ein Zauberkünstler und Deputy Inspector Cunningham sein Assistent, der ihm die Requisiten reichen muss.
Deputy Inspector Cunningham holte hinter seinem Klemmbrett einen durchsichtigen Plastikbeutel hervor, den er auf die Tischplatte warf, wo er mit einem leisen Aufklatschen landete. Es war eine sehr dramatische Geste, ja wirklich, sehr dramatisch. Und man merkte, dass sie es dramatisch wirken lassen wollten. Die Polizei hat jede Menge solcher psychologischen Tricks. Aber das wissen Sie wahrscheinlich selbst, wenn Sie Fernsehen schauen.
»Etwa hundertdreizehn Gramm Marihuana«, bemerkte Chief Inspector Hearse, »aus deinem Handschuhfach.«
Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Das Marihuana hatte ich völlig vergessen. Tatsache ist, dass ich das Handschuhfach in der Schweiz das letzte Mal geöffnet hatte. Seitdem hatte es dafür keinen Grund mehr gegeben. Aber versuchen Sie mal, das um zwei Uhr morgens der Polizei zu erzählen, wenn Sie gerade bei der Einreise ins Land verhaftet wurden.
»Das ist ziemlich viel Gras, Alex. Alles für den Eigenbedarf?«
»Nein …« Ich besann mich eines Besseren. »Ich meine, ja. Ich meine, es war für den Eigenbedarf, aber nicht für meinen.«
Chief Inspector Hearse hob die Augenbrauen etwa einen halben Meter in die Höhe. »Du willst damit sagen, dass diese hundertdreizehn Gramm Marihuana nicht für dich sind?«
»Das Marihuana gehörte Mr. Peterson.«
»Ich verstehe«, sagte Chief Inspector Hearse. Er kratzte sich wieder an seinem Muttermal und schüttelte den Kopf. »Es wird dich nicht überraschen, dass wir auch eine beträchtliche Menge Geld in deinem Wagen gefunden haben.« Er warf einen Blick auf die Inventarliste. »Sechshundertfünfundvierzig Schweizer Franken, zweiundachtzig Euro und dreihundertachtzehn Pfund. Die Scheine befanden sich in einem Umschlag in der Ablage der Fahrertür, zusammen mit deinem Ausweis. Das ist verhältnismäßig viel Geld für einen Siebzehnjährigen, meinst du nicht auch?«
Ich sagte nichts.
»Alex, das ist sehr wichtig. Was genau hattest du mit diesen hundertdreizehn Gramm Marihuana vor?«
Ich dachte eine Weile darüber nach. »Ich weiß nicht. Ich hatte gar nichts damit vor. Wahrscheinlich hätte ich es weggeworfen. Oder vielleicht verschenkt. Keine Ahnung.«
»Du hättest es verschenkt?«
Ich zuckte mit den Schultern. Es wäre vermutlich ein nettes Geschenk für Elli gewesen. Sie hätte es zu schätzen gewusst. Aber das behielt ich für mich. »Ich habe kein persönliches Interesse daran«, erklärte ich. »Ich meine, es macht Spaß, das Zeug anzubauen, aber das ist auch alles. Ich hätte es bestimmt nicht behalten.«
Deputy Inspector Cunningham bekam einen Hustenanfall. Es war das erste Geräusch, das er machte, und ich erschrak ein bisschen. Ich hatte schon angefangen zu glauben, er sei stumm.
»Du hast es angebaut?«
»Ich habe es in Mr. Petersons Auftrag angebaut«, stellte ich klar.
