KOMMT ZEIT
KOMMT TAT

Ralph Neubauer

KOMMT ZEIT
KOMMT TAT

Null

Glurns schlief noch zu dieser frühen Stunde. Das war seine Zeit. Die Glurnser mochten ihn ohnehin nicht. Das spürte er jeden Tag. Sie zeigten es mit ihren Blicken, die sie ihm zuwarfen und sie zeigten es, indem sie den Blick von ihm abwandten. Sie zeigten es, indem sie ihn fortjagten. Manchmal wehrte er sich. Meistens aber nicht. So zog er es vor, seine Runden zu den Zeiten zu machen, wenn alle anderen noch schliefen. Dann gehörte Glurns ihm. Er mochte Glurns. Das war sein Revier. Gerade groß genug für ihn. Er kannte jeden Winkel. Wusste, wo es was zu holen gab. Denn gegeben wurde ihm nie etwas. Daran hatte er sich gewöhnt. Er war auch keine Schönheit. Seine Augen waren meist zu schmalen Schlitzen verengt, was ihm einen verschlagenen Ausdruck gab. Seine Mimik und sein ungepflegt wirkender Bart ließen ihn unsympathisch wirken. Das war ihm selber kaum bewusst. Er spürte allein die Ablehnung, die ihm tagtäglich entgegenschlug und hielt dies für das normale Leben. Die ganz frühen Morgenstunden waren die Zeit, die er genoss. Niemand war auf den Straßen von Glurns. Außer einigen Katzen. Ihr Pech. Auch wenn die Straßen leer waren, kein Laut zu hören war, vermied er die Hauptstraße, die sich kopfsteingepflastert, an den sauber verputzten, mit hellen Pastellfarben gestrichenen Stadthäusern entlangschlängelte. Er bevorzugte die krumm verlaufenden Seitenstraßen, mit den oftmals unverputzten Häuserfronten, die Laubengänge. Hier gab es mehr zu entdecken und auch zu finden. Seit einigen Wochen hatte sich sein Leben deutlich verbessert. Jemand Neues war nach Glurns gekommen. Er war anders zu ihm. Das hatte er sofort gespürt, als sich ihre Blicke zum ersten Mal gekreuzt hatten. Der junge Mann hatte nicht sofort weggeblickt. Er war stehen geblieben und hatte ihn betrachtet – ohne Angst und ohne Abscheu zu zeigen, vor dem alten, am Rande der Stadtmauer gelegenen Haus, das alle in Glurns die „Stadtmühle“ nannten. Der Blick, den ihm der Mann, den er noch nie vorher gesehen hatte, zuwarf, war nicht mitleidig, nicht bewertend, sondern klar und erkennend. Es kam ihm vor, als würde der Mann ihn annehmen, so wie er war. Und das hatte in ihm ein freundschaftliches Gefühl ausgelöst, das er fast schon vergessen hatte. Da war einer, der so war wie er. Ein Einzelgänger.

Seither patrouillierte er täglich an der Stadtmühle vorbei. Sogar tagsüber, wenn Glurns wach war. Der Mann war nicht immer da. Aber wenn er da war, blickte er ihn freundlich an und grüßte ihn auch. Vor zwei Wochen hatte er damit begonnen auf die kleine hölzerne Terrasse hinter dem Haus, über die man gehen musste, um ins Haus zu gelangen, einen Teller mit Essen hinzustellen. Der Mann hatte ihm bedeutet, dass es für ihn sei. Er hatte zuerst gezögert. Seine Erfahrungen mit den Menschen waren nicht gut. Sein Hunger, seine Neugier und dieses Gefühl, dass dieser Mann anders war als die anderen, hatten ihn das Angebot aber schließlich annehmen lassen. Seither machte er sich keine Gedanken mehr darüber, wo er etwas finden würde. Er wusste jetzt, dass der Tisch für ihn gedeckt war.

Sie hatten beide stillschweigend die Übereinkunft getroffen, dass der Teller mit Essen in den ganz frühen Morgenstunden bereitstehen musste. Dann, wenn er seine erste Runde durch Glurns machte. Der Mann war immer zuverlässig.

Heute war es anders. Er konnte es spüren und riechen. Noch bevor er die gepflasterten Stiegen nahm, die rechts neben dem Haus den Weg zur hölzernen Terrasse ebneten, wusste er, dass der Mann nicht mehr lebte. Der Teller, den er immer unter die Bank gestellt hatte, war nicht da. Alle seine Sinne sagten ihm, dass in dem Mann, den er hinter der alten Holztür wahrnehmen konnte, kein Leben mehr war. Seine Sinne teilten ihm schmerzlich mit, dass damit ein Teil von ihm selbst gegangen war. Dieser Schmerz entlud sich in einem langen, tiefen, nicht enden wollenden Heulen. Er saß vor der Tür, schwarz, mit fast geschlossenen Augen, der wilden zotteligen Mähne um seinen mächtigen Hals, dem komisch wirkenden Haarstreifen, der wie ein Irokesenschnitt über seinen langen Rücken lief und ihm, da sein restliches Fell fast überall ausgefallen war, eine unheimliche Anmutung verlieh. Er heulte und heulte und nach und nach wurden die Lichter in den umliegenden Häusern angeschaltet, die Anwohner schauten aus den Fenstern, konnten nicht erkennen, was los war. Die ersten kamen aus den Häusern und beobachteten den Hund, den sie alle seit Jahren kannten, aber nicht mochten. Was machte der Streuner da? Warum heulte er wie ein Wolf? Warum ging er nicht von der Tür der Stadtmühle weg?

*

Die Leute wunderten sich, dass der alte Hund sie ungehindert zur Tür gehen ließ. Sie erlebten ihn mitunter als aggressiv, wenn ihm jemand zu nahe kam. Er führte ein eigenes Leben in Glurns. Ging den Menschen aus dem Weg. Lag aber auch da herum, wo es ihm gefiel und döste. Dann sollte man ihn in Ruhe lassen, sonst zwackte er nach einem. Die Glurnser hatten sich damit abgefunden. Leben und leben lassen, war insoweit das Motto, unter das sie ihre Beziehung zu dem „schworzn Hund“, den sie „Mourl“ nannten, gestellt hatten. Umso mehr entfachte das Verhalten dieses einzelgängerischen Hundes ihre Neugier. Morgens um vier so ein Lärm, das waren sie nicht gewohnt. Zumal der „Lärm“ eher ein Wehklagen war. Der Klang des Geheuls enthielt Trauer, Anklänge von Wehmut. Es war aber auch wie ein Rufen um Hilfe.

