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Buch

Die erfolgreiche Anwältin und Mutter Nina Bloom führt ein perfektes Leben in New York. Niemand, nicht einmal ihre eigene Tochter, ahnt, dass das alles auf einer Lüge basiert … Achtzehn Jahre zuvor: Nina, damals noch Jeanine, führt eine sorgenfreie Ehe und ist überglücklich, als sie ein Kind erwartet. Doch dann macht sie eine furchtbare Entdeckung und sieht nur einen Ausweg – sie täuscht ihren eigenen Tod vor und nimmt eine neue Identität an. Fast zwei Jahrzehnte geht das Versteckspiel gut. Bis Nina erfährt, dass ein vermeintlicher Killer von damals festgenommen wurde. Denn nur sie weiß, dass es sich nicht um den wahren Täter handelt. Sie kann nicht verantworten, dass ein Unschuldiger bestraft wird. Aber die einzige Alternative ist, sich den mörderischen Dämonen ihrer Vergangenheit zu stellen …

Weitere Informationen zu James Patterson

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

James Patterson

und Michael Ledwidge

Lügennetz

Thriller

Aus dem Amerikanischen

von Helmut Splinter

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Die amerikanische Originalausgabe

erschien 2012 unter dem Titel »Now You See Her«

bei Little, Brown and Company, New York.

Zitat von T. S. Eliot aus: T. S. Eliot, »Die hohlen Männer«. Übersetzt von

Hans Magnus Enzensberger, in: Ders., Werke in vier Bänden, Band 4:

Gesammelte Gedichte 1909–1962. © der deutschen Übersetzung

Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1988.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe März 2014

Copyright © der Originalausgabe 2012 by James Patterson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by arrangement with Linda Michaels Limited,

International Literary Agents.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © FinePic®, München

Redaktion: Viola Eigenberz

AG · Herstellung: Str.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-11850-1
V002

www.goldmann-verlag.de

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Für die Gilroys, Ledwiths, Murphys und Tighes.

M. L.

Prolog Lügen und Videos

1

Ich hatte dem Fahrer bereits einen Zwanziger hingeworfen und hüpfte auf und ab wie ein Vorschulkind, das dringend auf die Toilette musste, als das Taxi endlich gegenüber vom Hudson Hotel auf der 50th West hielt. Aufs Wechselgeld wartete ich erst gar nicht, wurde aber beinahe von einem Expressbus umgenietet, als ich über die Eighth Avenue flitzte.

Mein iPhone, das aufdringlich in meiner Tasche vibrierte, beachtete ich nicht. In der gegenwärtigen Lage, nach einem vollen Arbeitstag und der Planung der heutigen Party aller Partys, wäre ich jedoch eher überrascht gewesen, wenn es nicht geklingelt hätte.

Ein auch für Manhattaner Standard ohrenbetäubender Lärm empfing mich, als ich um die Ecke bog. Ein Presslufthammer? Eine Rammmaschine?

Natürlich nicht. Ein junger Schwarzer kauerte auf dem Bürgersteig und trommelte auf einem leeren Eimer.

Zum Glück erblickte ich am Rand der Zuschauermenge auch meine Verabredung zum Mittagessen, Aidan Beck. Ohne Vorwarnung hakte ich mich bei dem blonden, auf verlotterte Art attraktiven jungen Mann ein und zog ihn auf das schicke Hudson Hotel zu. Oben an der von Neonlicht beleuchteten Rolltreppe empfing uns hinter der Theke aus Carrara-Marmor eine Rezeptionistin, die so glücklich lächelte, als spielte sie in einem Highschool-Musical mit.

»Hallo. Ich habe vor zwanzig Minuten angerufen«, sagte ich. »Ich bin Mrs Smith, und das ist mein Mann. Wir hätten gerne ein Zimmer mit großem Doppelbett. Fußboden und Aussicht sind uns egal. Ich bezahle bar. Ich hab’s wirklich eilig.«

Voller Anerkennung begutachtete die Rezeptionistin mein verschwitztes Gesicht und den Kontrast zwischen meiner erotischen Büroaufmachung und der ausgeblichenen Jeans und der Wildlederjacke meiner viel jüngeren Begleitung.

»Dann also schnell nach oben«, forderte uns die übertrieben glückliche Rezeptionistin auf.

Kalter Wind schlug mir ins Gesicht, als ich eine Stunde später mit Aidan das Hotel wieder verließ. Ich blickte hinauf zu den blauen Türmen des Time Warner Center am Ende der Straße, in denen sich die New Yorker Frühlingssonne spiegelte, und musste lächeln. Mir war eingefallen, wie meine Tochter, Emma, die Türme als die größten gläsernen Torpfosten der Welt bezeichnet hatte.

Ich sah Aidan an und überlegte, ob das, was wir gerade getan hatten, richtig war. Eigentlich spielt es keine Rolle, dachte ich, als ich meine Augen an dem Ärmel meiner umwerfenden Burberry-Jacke abtupfte. Ich hab’s getan.

»Du warst wunderbar, ehrlich«, sagte ich, reichte ihm den Umschlag und küsste ihn auf die Wange.

Er verbeugte sich theatralisch, während er die tausend Dollar in die Innentasche seiner Wildlederjacke steckte. »Hey, das ist mein Job, Nina Bloom«, sagte er und winkte mir im Gehen zu.

Ich winkte einem Taxi, das mich zu meiner Arbeit zurückbringen sollte. »Für dich bin ich Mrs Smith«, rief ich Aidan hinterher.

2

»Okay, Mom, du kannst jetzt die Augen aufmachen.«

Das tat ich.

Vor mir in unserer gemütlichen Wohnung stand meine Tochter Emma in dem Kleid, das sie zur Feier ihres sechzehnten Geburtstags tragen würde. Als ich ihre strahlende Haut und ihr dunkles Haar über dem schwarzen, ärmellosen Kleid sah, begann ich zum zweiten Mal an diesem Tag vor Rührung zu weinen. Dieses zauberhafte, himmlische Wesen war aus mir heraus entstanden? Sie sah so umwerfend aus.

»Nicht schlecht«, sagte ich und wischte mir die Tränen vom Gesicht.

Natürlich war ich nicht nur gerührt wegen Emmas Schönheit, ich war auch stolz. Als sie acht Jahre alt gewesen war, hatte ich sie aus Spaß ermutigt, an der Aufnahmeprüfung für Brearley teilzunehmen, der renommiertesten Mädchenschule von Manhattan. Sie hatte die Prüfung nicht nur bestanden, sondern fast ein Vollstipendium erhalten.

Am Anfang hatte sie Anpassungsschwierigkeiten gehabt, doch dank ihres Charmes, ihrer Intelligenz und ihrer Willenskraft meisterte sie die Situation hervorragend und gehörte zu den beliebtesten Schülerinnen der Schule.