»Ich verstehe. Du hast es angebaut, und dann hast du es verschenkt. Also ein Akt der Wohltätigkeit?«
»Nein. Ich meine, es gehörte mir ja nicht. Es gehörte Mr. Peterson, also konnte ich es gar nicht verschenken. Wie ich schon sagte, ich habe es bloß angebaut.«
»Ja. Du hast es angebaut, aber du hast keinerlei persönliches Interesse an der Substanz?«
»Nur ein pharmazeutisches.«
Chief Inspector Hearse schaute Deputy Inspector Cunningham an und trommelte dann mit seinen Fingerspitzen eine Weile auf der Tischplatte herum. »Alex, ich frage dich noch einmal«, sagte er. »Nimmst du Drogen? Stehst du im Moment unter dem Einfluss von Drogen?«
»Nein.«
»Hast du jemals Drogen genommen?«
»Nein.«
»Also schön. Dann musst du mir eine Sache erklären.« Deputy Inspector Cunningham reichte Chief Inspector Hearse ein weiteres Blatt Papier. »Wir haben mit dem Zollbeamten gesprochen, der dich unter Arrest gestellt hat. Er meinte, du hättest dich sehr merkwürdig benommen. Er sagte, als er versuchte, dich in Gewahrsam zu nehmen, hast du dich geweigert zu kooperieren. Er sagte – und ich zitiere: ›Der Verdächtige drehte die Musik im Auto so laut auf, dass man sie wahrscheinlich noch in Frankreich hören konnte. Dann ignorierte er mich ein paar Minuten lang. Er starrte stur geradeaus, und dabei war sein Blick verschleiert. Als ich ihn schließlich dazu brachte, das Fahrzeug zu verlassen, erklärte er mir, er sei nicht mehr in der Lage zu fahren.‹«
Chief Inspector Hearse legte das Blatt Papier auf den Tisch und schaute mich an. »Kannst du uns das erklären, Alex?«
»Ich leide an Temporallappenepilepsie«, antwortete ich. »Ich hatte einen partiellen Anfall.«
Chief Inspector Hearse hob wieder die Augenbrauen und legte dann die Stirn in tiefe Furchen, als ob dies das Letzte war, was er hören wollte. »Du hast Epilepsie?«
»Ja.«
»Davon hat mir niemand etwas gesagt.«
»Es fing an, als ich zehn war, kurz nach meinem Unfall.« Ich tastete nach meiner Narbe. »Als ich zehn war, da …«
Chief Inspector Hearse nickte ungeduldig. »Ja. Ich weiß über deinen Unfall Bescheid. Jeder weiß über deinen Unfall Bescheid. Aber niemand hat jemals epileptische Anfälle erwähnt.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Seit zwei Jahren hatte ich auch keinen mehr.«
»Aber du sagtest doch, dass du vorhin einen hattest. Im Auto.«
»Ja. Deshalb konnte ich ja auch nicht mehr fahren.«
Chief Inspector Hearse schaute mich lange Zeit an. Dann schüttelte er den Kopf. »Mr. Knowles hat uns einen recht detaillierten Bericht gegeben, und von einem Anfall hat er nichts erwähnt. Dabei wäre das doch etwas, was er bestimmt nicht vergessen hätte, nicht wahr? Falls du einen Anfall gehabt hättest. Er meinte, du hättest vollkommen still dagesessen und überhaupt nicht aufgeregt gewirkt. Im Gegenteil: Für seine Begriffe warst du ein bisschen zu ruhig, unter den gegebenen Umständen.«
Chief Inspector Hearse gefiel meine angebliche Ruhe anscheinend überhaupt nicht.
»Es war ein partieller Anfall«, sagte ich. »Ich habe weder das Bewusstsein verloren noch hatte ich irgendwelche Zuckungen. Ich konnte den Anfall aufhalten, bevor er sich zu weit ausbreitete.«
»Und das ist die volle Wahrheit?«, fragte Chief Inspector Hearse. »Wenn ich jetzt eine Blutprobe entnehmen würde, wäre die sauber? Du hast bestimmt keine Drogen genommen?«
»Nur Carbamazepin.«
»Was ist das?«
»Ein Antiepileptikum.«
Chief Inspector Hearse sah so aus, als hätte er am liebsten Gift und Galle gespuckt. Er dachte, ich würde mich über ihn lustig machen. Er sagte mir, selbst wenn ich die Wahrheit sagte, selbst wenn ich tatsächlich an Temporallappenepilepsie leiden würde und ich wirklich einen partiellen Anfall gehabt hätte, würde das mein Benehmen noch lange nicht erklären, jedenfalls nicht in seinen Augen. Man hatte hundertdreizehn Gramm Marihuana in meinem Handschuhfach gefunden, und diese Tatsache nahm ich schlicht und einfach nicht ernst.
