cover

Mark Henshaw

Erbarmungslos

Buch

Nachdem in Venezuela ihr erster Einsatz in einer blutigen Katastrophe endet, wird die junge Agentin Kyra Stryker in die CIA-Einsatzzentrale nach Langley zurückbeordert. Dort soll sie mit Jonathan Burke zusammenarbeiten, einem kühlen Analytiker, der für seine unorthodoxen Methoden und seine Besserwisserei berüchtigt ist, die ihm schon mehrfach Ärger eingebracht haben. Beide werden zunächst zu Schreibtischarbeit vergattert. Als in Taiwan jedoch eine Razzia, bei der chinesische Spione aufgedeckt werden sollen, in eine Schießerei mit vielen Toten mündet, fühlt sich die chinesische Regierung so provoziert, dass sie eine Invasion des Inselstaates vorbereitet. Dabei scheinen die Chinesen keine Angst vor einer amerikanischen Vergeltungsaktion zu haben, obwohl der Flugzeugträger USS Abraham Lincoln in der Meerenge vor Taiwan stationiert ist. Die CIA-Direktorin Kathy Cooke soll nun zusammen mit Kyra und Burke herausfinden, warum die Chinesen anscheinend einen Krieg mit den USA in Kauf zu nehmen bereit sind. Dazu brauchen sie die Hilfe eines für die CIA arbeitenden chinesischen Agenten mit dem Codenamen Pioneer. Doch der Maulwurf steht unter chinesischer Beobachtung und kann den Amerikanern nicht helfen. Kyra und Burke erhalten nun die Chance, sich zu rehabilitieren, indem sie Pioneer aus China herausholen. Doch diese Aufgabe entpuppt sich schon bald als ein kaum zu bewältigendes Himmelfahrtskommando …

Autor

Mark Henshaw arbeitete als Analytiker bei der CIA und wurde 2007 für seine Arbeit mit dem Galileo Award ausgezeichnet. »Erbarmungslos« ist sein erster Thriller. Der Autor lebt in Leesburg, Virginia.

Mark Henshaw

Erbarmungslos

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Helmut Splinter

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Red Cell« bei Touchstone, a division of Simon & Schuster Inc., New York.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Mark Henshaw

All Rights Reserved.

Published by Arrangement with the original publisher,

Touchstone, a division of Simon & Schuster, Inc.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: FinePic®, München

Redaktion: Ilse Wagner

BH ∙ Herstellung: Str.

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-11847-1

www.goldmann-verlag.de

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Für Janna,

die dafür sorgte, dass ich anfing,

und

für Russel, Adam und Natalie,

die Gründe, warum ich weitermache.

Jahrhundertelang war China als führende Zivilisation dem Rest der Welt in Kunst und Wissenschaft immer einen Schritt voraus. Doch im 19. und 20. Jahrhundert litt das Land unter inneren Unruhen, großen Hungerkatastrophen, militärischen Niederlagen und Besatzung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten die Kommunisten unter Mao Zedong ein autokratisch-sozialistisches System, das zwar Chinas Souveränität sicherte, aber dem täglichen Leben strenge Kontrollen auferlegte und Menschenleben in zweistelliger Millionenhöhe forderte.

Nach dem Sieg der Kommunisten im Jahre 1949 flohen zwei Millionen Nationalisten unter der Führung von Chiang Kai-shek auf die Insel Taiwan. Während der nächsten fünfzig Jahre fand bei den Regierungsbehörden ein Demokratisierungsprozess statt. Im Jahre 2000 erlebte Taiwan den ersten friedlichen Machtübergang von der Chinesischen Nationalpartei (Kuomintang oder KMT) zur Demokratischen Fortschrittspartei.

Eine mögliche Wiedervereinigung steht für beide Länder weiterhin politisch im Mittelpunkt.

CIA World Factbook

Prolog

Santiago de León de Caracas

Bolivarische Republik Venezuela

Die Fluten hatten in diesem Jahr ein weiteres Dutzend Menschen getötet, alles namenlose Caraqueños, die in den armseligen Hüttensiedlungen auf den Hügeln rund um die Hauptstadt gelebt hatten. Schlammmassen hatten eine Woche zuvor Schneisen durch die Slums geschnitten und die Toten in den Betonkanal gespült, der Caracas zweiteilte und den Rio Guaire kaum unter Kontrolle halten konnte. Jetzt quoll der Kanal von dem schmutzigen Dezemberwasser und dem, was entlang der Straßen von Caracas zwischen den Hügeln und dem Stadtzentrum gelegen hatte, fast über. Autos, die über die Brücken fuhren, spritzten ununterbrochen Wasser in den Fluss und erzeugten zusätzlich zu dem Gurgeln ein seltsames Geräusch, als risse Gott ein Blatt Papier nach dem anderen durch. Das braune Wasser war im Mondlicht unter diesem Abschnitt der Autopista Francisco Fajardo kaum sichtbar. Die Schatten verwandelten die Graffiti an der Mauer in schweigende Ungeheuer, die die Flut beobachteten und nur darauf warteten, jeden auszulachen, der so dumm war, am Ufer zu spielen.

Kyra Stryker schlenderte den Fluss an der Nordseite entlang, hielt sich aber vom schmutzigen Damm weit genug entfernt, um nicht hineinzufallen, falls sie stolperte. Die Kanalwände waren steil, und die Strömung war so stark, dass auch sie es nicht mehr schaffen würde herauszuklettern. Die einzige Frage war, ob man den Tod durch Vergiftung oder Ertrinken gefunden hatte, noch bevor man ins Karibische Meer gespült wurde. Doch sollte sie sterben, dann nicht so, nahm sie sich vor.

Der Feind würde ihr hier problemlos auflauern können. Sie hatte es aufgegeben, mögliche Hinterhalte auszumachen, weil es derer zu viele gab und der Fluss eine perfekte Möglichkeit bot, einen CIA-Agenten zu töten und die Leiche im selben Moment zu entsorgen, wenn der SEBIN, der Servicio Bolivariano de Inteligencia, es darauf anlegte. Bis jetzt hatten sie es noch nicht gewagt, doch aufgrund der Mordrate in Caracas könnte man ihr Verschwinden leicht für ein gewöhnliches Verbrechen halten. Die Polizei, die so korrupt war wie die Verbrecher, würde dem Botschaftsbeamten, der die Vermisstenanzeige aufgeben würde, mit dem Finger drohen. Eine Frau, die sich nachts allein in einem dunklen Armenviertel herumtreibt? Ach, Amerikaner sind einfach viel zu unvorsichtig, würden sie sagen.