Die Tür war nicht verschlossen. Der Erste, der sich getraut hatte an „Mourl“ vorbei zu gehen, um nachzuschauen, was hinter der Tür war, erkannte zuerst nichts. Als er den Lichtschalter gefunden und damit die spärliche Beleuchtung des Raumes eingeschaltet hatte, sah er, was der Hund schon lange wusste. Der Mann, der seit einiger Zeit die Stadtmühle für sich herrichtete, den sie alle nur vom Sehen kannten und von dem die meisten nicht einmal den Namen wussten; der Mann, um den sich sofort einige Geschichten rankten, obwohl ihn niemand richtig kannte, hing regungslos mitten im Raum, den Kopf abgeknickt in einer Schlinge, die beschuhten Füße einen halben Meter vom Boden entfernt. Die Arme baumelten völlig ohne Spannung an den Seiten des toten Körpers.

Eins

Montag

Eduard Thaler hatte Bereitschaftsdienst. Nur deshalb ärgerte er sich nicht, als ihn kurz nach fünf Uhr früh ein Anruf aus dem Schlaf riss. „Selbstmord“, dachte er, als er der Schilderung seines Freundes, Martin Sagmeister, folgte. Und weiter dachte er: „Das könnten doch auch die örtlichen Carabinieri erledigen …“. Aber er knurrte nur nach innen. Wenn ein Freund anrief, musste man helfen. Und eigentlich war es egal, ob die Carabinieri oder die Staatspolizei den Fall aufnahmen. Nur, dass es bis Glurns recht weit war, von Bozen aus. Allein deshalb wäre es vernünftiger gewesen, die Carabinieri würden den Fall übernehmen. Eduard seufzte. „Glurns“, überlegte er. „Ziemlich hoch oben im Vinschgau. Da brauche ich mindestens eine Stunde.“ Er gähnte. „Andererseits komme ich mal wieder raus.“ Bei einem Selbstmord war Eile auch nicht das erste Gebot. Rasieren war also noch drin. Während er das Messer durch den Schaum zog und das leise Knistern vernahm, das die scharfe Klinge erzeugte, wenn sie die harten Barthaare abschnitt, überlegte er, dass er Francesca nach Glurns mitnehmen würde. Erst gestern hatten sie sich darüber unterhalten, dass Francesca von Südtirol noch gar nicht viel gesehen hatte, seit sie ihren Dienst in der Bozener Questura aufgenommen hatte. Francesca war zwar schon etwas länger im Kommissariat als er, kam aber ursprünglich aus Sardinien. Er hingegen war ein echter Südtiroler – der Einzige im Kommissariat. Ihr gemeinsamer Chef, Commissario Fabio Fameo, kam aus Rom. Aber seit er eine Südtirolerin geheiratet hatte, holte er schnell auf, Südtirol und die Südtiroler in ihrer Komplexität zu verstehen. Er machte dank seiner Ehefrau schnell Fortschritte. Eduard wusste: Südtirol war ein kompliziertes kleines Land. Francesca hatte keinen solchen Bonus. Sie lebte mit ihrer Freundin Julia zusammen. Die war als freie Journalistin in der ganzen Welt zu Hause. Südtirol war, zumindest für Julia, daher eher so etwas wie ein Schrebergarten, in den man sich zur Erholung zurückzog. „Es ist eine gute Idee, Francesca mitzunehmen“, dachte Eduard, als er sein Gesicht mit langsamen, klaren und exakten Zügen des Rasiermessers vom Rasierschaum und den Barthaaren befreite.

*

Der Arzt, den sie gerufen hatten, musste seinen Zorn herunterschlucken, als er sah, dass niemand es für nötig erachtet hatte, den Mann vom Strick abzunehmen. Aber als er den Mann untersuchte und feststellte, dass er schon länger tot gewesen sein musste, beruhigte er sich wieder. „Auch wenn sie ihn sofort nach der Entdeckung abgenommen hätten“, dachte er, „wäre er mit Sicherheit nicht mehr zu retten gewesen.“ Für ihn war der Fall klar. Der Mann hatte sich erhängt. Der Totenschein war schnell ausgefüllt. Er sehnte sich jetzt nach einem ausgiebigen Frühstück, benötigte einen starken Kaffee und im Anschluss daran warteten die Praxis und seine Patienten.

Als Eduard und Francesca gegen 8 Uhr bei der Stadtmühle eintrafen, wurden sie von Eduards altem Freund, Martin Sagmeister, in Empfang genommen.

„Schön, dass du gekommen bist. Ich dachte, wenn ich schon einen von der Polizei kenne, dann rufe ich den direkt an.“ Eduard nickte nur und stellte Francesca vor.

„Es war Selbstmord?“, fragte Eduard.

Martin zuckte mit den Schultern: „So wie es aussieht, war es Selbstmord. Ich habe ihn gefunden.“ Er zögerte. „Eigentlich war es der Hund“, er zeigte auf „Mourl“, der sich auf die Holzveranda vor dem Eingang gelegt hatte und sich nicht mehr rührte, seit die Leute die Tür zur Stadtmühle geöffnet hatten. In diesem Moment hatte er sein Geheul eingestellt, sich niedergelegt und gewartet.

Francesca hatte derweil den Raum betreten. Das geringe Licht der eingeschalteten Beleuchtung und das Tageslicht, das sich seinen Weg durch die drei kleinen Fenster suchte, ließen sie erkennen, wer sich in dem Raum aufhielt. Auf dem Boden lag ein Mann. Leblos. „Das wird der Mann sein, der sich umgebracht haben soll“, dachte sie. Weiter war ein Mann in Feuerwehruniform anwesend. Der blickte auf, als Francesca den Raum betrat. Sie stellt sich vor: „Francesca Giardi, Polizia di Stato aus Bozen.“ Der Feuerwehrmann nickte ihr zu. „Ich habe ihn abgenommen. Da hat er gehangen“, er zeigte auf den mittleren der starken, dunklen Querbalken, die als Trägerbalken die Bodenbretter der ersten Etage trugen und längs durch den Raum gezogen waren. An dem mittleren Trägerbalken war eine eiserne Schlaufe befestigt, stark genug, um große Gewichte zu halten. Früher vielleicht als Umlenkrolle benutzt, um schwere Säcke voller Getreide hochzuziehen. Und heute …

Francescas Blicke durchstreiften den Raum und trafen auf gelebte Vergangenheit. Direkt am Eingang wäre sie im diffusen Licht beinahe über zwei Mühlsteine gestolpert, die übereinandergestapelt waren. Eine eiserne Klammer griff mit ihren Enden in eigens dafür geschlagene Löcher an der Seite des oberen Steins und mit der Hilfe eines starken Gewindes, das an einem der anderen Trägerbalken montiert war, hatte der Müller, der früher hier gearbeitet hatte, die schweren Steine zu bewegen vermocht. Francesca war keine Expertin für Getreidemühlen, aber alles was sie erblickte, schien klug und einer Aufgabe folgend im Raum angeordnet zu sein. Es war ihr, als betrete sie eine Maschine, deren Einzelteile genau so viel Platz ließen, wie ein kundiger Mensch brauchte, um sich als steuerndes Element einzufügen. Aber der Raum gab auch preis, dass hier vor Kurzem gearbeitet worden war. Es sah so aus, als würden der Mühle ihre Eingeweide entnommen. Dabei hatte es den Anschein, als sei dies sorgfältig geschehen. Sie sah Stapel von Einzelteilen ehemals nützlicher Gerätschaften, die ordentlich, ja respektvoll geschichtet waren.