Dabei war ich nicht der einzige Mensch, der das dachte. Auf der Geburtstagsfeier einer Schulkameradin war eine der Mütter, die Geld wie Heu hatte und Mitglied im MoMa-Vorstand war, wegen Emmas Begeisterung für Kunstgeschichte so von den Socken, dass sie ein paar Strippen zog, damit Emma einen Platz am Brown College bekam. Nicht, dass Emma auf Hilfe angewiesen wäre.

Ich würde unsere Dreizimmerwohnung praktisch mit einer Hypothek belasten müssen, um die Party mit den hundertzwanzig Gästen an diesem Abend im Blue Note im Village zu bezahlen, doch das war mir egal. Als junge alleinerziehende Mutter war ich sozusagen mit Emma aufgewachsen. Kein anderer Mensch stand mir so nah wie sie, und der Abend gehörte ihr.

»Mom«, sagte Emma, die zu mir kam, mich an den Schultern packte und schüttelte. »Hebe deine rechte Hand und schwöre, dass dies das letzte Mal ist, dass du an diesem Abend alles unter Wasser setzt. Ich habe der Feier nur zugestimmt, weil du mir versprochen hast, Nina Bloom zu sein, meine ultraschicke, ultrahippe, ultracoole Mama. Jetzt halte dich gefälligst auch daran.«

Ich hob meine rechte Hand. »Ich schwöre, eine ultraschicke, ultrahippe, ultracoole Mama zu sein.«

Sie drückte mir einen Schmatzer auf die Wange. »Also gut.« Und bevor sie mich wieder freigab, flüsterte sie mir ins Ohr: »Und übrigens hab ich dich lieb, Mom.«

»Eigentlich ist da noch etwas, Emma«, sagte ich, während ich den Fernseher anstellte. Dann schaltete ich den zehn Tonnen schweren Videorekorder ein, den ich auf dem Weg von der Arbeit aus unserem Lager mitgebracht hatte. »Du kriegst noch ein anderes Geschenk.«

Ich reichte Emma das verstaubte schwarze Video, das auf dem Gerät lag. »Für Emma«, stand auf dem Aufkleber. »Von Dad.«

»Was?«, sagte sie mit plötzlich tellergroßen Augen. »Aber ich dachte, es ist bei dem Feuer alles verbrannt, als ich drei war. Alle Aufnahmen. Alle Bilder.«

»Dein Dad hat das in den Tresor gelegt, kurz bevor er das letzte Mal ins Krankenhaus ging«, erklärte ich. »Ich weiß, wie sehr du dich danach gesehnt hast zu erfahren, wer dein Dad war. Ich wollte es dir schon so oft geben. Aber Kevin hat gewollt, dass du es heute bekommst. Und ich wollte seinen Wunsch in Ehren halten.«

Mit diesen Worten ging ich zur Tür.

»Nein, Mom. Wohin willst du? Du musst hierbleiben und es mit mir ansehen.«

Ich schüttelte den Kopf, während ich ihr die Fernbedienung reichte, und strich ihr über die Wange. »Das ist eine Sache nur zwischen dir und deinem Dad.«

»Hey, Emma, ich bin’s, Daddy«, sagte eine tiefe, warme Stimme mit irischem Akzent, als ich das Zimmer verließ. »Wenn du das hier siehst, heißt das wahrscheinlich, dass du jetzt ein großes Mädchen bist. Alles Gute zu deinem sechzehnten Geburtstag, Emma.«

Ich drehte mich noch einmal um, als ich die Tür schloss. Aidan Beck, der Schauspieler, den ich am Nachmittag im Hudson Hotel mit einer alten Videokamera gefilmt hatte, lächelte Emma vom Bildschirm entgegen.

»Es gibt ein paar Dinge, die du über mich und mein Leben wissen sollst, Emma«, fuhr er fort. »Das Allerwichtigste aber ist, dass ich dich liebe.«

3

Am Ende des Flurs betrat ich eine Kammer, die in Manhattan auch unter der Bezeichnung Heimbüro läuft, und schredderte die Vorlage, die ich erstellt hatte, um meine Tochter an der Nase herumzuführen. Ich ließ die Papierschlangen durch meine Finger gleiten und stieß die Luft aus, als ich Emma weinen hörte.

Kein Wunder, dass sie weinte. Aidan Beck hatte das Drehbuch perfekt umgesetzt. Besonders das mit dem Akzent. Ich hatte den jungen Schauspieler, der nur auf kleineren Bühnen auftrat, eine Woche zuvor vor der Schauspielergewerkschaft kennengelernt und engagiert.

Wie grausam ich doch war, meine Tochter so zum Schluchzen zu bringen. Es war ganz schön beschissen, eine Rabenmutter aus der Generation X und trotzdem lieb zu sein.

Egal. Emma stand ein schönes Leben bevor, ein normales. Dazu war mir jedes Mittel recht, auch ein guter Trick wie dieser.

Als ich in der Woche zuvor auf dem Rechner gesehen hatte, dass Emma im Internet nach Kevin Bloom suchte, wusste ich, dass ich mir einen hieb- und stichfesten Trick ausdenken musste.

Kevin Bloom sollte Emmas romantischer, liebender Vater sein, den der Krebs uns genommen hatte, als sie zwei Jahre alt gewesen war. Ich hatte Emma erzählt, Kevin wäre irischer Taxifahrer und angehender Bühnenautor gewesen, den ich nach meinem Umzug nach New York kennengelernt hatte. Ein Mann ohne Familie, dessen Spuren ein Jahr später durch einen Brand ausgelöscht worden waren.

Allerdings hatte es nie einen Kevin Bloom gegeben. Oft genug wünsche ich mir, es wäre nicht so. In meinem hektischen Leben hätte ich gut einen romantischen irischen Bühnenautor brauchen können.

Die Wahrheit ist: Es gab nicht einmal eine Nina Bloom.

Ich habe mich selbst ebenfalls erfunden, und das aus guten Gründen.

Allerdings konnte ich Emma nicht erzählen, dass ich vor fast zwei Jahrzehnten und tausendsiebenhundert Kilometer weiter südlich in Schwierigkeiten geraten war. Und zwar in solche der übelsten Sorte. Der Sorte, die einen auf immer und ewig dafür sorgen lässt, dass die Telefonnummer nirgendwo veröffentlicht wird und man nie aufhört, sich nach hinten umzudrehen.

Die Sache hatte ausgerechnet im Frühling begonnen. Im Frühling 1992 in Key West in Florida war, wie man sagen könnte, ein dummes Mädchen durchgeknallt.

Das dumme Mädchen war ich.