Ihr dunkelblondes Haar, das sie zu einem Zopf gebunden trug, war bereits von dem abendlichen Sprühregen nass, doch ihre Hände schob sie in ihre leeren Jackentaschen, um sie trocken zu halten. Der Regen sorgte dafür, dass die meisten Einwohner zu Hause blieben, wodurch sie sich ungeschützter fühlte. Als große, blonde Frau in Jeans und brauner Lederjacke fiel sie in dieser Stadt immer auf. Es hätte aber auch schlimmer kommen können. Mehr als die Hälfte ihrer Klassenkameraden, mit denen sie im Ausbildungszentrum Camp Preary, der »Farm« in Virginia, gewesen war, hatte es nach Afrika oder in den Mittleren Osten verschlagen, beides auf die eine oder andere Art mörderische Orte für Amerikaner, wo sie sich nur unter einer abaya hätte verstecken können. In Caracas war ein zivilisiertes Leben möglich, und die Einwohner waren Amerikanern gegenüber freundlicher gesinnt als die Regierung. Dies machte die Hauptstadt zu einer feindlichen, aber nicht tödlichen Umgebung, in der Kyra ihre Fertigkeit – zumindest tagsüber – vervollkommnen konnte.

Bei Nacht durch die Straßen der Hauptstadt zu schleichen, das war eine andere Sache.

Es sollte ein einfaches Treffen werden. Das zumindest hatte ihr der Chief of Station gesagt, der Stationsleiter der in der Botschaft ansässigen CIA-Vertretung. Doch Kyra war nicht die Einzige, die Sam Rigdon für wahnsinnig hielt. Rigdon hatte den Spion, einen höheren SEBIN-Mitarbeiter, Ort und Zeitpunkt für das Treffen bestimmen lassen. Der angeworbene Spion hatte behauptet, er kenne die Stadt besser als jeder Amerikaner, was ja vielleicht auch stimmte, und Rigdon hatte sich damit einverstanden erklärt. Kyra hatte ihre CIA-Ausbildung noch keine sechs Monate hinter sich und wusste bereits, dass es schlichtweg dumm war, diese Aufgabe einem Spion zu überlassen. In diesem Geschäft war dumm gleichbedeutend mit gefährlich und einem möglicherweise raschen Übergang zu tot.

»Dieser Mann hat uns gute Informationen geliefert«, hatte Rigdon erklärt. Das war höchst fraglich. Die Zigarren und der karibische Rum des Spions waren besser als dessen Infos. Kyra hatte versucht, Rigdon zur Vernunft zu bringen, was für eine Anfängerin wie sie ein aussichtsloses Unterfangen war. Stationsleiter benahmen sich wie Platzhirsche und hatten die Macht, einen Berufsanfänger aus dem Land zu jagen. Von den Unberechenbaren wusste man, dass sie aus reiner Willkür handelten, doch Rigdon war eher arrogant als launisch, was seine Sünde nur größer machte. Die Unberechenbaren sahen ihre Fehler vielleicht ein. Einige der anderen höheren Beamten hatten sich hinter Kyra gestellt, und Kyra hatte mehr als nur ein Mal gehört, wie hinter Rigdons verschlossener Bürotür gebrüllt wurde, während sie draußen gewartet hatte. Doch der Stationsleiter hatte alle Bedenken mit einer ungeduldigen Handbewegung abgetan. »Der Spion ist immer noch auf unserer Seite und arbeitet für uns«, hatte er gesagt. »Seine Loyalität ist die Garantie für unsere Sicherheit.«

So etwas Dummes hatte Kyra in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört.

Also lief sie unbewaffnet durch die Straßen. Eine Glock ließ sich dem SEBIN gegenüber nicht wegerklären. Vorsicht war ihre einzige Verteidigung, doch der Verkehr auf der autopista und der Lärm des vorbeiströmenden Wassers waren ein Angriff auf ihre Ohren, und die Straßenlaternen machten ihre nächtliche Sehkraft zunichte. Jede mögliche Route zum Treffpunkt machte das Aufspüren von Beobachtungsposten zu einem Albtraum.

Kyra verfluchte sich, weil sie sich aus Feigheit Rigdons Befehl nicht widersetzt hatte.

Schließlich tauchte nach einer Stunde Marsch die Fußgängerbrücke vor ihr auf. Sie war mehr ein Gerüst als eine Brücke, wirkte mit dem Metallgitter als Boden nur halb fertig. Sie war zwanzig Meter lang, vielleicht zwei Meter breit und aus dunklem Metall, wahrscheinlich verrostet und vergammelt, nachdem das Wasser bei Flut auch das Geländer und die Hohlräume unter dem Boden überschwemmt hatte. Wahrscheinlich war die Brücke mit Weinranken überwuchert, vermutete Kyra.

Zwanzig Meter entfernt tauchte endlich die Silhouette des Spions zwischen den Bäumen auf, doch mehr konnte Kyra nicht erkennen. Die Lichter auf der Brücke waren gelöscht, ob wegen fehlender Birnen oder kaputter Kabel wusste sie nicht. Doch sie sah, wie der Spion einen glimmenden cigarro an die Lippen hob, dessen Ende für eine Sekunde hell aufleuchtete, bis er den Stumpen fortwarf und das kleine Licht im Wasser erlosch.

Eine Straßenlaterne markierte das Ende der Brücke, wo sie auf den Bürgersteig mündete. Kyra erreichte die Stelle, blieb stehen und stellte sich vor den Lichtkegel. Damit würde der Spion nur ihre Silhouette, nicht aber ihr Gesicht sehen.

Angespannt ließ sie den Blick über den Bereich vor sich gleiten. Die Straßenlaterne beleuchtete lediglich die Baumlinie vor ihr. Keine Bewegung, kein Geräusch jenseits des Wassers oder der Autobahn.

Sie hatte ein ungutes Gefühl. Eine bessere Erklärung hatte sie nicht.

Der Spion sah sie und drehte sich um. Jetzt hatte sie zweifelsohne seine volle Aufmerksamkeit. Als er sich eine zweite Zigarre anzündete, sah Kyra im Schein des Feuerzeugs kurz sein Gesicht. Mit gerunzelter Stirn schob er das Feuerzeug in seine Tasche zurück. Er konnte in der Dunkelheit ihre Umrisse erkennen. Sie war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, doch er hatte mit Sicherheit einen Mann erwartet, keine Frau.

Dann tat er genau das Falsche.

Er winkte sie zu sich.

Kyra ballte ihre Hände zu Fäusten, ein Ventil gegen ihre Nervosität. Mit Pokergesicht neigte sie den Kopf in seine Richtung, während sie im Bruchteil einer Sekunde die Situation erfasst hatte.

Du kennst mich nicht, dachte sie. Sie waren sich nie begegnet. Sie war nicht die Führungsoffizierin dieses ausländischen Spions. Ein paranoider Spion hätte sich um seine Sicherheit gesorgt, wäre skeptisch gewesen, dass eine Fremde, vielleicht eine Touristin, was hier zu dieser späten Stunde aber unwahrscheinlich war, an einem dunklen, abgeschiedenen Treffpunkt auftauchte. Hätte er vermutet, sie gehöre dem venezolanischen Staatsschutz an, hätte er so tun müssen, als beachte er sie nicht. Es hätte an ihr liegen müssen, ein verabredetes Zeichen zu geben, um nicht nur ihre Identität zu bestätigen, sondern auch, um zu zeigen, dass sie nicht verfolgt wurde. Dann hätte er seinerseits mit dem entsprechenden Zeichen antworten müssen. Dieses einfache Protokoll hatte der Spion missachtet.

