12. März 1992
Feiern bis zum Umfallen!
Jedes Mal, wenn ich an das denke, was passiert ist, fällt mir zuerst dieser Spruch ein, dieses dumme Klischee, das in den Achtzigern in Mode war.
Und dieser Ausdruck war auch das Erste, das wir bei unserer Ankunft in Key West hörten, wo wir die letzten Frühjahrsferien unserer Collegezeit begannen. Als wir uns im Hotel anmeldeten, rannte ein pitschnasser, sehr haariger und noch betrunkenerer Mann mittleren Alters mit Brille und Badehose durch die Eingangshalle und rief: »Feiern bis zum Umfallen!«
Von diesem lustigen Moment an war dies unsere ganzen Ferien hindurch unser Mantra, unser Stolz, unsere gegenseitige Herausforderung. Mein Freund schlug sogar vor, wir sollten uns alle »Feiern bis zum Umfallen!«-Tätowierungen machen lassen.
Weil wir den Spruch zu dem Zeitpunkt noch lustig fanden.
Doch er erwies sich als Prophezeiung.
Und wurde tatsächlich wahr.
Zuerst feierten wir.
Dann fiel jemand um.
Es geschah am letzten Tag. Der Nachmittag verlief genauso wie die Nachmittage davor – mit einem heftigen Kater, während wir unter dem Sonnenschirm in der Hotelbar träge unsere Hamburger verputzten.
Unter dem Tisch hatte mein Freund Alex seinen nackten Fuß an meinen gelegt, während sein Finger mit dem Träger meines gelben Bikinioberteils spielte. Aus den Lautsprechern dudelte leise der Klassiker der Cars, »Touch and Go«, ein älterer Fahrradfahrer mit schwarzer Lederweste und grauen Zöpfen spielte im Wasser neben der sonnengebleichten Anlegestelle der Bar mit seinem Hund. Wir lachten jedes Mal, wenn der Collie, um seinen Hals ein rotes Tuch, den nassen Tennisball zuerst ins Wasser köpfte und ihm anschließend mit einem Bauchplatscher in die flachen Wellen hinterhersprang.
Als der keuchende, nasse Collie zurück ans Ufer platschte, ließ eine Windbö das gläserne Windspiel in der Bar erklingen. Die unerwartete Musik entlockte mir einen Seufzer, während mich eine Art Ferien-Nirwana erfasste. Einen prickelnden Moment lang wurde alles – die Kühle unter dem Jägermeister-Schirm, der in der flimmernden Hitze pulsierende weiße Sand, das blaugrüne Wasser im Golf – schärfer, leuchtender, lebendiger.
Als Alex seine Hand in meine gleiten ließ, wurde ich von allen wunderschönen Erinnerungen daran übermannt, wie wir uns im ersten Collegejahr verliebt hatten. Der erste nervöse Augenkontakt im höhlenartigen Geologieraum. Das erste Mal, als er mich stockend bat, mit ihm auszugehen. Der erste Kuss.
Ich erwiderte seinen Händedruck und dachte daran, wie glücklich wir waren, dass wir einander gefunden hatten, wie gut wir zueinander passten und welch leuchtende Zukunft uns bevorstand.
Dann passierte es.
Der Anfang vom Ende meines Lebens.
Unsere dürre australische Kellnerin, Maggie, räumte den Tisch ab, hob lächelnd eine Augenbraue und stellte beiläufig die Frage, die sich als die wichtigste Ja-oder-nein-Frage meines Lebens erweisen würde.
»Na, braucht ihr noch was?«, fragte sie mit ihrem tollen australischen Akzent.
Alex, der sich in seinem Plastikstuhl so weit zurücklehnte, dass er fast schon flach lag, richtete sich plötzlich mit einem breiten, seltsam ansteckenden Lächeln auf. Er war durchschnittlich groß, schlank, dunkel, fast schon zierlich, so dass man nicht erwartet hätte, dass er in der Football-Mannschaft der University of Florida mitspielte.
Ich richtete mich ebenfalls auf, als ich merkte, dass er das gleiche beinahe gerührte Nichts-wie-ran-Lächeln zeigte wie immer, wenn er vor siebzigtausend Zuschauern übers Feld stürmte.
Oder bevor er eine Schlägerei anfing.
Unsere Ferien hatten alles geboten, was die Überschrift im Prospekt – »Fünf Tage und vier Nächte in Key West!« – versprochen hatte. Kein Unterricht. Keine Regeln. Nichts außer mir und meine Freunde, Strand, kaltes Bier, Sonnencreme, laute Musik und noch lauteres Lachen. Wir hatten es sogar geschafft, während der anstrengenden, durchgefeierten vier Tage heil zu bleiben.
Äh … und jetzt?, dachte ich.
Alex ließ seinen Blick langsam über seine vier Reisebegleiter wandern, bevor er den Fehdehandschuh warf. »Heute ist unser letzter Tag hier. Hat jemand Lust auf einen Nachtisch?«, fragte er. »Ich dachte an Wackelpudding. An die Art, an die Bill Cosby nicht im Traum denken würde. An die Art, die im Schnapsglas serviert wird. Mit Wodka.«
Der Song der Cars ging in einen lebhaften Gitarrenriff über, als sich das Gesicht meiner besten Freundin Maureen voll Neugier aufhellte. Sie, meine hübsche Mitbewohnerin und Cokapitänin der Frauen-Softballmannschaft, war offenbar mit von der Partie. Ebenso wie ihr Freund, Big Mike, wie sein begeistertes Nicken verriet. Selbst unsere beflissene, gewöhnlich pessimistische, sonnenverbrannte Kumpanin Cathy blickte angesichts des interessanten Vorschlags von ihrem Taschenbuch auf.
»Jeanine?«, fragte Alex, während die Blicke meiner Freunde in abwartendem Schweigen auf mir ruhten.
Die fragwürdige Entscheidung lag also bei mir. Ich schürzte besorgt die Lippen und blickte auf den sandigen Boden zwischen meinen von der Sonne gebräunten Zehen, bis ich mein Gesicht zu einem schelmischen Grinsen verzog und mit den Augen rollte. »Äh … auf jeden Fall!«, sagte ich.
Die anderen Gäste in der Bar wandten sich zu uns um, als meine Freunde johlten, die Hände aneinanderklatschten und auf den sandigen Tisch klopften.
»Schnaps, Schnaps, Schnaps«, riefen Mike und Alex. Die Kellnerin machte sich sogleich an die Arbeit.
Als verantwortungsbewusste, gute Studentin und Sportlerin war mir bewusst, dass Wodka und Gelatine am Nachmittag hochgradig gefährlich waren. Aber schließlich hatte ich eine Entschuldigung. Oder vielmehr vier: Ich war College-Studentin. Ich war in Key West. Die Frühjahrsferien 1992 waren fast zu Ende. Und ich hatte drei Tage zuvor meinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.
Doch während ich dort am Tisch meinen Blick über die fröhlichen Menschen in der Bar vor dem endlosen satinblauen Golf schweifen ließ, kamen mir – zumindest ganz leise – Zweifel, ob ich mein Glück nicht zu sehr herausforderte.
Das Gefühl war aber bereits verflogen, als Maggie mit den Schnäpsen an unseren Tisch kam und wir das taten, was wir immer taten: Wir erhoben unsere Pappbecher, stießen sie aneinander und riefen, so laut wir konnten: »Feiern bis zum Umfallen!«