Aber damals hieß ich Jeanine.

Erster Teil Der letzte Sonnenuntergang

1

12. März 1992

Feiern bis zum Umfallen!

Jedes Mal, wenn ich an das denke, was passiert ist, fällt mir zuerst dieser Spruch ein, dieses dumme Klischee, das in den Achtzigern in Mode war.

Und dieser Ausdruck war auch das Erste, das wir bei unserer Ankunft in Key West hörten, wo wir die letzten Frühjahrsferien unserer Collegezeit begannen. Als wir uns im Hotel anmeldeten, rannte ein pitschnasser, sehr haariger und noch betrunkenerer Mann mittleren Alters mit Brille und Badehose durch die Eingangshalle und rief: »Feiern bis zum Umfallen!«

Von diesem lustigen Moment an war dies unsere ganzen Ferien hindurch unser Mantra, unser Stolz, unsere gegenseitige Herausforderung. Mein Freund schlug sogar vor, wir sollten uns alle »Feiern bis zum Umfallen!«-Tätowierungen machen lassen.

Weil wir den Spruch zu dem Zeitpunkt noch lustig fanden.

Doch er erwies sich als Prophezeiung.

Und wurde tatsächlich wahr.

Zuerst feierten wir.

Dann fiel jemand um.

Es geschah am letzten Tag. Der Nachmittag verlief genauso wie die Nachmittage davor – mit einem heftigen Kater, während wir unter dem Sonnenschirm in der Hotelbar träge unsere Hamburger verputzten.

Unter dem Tisch hatte mein Freund Alex seinen nackten Fuß an meinen gelegt, während sein Finger mit dem Träger meines gelben Bikinioberteils spielte. Aus den Lautsprechern dudelte leise der Klassiker der Cars, »Touch and Go«, ein älterer Fahrradfahrer mit schwarzer Lederweste und grauen Zöpfen spielte im Wasser neben der sonnengebleichten Anlegestelle der Bar mit seinem Hund. Wir lachten jedes Mal, wenn der Collie, um seinen Hals ein rotes Tuch, den nassen Tennisball zuerst ins Wasser köpfte und ihm anschließend mit einem Bauchplatscher in die flachen Wellen hinterhersprang.

Als der keuchende, nasse Collie zurück ans Ufer platschte, ließ eine Windbö das gläserne Windspiel in der Bar erklingen. Die unerwartete Musik entlockte mir einen Seufzer, während mich eine Art Ferien-Nirwana erfasste. Einen prickelnden Moment lang wurde alles – die Kühle unter dem Jägermeister-Schirm, der in der flimmernden Hitze pulsierende weiße Sand, das blaugrüne Wasser im Golf – schärfer, leuchtender, lebendiger.

Als Alex seine Hand in meine gleiten ließ, wurde ich von allen wunderschönen Erinnerungen daran übermannt, wie wir uns im ersten Collegejahr verliebt hatten. Der erste nervöse Augenkontakt im höhlenartigen Geologieraum. Das erste Mal, als er mich stockend bat, mit ihm auszugehen. Der erste Kuss.

Ich erwiderte seinen Händedruck und dachte daran, wie glücklich wir waren, dass wir einander gefunden hatten, wie gut wir zueinander passten und welch leuchtende Zukunft uns bevorstand.

Dann passierte es.

Der Anfang vom Ende meines Lebens.

Unsere dürre australische Kellnerin, Maggie, räumte den Tisch ab, hob lächelnd eine Augenbraue und stellte beiläufig die Frage, die sich als die wichtigste Ja-oder-nein-Frage meines Lebens erweisen würde.

»Na, braucht ihr noch was?«, fragte sie mit ihrem tollen australischen Akzent.

Alex, der sich in seinem Plastikstuhl so weit zurücklehnte, dass er fast schon flach lag, richtete sich plötzlich mit einem breiten, seltsam ansteckenden Lächeln auf. Er war durchschnittlich groß, schlank, dunkel, fast schon zierlich, so dass man nicht erwartet hätte, dass er in der Football-Mannschaft der University of Florida mitspielte.

Ich richtete mich ebenfalls auf, als ich merkte, dass er das gleiche beinahe gerührte Nichts-wie-ran-Lächeln zeigte wie immer, wenn er vor siebzigtausend Zuschauern übers Feld stürmte.

Oder bevor er eine Schlägerei anfing.

Unsere Ferien hatten alles geboten, was die Überschrift im Prospekt »Fünf Tage und vier Nächte in Key West!« – versprochen hatte. Kein Unterricht. Keine Regeln. Nichts außer mir und meine Freunde, Strand, kaltes Bier, Sonnencreme, laute Musik und noch lauteres Lachen. Wir hatten es sogar geschafft, während der anstrengenden, durchgefeierten vier Tage heil zu bleiben.

Äh … und jetzt?, dachte ich.

Alex ließ seinen Blick langsam über seine vier Reisebegleiter wandern, bevor er den Fehdehandschuh warf. »Heute ist unser letzter Tag hier. Hat jemand Lust auf einen Nachtisch?«, fragte er. »Ich dachte an Wackelpudding. An die Art, an die Bill Cosby nicht im Traum denken würde. An die Art, die im Schnapsglas serviert wird. Mit Wodka.«

Der Song der Cars ging in einen lebhaften Gitarrenriff über, als sich das Gesicht meiner besten Freundin Maureen voll Neugier aufhellte. Sie, meine hübsche Mitbewohnerin und Cokapitänin der Frauen-Softballmannschaft, war offenbar mit von der Partie. Ebenso wie ihr Freund, Big Mike, wie sein begeistertes Nicken verriet. Selbst unsere beflissene, gewöhnlich pessimistische, sonnenverbrannte Kumpanin Cathy blickte angesichts des interessanten Vorschlags von ihrem Taschenbuch auf.

»Jeanine?«, fragte Alex, während die Blicke meiner Freunde in abwartendem Schweigen auf mir ruhten.

Die fragwürdige Entscheidung lag also bei mir. Ich schürzte besorgt die Lippen und blickte auf den sandigen Boden zwischen meinen von der Sonne gebräunten Zehen, bis ich mein Gesicht zu einem schelmischen Grinsen verzog und mit den Augen rollte. »Äh … auf jeden Fall!«, sagte ich.

Die anderen Gäste in der Bar wandten sich zu uns um, als meine Freunde johlten, die Hände aneinanderklatschten und auf den sandigen Tisch klopften.

»Schnaps, Schnaps, Schnaps«, riefen Mike und Alex. Die Kellnerin machte sich sogleich an die Arbeit.