Nervös? Das war der einzige logische Grund für sein Handeln. Der Mann war erfahrener SEBIN-Offizier, ein ausgebildeter Profi. Doch er hatte seine Ausbildung vergessen.

Warum bist du nervös? Dafür gab es zwei Möglichkeiten. Er hatte den Verdacht, dass sie verfolgt wurde. In diesem Fall hätte er gewusst, welches Signal er ihr hätte geben müssen. Oder er wusste sicher, dass sie verfolgt wurde. In diesem Fall wäre er erst gar nicht aufgetaucht. In beiden Fällen lief er als Verräter Gefahr, ins Gefängnis gesteckt oder hingerichtet zu werden, sollte er erwischt werden.

Wenn er natürlich nicht in Gefahr war, musste er aus einem völlig anderen Grund nervös sein.

Du bist hier, amigo. Gibst kein Signal. Bist nervös.

Das bedeutete: SEBIN war hier, der venezolanische Geheimdienst. Doch der Spion wollte trotzdem, dass sie die Brücke betrat.

Er hatte keine Angst davor, erwischt zu werden. Er hatte Angst, dass man sie nicht schnappen würde. Angst, dass das Endspiel, bei dem er mitmischte, in die Hose gehen würde.

Und plötzlich sah Kyra alles so deutlich vor sich, als wäre es bereits geschehen.

El Presidente kontrollierte die Gerichte. Die Verurteilung eines verhafteten CIA-Agenten wegen echter und erfundener Anklagepunkte wäre eine ausgemachte Sache. Der Möchtegerntyrann würde den Fall nutzen, um Entschuldigungen und Zugeständnisse von den USA zu erpressen. Er würde die Verhaftung öffentlich machen und die Geschichte, wenn möglich, wochen-, wenn nicht gar monatelang ausschlachten. Sie, den Geheimdienst und die Vereinigten Staaten erniedrigen. Er würde behaupten, ihre Verhaftung sei Beweis dafür, dass die USA ihn stürzen, vielleicht sogar umbringen wollen. Damit würde er in den Augen seiner Verbündeten hier und im Ausland seine Macht zur Schau stellen. Er würde jeden Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft zur persona non grata erklären und alle im Rahmen der Vergeltung aus Venezuela ausweisen. Ihre Ausweisung und die ihrer Kollegen wäre allerdings keine ausgemachte Sache. El Presidente würde sie wie eine verstaubte Kriegstrophäe zur Schau stellen, aber eher, um Feinden – nein, dem Feind – das Fürchten zu lehren, und nicht, um sich von seinen Verbündeten bewundern zu lassen.

SEBIN würde Kyra Stryker im Gefängnis von Los Teques festhalten, wie es die Nordkoreaner mit der USS Pueblo im Hafen von Wonsan getan hatten.

Der Spion hielt mitten in seiner Bewegung inne. Er hatte seinen Fehler bemerkt.

Sechs Straßenblocks bis zum nächsten sicheren Haus.

Kyra rannte los.

Und plötzlich stürmten die Kampfeinheiten von SEBIN wie aus dem Nichts auf Kyra zu. Spanisch rufende Männer mit schwarzen Sturmhauben, Helmen und Körperpanzerung, schweren Stiefeln, mit Seitenwaffen in Schenkelhalftern und Karabinern. Drei Einheiten, vielleicht je sechs Männer, hatten beiderseits der Brücke zwischen den Bäumen Stellung bezogen, wo sie in der Dunkelheit perfekte Deckung fanden. Eine Einheit stürmte von der anderen Seite mitten auf die Brücke, wo die Soldaten unter den schmutzigen Gittern gelegen hatten. Wahrscheinlich gab es noch mehr von ihnen, vielleicht Späher in oder auf den umliegenden Gebäuden. Kyra wäre in die Falle getappt, sobald sie die Brücke betreten hätte.

Die erste Einheit, die sich in den Hohlräumen unter der Brücke versteckt hatte, versuchte, durch die Gitter zu klettern. Die Brücke war schmal, die Ausrüstung der Männer sperrig. Sie würden dreißig Sekunden brauchen, um ans Ufer zu gelangen.

Die zweite Einheit befand sich auf der anderen Seite der Brücke zwanzig Meter entfernt. Sie hatte die Brücke bereits erreicht, wurde aber von der Einheit, die durch das Gitter kletterte, blockiert. Einheit zwei würde mindestens eine Minute lang nicht einsatzfähig sein.

Die dritte Einheit auf ihrer Seite der Brücke hielt sich unten am Damm direkt oberhalb des Kanals und nur zehn Meter entfernt hinter den Bäumen auf, doch die Männer mussten durchs Gebüsch klettern, das die Zementmauer überwucherte. Der Soldat, der sich Kyra am nächsten befand, würde drei Sekunden brauchen, um die obere Kante des Damms zu erreichen. Zu spät, da Kyra bereits mindestens dreißig Meter entfernt sein würde.

Sie rannte mit vollem Tempo, ohne von einem Soldaten eingeholt zu werden, der durch sein Gewehr oder seine andere Ausrüstung behindert wurde. Sie hatte eine Gasse links von sich anvisiert und hoffte, dass keine weitere Einheit dort im Dunkeln auf sie wartete.

Sie bog um die Ecke, sah aber kein Licht am Ende. Kein Licht, kein SEBIN, war ihr klar. Und kein Ausgang. Kyra versuchte anzuhalten, schlitterte im Schlamm auf dem Beton und wusste, dass sie gegen die Mauer knallen würde. Sie hob die Arme, um den Aufprall abzudämpfen. Sobald sie Kontakt mit der Mauer bekam, drückte sie sich ab und rannte zurück.

Die zweite Gasse war zehn Meter entfernt. In drei Sekunden hatte Kyra sie erreicht, sah aber im gleichen Augenblick, wie ein Mann in schwarzer Ausrüstung seine Waffe hob. Kyra rannte weiter, hätte nicht anhalten können, wenn er es verlangt hätte. Sie hob einen Arm, rammte ihre Handkante gegen seine Kehle und fiel von der Wucht des Schlags selbst in den Dreck. Dem Soldaten erging es allerdings schlimmer. Ihr Schwung und der glitschige Beton reichten, um ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Er wirbelte herum und landete auf dem Rücken, brach sich auf beiden Seiten ein paar Rippen und das Schlüsselbein und zog sich einen Riss an der Rotatorenmanschette zu. Er würde erst in einigen Monaten wieder eine Waffe halten können.

Mehrere Schüsse übertönten den autopista-Verkehr. »Idiota!«, rief jemand. Kyra rannte in die Dunkelheit, hoffte, nicht über Müll oder einen Obdachlosen oder irgendwelches Geröll zu stolpern.