»Ich glaube tatsächlich nicht, dass es besonders schlimm ist«, gestand ich ein, »jedenfalls wenn man das große Ganze betrachtet.«
Chief Inspector Hearse schüttelte etwa zehn Minuten lang den Kopf, und dann sagte er, dass der Besitz von Betäubungsmitteln mit der mutmaßlichen Absicht des Verkaufs derselben in der Tat eine schlimme Sache war, und wenn ich versuchte, ihm etwas anderes weiszumachen, wollte ich ihn entweder auf den Arm nehmen oder ich war ohne Frage der naivste Siebzehnjährige, dem er je in seinem Leben begegnet war.
»Ich bin nicht naiv«, sagte ich. »Sie denken in die eine Richtung, ich in eine andere. Das ist lediglich eine völlig normale Meinungsverschiedenheit.«
Ich muss wohl nicht betonen, dass sie die Sache mit den Drogen noch endlos wiederkäuten. Es war eine groteske Situation: Je offener und ehrlicher ich war, desto überzeugter waren sie davon, dass ich log. Schließlich sagte ich ihnen, dass ich auf einem Bluttest bestand. Sie konnten bis zum Jüngsten Tag mit mir diskutieren, aber eine wissenschaftliche Tatsache konnten sie schlecht in Zweifel ziehen. Aber als ich die Forderung nach einem Bluttest stellte, hatten sie wohl schon beschlossen, sich einer anderen Sache zuzuwenden. Denn wir mussten noch über etwas anderes reden. Eigentlich hätte es auf der Agenda ganz oben stehen müssen, aber wie ich schon sagte: Die Polizei liebt dramatische Effekte, wenn sie glaubt, dass sie damit etwas erreicht.
»Der letzte Gegenstand auf der Inventarliste …«, setzte Chief Inspector Hearse an. Dann stützte er die Ellbogen auf die Tischplatte und legte den Kopf in die Hände. Er schaute nach unten und schwieg eine ganze Weile.
Ich wartete.
»Der letzte Gegenstand«, wiederholte Chief Inspector Hearse, »ist eine kleine silberne Urne, die auf dem Beifahrersitz stand. Gewicht: etwa vier Komma acht Kilogramm.«
Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, warum sie sich die Mühe machten, die Urne zu wiegen.
»Alex, ich muss das fragen: Der Inhalt dieser Urne …«
Chief Inspector Hearse schaute mir in die Augen und schwieg. Es war eindeutig, dass er nicht fragen würde, obwohl er das doch ausdrücklich angekündigt hatte, aber ich wusste sowieso, wie die Frage lautete. Es war offensichtlich. Und ich hatte die Nase voll von diesen psychologischen Spielchen. Ich war müde und durstig. Also wartete ich nicht ab, ob Chief Inspector Hearse jemals seinen Satz beenden würde, sondern nickte einfach und sagte ihm, was er wissen wollte.
»Ja«, sagte ich. »Das ist Mr. Peterson.«
Wie Sie sich sicher vorstellen können, stellten sie danach noch Hunderte Fragen. Natürlich waren sie hauptsächlich daran interessiert, was genau in der letzten Woche passiert war, aber um die Wahrheit zu sagen, bin ich selbst jetzt noch nicht dazu in der Lage, darüber zu reden. Ich finde, es macht keinen Sinn – und in jener Nacht machte es noch viel weniger Sinn. Chief Inspector Hearse verlangte von mir eine »unzweideutige, verständliche und lückenlose Erklärung« aller relevanten Umstände, die dazu führten, dass man mich mit hundertdreizehn Gramm Marihuana und Mr. Petersons sterblichen Überresten am Zollhafen festgenommen hatte. Aber sein Ansinnen war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Manchmal, wenn Leute eine lückenlose Erklärung verlangen, ist völlig klar, dass sie genau das nicht wollen. Was sie wollen, ist eine Bestätigung dessen, was sie längst zu wissen glauben. Sie wollen etwas, das exakt in ein Kästchen auf einem polizeilichen Formular passt. Und auf eine lückenlose Erklärung trifft das nie im Leben zu. Lückenlose Erklärungen sind chaotisch. Man kann sie nicht völlig unvorbereitet innerhalb von fünf Minuten fein säuberlich und geordnet zu Protokoll geben. Man muss ihnen Raum und Zeit lassen, um sich zu entfalten.
Und deshalb will ich zurück zum Anfang, wohin die Polizei mich nicht lassen wollte. Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen, die ganze Geschichte, in der Art und Weise, wie sie meiner Meinung nach erzählt werden sollte. Und ich fürchte, dass sie eins nicht sein wird: kurz.