Als verantwortungsbewusste, gute Studentin und Sportlerin war mir bewusst, dass Wodka und Gelatine am Nachmittag hochgradig gefährlich waren. Aber schließlich hatte ich eine Entschuldigung. Oder vielmehr vier: Ich war College-Studentin. Ich war in Key West. Die Frühjahrsferien 1992 waren fast zu Ende. Und ich hatte drei Tage zuvor meinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.

Doch während ich dort am Tisch meinen Blick über die fröhlichen Menschen in der Bar vor dem endlosen satinblauen Golf schweifen ließ, kamen mir – zumindest ganz leise – Zweifel, ob ich mein Glück nicht zu sehr herausforderte.

Das Gefühl war aber bereits verflogen, als Maggie mit den Schnäpsen an unseren Tisch kam und wir das taten, was wir immer taten: Wir erhoben unsere Pappbecher, stießen sie aneinander und riefen, so laut wir konnten: »Feiern bis zum Umfallen!«

2

Einmal sah ich ein Video vom Tsunami in Sri Lanka 2004. Es war vor einem Strandhotel aufgenommen worden und zeigte eine Gruppe Touristen, die neugierig an den Sandstrand gekommen waren, um nachzusehen, warum sich das Wasser zurückgezogen hatte.

Den Blick auf den Bildschirm gerichtet und wohl wissend, dass das Wasser bereits dabei war zurückzuschwappen, um die Touristen zu töten, war ich verwirrt über deren Arglosigkeit. Darüber, dass sie sich in Sicherheit wähnten, ohne zu ahnen, dass dies, von der Kamera beobachtet, die letzten Augenblicke ihres Lebens waren.

Mich überkommt das gleiche Gefühl, wenn ich daran denke, was mir als Nächstes passierte.

Ich wähnte mich immer noch in Sicherheit.

Und lag mit diesem Gefühl völlig daneben.

Einige Stunden später hatten die Wodka-Wackelpuddinge ihre Aufgabe mehr als erledigt. Um halb acht an diesem Abend lagen meine Freunde und ich wie die Ölsardinen auf dem Mallory Square, um zwischen anderen Betrunkenen den weltberühmten Sonnenuntergang zu feiern. Das goldene Licht wärmte unsere Schultern, während wir mit kaltem Bier herumspritzten, bis unsere Zehen an unseren Flipflops klebten. Mit Cathy und Maureen rechts und Alex und Mike, sein Footballer-Kumpel, links von mir, die Arme jeweils um die Schultern des Nachbarn gelegt, sangen wir »Could You Be Loved« mit genauso viel Leidenschaft in der Stimme wie Bob Marley höchstpersönlich.

Mit einem Schlapphut auf dem Kopf, ansonsten nur bekleidet mit einem Bikinioberteil und einer abgeschnittenen Cargohose, tanzte ich sturzbetrunken vor der Reggae-Band. Ich lachte hysterisch und schwankte Stirn an Stirn mit meinen Freunden, und wieder überkam mich das Gefühl, das ich in der Strandbar gehabt hatte, aber diesmal wie mit Steroiden aufgepumpt. Ich hatte alles. Ich war jung und hübsch und sorgenfrei. Ich war von Menschen umgeben, die ich liebte und die mich liebten. Einen flüchtigen Moment lang war ich in ekstatischer Weise glücklich, am Leben zu sein.

Dieses Gefühl währte nur den Bruchteil einer Sekunde.

Dann war es verschwunden.

Der Wecker in dem billigen Hotelzimmer zeigte 2:23 Uhr morgens, als ich aufwachte und mich in dem vollen, dunklen Zimmer umdrehte. Gleich als Erstes fiel mir auf, dass Alex nicht neben mir lag. Rasch kramte ich meine letzten Erinnerungen durch: der Klub, in den wir nach Sonnenuntergang gegangen waren; laute Technomusik; Alex mit dem Cowboyhut aus Stroh, den er irgendwo gefunden hatte; Alex, der zu Madonnas »Vogue« neben mir im Kreis herumwirbelte.

Das war’s dann aber auch. Die Stunden dazwischen – die Rückkehr ins Hotel – waren von undurchdringlichem Alkoholnebel gekennzeichnet und blieben ein völliges Geheimnis.

Panik stieg in mir auf wie gurgelnder Wodka aus meinem Magen, als ich auf Alex’ leeres Kissen blickte.

War alles in Ordnung mit ihm? War er irgendwo ohnmächtig geworden? Oder noch schlimmer?

Rasch atmend, aber mit trägem Kopf überlegte ich, was ich jetzt tun sollte, als ich ein Geräusch hörte. Es war ein Kichern, und es kam aus dem Badezimmer rechts hinter mir. Ich stützte mich auf dem Ellbogen auf und drehte den Kopf, um durch den Türspalt zu spähen.

Alex, von schummrigem Licht beleuchtet, lehnte am Waschbecken. Dann hörte ich jemand anderen kichern. Maureen, meine beste Freundin, stellte sich vor ihn, in der Hand eine brennende Kerze.

Als sie die Kerze auf die Ablage stellte und die beiden sich küssten, fragte ich mich tatsächlich, ob ich noch schlief und einen Albtraum hatte. Dann hörte ich Maureen stöhnen. Nein, ich war hellwach, wurde mir klar. Und das Bewusstsein darüber, was ich hier sah, schlug mit der Wucht eines Asteroiden zu. Das, wovor ich mich am meisten fürchtete, spielte sich hier in der Wirklichkeit ab.

Mein Freund trieb es mit meiner besten Freundin.

Ich wurde von Wellen der Angst, von Wut und Abscheu gepackt. Logisch. Denn direkt vor meinen bisher verschlossenen Augen wurde ich hintergangen.

Alex begann, Maureen das T-Shirt auszuziehen. Wieder stöhnte sie. Dann wurde die Tür mit einem leisen, vorsichtigen Klicken geschlossen.

Ein Zitat von T. S. Eliot aus meinem letzten Seminar in Moderner Dichtung fiel mir ein, als ich blinzelnd auf die geschlossene Tür starrte.

Auf diese Art geht die Welt zugrund. Nicht mit einem Knall, aber mit Gewimmer.

Oder mit einem Stöhnen, dachte ich und drehte mich zum Wecker. 2:26 Uhr.

Wäre mein Medizin studierender Freund nicht gerade beschäftigt gewesen, hätte er ihn notieren können

den Zeitpunkt, als seine Freundin aus seinem Leben verschwand.

Ich schrie nicht, während ich mich aufsetzte. Ich suchte nicht nach einem schweren Gegenstand, um dann die Tür einzutreten und die beiden zu erschlagen.

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich genau das tun sollen.

Stattdessen entschied ich mich, die beiden nicht zu stören. Ich stand einfach nur auf, schnappte mir meine Jacke und stolperte barfuß aus dem Schlafzimmer und durch die Hotelzimmertür nach draußen, die ich mit einem leisen, vorsichtigen Klicken hinter mir schloss.