Sie hörte Schritte hinter sich, mindestens ein halbes Dutzend, dachte sie, doch sie wandte sich nicht nach hinten. Dem Geräusch nach zu urteilen, hatten sie die Gasse erreicht, als sie sie am anderen Ende bereits verließ.

Kyra verlangsamte ihr Tempo nur minimal. Es war nach Mitternacht und der Bürgersteig fast leer. Sie bog nach rechts und rannte weiter, ohne zu wissen, welches Ziel sie als Nächstes anvisieren sollte. El Museo de los Niños lag nördlich von ihr, vielleicht zweihundert Meter entfernt. Darauf rannte sie, so schnell sie konnte, zu. Sie keuchte abgehackt, ihr Herz schlug so heftig wie noch nie zuvor. Nur ein Arm schwang mit, wie er sollte.

Sie erreichte das Museo, ein altes Gebäude mit seltsamer Form in moderner südamerikanischer Architektur, ein Klotz mit tausend Ecken, umgeben von Bäumen, Kiosken und Schildern. Eine Menge Möglichkeiten, den Sichtkontakt zu unterbrechen. Sie rannte um das Gebäude herum. Die Schritte hinter ihr waren weiter entfernt, wurden fast vom Straßenlärm übertönt. Irgendwo plärrte eine Sirene. Ihretwegen? Die Einsatztrupps hatten sicher bereits Verstärkung über verschlüsselte Funkgeräte angefordert. Das Ziel war dem Netz entschlüpft, und wenn die Jagd lang genug dauerte, würden mit Sicherheit Fahrzeuge zum Einsatz kommen. Jetzt durfte sie ihren Verfolgern nicht preisgeben, in welche Richtung sie floh.

Kyra rannte durch den Gebäudekomplex. Hindernisse und Geländer rasten so schnell an ihr vorbei, dass sie Angst hatte, nicht rechtzeitig ausweichen zu können, wenn um die nächste Ecke plötzlich irgendetwas vor ihr auftauchen würde. Schließlich erreichte sie die Straße.

Vier Straßenblocks bis zum sicheren Haus.

Sie musste sich weit genug von der Kampfeinheit entfernen, um unbeobachtet das sichere Haus zu erreichen, sonst wäre es nicht mehr sicher. Sie bog nach rechts auf die Avenida Bolívar, eine achtspurige Schnellstraße, die beiderseits von Bäumen gesäumt und in der Mitte von einer Betonmauer geteilt wurde. In der hellen Straßenbeleuchtung würden die aus der Gasse stürmenden Kampfeinheiten sie erkennen. Deswegen musste sie so schnell wie möglich die Straße überqueren. Zum Glück herrschte zu dieser nächtlichen Stunde nur schwacher Verkehr.

Ihre Hand sehnte sich nach ihrer Glock.

Kyra bemerkte eine große Lücke im Verkehr. Sie wartete, bis die Fahrzeuge näher gekommen waren, dann wirbelte sie herum und rannte los. In fast drei Sekunden hatte sie die acht Spuren überquert. Ihre Rechnung ging auf, weil sich der Verkehr hinter ihr wieder schloss. Die Kampfeinheiten würden auf ihre eigene Lücke im Verkehr warten müssen. Kyra bog wieder nach rechts ab und rannte eine Seitenstraße weiter in Richtung Norden, bis sie an der Kreuzung an der Avenida Mexico erneut nach rechts abbog. Ihre Beine und Lunge brannten, doch ihr rechter Arm kam immer noch nicht über die Gürtellinie hinaus.

Drei Straßenblocks bis zum sicheren Haus.

Die Avenida führte in einem Bogen nach Nordosten. Dahinter erblickte Kyra auf der rechten Seite die Galeria de Arte Nacional. Sie schaute kurz nach hinten, sah aber niemanden. Die Kampfeinheiten warteten vielleicht immer noch auf eine Lücke im Verkehr auf der Avenida Bolívar. Hinter zwei großen Gebäuden rannte sie durch eine Öffnung in einer Betonmauer und lehnte sich gegen eine der Säulen, um Luft zu schnappen. Lange durfte sie hier nicht bleiben, doch ihr Adrenalin und ihre Kraft versiegten immer mehr, und ihr verletzter Arm begann zu schmerzen. Sie hatte sich verausgabt, war wahrscheinlich eineinhalb Kilometer in sechs Minuten gerannt, und jetzt machte sich die Erschöpfung bemerkbar.

Wieder drehte sie sich um, und wieder sah sie niemanden. In der Ferne hörte sie quietschende Reifen und mehr als ein Fahrzeug, das schneller fuhr, als es sollte. Sie wankte auf den Bürgersteig zurück und rannte weiter, diesmal in Richtung Norden.

Zwei Straßenblocks bis zum sicheren Haus.

Nach weiteren hundert Metern, in denen sie nur an wenigen Fußgängern vorbeigekommen war, drehte sie sich noch einmal um. Die SEBIN-Einheiten waren nirgends zu sehen. Sie entspannte sich ein wenig. Jetzt könnte sie sich nur noch durch einen Zufall oder durch einen Fehler ihrerseits verraten, ein Gefallen, den sie ihren Gegnern nicht tun wollte.

An der Avenida Urdaneta blickte sie nach Westen. Dort stand das Hochhaus. Entkräftet und stolpernd rannte sie darauf zu. Am Ende einer Gasse raste ein Auto eine Parallelstraße viel zu schnell entlang. Die SEBIN war ihr dicht auf den Fersen.

Ein Straßenblock bis zum sicheren Haus.

Der Lärm der Fahrzeuge wurde lauter, und Kyras Kräfte schwanden schneller, als sie erwartet hatte. Sie musste dringend von der Straße verschwinden. Der Schmerz in ihrem Arm ließ sich nicht mehr ignorieren. Es fühlte sich an, als wäre der Knochen verletzt.

An der Ecke des Wohnhauses rannte sie die Seitenstraße weiter bis zu einem Seiteneingang an der Ostseite. Die sichere Wohnung lag im vierten Stock. Aus ihrer Hosentasche kramte sie den Schlüssel heraus, den ihr der stellvertretende Stationsleiter zugesteckt hatte, bevor sie zum Treffen aufgebrochen war. Ihre zitternden Hände waren nass vom Regen. Sie versuchte, den Schlüssel mit der rechten Hand ins Schloss zu schieben. Ihre Fingerspitzen waren taub, sodass sie die linke Hand benutzen musste.

Schließlich stieß sie mit ihrer Schulter gegen die Tür, trat ein und schloss sie von innen ab. Erschöpft lehnte sie sich dagegen.

In Sicherheit war sie noch nicht, doch immerhin weg von der Straße. Um sie jetzt zu finden, müssten ihre Gegner in mindestens einem Dutzend quadratischer Gebäude von einer Wohnungstür zur anderen gehen, wobei Caracas fast nur aus Hochhäusern oder Hüttensiedlungen bestand. Der Suchradius würde Tausende von Wohnungen umfassen. SEBIN hatte kein Bild von ihr, das man den Einwohnern hätte zeigen können, und sie konnten auch nicht wissen, dass sie sich bereits hier versteckte.