Francesca sah, dass der Strick, an dem der Mann gehangen haben musste, durchschnitten worden war. Das Ende des Stricks, das durch die eiserne Schlaufe gezogen war, baumelte über dem Kopf der Leiche. Die Schlaufe des Stricks, mit dem der Mann sich stranguliert hatte, lag neben ihm am Boden. Irgendjemand musste sie ihm abgenommen haben. Francesca beugte sich zu der Leiche und besah sich die Stelle, an der die Schlinge den Hals zugezogen hatte. Dann musterte sie die Umgebung.

„War schon ein Arzt hier?“, fragte sie den Feuerwehrmann.

„Ja, Dr. Steiner war schon da. Ist aber gleich wieder weg. Das soll ich Ihnen geben.“ Er händigte Francesca einen Totenschein aus. Vermerkt war: „Tod eingetreten durch Strangulation.“

Francesca nickte und steckte den Totenschein ein. Dann wandte sie sich dem Feuerwehrmann zu: „Sagen Sie, was genau haben Sie gesehen, als man Sie geholt hat? Wer war alles anwesend? Und was haben Sie genau gemacht?“

Der Feuerwehrmann stutzte. „Die Sache war doch völlig klar. Warum all diese Fragen?“, dachte er. Er seufzte, weil er schon viel zu lange hier gewartet hatte. Er hatte noch gar nicht gefrühstückt und zur Arbeit kam er auch zu spät. Er rasselte daher herunter, was ihm zu den Fragen der Commissaria einfiel: „Also, als ich hier reinkam, standen alle aus der Nachbarschaft im Raum herum. Einer hat dann die Polizei gerufen. Das war der Martl. Irgendeiner wird auch den Doktor gerufen haben. Denn der kam kurz nach mir. Er hat gleich alle raus geschickt und mir gesagt, dass ich den Mann abnehmen solle. Das habe ich dann zusammen mit dem Doktor gemacht. Ich habe den Mann gehalten, der Doktor ist auf den Stuhl und hat den Strick durchgeschnitten. Er hat den Mann untersucht und gesagt, dass er schon länger tot sein muss. Den Strick haben wir ihm dann abgenommen. Da liegt er. Ich habe auf die Polizei gewartet, weil mir der Doktor gesagt hat, dass ich Ihnen den Totenschein geben soll.“

Der Feuerwehrmann verstummte.

„Der Stuhl, auf den der Doktor geklettert ist, um den Strick durchzuschneiden, wo genau hat der gestanden?“ Francesca blickte sich im Raum um. Es gab genau zwei Stühle, die etwas abseits von dem Platz standen, an dem der Mann sich erhängt hatte. Der Feuerwehrmann schaute von einem Stuhl zum anderen. Er wusste es nicht. Die Antwort klang auch dementsprechend.

„Ich glaube, der Doktor hat den Stuhl wohl weggestellt“. Dabei deutete er auf einen der beiden Stühle, der dem Ort des Geschehens am nächsten stand.

„Und wo hat der Stuhl gestanden, als sie hereingekommen sind?“

Der Feuerwehrmann machte jetzt ein unwilliges Gesicht. „Was stellt die denn für Fragen? Woher soll ich das denn wissen?“ Francesca sah ihm an, dass er es nicht wusste, weil er nicht darauf geachtet hatte. Sie fragte weiter: „Wenn Sie sich umbringen wollten – nur mal angenommen – und Sie nehmen sich einen Strick, den sie an diesem Balken befestigen“, sie deutete auf die Stelle, an der die Reste des Stricks hingen, „dann brauchen Sie eine Leiter oder einen Stuhl, um an diesen Balken heran zu gelangen“. Sie schaute auf die Leiche. Der Mann war ca. 1,80 m groß. Der Balken war ca. 2,50 m hoch. Auch bei ausgestreckten Armen reichte der Mann nicht hinauf. Er musste also einen Stuhl oder einen vergleichbaren Gegenstand benutzt haben, um den Strick zu befestigen. Dann brauchte er diesen Gegenstand auch, um sich von ihm abzustoßen, damit sein zum Boden ziehendes Körpergewicht die Nackenwirbel ruckartig auseinanderziehen konnte. Also war es wichtig zu wissen, wo die Stühle gestanden haben. Der Feuerwehrmann begriff. Aber er konnte nicht helfen. Als er den Raum betrat, waren viele Menschen anwesend. Fast die gesamte Nachbarschaft.

„Ich habe mir nicht gemerkt, ob einer der Stühle unter oder neben dem Mann gestanden hat. Ich habe auch nicht darauf geachtet. Es war“, er machte eine Pause, „es war auch für mich das erste Mal, dass ich …,“ er schluckte, „dass ich eine Leiche gesehen habe.“ Er versprach, eine Liste mit den Namen aller Nachbarn zu fertigen. Francesca ließ ihn daraufhin gehen.

Francesca betrachtete die Leiche. Tageslicht aus dem einzigen Fenster auf der Stirnseite des Hauses ließ jetzt genau dort auf den Platz, wo der Mann still lag, genügend Licht einfallen. Sie war jetzt allein mit der Leiche in der Stadtmühle. Eduard sprach vor der Tür immer noch mit seinem Bekannten. Der Mann, der tot vor ihr lag, war gut gebaut. Schlank und muskulös. Er hatte dichtes, welliges, dunkles Haar. Seine Gesichtszüge wirkten irgendwie verwegen. Francesca fand den Begriff passend. „So wie ein Pirat“, dachte sie. Er war vollständig bekleidet. Nichts Besonderes. Ein helles T-Shirt, eine blaue Jeans, Turnschuhe. Keine Socken. Die Haut wirkte, soweit Francesca das bei dem spärlichen Licht feststellen konnte, gebräunt. Der Mann wirkte wie eines der Models aus den Modekatalogen für Sportbekleidung. Gesund, dynamisch, sportlich. Nur leider jetzt ziemlich tot. Sein Alter schätzte Francesca zwischen 25 und 30 Jahren. „Warum bringt sich ein so junger, gut aussehender Mann um? Und wie hat er es angestellt?“ Mit diesen Fragen im Kopf betrachtete Francesca die Einzelheiten in der Stadtmühle genauer.

Die Funktionalität dieser „Gebäudemaschine“ erkannte Francesca nicht mit einem Blick, aber als sie die Klappen in den von ihr zunächst für Stützbalken gehaltenen „Mehlaufzügen“ geöffnet hatte, ahnte sie, dass in einer Mühle nichts dem Zufall oder gar dem persönlichen Geschmack überlassen wurde. Ein großer Trichter stand zentral im Raum. Daneben musste eine große Gerätschaft gestanden haben, die jetzt demontiert war und dessen Einzelteile ordentlich geschichtet an der Wand lagerten. Francesca schloss daraus, dass diese Mühle eine andere Funktion bekommen sollte und sich irgendwer die Arbeit machte, die alten Gerätschaften abzubauen. Der Tote vielleicht?