3

Erst draußen begann ich zu rennen. Nach einer Minute legte ich noch einen Zahn zu. Mitten auf der pechschwarzen Straße keuchte ich, schwitzte wie eine Marathonläuferin, wie ein Actionfilmstar, der vor einer drohenden Nuklearkatastrophe floh.

Ja, schnell rennen konnte ich. Maureen war die große, blonde, langbeinige Werferin, Cathy war die kleine, drahtige Fängerin, und ich war als Mittelding schlank und rank.

In diesem Moment brachte ich alle Kraft auf, um mich mit Höchstgeschwindigkeit von dem zu entfernen, was ich gesehen hatte. Weil das, was ich gesehen hatte, nicht nur das Ende der Dreiecksbeziehung mit meinem Freund und meiner besten Freundin war.

Man könnte es als das Wegbrechen des sprichwörtlichen letzten Strohhalms bezeichnen.

Mein Vater war Polizist in Maryland gewesen und in Ausübung seines Dienstes gestorben, als ich elf Jahre alt war. Alle Väter sind was Besonderes, klar, aber meiner war es tatsächlich. Er war überaus freundlich, zutiefst moralisch und ein hingebungsvoller natürlicher Zuhörer gewesen. Jemand, den alle, mit denen er in Kontakt kam – Kollegen, Nachbarn, der Postbote oder völlig Fremde –, um Trost und Rat gebeten hatten.

Das hatte seinen unerwarteten Tod natürlich noch dramatischer gemacht und in das Leben meiner Mutter ein tiefes, vernichtendes Loch gerissen. Sie, eine religiöse Abstinenzlerin, hatte zu trinken begonnen, vierzig Kilo zugenommen und sich in jeder Hinsicht gehen lassen. Das Ganze hatte in ihrem Selbstmord geendet, den sie in meinem ersten Collegejahr im alten Ford F-150 meines Vaters mithilfe eines Gartenschlauchs begangen hatte.

Maureen und Alex hatten mich während der gesamten Zeit vor und nach der Beerdigung gestützt. Da ich keine Geschwister oder andere enge Verwandte hatte, waren sie für mich mehr als nur meine besten Freunde gewesen. Sie waren zu meiner Familie geworden.

Die Reise hierher war eigentlich Maureens Idee gewesen. Sie wusste, der Todestag meiner Mutter näherte sich, und sie hatte mich aufmuntern wollen.

Jetzt war mir das alles zu viel. Der Schmerz, hintergangen worden zu sein, traf mich mit der Wucht eines Medizinballs. Ich begann zu weinen, während ich rannte. Tränen vermischten sich mit dem Schweiß, der an meinem Gesicht hinablief und auf den sandigen Asphalt und meine nackten Füße tropfte.

Am Strand sank ich auf die Knie. Außer mir gab es nur das dunkle Meer und den sternenklaren Himmel. Den Blick auf das dunkle Wasser gerichtet, erinnerte ich mich, dass ich einmal als Neunjährige fast ertrunken wäre. Ich war von einer Strömung mitgerissen worden, doch mein Vater hatte mich gerettet.

Ich sog die Nachtluft ein, stieß sie wieder aus und lauschte der Brandung. Ich fühlte mich einsamer, war verzweifelter als jemals zuvor in meinem Leben. Es gab niemanden mehr, der mich jetzt noch retten konnte.

Ein paar Meter rechts von mir stand ein Hinweisschild aus Beton in Form einer Boje.

SÜDLICHSTER PUNKT VOM FESTLAND DER USA stand darauf. HUNDERTFÜNFZIG KILOMETER BIS KUBA.

Mit gebrochenem Herzen überlegte ich, ob ich die hundertfünfzig Kilometer schwimmen sollte, und schob die Hände in die Taschen meiner Hose. Was ich dort fand, war einfach nur genial.

Alex’ Autoschlüssel.

Die Schlüssel von seinem Z28 Chevy Camaro, mit dem wir von der University of Florida in Gainesville hergefahren waren. Sein »Baby«, wie er es nannte, hatte er sich während vier anstrengender Sommerferien in der Landschaftsgärtnerei seines Vaters verdient. Ich hatte vier Jahre lang geschwitzt, um seinen dumpfen Schädel durch sein medizinisches Vorstudium zu kriegen. Die Idee, in diesem schicken roten Wagen eine kleine Spritztour zu machen, statt schwimmen zu gehen, hatte durchaus etwas Logisches. Meinem gebrochenen Herzen kam sie absolut genial vor.

Den Rückweg zum Hotelparkplatz legte ich noch schneller zurück. Nachdem ich eine der Taschen der Nutte aus dem Fenster geworfen hatte, ließ ich den Motor aufheulen, als hätte ich mir auf der Indy 500 die Poleposition ergattert.

Dann tat ich das, was jedes einundzwanzigjährige selbstmordgefährdete Mädchen mit Selbstachtung, das vor einem Jahr zur Waise und vor Kurzem zur Betrogenen geworden war, tun würde.

Ich schob den Schalthebel bei durchgedrücktem Gaspedal in die Fahrposition und jagte mit rauchenden Reifen vom Parkplatz.

4

Nach ein paar Kurven mit schleuderndem Heck befand ich mich auf einer freien Straße parallel zum Strand und fuhr den Camaro so, wie es der Situation angemessen war – das heißt, als hätte ich ihn gestohlen. Ich trat das Gaspedal nicht nur bis zum Anschlag durch, sondern durchbrach damit beinahe den pingelig gesaugten Wagenboden.

Der 5,7-Liter-V8-Motor dröhnte gierig und dämonisch, drehte auf wie das Intro eines Heavy-Metal-Liedes, den ich kannte. »Crazy Train«, überlegte ich, meinen Rücken fest gegen die Lehne gedrückt. Oder war es »Highway to Hell«?

Die am Straßenrand parkenden Autos surrten vorbei wie bei einem Autorennen. Wusch, wusch, wusch.

Ich überlegte, was ich in diesem Moment am liebsten zerstören würde: Alex’ Stolz oder mich selbst. Der Gedanke, meinem dummen, glücklosen Leben ein Ende zu setzen, war verführerisch. Von dem Platz aus, auf dem ich ohne Sicherheitsgurt saß, schien das Leben an sich die reinste Qual zu sein, so dass ich ernsthaft darüber nachdachte, meines so sichtbar und versaut wie möglich zu beenden.

Der Zeiger des Tachometers glitt ein ganzes Stück über die hundertfünfzig hinweg, und ich hatte schon das Gefühl, gleich abzuheben, als ich aus dem Augenwinkel heraus rechts von mir eine Bewegung am dunklen Strand wahrnahm. Ich blinzelte. Irgendetwas Kleines rannte dort. Ein Hase?