Vier Treppen nach oben. Am liebsten hätte sie vor Schmerzen geweint.

Beweg dich, trieb Kyra sich an. Schon das Denken bereitete ihr Probleme.

Drei Meter weiter befand sich die Tür zum Treppenhaus. Kyra zog sich mit ihrem unverletzten Arm die vier Stockwerke am Geländer nach oben, schaffte es, auf dem Weg zu der sicheren Wohnung nicht im Flur zu stürzen. Niemand begegnete ihr.

Sobald Kyra die Tür mit der Nummer, die ihr genannt worden war, erreicht hatte, trat sie ein und verriegelte sie von innen. Endlich beruhigte sich ihr Herzschlag. Ihre Lunge brannte noch, doch das Atmen fiel ihr bereits leichter. Wie gerne wäre sie hier auf der Stelle einfach zusammengebrochen.

In Sicherheit. Eigentlich nicht, wie sie wusste. Doch mehr Sicherheit war im Moment nicht möglich.

Die Schlüssel rutschten ihr aus der Hand und fielen auf den Boden. Sie ließ sie liegen und tastete nach dem Lichtschalter.

Die sichere Wohnung mit zwei Zimmern, Küche und Bad war vielleicht neunzig Quadratmeter groß, karg eingerichtet, aber sauber. Im Schlafzimmer ließ sie sich aufs Bett fallen.

Kyra hatte ihren verletzten Arm vergessen. Ein Schmerz, wie sie ihn bisher nicht erlebt hatte, durchfuhr beim Aufprall von der rechten Seite aus ihren gesamten Körper. Nach einem kurzen Aufschrei riss sie sich wieder zusammen, aus Angst wegen der Nachbarn. Sie drückte sich mit ihrem unverletzten Arm nach oben und setzte sich, um nach ihrer Wunde zu sehen.

In ihrer Lederjacke befand sich zwischen Schulter und Ellbogen ein Loch. Unter heftigen Schmerzen zog sie sich vorsichtig die Jacke aus. Der Fleck auf der Rückseite ihres Arms war überraschend groß. Dunkelrot, fast schwarz erstreckte er sich über den Ärmel ihres Hemdes fast bis zu ihrem Handgelenk hinab.

Es gab nur eine Möglichkeit, sich das Hemd ohne größere Schmerzen auszuziehen. Sie zog mit der linken Hand ein Taschenmesser aus ihrer Tasche und öffnete die Klinge mit den Zähnen. Dann schob sie es unter ihren Kragen und zog es nach rechts und um die Naht an der Schulter herum. Der Ärmel rutschte von ihrem Arm und fiel, schwer vom Blut, auf den Boden.

Haut und Muskeln an ihrem Trizeps waren in einer quer verlaufenden Wunde zerfetzt. Den Knochen konnte sie nur wegen des Blutes nicht sehen. Adrenalin hatte den Schmerz gedämpft.

Wann …?

Mit der Fähigkeit des Gehirns, bestimmte Dinge auszublenden, hatte sie sich auf den unmittelbaren Schmerz in ihrer Lunge und den Beinen konzentrieren und sich von der Schussverletzung ablenken können. Als sie jetzt die Wunde sah, nahm sie ihre Lunge und die Beine nicht mehr wahr. Dafür ergriffen die Schmerzen ihren gesamten Oberkörper und blockierten ihre Gedanken. Nur mit Mühe schaffte sie es, einen Schrei zu unterdrücken.

Die Erste-Hilfe-Ausrüstung müsste sich im Badezimmer befinden, überlegte Kyra. Dorthin stolperte sie, bemüht, ihren Arm nicht zu bewegen. Unter dem Waschbecken lag ein großer Umhängebeutel. Die CIA-Sicherheit, ehemalige Pfadfinder, wie sich Kyra dachte, war immer auf alles vorbereitet und die Traumaausrüstung eher für ein Kriegsgebiet als für eine Großstadt ausgelegt. Kyra versuchte, sich zu konzentrieren, während sie nach den beiden Dingen suchte, die sie am dringendsten benötigte, eine Rolle Mullverband und eine Morphiumspritze. Sie stach sich die Nadel knapp über der Wunde in den Arm, ohne vor Schmerzen aufzuschreien, drückte den Kolben nach unten und zog die Spritze wieder heraus. Dies waren die längsten zehn Sekunden ihres Lebens gewesen.

Ihr Arm wurde taub, und schließlich hörte sie auf zu zittern und entspannte sich. Der Schmerz ließ nach, und sie wappnete sich gegen den nächsten Schritt ihrer Selbstverarztung. Dazu knüllte sie mit der linken Hand ein Stück Mull zusammen und drückte es auf die Wunde. Fast im gleichen Moment hörte die Wunde auf zu bluten.

Das Morphium wirkte schnell. Sie war nicht in der Lage gewesen, über die Dosis nachzudenken. Jedenfalls war sie hoch genug. Vielleicht zu hoch.

Sie verband ihren Arm, um das Stück Mull in der Wunde zu fixieren. Das Ergebnis sah hässlich aus, doch beides, das Morphium und der Verband, erfüllten ihren Zweck. Am Schluss hielt sie den Verband mit zwei Klammern zusammen.

Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer brach sie beinahe zusammen. Sie ließ sich auf die Matratze sinken, drehte sich auf den Rücken und kramte in ihrer Jacke nach dem abhörsicheren Handy mit der verschlüsselten Nummer, das ihr der stellvertretende Stationsleiter zwei Stunden zuvor gegeben hatte.

Sie wusste, das Morphium und der nachlassende Stress würden sie bewusstlos machen. Vielleicht blieb ihr noch eine Minute, um anzurufen, bevor sie in dichten Nebel eintauchen würde. Ihr Arm war zum Glück bereits taub.

Draußen hörte sie zwei Sirenen vorbeibrausen. Sie konnte die Entfernung nicht einschätzen, doch sie schienen aus unterschiedlichen Richtungen zu kommen.

Hier ist es nicht sicher, dachte sie. Sie wusste nicht, an welcher Stelle SEBIN sie zuletzt gesehen hatte, und kannte somit auch nicht den Bereich, in dem SEBIN sie suchen würde. Sie könnten bereits in der Nähe sein, ein Hochhaus nach dem anderen stockwerkweise durchkämmen. Vielleicht schlichen sie draußen durchs Treppenhaus oder durch den Flur. Sie könnten die Tür aufbrechen. Von Mauern würden sie sich nicht aufhalten lassen.

Die Wände schienen immer näher zu kommen. Sie geriet in Panik, der Stress der letzten Minuten setzte ihr zu. Ihre unverletzte Hand zitterte, diesmal aber nicht vom Schock oder Schmerz.

Hier ist es nicht sicher.

Kyra drückte die einzige belegte Kurzwahltaste des Telefons.