„Wie kommt der Mann an den Balken?“ Diese Frage stand für Francesca im Raum. Sie blickte auf die Leiche, das Arrangement im Raum. Sie überlegte:

„Der Mann hätte einen der beiden Stühle benutzen müssen, um sich zu erhängen. Sonst hätte es nicht geklappt. Einen anderen geeigneten Gegenstand gab es nicht, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.“

Francesca betrachtete die Leiche zu ihren Füßen. Der Mann lag auf dem Rücken. Sein Gesicht war gut zu erkennen. Irgendjemand, mutmaßlich der Doktor, hatte ihm die Augenlider niedergedrückt. Sie beugte sich nochmals herunter und betrachtet das Gesicht eingehend. Die Einschnitte der Schlinge um den vorderen Teil des Halses waren deutlich zu sehen. „Der Kehlkopf ist womöglich eingedrückt“, dachte Francesca, als sie eine Delle an der Stelle des Kehlkopfes betrachtete. Das machte sie stutzig. Sie zog sich Einweghandschuhe an und drehte vorsichtig den Kopf, soweit es ging, betrachtete aufmerksam den Hinterkopf. Es gab eine Stelle, an der die dichten Haare verklebt wirkten. Sie rieb leicht mit einem der behandschuhten Finger daran. Auf dem Handschuhfinger sah sie etwas Rotes. Eingetrocknetes Blut.

*

Eduard hatte Martin lange nicht mehr gesehen. Sie kannten sich von der Zweisprachigkeitsprüfung in Bozen. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden und Martin hatte Eduard gleich zum „Sealamorkt“ eingeladen, dem Glurnser Vieh- und Krämermarkt am Allerseelentag. Glühwein hatte es damals reichlich gegeben und Eduard war froh gewesen, bei Martin übernachten zu können.

„Und du bist also als Erster rein? Was hast du gesehen?“ Eduard hatte ein Notizbuch gezückt und machte sich Notizen, damit er einen guten Bericht schreiben konnte. Ihm war es ganz recht, dass Francesca direkt zur Leiche gegangen war und sich den Ort des Geschehens ansah. Er hatte noch wenig Erfahrung mit Leichen.

Es war ihm unbehaglich. Und den Anblick eines Erhängten wollte er sich nicht gerne antun. Darum, und weil er Martin schon lange nicht mehr gesehen hatte, blieb er draußen und konnte das auch deshalb gut mit sich selber vereinbaren, weil schließlich sein Freund der erste Zeuge war, der den Toten gesehen hatte.

„Ich bin an dem Hund vorbei. Das war schon komisch, dass der die ganze Zeit vorher so gejault hat, und dann, als ich die Tür geöffnet habe, augenblicklich still war.“

Eduard nickte: „Und dann?“

„Dann bin ich rein und habe Licht gemacht. Und da hat er dann gehangen.“

„Und was hast du dann gemacht?“

„Ich habe gesehen, dass der Mann tot war und habe es den anderen gesagt, die noch draußen standen.“ Martin überlegte. „Dann habe ich dich angerufen. Wenn ich schon einen bei der Polizei kenne!“ Er lachte. „Die anderen sind an mir vorbei in die Stadtmühle gegangen.“

Eduard notierte und schaute Martin fragend an. „Dann ist der Josef von der freiwilligen Feuerwehr gekommen und einige Zeit darauf der Doktor. Die haben dann alle anderen rausgeschickt. Ich bin geblieben, bis du gekommen bist.“

„Weißt du denn, wie der Tote heißt?“ Eduard ließ seinen Stift über dem Notizbuch kreisen. Er wollte jetzt die Daten aufnehmen, die er aufzunehmen hatte, um einen vollständigen Bericht zu schreiben. Name, Alter, Familienstand, Adresse des Toten, Adresse der Angehörigen und so weiter. Als keine Antwort kam und er in das etwas verlegen wirkende Gesicht seines Freundes schaute, merkte er, dass es an dieser Stelle einen Bruch gab. Ein Bruch, der sich zwischen den Einheimischen und dem Toten zog. Normalerweise wusste jeder über jeden Bescheid. Aber in diesem Fall war das offensichtlich nicht der Fall.

Martin druckste herum: „Ich glaube, dass er Michael Federspiel geheißen hat. Habe ich gehört. Und dass er aus dem Obervinschgau sein soll. Mals, meinen die Leute. Der war plötzlich da und hat angefangen, die Stadtmühle herzurichten. Die gehört dem alten Mühlenwirt. Der hat sie ihm vermietet, heißt es.“

Eduard wunderte sich etwas. Mals war so weit nun auch nicht entfernt, dass man jemanden, der von dort kam, in Glurns überhaupt nicht kannte.

„Und mehr wisst ihr nicht über ihn? Seit wann ist er denn hier zugange?“

„Weiß nicht so genau. Aber drei Monate werden es schon sein.“

„Da werkelt einer seit drei Monaten in der Stadtmühle und ihr wisst nichts über ihn?“ Eduard runzelte die Stirn. „Glurns ist jetzt nicht gerade Bozen, würde ich meinen. Wenn hier einer eine neue Jacke trägt, weiß es am Abend jeder, oder täusche ich mich da?“

Martin nickte: „Stimmt. Deshalb ist das ja auch so komisch. Die Leute reden über ihn, aber keiner weiß etwas Genaues. Der Mann ist hier aufgetaucht, ist zu allen freundlich, aber distanziert; erzählt hat er nichts. Außer, dass er die Mühle für sich herrichten will. Und einmal soll auch eine junge Frau dabei gewesen sein. Sagt man. Ich habe sie aber nicht gesehen.“

Eduard schaute Martin an: „Wo erfahre ich denn hier im Ort mehr über Michael Federspiel? Wo muss ich hingehen? Wo reden die Leute?“

Martin grinste leicht: „Gehen wir nachher noch auf einen Kaffee? Dann zeig ich‘s dir.“ Eduard nickte, blickte jetzt ins Innere des Hauses, seufzte leicht. Der Hund hob seinen Kopf, beobachtete, wie Eduard und Martin die Mühle betraten.

Die beiden Männer sahen, wie Francesca tief nach unten gebeugt langsam durch den Raum schritt und scheinbar etwas suchte.

„Suchst du was?“, fragte Eduard.

Francesca richtete sich auf und blickte Martin neugierig an.