Ich näherte mich dem Ding mit rasender Geschwindigkeit. Nein, es war ein Hund mit rotem Tuch um den Hals. Ich erkannte den Bauchplatscher-Collie aus der Bar genau in dem Moment wieder, in dem er seinen Kurs wie eine Lenkrakete änderte und auf die Straße preschte.

Direkt vor meinen Wagen.

Sofort und instinktiv trat ich auf die Bremse und riss das Lenkrad nach rechts, um dem Hund auszuweichen. Der Gestank nach verbrannten Reifen drang in das Wageninnere, als der Wagen wie bei Glatteis nach links schleuderte. Ich versuchte ihn auszurichten, musste aber zu weit gegengelenkt haben, weil der Wagen plötzlich die Richtung änderte und sich unter dem lautstarken Protest der Reifen im Uhrzeigersinn drehte.

Scheiße!

Ich hatte gänzlich die Kontrolle über den Wagen verloren. Mein Kopf knallte haltlos gegen die Kopfstütze, als säße ich auf dem Rummelplatz in einem Tassenkarussell. Ich hielt den Atem an, als die linke Seite des Wagens angehoben wurde und der Wagen zu kippen drohte. Doch er kippte nicht, sondern drehte sich um hundertachtzig Grad, drehte sich weiter, bis er einmal herum war. Und erst jetzt sah ich, was mich dort erwartete.

Ich begann zu schreien.

Von den umherwirbelnden Scheinwerfern erfasst, befand sich vor mir, wie von Zauberhand dorthin gesetzt, der Hundebesitzer, der Radfahrer mit dem grauen Zopf aus der Bar.

Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, dass ich immer wieder wie eine Wilde auf die Bremse trat und mir an dem sich drehenden Lenkrad beinahe die Finger verbrannte.

Ich schloss die Augen, als die wedelnde Schnauze des Camaro den Radfahrer mit einem dumpfen Schlag an der Hüfte erfasste. Er polterte über die Motorhaube und rutschte quietschend an der Windschutzscheibe hinauf.

Dann herrschte Stille. Nichts als schreckliche, ohrenbetäubende Stille.

5

Ich zwang mich, die Augen zu öffnen. Der Camaro war zwanzig Meter weiter schliddernd stehen geblieben.

Ich starrte auf die leere Straße vor mir, den Fuß fest aufs Bremspedal gepresst, während meine Hände wie zwei Zangen das Lenkrad umklammerten. Das einzige Geräusch war mein panisches Keuchen, und der Schweiß schien aus allen Poren gleichzeitig zu fließen, aus meinen Armbeugen, den Kniekehlen, selbst aus meinen Ohren.

Der Motor des Camaro blubberte vor sich hin wie ein nach Luft schnappendes Tier. Ich dachte, die Windschutzscheibe wäre gesprungen, doch sie war unversehrt. Ebenso wie die Motorhaube. Abgesehen davon, dass ich ein paar Zentimeter Reifengummi und Bremsbeläge verloren hatte, schien es dem Wagen bestens zu gehen.

Als ob überhaupt nichts passiert wäre.

Als ob.

Ich weigerte mich, in den Rückspiegel zu sehen. Stattdessen starrte ich Albert an, den dümmlich grinsenden, orangen Alligator auf dem Logo der University of Florida auf dem Duftanhänger. Albert hatte zu der Situation auch nichts zu sagen. Ich saugte die Luft ein wie ein Taucher, bevor er sich auf den Weg in die Tiefe machte, und hob schließlich den Blick.

Der Radfahrer lag reglos auf der rechten Spur hinter mir, mit dem Gesicht nach unten neben meinen Bremsspuren. Sein dicker grauer Zopf hatte sich etwas gelöst, seine Arme hielt er ausgestreckt wie der gekreuzigte Jesus. Verkehrshütchen und Stützen von einer Baustelle entlang des Straßenrandes lagen um ihn herum verteilt wie umgeworfene Kegel.

Als ich den großen, dunklen Fleck in seinem grauen Haar und auf der Straße neben seinem Kopf bemerkte, begannen mehrere Teile meines Körpers gleichzeitig zu zittern – meine Knie, meine Hände, meine Lippen. Ich stieß meinen sauren, rumträchtigen Atem aus und bedeckte mein Gesicht mit meinen zitternden Händen, krallte die Finger in mein Haar wie ein Bergsteiger, der abzustürzen droht.

»Was habe ich getan?«, fragte ich mich, während ich hysterisch nach Luft schnappte.

Einen Menschen getötet, antwortete mein Hirn mit nüchterner Klarheit. Du hast gerade einen Menschen getötet, um seinen Hund zu retten.

Ich blickte geradeaus auf die freie Straße vor mir, die verlockend wie im Traum hinter einer Kurve im Mondlicht verschwand wie der gelbe Ziegelsteinweg im »Zauberer von Oz«.

Dann sagte die kühle, rationale, sehr nüchtern klingende Stimme in meinem Kopf zwei Worte. Sie klangen wie der Ausschnitt aus einer Autowerbung, wie ein Werbeslogan:

Hau ab.

Es war nicht dein Fehler, fuhr meine innere Stimme fort. Du hast versucht, dem Hund auszuweichen. Du hättest nichts dagegen tun können, und niemand hat etwas gesehen. Nimm deinen Fuß von der Bremse und setze ihn aufs Gaspedal. Sieh nicht zurück. Sei nicht dumm. Hau einfach ab.

Es stimmte, dass mich niemand gesehen hatte, wie ich schwer schluckend feststellte. Ich befand mich auf einem leeren Stück Straße in der Nähe des Flughafens, rechts von mir nur der verlassene Strand. Zweihundert Meter geradeaus stand lediglich ein verlassen aussehendes Industriegebäude aus Beton.

Die einzigen Zeugen des Unfalls waren auf der anderen Straßenseite eine schweigende Armada von gelben Schulbussen hinter einem Maschendrahtzaun. Ihre toten Scheinwerfer schienen mich anzustarren, als warteten sie ab, was ich wohl tun würde.

Ich sah mich nach dem Hund des Fahrradfahrers um. Er war fort.

Erst in dem Moment schien ich wieder in Gang zu kommen. Nachdem ich das Undenkbare gedacht hatte, war der Bann gebrochen, und ich konnte mich wieder konzentrieren.

Ich schob den Schalthebel auf Parken und stellte den Motor ab. Ich musste diesem armen Mann helfen, musste tun, was mein Vater getan hätte. Wiederbelebungsversuche starten, seine Blutungen stoppen, ein Telefon suchen.