Die Verbindung wurde hergestellt. Die Stimme am anderen Ende war amerikanisch.

»Vermittlung.«

Erster Tag

Sonntag

Zwei Monate später

Beihai-Park, Peking

Volksrepublik China

Von den vielen Parks in Peking mochte Pioneer nur diesen einen. Hierher, an diesem tausend Jahre alten Ort, hatten sich die Kaiser zurückgezogen, während die Christen ihre Kreuzzüge verloren hatten. Seine Schönheit war einzigartig, dachte er, und der See Tai Ye bot selbst im Winter Trost, wenn er zitternd am Ufer saß und der sibirische Wind durch seinen dünnen Mantel blies. An diesem Abend hatte er eine volle Stunde in der Kälte zugebracht und die sanften Wellen beobachtet, die gegen die Felsen schlugen. Leider saß er hier nicht, um zu meditieren, sondern weil er sehen wollte, ob die wenigen Menschen, die ebenfalls dem Wind trotzten, sich ihm langsam näherten. Das ewige Gerücht über einen Maulwurf innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit – dem Guojia Anquan Bu – hatte wieder Aufwind bekommen. Die Gefahr, enttarnt zu werden, bestand immer, doch stets hatte er die Ermittlungen unbehelligt überstanden.

Dennoch gönnte sich Pioneer das Abendessen. Ins Restaurant Fangshan zu gehen war ein Fehler, den er wiederholt machte. In diesem Punkt scheiterte er mit seiner Disziplin. Reichtum zu zeigen war ein Risiko. Präsidenten und Minister speisten hier. Die Preise waren mit dreihundert yuan für das Menü an diesem Abend für örtliche Standards hoch, aber auch nicht das Teuerste, was er bisher hier gegessen hatte. Es war die einzige Ausgabe, die er mit dem Geld der CIA tätigte. Der Rest lag auf einem Bankkonto bei der Washington Mutual Bank in den Vereinigten Staaten und bedeutete ihm nichts. Er würde nicht lange genug leben, um es ausgeben zu können, dessen war er sich sicher, und Verräter erhielten in der Volksrepublik China keine selbst gewählte Henkersmahlzeit. Im Fall seiner Verhaftung, die gleichbedeutend mit seiner Hinrichtung sein würde, wollte er vor seinem Abgang noch einmal speisen wie ein Kaiser. Zumindest war dies die Lüge, mit der er lebte. In Wahrheit bot ihm das Essen die Möglichkeit, sich auf etwas zu konzentrieren. Er war ein Landesverräter und darauf nicht stolz, weswegen er sich immer vor einem Treffen mit seinem Führungsoffizier an den Tisch im Restaurant setzte und sein schlechtes Gewissen mit Hilfe seiner privaten Liturgie, die aus einem Menü samt grünem Tee bestand, einen Moment lang wegsperrte.

Als er die gebratenen Garnelen und das Krabbenfleisch gegessen hatte, griff er zu seiner Teetasse. Er hatte noch ein bisschen Zeit, doch seine Gedanken rasten wie beim Countdown. Nie hörte er auf, die Minuten bis zum Treffen zu zählen. Das kleine Uhrwerk in seinem Kopf flüsterte zwar nur, drohte aber, ihn von seinen anderen Gedanken abzulenken. Wie ein unnachgiebiges, sublimes Folterinstrument quälte es ihn seit fünfundzwanzig Jahren. Nie, selbst im Schlaf nicht, verlor er das Gefühl für diesen Zeitpunkt. Ein Wunder, dass er noch nicht verrückt geworden war.

Das Restaurant war nur halb voll. Der schmutzige, verseuchte Schnee, der draußen vom Himmel fiel, hielt die meisten Touristen davon ab, das Haus zu verlassen. Pioneer zählte drei Tische mit Westlern, ob es Amerikaner oder Briten waren, konnte er aber nicht sagen. An einem Tisch erkannte er die Gäste als Koreaner, ein Liebespaar stammte aus Thailand und eine kleine Gruppe von … Türken? Iraner? Araber konnte er noch nie von Persern unterscheiden.

In der Ecke gegenüber sah er einen Chinesen, der, wie er selbst, allein am Tisch saß. Er hatte dieses Gesicht schon ein Mal … wann gesehen? Er verfügte über ein eidetisches Gedächtnis, doch seine Erinnerungen kamen nicht spontan. Mit ausdruckslosem Gesicht grübelte er nach. Zeit und Entfernung … hatte er den Mann heute gesehen? Ja, beim Mittagessen in der Markthalle sieben Stunden zuvor und dreieinhalb Kilometer von dem Tisch entfernt, an dem er jetzt saß – zu weit entfernt und vor zu langer Zeit. War es Zufall, dass der Mann genau hier im Fangshan saß? Möglich, aber unwahrscheinlich.

»Ihre Rechnung, bitte.« Der Kellner legte ein Lederetui auf den Tisch.

Pioneer nickte, wartete, bis der Kellner gegangen war, legte das Geld in das Etui und verließ das Restaurant. Er drehte sich nicht um, um nachzusehen, ob sich der ihm vertraute Mann ebenfalls erhob, um zu gehen. Das Abendessenritual war beendet, und er hatte raffiniertere Möglichkeiten, um zu prüfen, ob er verfolgt wurde.

Pioneer blendete die Stimmen in seinen Gedanken aus, ging in der Abenddämmerung über die kurze Brücke aufs Festland und von dort in Richtung Osten.

Taipeh

Republik China (Taiwan)

Die Wohnung war in jeder Hinsicht durchschnittlich. Sie lag im dritten Stock eines vielleicht vierzig Jahre alten, unauffälligen Gebäudes in einem von Taipehs ältesten Vierteln. Von außen sah es ganz ordentlich aus, war von einer kleinen Wiese, ein paar Hecken und kahlen Blumenbeeten mit Mulch umgeben, auf dem erst in ein paar Monaten Unkraut und Wildblumen wuchern würden. Die Lage der Wohnung im Haus neben der Hintertreppe hatten die Bewohner mit Absicht so gewählt, dass sich Besucher nicht unbemerkt nähern konnten.

Das Gebäude stellte für Oberst Kuos Mannschaft keine Herausforderung dar. Solche Orte waren nicht auf die Verteidigung einer Wohnung ausgerichtet, und sollte doch gestürmt werden, waren die Variablen überschaubar. Die Zielpersonen hatten einfach nur Pech, dass eine sichere Wohnung nur so lange sicher war, wie sie geheim gehalten wurde.

In einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen, und Kuo legte es auf das Überraschungsmoment an, das mit dem Morgengrauen nicht mehr gegeben wäre. Er sah zum hinteren Teil des Bereitstellungsbereichs hinter der Baumlinie. Dort standen Beamte des Büros für Nationale Sicherheit herum und suchten eine Beschäftigung für ihre Hände. Sie hätten gerne geraucht, um die Spannung abzubauen, doch glimmende Zigaretten hätten die Position der Männer verraten und auch ihre Sehfähigkeit bei Nacht beeinträchtigt. Deswegen hatte Kuo ein Rauchverbot verhängt. Die Beamten waren ein arroganter Haufen, die ihre Männer wie Tagelöhner herumkommandierten, sodass Kuo seinen Spaß daran hatte, ihnen dieses bisschen Autorität aufzuzwingen.