Eduard begriff: „Das ist Martin. Der Freund, von dem ich dir auf der Hinfahrt erzählt habe. Der, der mich angerufen hat.“

Francesca nickte ihm zu. Eduard hatte sie heute früh aus dem Bett geklingelt, sie kurz unterrichtet und ihr auf der Fahrt nach Glurns erzählt, was für ein patenter Typ dieser Martin sei, den er vor einigen Jahren kennengelernt hatte. Den Besuch auf dem Viehmarkt auf Allerseelen hatte er besonders hervorgehoben und ausgeschmückt. Francesca hat sich plastisch vorstellen können, wie Eduard, damals noch ungebunden, seinen Flirtfaktor getestet hatte. Eduards Schilderungen nach waren beide damals sehr erfolgreich gewesen. Und jetzt standen sie vor ihr. Sie überlegte, wie sie Martin auf freundliche Weise loswerden konnte, denn sie wollte mit Eduard etwas besprechen, was nicht für fremde Ohren bestimmt war. Außerdem wollte sie verhindern, dass möglicherweise noch mehr Spuren verwischt würden. Sie wollte gerade ihre Stimme erheben, als der Hund einen lang gezogenen Laut von sich gab und sich alle drei ihm zuwandten. Er war unbemerkt von den Dreien in die Mühle gekommen, saß jetzt vor den beiden Mühlsteinen, die sich direkt hinter dem Eingang befanden und stimmte ein Wehklagen an. Dabei richtete er seinen Blick auf diese alten Mühlsteine. Als Francesca näher kam, verstummte er, schaute sie an. Martin rief: „Sei vorsichtig, der „Mourl“ ist unberechenbar. Doch Francesca hatte keine Angst. Francesca trat nahe an den Stein, konnte aber nichts erkennen. „Halt mal die Lampe etwas schräg und leuchte hierher“, rief sie Eduard zu, der daraufhin die Deckenlampe so hielt, dass mehr Licht auf den Mühlstein fiel. Und da sahen sie es alle. Auf dem oberen Mühlstein war ein dicker dunkelroter Fleck.

*

Eduard wandte sich an Martin: „Du erzählst niemandem, was wir hier gesehen haben. Die Leute sollen erst mal denken, dass es Selbstmord war. Alles andere ist auch jetzt noch Spekulation, verstanden?“ Martin nickte, doch die beiden sahen ihm an, dass ihn die Vorstellung, dass hier vielleicht kein Selbstmord geschehen sein könnte, arg mitnahm. Francesca bat Martin, vor der Tür zu warten. Sie wollte Eduard die Stelle am Kehlkopf zeigen, die ihr aufgefallen war.

„Ich bin kein Experte und nach der Obduktion wissen wir mehr. Aber diese eingedrückte Stelle ist schon komisch. Wenn ich mich erhängen will, dann lege ich mir den Strick an eine andere Stelle, damit das Genick bricht. Das hier sieht so aus, als wäre er erdrosselt worden. Und es stand womöglich keiner der Stühle in seiner Nähe. Dann kann er auch von ihnen nicht abgesprungen sein.“

Eduard verstand sofort. Francesca war sehr genau. Und zu allen Beobachtungen kamen noch der dicke dunkelrote Fleck auf dem Mühlstein und die angeklebten Haare am Hinterkopf des Toten.

Eduard begann zu kombinieren: „Wenn er mit dem Hinterkopf auf den Mühlstein gefallen ist, vielleicht, weil ihn jemand gestoßen hat, dann könnte sich die Stelle am Kopf und der Fleck erklären.“

Francesca blickte sich im Raum um. Bis zu der Stelle, an dem der Tote gehangen hatte, war ein relativ weiter Weg.

„Gehen wir davon aus, dass es so war, wie du eben vermutest hast. Dann ist es ein hartes Stück Arbeit, einen Mann, der vielleicht bewusstlos ist, da oben hinzuhängen.“ Sie deutete auf den dicken Querbalken, an dem noch das Ende des Stricks hing.

„Vielleicht waren es ja mehrere?“ Eduard schritt die Entfernung ab. Es schien ihm ebenfalls nicht einfach, jemanden an den Balken zu hängen, unter dem er jetzt stand. „Ich würde zumindest eine Leiter brauchen.“

Francesca hatte jetzt ihr Handy gezückt: „Genug spekuliert. Ich rufe jetzt Dr. Phillipi an. Ohne ihn kommen wir hier nicht weiter.“

*

Martin rief vom Eingang der Mühle in den Raum: „Braucht ihr mich noch?“ Es klang, als hätte er es eilig.

Eduard ging zu ihm, drückte ihm die Hand und ermahnte ihn. „Sei so gut und setze mir keine Gerüchte in die Welt. Noch wissen wir gar nichts.“ Martin versprach es, wirkte dabei aber so, als müsste er jetzt unbedingt weg. „Vor einigen Minuten hatte er noch die Ruhe weg“, dachte Eduard.

„Hält der dicht?“, fragte Francesca, als sie ihm nachblickten. Eduard wiegte seinen Kopf: „Darauf würde ich nicht wetten.“

*

Dr. Phillipi war erstaunlich schnell. Aber er kam allein. „Wo sind denn Ihre Assistenten?“, fragte Francesca. Sie kannte den Gerichtsmediziner noch aus ihrer Zeit an der Polizeiakademie. Francesca fand es damals faszinierend, wie Dr. Phillipi anhand von kleinsten Spuren an einer Leiche Sachverhalte beschreiben konnte, die die letzten Minuten oder auch Stunden eines Menschen ausgemacht hatten. Dass der Mageninhalt und der Zustand seiner Verdauung Rückschlüsse zuließen, leuchtete auch Laien sofort ein. Dass aber kleinste Faserspuren, kleinste Hautverletzungen oder Partikel unter den Fingernägeln ganze Geschichten erzählen konnten, sodass sich die Ermittler ein Bild von dem Vorgang rund um einen Mord oder einen Unfall machen konnten, hatte Francesca tief beeindruckt. Umso mehr hatte es sie gefreut, dass sie Dr. Phillipi in Bozen wieder getroffen hatte1. Gemeinsam hatten sie und ihr Chef, Fabio Fameo, seither einige Fälle gelöst. Francesca zog daher bei Fällen wie diesem, der zwar wie ein Selbstmord aussah, aber Fragen aufwarf, gerne den erfahrenen Forensiker hinzu. Dr. Phillipi konnte Spuren lesen, wie kein Zweiter.

„Ich war zufällig in der Nähe“, antwortet Dr. Phillipi mit leiser Stimme und es war Francesca, als enthielt diese Antwort eine Information, die eigentlich nicht für sie bestimmt war. So als ob er hier in der Nähe nicht hätte sein sollen, sondern woanders. Möglicherweise in seinem Institut. „Meine Leute sind unterrichtet. Die kommen.“

Er blickte sich im Erdgeschoss der Stadtmühle um, betrachtete die auf dem Boden liegende Leiche, den abgeschnittenen Strick, die Schlinge, die neben der Leiche lag.

„Wer hat den Mann gefunden?“

Eduard sagte: „Martin Sagmeister, ein alter Bekannter von mir. Er hat uns gerufen, als er den Mann entdeckt hat.“

„Und wer hat den Mann abgenommen?“

„Das waren ein Feuerwehrmann und der örtliche Arzt, Dr. Steiner“, antwortete Francesca.