Losfahren?, dachte ich angewidert, als ich am Türgriff herumfummelte. Wie hatte ich so etwas in Betracht ziehen können? Ich war ein guter Mensch. Ich war Rettungsschwimmerin, arbeitete ehrenamtlich im Krankenhaus. Du bist mein braves Mädchen, hatte mein Vater immer gesagt, wenn ich seine Polizeischuhe auf Hochglanz poliert hatte.

Als ich aus dem Wagen stieg, erblickte ich hinter dem verletzten Mann zwei sich nähernde Scheinwerfer, kurz darauf eine blinkende Lichtkrone, die in einem Feuerwerk aus blendenden blutroten und grellblauen Blasen explodierte.

6

Der blinkende Streifenwagen rollte seltsam leise auf mich zu, bis er zwischen mir und dem gestürzten Radfahrer hielt. Als das metallische Quaken und Rauschen seines Polizeifunks an meine Ohren drang, ließ ich den Kopf sinken wie ein zum Tode Verurteilter, der seinen Hals für die Axt bereithält.

Beim Geräusch der schweren, knirschenden Schritte neben der geöffneten Wagentür blickte ich auf. Das Gesicht des Polizisten konnte ich, vom Blaulicht hinter ihm geblendet, nicht sehen. Ich erkannte nur eine große, klobige, dunkle Gestalt.

»Bleiben Sie, wo Sie sind, und halten Sie Ihre Hände so, dass ich sie sehen kann«, befahl der Polizist wie die Stimme Gottes.

Ich gehorchte.

Über den Kofferraum des Polizeiwagens hinweg beobachtete ich, wie der Polizist auf den Verletzten zueilte und sich neben ihn kniete. Das Nächste, was ich heute noch weiß, ist, dass sich der Polizist bedrohlich über mich beugte.

Er war mit seinem kurzen schwarzen Haar, seinen hellblauen Augen und dem schmalen Gesicht unerwartet gut aussehend, musste etwa eins neunzig groß und Anfang dreißig sein. Sein sportlicher Körperbau und seine durch und durch amerikanische Schönheit machten die ganze Situation irgendwie schlimmer, machten mein schlechtes Gewissen und meine Verzweiflung unerträglich.

»Er ist tot«, stellte der Polizist fest.

Irgendwas in meinem Innersten bekam einen Knacks. »Oh, nein«, flüsterte ich wie eine Wahnsinnige, den Kopf zum Schoß gesenkt. »Bitte, lieber Gott, es tut mir so leid, es tut mir leid, es tut mir leid.« Ich versenkte meinen Kopf noch tiefer in meine zitternden Hände, als sich der Werbeplakat-Polizist zu mir nach unten beugte und schnüffelte.

»Und Sie sind sturzbetrunken. Stehen Sie auf und legen Sie die Hände hinter den Kopf.«

7

Als mein Vater starb und ich seinen Sarg sah, dachte ich: Das war’s. Schlimmer kann es im Leben nicht kommen.

Ich hatte unrecht.

Der Polizist legte mir Handschellen an und verfrachtete mich auf den Rücksitz seines Streifenwagens. Ich war überrascht, wie sauber er war. Er roch neu. Die Gummimatten waren makellos sauber wie die in Alex’ Wagen, die Sitze waren weich, fast plüschig. Wäre nicht das schwarze Gitter gewesen, das den vorderen vom hinteren Teil trennte, hätte ich mir einbilden können, in einem normalen Auto zu sitzen. Ich saß zum ersten Mal in einem Streifenwagen, obwohl mein Vater Polizist gewesen war.

Mein rechtes Bein zappelte wie ein frisch gefangener Fisch. Hatte ich einen Hirnschlag? Das hoffte ich, weil alles besser gewesen wäre, als mich dem hier zu stellen.

Ich zog lautstark die Nase hoch.

Alles wäre mir recht gewesen.

Ich betrachtete den Hinterkopf des Polizisten, der sich auf den Vordersitz setzte. Wie alles an ihm war auch sein Kopf sauber, geordnet, fest umrissen. Wahrscheinlich hätte man eine Waage nach seinen breiten Boxerschultern ausrichten können. Gute Haltung, wie meine Mutter gesagt hätte.

War er beim Militär gewesen?, wollte mein übergeschnapptes Hirn wissen. Im Rückspiegel las ich seinen Namen verkehrt herum. Fournier.

Officer Fournier senkte den Kopf, während er die Angaben aus meinem Führerschein in einen klobigen Rechner tippte, bis er den Kopf plötzlich wieder hob.

»Stimmt das?«, fragte er, ohne sich umzudrehen. »Sie sind eben erst einundzwanzig geworden? Verbringen Sie hier Ihre Frühjahrsferien?«

Erst bemerkte ich seinen leichten städtischen Akzent aus dem Nordosten. Boston, New York, Philadelphia oder so was. Dann kam mir ein anderer, verwirrender Gedanke: Welche Farbe wird mein Gefängnisoverall haben?

»Ja«, antwortete ich, ein Schluchzen unterdrückend. »Ich bin im Hauptstudium an der UF.«

Plötzlich sehnte ich mich so sehr dorthin zurück, dass ich beinahe stöhnte. Wenn ich nur meine Hacken zusammenschlagen und wieder bei Frisbee, Essensmarken und meiner »Norton Anthology of English Literature« sein könnte, deren Blätter aus Dünndruckpapier mit Anmerkungen vollgekritzelt waren.

Es würde keine Vorlesungen mehr geben, kein Softball mehr, nichts. Mein ganzes Leben lang hatte ich Bücher geliebt, und seit der Highschool hatte ich davon geträumt, als Redakteurin in einem der großen New Yorker Verlagshäuser zu arbeiten. Meine Zukunft war verdampft wie eine Mücke in einer elektrischen Falle.

Jetzt gehörte ich zu den Menschen, über die man morgens im Schlafanzug liest, ein Name, über den man in den Polizeiberichten der Tageszeitungen den Kopf schüttelt und als Nächstes darüber nachdenkt, was man zur Arbeit anziehen soll.

Mein Leben, wie ich es kannte, gehörte ab jetzt der Vergangenheit an.

8

»Mit wem soll ich zuerst sprechen? Ihrer Mutter oder Ihrem Vater?«, fragte Officer Fournier, der mir im Rückspiegel zum ersten Mal in die Augen blickte.

Man konnte ihn wirklich problemlos ansehen. Er war nicht niedlich und dunkel wie Alex, doch mit seinem blassen, kantigen, harten Gesicht und dem schwarzen Haar war er irgendwie sehr attraktiv. Seine Augen waren überraschend hell, fast silberblau.

»Sie sind beide tot«, antwortete ich.