Der Sicherheitschef hing bereits mehr als eine Stunde an einem sicheren Telefon. Als er Kuos Blick bemerkte, sagte er etwas Unhöfliches ins Telefon, beendete das Gespräch und ging zu Kuo.

»Ich sage es noch einmal: Sie müssen Gummigeschosse verwenden«, verlangte der Sicherheitschef.

Idioten, dachte Kuo. »Können Sie garantieren, dass die Zielpersonen unbewaffnet sind?« Wie ein guter Anwalt wusste er die Antwort auf seine Frage, noch bevor er sie gestellt hatte.

Der Sicherheitschef bleckte seine gelbbraunen Zähne. Diese Frage hatte er in dieser Nacht bereits zweimal beantwortet, und er hatte nicht vor, sich vor diesem arroganten, kleinen Polizisten noch einmal zu erniedrigen. Der Mann unterschied sich kaum von einem Streifenpolizisten, da er kein Gespür hatte, was hier politisch auf dem Spiel stand. »Schaffen Sie sie lebend und unverletzt da raus.«

Kuo verdrehte die Augen und ließ vorsichtig seinen Finger über die Sicherung seiner Heckler & Koch MP-7 gleiten, was der Beamte der Zentralregierung nicht bemerkte. »Wie wir sie rausschaffen, hängt davon ab, wie sie reagieren, wenn wir drin sind«, erwiderte Kuo.

»Das ist der Befehl meiner Vorgesetzten! Lebend! Haben Sie verstanden? Selbst Verletzungen an Gesicht und Händen sind inakzeptabel, geschweige denn Leichen.«

Kuo betrachtete sein Gegenüber eingehend. Dieser Zentralbeamte war aufgeregt, fast verzweifelt. Das hieß, er stand während dieser Operation unter Beobachtung von ganz oben, und das wiederum hieß, dass die Zielpersonen einem Handel mit einem noch höheren Tier dienten. Die Frage, mit wem der Sicherheitschef Geschäfte machen wollte, blieb offen. Die Antwort wollte Kuo ohnehin lieber nicht wissen. Er hatte die Dossiers der Regierung zu den Zielpersonen angefordert und sogar gedroht, den Einsatz zu verweigern, sollten ihm diese Dossiers nicht zur Verfügung gestellt werden. Drei waren Festlandchinesen, einer war ein taiwanesischer Nationalist vom Festland und einer ein taiwanesischer Nationalist, der mit US-amerikanischer Staatsbürgerschaft in den Vereinigten Staaten lebte. Ihre Zugehörigkeiten waren geschwärzt worden. Organisiertes Verbrechen war eine Möglichkeit, doch die Regierung würde nicht mit den Triaden verhandeln. Da eine Zielperson Amerikaner war, würde Taiwan keinen Vertreter seiner größten westlichen Schutzmacht als Geisel nehmen. Damit blieb nur noch eine Möglichkeit. Es war allgemein bekannt, dass Taiwan mit chinesischen Spionen durchsetzt war, und bis jetzt hatte es die Regierung vorgezogen, sie in Ruhe zu lassen. Das Büro für Nationale Sicherheit hatte aus Angst vor der Reaktion nie einen chinesischen Spion verhaftet. Anscheinend hatte sich diese Politik jetzt geändert … oder jemand war dabei, sie zu ändern. Dies passte Kuo ganz und gar nicht, doch die Außenbeziehungen zu den Chinesen fielen nicht in seinen Arbeitsbereich.

»Dann können Ihre Vorgesetzten die Erstürmung durchführen«, sagte Kuo.

»Sie haben Ihren Befehl!« Der Zentralbeamte schrie ihn beinahe an, was die Aufmerksamkeit der umstehenden Polizisten und Beamten auf ihn lenkte.

Kuo beugte sich zu dem Beamten vor. »Ich werde wegen der politischen Befindlichkeiten irgendeines Menschen nicht das Leben meiner Männer aufs Spiel setzen«, flüsterte Kuo. »Ob Ihre Verdächtigen lebend die Wohnung verlassen, hängt davon ab, ob sie bewaffnet sind und sich wehren. Wenn das für Sie inakzeptabel ist, sollten Sie die Sache noch einmal überdenken.«

Der Sicherheitschef holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Wenn meine Vorgesetzten nicht zufrieden sind …«

»In Anbetracht der Informationen, die ich von Ihnen erhalten habe, ist meine Entscheidung korrekt«, unterbrach Kuo ihn. »Gehen wir rein oder nicht?«

Der Sicherheitschef spielte mit seinem Handy, überlegte, einen weiteren Anruf zu tätigen, und steckte es wieder in seine Manteltasche. »Sie gehen rein.«

Kuo wandte sich ab, bedeutete seinen Männern mit einem Zeichen seiner Hand loszugehen und gab über sein abhörsicheres Funkgerät der Einheit auf der anderen Seite des Gebäudes den Befehl zum Einsatz. Männer in schwarzen Stiefeln, Overalls, Sturmhauben und Helmen traten vor und lehnten zwei Leitern seitlich ans Gebäude. Zwei von ihnen kletterten rasch bis nach oben, wo sie, ihre Köpfe unterhalb der Fenstersimse haltend, Brechstangen aus ihren Rucksäcken zogen. Ihre Kollegen unten griffen bereits zu den Blendgranaten in ihren Westen.

Kuo führte seine Einheit zur Wohnungstür. Der Mann hinter ihm trat vor, sank auf ein Knie und schob ein dünnes Glasfaserkabel mit einer winzigen Kamera am Ende unter der Tür hindurch. Kuo sah sich das übertragene Bild auf einem kleinen Monitor an. Der Mann drehte die Kamera nach rechts, wo Kuo jedoch niemanden sehen konnte. Er hörte aber Stimmen, die allerdings durch seinen Helm und seine Sturmhaube gedämpft wurden, sodass er nicht verstand, worüber gesprochen wurde. Als die Kamera nach links gedreht wurde, erschienen drei Männer auf dem Bildschirm. Kuo nickte und streckte für seine Männer hinter sich drei Finger in die Höhe. Der Polizist vor ihm zog die Kamera zurück und ging wieder nach hinten zu seinen Kollegen.

Kuo nahm eine Blendgranate aus seiner Weste, entfernte den Stift, während er den Sicherheitsbügel nach unten gedrückt hielt, und nickte dem Polizisten zu, der einen fünf Kilo schweren Vorschlaghammer in der Hand hielt. Der Polizist mit der Kamera flüsterte etwas in sein Funkgerät, derjenige mit dem Hammer holte weit aus und sprengte das Schloss aus dem Türrahmen. Fast im gleichen Moment warf Kuo die Granate in die Wohnung.