Phillipi seufzte: „Und wer war noch alles dabei?“

„Das halbe Dorf, so wie es aussieht.“ Eduard wusste jetzt, warum der Doktor geseufzt hatte. Francesca sah, wie der Doktor sich Einweghandschuhe überzog.

„Dann wollen wir mal“, sagte er und beugte sich über den Toten. Francesca beobachtet, wie er sich über den Kopf beugte, ihn hin und her wendete. Er betrachtete ausgiebig die Stelle, die Francesca aufgefallen war. Eduard und Francesca sahen einander an, sagten aber kein Wort. Dr. Phillipi hockte über dem Toten. Sein Blick ging jetzt zu dem abgeschnittenen Strick und dann auf die Schlinge, die zu seinen Füßen lag, schließlich wieder auf die bewusste Stelle am Kehlkopf. Dann stand er auf, blickte Francesca und dann Eduard an: „Ich glaube nicht, dass der Mann sich selber erhängt hat.“

*

Nachdem Dr. Phillipis Leute eingetroffen waren, hatte er Eduard und Francesca bedeutet, dass er vorerst beschäftigt sei und sie ihm bei seiner Arbeit nicht helfen konnten. Sie hatten ihn auf den dunklen Flecken auf dem alten Mühlstein hingewiesen, der jetzt durch eine Lichtbatterie, die Dr. Phillipis Assistenten aufgebaut hatten, taghell ausgeleuchtet war. Dr. Phillipi hatte sich Francescas Theorie angehört und vorsichtig genickt. „Kann sein“, hatte er gesagt. „Wir schauen uns das genauer an. Blöd nur, dass hier das halbe Dorf herumgetrampelt ist. Wenn dieser Mann durch einen anderen zu Tode gekommen ist, dann finden wir von dem jetzt nur noch schwer eine gute Spur.“

*

Eduard und Francesca wussten, dass sie in den nächsten Stunden am „Tatort“ oder dem Ort des Selbstmordes nichts ausrichten konnten. Deshalb folgten sie der Empfehlung von Martin, die er ihnen kurz bevor er verschwand, gegeben hatte.

Martin hatte ihnen den Weg zum Stadtcafé beschrieben. Einem kleinen Café auf der Florastraße. „Sagt Renate einfach, dass ich euch geschickt habe“, hatte er ihnen noch zugerufen. Und weg war er.

Das Stadtcafé fanden sie aufgrund von Martls Beschreibung sofort. Glurns war auch nicht so groß, dass man lange suchen musste. Der Eingang war etwas versteckt. Man musste durch einen Torbogen hindurchgehen. Das Café war wie ein Glaskubus, etwas tiefer als Straßenhöhe, unter das Gebäude gebaut. Von zwei Seiten sorgten bodentiefe Fensterfronten für helles Licht im Inneren. Der Eingang befand sich auf der Rückseite, wo ein hübsch und liebevoll dekorierter kleiner Innenhof als Terrasse für das Café diente. Auf der rechten Seite befanden sich drei runde Tische, die von hell bespannten runden Bänken umgeben waren. Auf der linken Seite standen dicht am Geländer zum Kellerabgang drei Stehtische mit jeweils zwei dazu passenden Hockern. Hocker dieser Art fanden sich auch vor der Theke, welche die Stirnseite des Cafés einnahm. Die in die Frontverkleidung der Theke eingelassenen Spiegel ließen das Café größer wirken, als es war. Neben dem Gläserregal gab es ein Fenster, durch das Passanten Eis im Hörnchen nach draußen gereicht werden konnte. Unter dem einzigen, recht kleinen Fenster, das zur Straßenseite zeigte, stand ein Kaffeeautomat, der zischend duftenden Espresso und Cappuccino abgab, als Eduard und Francesca das Stadtcafé betraten. Eduard hatte sofort den Plexiglaskasten links oben auf der Theke erspäht, in dem Croissants lagen. Er hatte noch nichts gefrühstückt. Neben dem Kasten lagen Zeitungen, zuoberst die deutsche BILD. In der Vitrine unter der Boulevardzeitung lagen Nussecken und anderes Gebäck, appetitlich anzusehen, aber für seinen Magen noch zu früh. Die leicht glänzend lackierte Decke reflektierte das Licht des frühen Tages und das Licht der indirekten Beleuchtung, die aus einem kühnen Wellenstrich floss. Damit wurde der Deckenanstrich schwungvoll geteilt, was den Raum breiter und nicht wie einen langen Schlauch wirken ließ.

Eduard, die Croissants im Blick und Hunger im Bauch, steuerte direkt auf die Theke zu, während Francesca in Ruhe die Menschen betrachtete, die zu dieser frühen Morgenstunde das Café bevölkerten. Hinter der Theke arbeitete eine dunkelhaarige Frau. „Wahrscheinlich die Inhaberin, Renate, die wir von Martin Sagmeister grüßen sollen“, überlegte sie.

Dann waren noch drei Männer und zwei Frauen im Café. Die Männer standen an der Theke und nahmen gerade jeder einen Kaffee entgegen. Die Frauen saßen an dem mittleren der drei Tische auf der rechten Seite. Die Leute hatten neugierig aufgesehen, als Francesca und Eduard das Café betreten hatten. Ein Indiz dafür, dass um diese Zeit niemand an diesen Ort kam, den nicht jeder der Anwesenden kannte. Aber als Eduard zielstrebig die Theke ansteuerte, die Frauen flüchtig und die Männer etwas intensiver in seinem Dialekt grüßte, nahm das Gespräch unter den Anwesenden wieder Fahrt auf.

„Das ist der Oberwind, sag ich euch. Und Vollmond ist auch wieder.“

„Du mit deinem Oberwind und dem Vollmond. So ein Quatsch! Deswegen bringt sich doch keiner um.“

„Und ob! Lies mal die Statistik vom Weißen Kreuz. Höchste Selbstmordrate gibt es bei dieser Konstellation. Und jetzt ist sie eben wieder da. Der Oberwind und der Vollmond.“

Ein anderer flocht ein: „Kann doch auch Liebeskummer gewesen sein, oder?“

„Wegen der Dunkelhaarigen? Habt ihr die mal gesehen? Die war nicht von hier. Vielleicht eine aus dem Osten.“

„Du hast die natürlich gesehen?“

„Ja klar. Musst halt die Augen überall haben.“

„Und was war das für eine?“

„So eine, wie sie jetzt häufig hier sind. Slowenien, Rumänien, Ungarn und wo die sonst noch herkommen. Hohe Wangenknochen. Daran kannst du sie erkennen.“

„Du bist wohl ein echter Kenner? Und was war mit der?“

„Weiß ich auch nicht. Aber die waren ein Paar. Das war klar. Ich habe sie nur ganz selten hier gesehen. Das letzte Mal vor vier, fünf Wochen vielleicht.“ Er machte eine Pause. „Wenn die sich getrennt haben, war es vielleicht Liebeskummer, warum der sich umgebracht hat.“