Officer Fournier seufzte. »Bitte lügen Sie mich nicht an, Jeanine«, erwiderte er ernst. »Ich glaube, Sie verstehen Ihre Situation und möchten die Sache sicher nicht noch schlimmer machen.«

»Es stimmt«, bekräftigte ich mit plötzlich ruhiger, nüchterner Stimme. »Mein Vater war Staatspolizist in Maryland und wurde 1982 während seines Dienstes bei einem Unfall an einer Straßensperre getötet. In meiner Brieftasche ist seine Gebetskarte. Meine Mutter starb letztes Jahr.«

Officer Fournier durchsuchte meine Brieftasche und drehte sich, die Gebetskarte meines Vaters in der Hand, einen Moment später zu mir um. Plötzlich wirkte er weit weniger bedrohlich. »Wie starb Ihre Mutter?«, fragte er.

»Sie hat Selbstmord begangen«, antwortete ich. Mir wurde bewusst, dass ich es zum ersten Mal laut ausgesprochen hatte.

»Puh, das ist echt hart.« Officer Fournier klang beinahe mitfühlend. »Geschwister?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wem gehört der Camaro?«

»Meinem Freund. Er ist im Hotel«, antwortete ich. Und schwieg einen Moment. »Treibt’s mit meiner besten Freundin«, fügte ich leise hinzu.

Officer Fournier schüttelte den Kopf, während er zum Radfahrer hinüberblickte. »Puh«, machte er noch einmal. »Sie feiern gemeinsam, er betrügt Sie, und deswegen schnappen Sie sich seinen Wagen. Ich verstehe.«

»Der Mann hatte einen Hund. Er ist mir direkt vor den Wagen gerannt«, erklärte ich ruhig. »Ich wollte ausweichen und kam ins Schleudern. Wahrscheinlich bin ich zu schnell gefahren, deshalb bin ich herumgewirbelt, und dann war der Mann einfach … da.«

Wieder verlor ich die Beherrschung, klappte zusammen wie ein Campingstuhl und begann zu weinen. Nach etwa einer Minute wischte ich mir das nasse Gesicht an meinem Oberschenkel ab. Als ich mich wieder aufrichtete, starrte mich Officer Fournier im Rückspiegel an, doch seinen Blick konnte ich nicht deuten.

Wie elektrisiert sahen wir uns in die Augen. Der Zeitpunkt, sich von jemandem angezogen zu fühlen, war wohl äußerst ungünstig. Doch es war so. Ich konnte nicht wegsehen, deshalb tat er es, während er mit der Gebetskarte meines Vaters gegen sein Kinn tippte.

»Was wäre, wenn?«, fragte er schließlich.

In meinem Kopf spulten meine eigenen »Was wäre, wenn«-Gedanken ab. Zum Beispiel: Was wäre, wenn ich nach dem Mittagessen auf den Wodka-Wackelpudding verzichtet hätte? Was wäre, wenn ich nicht Alex’ Wagen genommen hätte? Was wäre, wenn ich überhaupt nicht geboren worden wäre?

Doch plötzlich öffnete der Polizist seine Tür und stieg aus. An der Tür neben mir hörte ich ein Klackern und einen Klick, dann wurde auch sie geöffnet.

»Ich treffe eine Ermessensentscheidung«, erklärte er, während er mir die Handschellen abnahm. »Steigen Sie in Ihren Wagen und verschwinden Sie. Gehen Sie zurück an die Uni, Jeanine. Das hier ist nie passiert.«

9

Ich stand neben dem Polizeiwagen und rieb meine Handgelenke, während ich zu verstehen versuchte, was passiert war. Mein Kopf drehte sich schneller, als es vorher der Camaro getan hatte, schneller als die blendenden Karusselllichter auf dem Polizeiwagen.

Ich sah an Alex’ Wagen vorbei auf die leere Straße. Hinter dem leeren Strand war die Wasseroberfläche so glatt wie eine Glasscheibe.

»Ich verstehe das nicht, Officer Fournier«, sagte ich.

»Das ist komisch, weil ich auch nicht ganz verstehe, was ich hier treibe«, erwiderte er, klemmte sich die Handschellen wieder unter den Gürtel und fuhr mit der Hand durch sein kurzes schwarzes Haar. »Und das mit dem ›Officer‹ kannst du auch lassen. Ich heiße Peter. Sankt Peter in deinem Fall, da ich dir gerade das Leben gerettet habe. Jetzt steig in deinen Wagen und verschwinde, bevor jemand kommt oder ich meine Meinung ändere.«

»Aber ich kann doch nicht einfach abhauen.«

»Es gibt keine Zeugen, und ich habe den Unfall noch nicht gemeldet«, erwiderte er.

»Aber ich bin schuldig.«

»Jetzt hör mal«, begann Peter. »Der Staat Florida führt regelrecht Krieg gegen Trunkenheit am Steuer, er verfolgt Unfälle mit Todesfolge mit extrem hohen Strafen. Sobald du einmal ins Röhrchen geblasen hast, sitzt du im Knast. Es ist ein lächerliches, dummes und politisch motiviertes Gesetz. Aber das sehen weder die Geschworenen noch der Richter so. Du überlebst den Knast nicht, Jeanine. Das schaffst du nicht.«

»Aber dieser arme Mann ist tot. Ich kann nicht einfach abhauen.«

»Ich erzähle dir mal was über diesen armen Mann. Er heißt Ramón Peña. Er war meth- und heroinabhängig und gerade erst aus dem Gefängnis entlassen. Wir haben den Wiederholungstäter vor ein paar Jahren dingfest gemacht, als er das Haus einer alten Frau durch das Fenster verließ. Er hatte die Dreiundachtzigjährige vergewaltigt und ausgeraubt. Und ihr den Kiefer gebrochen.«

Peter nickte, als ich überrascht die Augen aufriss.

»Wenn Ramón keinen Betrunkenen ausnehmen konnte, hat er mit seinem Hund auf der Duval Street Geld von Touristen geschnorrt. Soweit sein Nachruf. Abgesehen davon war es nicht dein Fehler. Er war wahrscheinlich so zugedröhnt, dass er vor deinen Wagen gefahren ist, weil er dachte, es wäre ein Schwimmbecken. Ramón hat in seinem Leben genügend Menschen wehgetan. Lass nicht zu, dass sein Tod dich auch noch kaputt macht. Du bist ein anständiger Mensch, der zur falschen Zeit am falschen Ort war. Jetzt nimm die Schlüssel von deinem Freund und verschwinde endlich.«

»Aber «, versuchte ich aufzubegehren.

»Ich bitte dich nicht.« Peter drückte mir die Schlüssel in die Hand. »Ich fordere dich dazu auf. Los jetzt.«