Die Zielpersonen im vorderen Zimmer wirbelten instinktiv zur Tür herum. Die Granate zündete einen Blitz von sechs Millionen Candela, der alle fotosensitiven Zellen der Retina der Zielpersonen gleichzeitig aktivierte. Ihre Sehkraft erstarrte wie eine Filmspule, und ihre Augen sendeten nur noch dieses letzte Bild zum Gehirn. Der Knall von einhundertachtzig Dezibel traf eine Millisekunde später ihr inneres Ohr und lag nur knapp unter dem Punkt, an dem er das Weichteilgewebe geschädigt hätte. Ein Mann stürzte auf den Boden, die anderen beiden verloren ihren Gleichgewichtssinn. Blind, fast taub und unfähig zu stehen streckten sie ihre Arme nach vorn, um sich irgendwo festhalten zu können.

Die zweite Einheit, die von der Rückseite einbrach, schlug die Fenster mit ausziehbaren Schlagstöcken ein und warf Blendgranaten in die hinteren Räume. Sie hatten die Wohnung seit mehr als einer Woche beobachtet, während Kuo mit den Zentralbeamten den Angriffsplan besprochen hatte. Es hielten sich vier Männer in der Wohnung auf, davon im Moment nur drei im vorderen Zimmer. Der vierte Mann befand sich im hinteren Bereich, wo das Licht abgedunkelt war. Kuo hoffte, dass er sich nicht im fensterlosen Badezimmer versteckte.

Im hinteren Teil explodierten Blendgranaten. Kuo bog an der Wohnungstür um die Ecke, gefolgt von seinen Männern wie von einer schwarzen Schlange. Einige Männer, ihre MP-7 auf Augenhöhe im Anschlag, verteilten sich über den Wohnraum, die anderen huschten nach hinten, um der zweiten Einheit zu helfen.

Die Männer in Kuos Blickfeld waren unbewaffnet und hilflos. Kuo zog einen Schlagstock aus seinem Gürtel, ließ ihn mit einem Zucken seines Handgelenks ausfahren und knallte ihn dem ersten Mann so fest in die Kniekehlen, dass dieser umfiel. Auch die anderen beiden gingen fast gleichzeitig zu Boden. Kuo und seine Partner stürzten sich auf sie und fesselten ihnen die Hände.

Kuo hörte aus dem hinteren Teil der Wohnung Rufe und das hohe Knacken einer kleinen Waffe, dem Klang nach eine 9-mm-Pistole. Er hob seine Waffe und ging auf den Flur zu, als die leisen Schüsse aus einer Heckler & Koch an seine Ohren drangen. Den Blick über den Lauf seiner eigenen HK gerichtet huschte er den Flur entlang zum Schlafzimmer.

Drei Männer hielten sich im Zimmer auf. Einer trug Straßenkleidung – der Taiwaner, der für das amerikanische Unternehmen arbeitete und sich mit den chinesischen Spionen im vorderen Zimmer getroffen hatte. Die anderen beiden Männer gehörten zu Kuo. Der Zivilist lag reglos auf dem Boden, vorn auf seinem Hemd bildete sich ein großer roter Fleck. Kuos Männer würgten. In einem Thermosbehälter aus silbrigem Metall auf dem Boden klaffte ein Loch, aus dem ein weißes Gas strömte wie Dampf aus einem Kessel. Die Flasche drehte sich langsam unter dem Druck. Einer von Kuos Männern hatte den Behälter in der Dunkelheit für eine Waffe gehalten und dreimal geschossen. Zwei Kugeln hatten den Mann getroffen, eine Kugel den unter Druck stehenden Thermosbehälter.

Kuo streckte seine Hand zu einem seiner Männer aus, der einen gurgelnden Laut von sich gab. Ohne zu überlegen, holte er tief Luft, ein Fehler, den er erst bemerkte, als seine Kehle anfing zu brennen. Er zog den Mann am Gurt, der vorn über seiner Weste befestigt war, nach draußen auf den Flur.

»Raus! Alle Mann raus!«, rief er krächzend und mit zuschwellender Kehle.

Sein Partner im vorderen Zimmer sah, dass Kuo jemanden nach draußen zog, und forderte medizinische Hilfe an. Kuo stieß die verseuchte Luft aus seiner Lunge und atmete frische ein. Das Brennen ließ nicht nach, nahm eher noch zu, als stächen tausend Nadeln von innen gegen seine Kehle. Er achtete nicht auf den Schmerz und eilte den Flur zurück, um seinen zweiten Kollegen zu retten. Der Zivilist war egal. Zwei der drei Schüsse hatten diesen in der Nähe des Herzens getroffen. Der Menge an Blut auf dem Boden nach zu urteilen, war eine Hauptarterie, wenn nicht gar das Herz selbst getroffen worden.

Das Atmen fiel Kuo immer schwerer, und er sank keuchend auf die Knie, hämmerte sich mit der Faust auf den Brustkorb, weil sein Herz stehen zu bleiben drohte. Einer seiner Männer packte ihn unter den Armen und zog ihn nach draußen, seine Kollegen brachten die Gefangenen und die anderen verletzten Männer hinaus. Auf dem Flur ließ sich Kuo auf den schmutzigen Boden fallen und drehte sich auf den Rücken.

»Gebäude evakuieren«, versuchte Kuo zu sagen. Doch es gelang ihm nicht. Er schmeckte Blut auf seiner Zunge. Und merkte, dass dies der einzige Geschmack war, den er wahrnahm.

Die Männer draußen bereiteten auf der Wiese alles vor und begannen, ihre Kollegen künstlich zu beatmen. Kuo bezweifelte, dass sie überleben würden. Er rollte auf die Seite und spuckte Blut. Woraus auch immer dieses Gas bestand, es war hochgradig giftig. Die Säure zerfraß seine Mundschleimhaut, wobei er selbst, verglichen mit seinen Kollegen, nur wenig von dem Gas eingeatmet hatte. Auch wenn die Sanitäter die entsprechende Ausrüstung zur Verfügung gehabt hätten, waren seine Kollegen dem Gift zu lange ausgesetzt gewesen.

Die Beamten der Zentralregierung näherten sich ihnen und untersuchten die Gefangenen auf der Wiese. Einer zog ein Foto heraus und verglich es mit den Gesichtern der Zielpersonen. Alle drei bluteten stark aus Nase und Ohren, doch die Sanitäter versicherten, es würden keine Schäden zurückbleiben. Während der Verhaftung waren sie nicht weiter verletzt worden, und sie hatten das Gift nicht eingeatmet. Nachdem die Beamten die Identität der Gefangenen festgestellt hatten, erhob sich der Sicherheitschef und zog sein Handy aus der Manteltasche.

Ein Sanitäter hob Kuos Kopf, ein zweiter schob einen Schlauch durch seine Kehle. Kuos letzter Gedanke war, dass die Zentralbeamten zur Verantwortung gezogen werden mussten, falls sie von dem Thermosbehälter gewusst hatten.