„Oder Schulden. Wegen Schulden bringen sich die Leute auch um“, mischte sich eine der Frauen ein. „Weiß einer von euch mehr? Hat der vielleicht die Miete nicht gezahlt?“

„Hör auf! Wegen nicht gezahlter Miete bringt sich doch keiner um. Aber mich würde schon interessieren, wovon der gelebt hat. Kommt hierher, mietet die Stadtmühle, bastelt ab und zu daran herum, ist nicht regelmäßig da und man weiß ja, was man von dem zu halten hat.“

Dann brachen plötzlich alle gemeinsam auf. Die Arbeit schien zu rufen. Eduard und Francesca waren mit der Wirtin allein. Sie hatten sich an den ersten Tisch rechts vom Eingang gesetzt. Eduard hatte für jeden ein Croissant geholt. Als die übrigen Gäste das Café verließen, hatte Eduard sein Gebäck schon verspeist. Er überlegte: „Wie hatte Martin gesagt, soll sie heißen?“ „Renate“, hatte er gesagt, „Sagt Renate, dass ich euch geschickt habe.“

„Du bist die Renate?“, fragte Eduard und die Wirtin schaute ihn daraufhin neugierig an. Sie mochte vielleicht Ende Dreißig sein. Ihr langes dunkles Haar, das, durch einen Mittelscheitel geteilt, offen fiel, verlieh ihr ein an eine Indianerin erinnerndes Aussehen. Zumal ihre Haut dunkel war und ihre Augen wie braune Mandeln aussahen.

Renate reagierte mit der Routine der erfahrenen Wirtin. „Der junge Mann wird schon damit herausrücken, woher er meinen Namen kennt“, dachte sie.

Sie nickte. „Ja, ich bin die Renate.“

Eduard stand auf und ging die wenigen Schritte bis zur Theke. Er schickte sich an, seinen Dienstausweis zu zücken, und sagte: „Der Martin hat uns dein Café empfohlen.“ Er zeigte ihr seinen Ausweis.

Renate schaute gar nicht richtig hin. Sie wusste einfach.

„Martin? Ja der ist nett.“ Und nach einer kleinen Pause. „Kann ich was für euch tun?“ Dabei blickte sie Eduard und Francesca abwechselnd an.

Eduard nickte: „Wir sind wegen des Selbstmordes in der Stadtmühle gerufen worden. Der war ja gerade schon Gesprächsthema. Wir müssen noch warten, bis sie die Leiche abholen. Und Martin meinte, dass wir hier vielleicht mehr über den Toten erfahren können. So ein Café ist immer ein Platz, an dem Informationen ausgetauscht werden. Und wenn ich an die Unterhaltung der Gäste denke, die soeben gegangen sind, dann hat sich das einmal mehr bestätigt.“ Er blickte Renate jetzt direkt in die Augen: „Kannst du uns mehr über den Toten sagen? Ganz ehrlich, wir sind uns nicht einmal sicher, ob wir seinen richtigen Namen kennen.“

Renate hatte, als Eduard sprach, zwei Kaffee durch die Maschine laufen lassen und brachte sie jetzt an den Tisch von Eduard und Francesca. „Die gehen aufs Haus“, sagte sie und setzte sich zu ihnen an den kleinen Tisch.

„Ich weiß auch nicht viel über Michael Federspiel. Das war sein Name. Er hat bei mir ab und zu einen Kaffee getrunken und ein wenig geredet. Aber nie viel.“

Die Tür ging auf und eine dunkelhaarige Frau mit modischer Kurzhaarfrisur stürmte in das Café. „Hoi, Renate“, rief sie, „mach mir schnell bitte einen Kaffee, bin spät dran.“ Ihre grünen Augen blitzten auf, als sie Eduard sah: „Dich kenn ich doch! Du warst doch schon mal hier. Wart. Lass mich nachdenken.“ Sie zog die Stirn kraus. „Sealamorkt, vor drei, vier Jahren? Richtig?“

Und als Eduard nickte, grinste sie. Und dann fiel ihr Blick auf Francesca. Ihre Miene wurde sofort wieder neutral. Eduard stand auf und gab der dunkelhaarigen Frau die Hand: „Ich habe kein gutes Namensgedächtnis“, entschuldigte er sich.

„Isabella. Ich bin die Isabella. Na, ist ja auch schon einige Zeit her. Und wenn ich mich recht erinnere, hatten wir“, sie zog das Wort ‚wir‘ etwas übertrieben in die Länge, „auch nur wenig miteinander zu tun.“ Eduard fielen jetzt auch wieder die Einzelheiten ein, die er und Martin damals am „Sealamorkt“ erlebt hatten. Isabella war eine der Frauen aus der Clique gewesen, mit der sie damals so viel Spaß hatten. Allerdings war Eduard einer blonden Frau näher gekommen. Das war eben lange her. Aber wie es schien, vergaß man hier nichts.

„Was machst du hier?“, fragte Isabella und setze sich zu Francesca an den Tisch, als Eduard sie dazu mit einer Handbewegung eingeladen hatte. Renate brachte währenddessen einen Kaffee für Isabella und nahm ebenfalls am Tisch Platz.

„Das ist meine Kollegin Francesca“, stellte Eduard Isabella seine Begleitung vor. „Sie ist Commissaria“, ergänzte er. „Wir sind hier wegen des Selbstmordes. Hast du schon davon gehört?“

Isabella nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Klar, das geht hier schnell. Ich wohne ja schließlich hier.“

Eduard wandte sich an Renate und Isabella: „Was wisst ihr über Michael Federspiel? Könnte ihr uns etwas über ihn erzählen?“

Isabella blickte kurz zu Renate.

Renate sagte: „Isabellas Büro ist schräg gegenüber. Sie arbeitet für die Verwaltung des Nationalparks. Sie hat etwas gehört, das vielleicht interessant ist.“

Und weil Eduard sie fragend anblickte, ergänzte sie: „Isabella und ich sind seit Jahren befreundet.“ Und zu Isabella gewandt fügte sie noch hinzu: „Isabella, erzähl doch, was du für einen Eindruck gewonnen hast.“

Isabella erzählte, dass sie wegen ihrer Aufgaben bei der Nationalparkverwaltung auch mit den Jagdaufsehern zu tun habe. Einer der bereits pensionierten Aufseher komme regelmäßig und immer noch gerne vorbei, um mit ihr zu ratschen.

„Der kam eines Tages hereingestürmt und war ganz aufgeregt. Er hatte wohl den Michael Federspiel hier im Stadtcafé gesehen. Er wurde ganz wild, als er erfahren hat, dass Michael Federspiel die Stadtmühle gemietet hat. Er erzählte mir, dass er Michael als kleines Bürschchen beim Wildern ertappt hat. Soll ein extremer Bengel gewesen sein. Nichts war dem heilig gewesen, hat der Aufseher erzählt. Er war damals froh, dass ihn seine Eltern zu Leuten nach Österreich gegeben haben. Sonst wäre der mit Sicherheit im Stadtgefängnis gelandet.“

Renate ergänzte: „Der alte Jagdaufseher war dann auch bei mir. Der kommt immer hierher, nachdem er bei Isabella war, um seinen Kaffee zu trinken. Mir hat er erzählt, dass Michael Federspiel einen Zwillingsbruder haben soll. Der sei anders gewesen. Nicht so ein Wildfang.“

Eduard fragte: „Lebt der Bruder hier irgendwo? Gibt es weitere Angehörige? Leben die Eltern noch?“

Renate schüttelte ihren Kopf: Das weiß ich nicht. Er hat mir einmal erzählt, dass seine Familie aus Mals stammt. Vielleicht erfahrt ihr dort mehr. Der Bruder soll bei der GEOS2 arbeiten.“

„Und wie war das mit seiner Freundin? Ich habe gehört, dass er eine Freundin gehabt haben soll. Deine Gäste haben auch darüber gesprochen, dass er eine dunkelhaarige Freundin hatte. Möglicherweise aus Osteuropa.“ Eduard schaute Renate an.

Isabella meldete sich: „Ich habe einmal neben ihm an der Theke gestanden. Er hat mir damals erzählt, dass er mit seinem Mädchen hierher ziehen wolle. Wo die herkommt, weiß ich nicht. Er hat aber richtig glücklich ausgesehen, als er von ihr sprach. Sonst war er eher der ernste Typ.“

Renate ergänzte: „ Angenehm war er. Er stand gerne an der Theke. Trank seinen Kaffee und ging wieder. Oft hatte er noch Staub auf seinen Sachen, denn er werkelte in der Mühle. Ist ja eigentlich kein Haus, in dem man wohnen kann. Ich meine, da stehen noch all die Gerätschaften, die der Müller gebraucht hat, als die Mühle noch in Betrieb war. Das ist sicher viel Arbeit, die Mühle für Wohnzwecke herzurichten.“

„Seit wann kennt ihr Michael Federspiel denn?“

Renate überlegte.

„Lange ist der noch nicht hier gewesen. Vielleicht drei Monate?“

Isabella nickte zustimmend.

Francesca fragte: „Und was hältst du von den Theorien deiner Gäste, warum sich Michael Federspiel umgebracht haben soll? Was gab es da? Oberwind, Vollmond, Liebeskummer, Schulden?“

Renate zuckte mit den Schultern. „Da bin ich ratlos. Ich weiß nicht, warum sich Menschen das Leben nehmen. Aber bei Michael Federspiel habe ich jedenfalls keine Anzeichen dafür feststellen können, dass er lebensmüde war. Er wirkte völlig normal, nie niedergeschlagen oder depressiv. Im Gegenteil. Als er das letzte Mal bei mir war, da fand ich, hat er richtig gute Laune gehabt.“

Isabella ergänzte: „Mir hat er erzählt, dass er jetzt bald das Geld zusammen habe, um die Stadtmühle zu renovieren. Spricht einer so, der sich umbringen will?“

„Wisst ihr denn, was er beruflich gemacht hat?“

„Davon hat er nie erzählt. In Glurns hat der jedenfalls nicht gearbeitet. Das wüsste ich.“

„In Glurns weiß jeder alles über jeden?“

„Wir sind hier nicht so viele. Gut 900. Hier kennt jeder jeden.“ Renate lachte. „Aber es wird nur untereinander getratscht. Fremden“, sie schaute abwechselnd von Francesca zu Eduard, „Fremden erzählt man nichts.“

„Und Polizisten fallen unter die Kategorie ‚Fremde‘?“

„Mit Sicherheit!“ Renate lächelte leicht.

*

Auf dem Weg zurück zur Stadtmühle kam ihnen „Mourl“ entgegen. Er blieb stehen, als er sie sah und blickte sie traurig an.

„Was weißt du?“ fragte ihn Francesca. Der Hund drehte seinen Kopf, hielt ihn schräg. Es sah so aus, als verstünde er die Frage. „Was hast du gesehen? „Mourl“ gab einen leisen Laut von sich, der an ein unterdrücktes Hüsteln erinnerte. „Wenn du was weißt, zeig es uns!“ „Mourl“ blickte Francesca daraufhin intensiv an, öffnete seine Augen, die vorher nur Schlitze waren und stieß ein heiseres Bellen aus. Dann trottete er davon.

Eduard schmunzelte: „Was du alles auf der Akademie gelernt hast! Hunde vernehmen, aber richtig!“

Francesca ging weiter. Eduard hörte sie sagen: „Auch ein Hund kann ein Zeuge sein. Du musst als Polizist alle Erkenntnisse auswerten. Und der Hund hat uns den Stein gezeigt, schon vergessen?“

*

Dr. Phillipi war mit seiner Arbeit fertig.

„Wir bringen den Toten jetzt ins Institut. Ich melde mich sofort, wenn ich fertig bin. Aber ich kann jetzt schon sagen, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Hinterkopf auf den Mühlstein geschlagen ist. Ob das den Tod herbeigeführt hat, weiß ich noch nicht. Ob er gestoßen worden ist, ob er gefallen ist, weiß ich auch noch nicht. Wichtig wäre es zu wissen, ob einer der Stühle oder ein anderer Gegenstand unter der Leiche gestanden war, als man ihn gefunden hat. Wenn nicht, kann er sich unmöglich selber aufgehängt haben. Dann ist es wahrscheinlich, dass ihn jemand dorthin gehängt hat. Mehr kann ich erst nach der Obduktion sagen. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber Selbstmord halte ich für nahezu ausgeschlossen. Da muss noch jemand beteiligt gewesen sein. Wie auch immer. Ich habe Ihnen alles, was wir gefunden haben, in diese Tüten verpacken lassen.“ Er zeigte auf einen kleinen Tisch, auf dem einige durchsichtige Plastiktüten lagen.

„War nicht viel was wir gefunden haben.“

Francesca und Eduard betrachteten die magere Ausbeute. Da waren einige Papiere, eine Skizze war zu erkennen. Auf den ersten Blick nichts Wichtiges.

„Wichtig ist vielleicht, dass diese Papiere“, Dr. Phillipi zeigte auf eine bestimmte Tüte, „wirklich gut versteckt waren. Die lagen nicht herum, wie die anderen Sachen. Diese Papiere waren in einem der Zylinderkästen auf der ersten Etage versteckt. Wir haben sie nur gefunden, weil dort die Staubschicht anders war als sonst im Raum. Derjenige, der das Papier versteckt hat, hat sich große Mühe gegeben, dass man es nicht findet. Das ist sicher.“

Francesca schaute sich das Papier an. Es zeigte eine Art Landkarte, in der bestimmte Felder mit Kreuzchen markiert waren.

1 „Liebe macht zornesblind“, „Wie du mir so er dir“

2 GEOS ist die Genossenschaft der Obsterzeuger Schlanders, ein großer Betrieb, der die Ernte lagert und vermarktet.