Tor Åge Bringsværd
ODER:
SLEEPING BEAUTY IN THE VALLEY
OF THE WILD, WILD PIGS
Deutsche Erstausgabe
© 2008 by ONKEL & ONKEL, Berlin
Titel der norwegischen Originalausgabe: Pudder? Pudder!
eller: Sleeping Beauty in the Valley of the Wild, Wild Pigs
© 2001 by Gyldendal Norsk Forlag AS
Alle Rechte vorbehalten.
All rights reserved.
Übersetzung: Volker Oppmann
mit special thanks to Prof. Dr. Heiko Uecker
Lektorat: Marcel Diel und Sandra Gebauer
Korrektorat: Christel Dobenecker
Gestaltung: Alexander Rübsam
unter Verwendung einer Illustration von Tobias Röttger
Gesetzt aus der Custodia
ISBN 978-3-940029-15-7
eISBN 978-3-943945-01-0
www.onkelundonkel.com
»I just put my feet in the air and move them around.«
FRED ASTAIRE
Wieso sich mit Kleinigkeiten aufhalten?
Wieso sich darüber ärgern?
Die Welt besteht aus Kleinigkeiten.
Es handelt sich einzig und allein um Puder.
»Er behauptet, dass nichts Empirisches erkannt werden könne.
Ich bat ihn, zumindest einzugestehen, dass sich kein Nashorn
im Wohnzimmer befinde, aber er weigerte sich.«
BERTRAND RUSSELL
über Ludwig Wittgenstein
(aus: Ray Monk, Bertrand Russell: The Spirit of Solitude, 1996)
Ich sah sie sofort, als ich in den Speisewagen kam. Sie saß alleine an einem der schmalen Fenstertische. Aber weder ihr langer Hals noch ihr signalrotes Haar erregten meine Aufmerksamkeit – es war das Buch, das sie las. Ich konnte nicht sehen, wie es hieß, aber auf dem Umschlag prangte das altmodische Bild einer nackten Frau, die, von einem Schwarm fettabsaugender Schmetterlinge verfolgt, über eine Blumenwiese lief. Solche Bücher bekommt man hier in der Gegend. Wenn man die richtigen Leute kennt.
Ich bestellte braunes Labskaus.
Wir fuhren am Dom von Oslo und dem Parlament vorbei. Die Bürgersteige an der Karl-Johans-Gate waren voller Kinder, die uns zuwinkten. Es war Frühsommer und die kleinen Mädchen hatten kurze Röcke und nackte Beine. Viele Fahrgäste winkten zurück.
»Machen Sie diese Tour öfter?«, hätte ich beispielsweise zu ihr sagen können.
Ich selbst komme so oft hierher, wie ich Gelegenheit dazu habe. Ich meine: Es ist ja nicht gerade billig.
Zum Labskaus empfehlen wir den Roten, sagte der Kellner. Er war schwarz gekleidet und hatte ein schmutziges Handtuch über dem linken Arm. Er benutzte es, um das Tischtuch abzufegen, das weiß war – bis auf eine Ecke, in die ein für die Zeit typisches braunes Loch hineingesengt war. Der Aschenbecher war voller Zigarettenstummel. Die meisten mit Filter. Aber ich bemerkte auch ein paar Selbstgedrehte. Auf solche Details kommt es an.
Es war ihr Interesse für Bücher – für Literatur –, das mich fesselte. Und ihr langer Hals. Weich und geschmeidig wie der eines Schwans. Eine amüsante Mode. Auf der Arbeit haben wir auch ein paar Mädchen. Aber man braucht Mut, so herumzulaufen.
Ein großer Elch lief ein Stück des Wegs neben uns her.
Ein paar japanische Touristen saßen da und gestikulierten mit einer großen Karte, die sie zwischen sich ausgebreitet hatten. Ich fragte den Kellner, ob die auch dazugehörten, aber er zuckte nur mit den Schultern.
Als wir dreimal am Holmenkollen vorbeigefahren waren, stieg ich aus. Ich meine: Es gibt Grenzen, wie oft man sich eine Skisprungschanze ansehen kann. Und zwar ungeachtet dessen, wie alt sie ist. Natürlich wäre es lustig gewesen, wenn Winter gewesen wäre – jedenfalls einmal –, aber man kann ja nicht alles haben.
Wenn man von Mulla mal absieht, bin ich, soweit ich mich erinnere, nie an jemandem interessiert gewesen (wenn ich das so sagen darf). Aber Mulla und ich … wir kennen uns schon fast ewig – jedenfalls schon lange, bevor sie in der Designabteilung angefangen hat. Jeden Mittwoch kommt sie vorbei und legt sich zu mir auf den Diwan. Manchmal unterhalten wir uns, und manchmal sagen wir kein einziges Wort. Manchmal ziehen wir uns aus. Manchmal kommt das aufs Gleiche raus. Aber jedes Mal essen wir Krabbenbutterbrote. Was ich an Mulla am meisten mag – abgesehen von allem zusammen –, ist ihre linke Brust. Ich glaube, ich könnte niemals müde werden, mit ihr zu spielen. Mullas linke Brust ist wie ein welker Ballon. Alle anderen (abgesehen von den Naturfreaks und den Graulingen, nicht wahr, ich meine: alle anderen) hätten etwas damit machen lassen. Sie aufgeblasen. Aufgefüllt. Einen Termin in der ZENTRALE gemacht. Oder sich ein Do-it-yourself-Paket gekauft. Aber nicht Mulla. Sie ist die einzige, die ich kenne, die niemals etwas hat richten lassen. Sie ist zum Beispiel immer ein Mädchen gewesen. Und in der letzten Zeit hat sie sogar Falten bekommen. Es ist schon seltsam, aber in gewisser Weise steht ihr das.
Ich dachte an Mulla. Und ich dachte an unsere Krabbenbutterbrote. Die natürlich keine Krabbenbutterbrote sind. Nur etwas, was danach aussieht.
Jetzt aber starrte ich die andere an. Die struppige rote Mähne. Ihren wahnwitzig langen und schlanken Hals. Ich war mir sicher, dass sie den Kopf einziehen musste, wenn sie aufstand, um sich nicht an der Decke zu stoßen. Und Mulla und ich sind schließlich nur gute Freunde.
Sie stieg am Rathaus aus. Und genau in diesem Moment (siehe oben) verlor ich also (sicher nicht ganz zufällig, das gebe ich zu) mein Interesse an Skisprungschanzen. Ich meine: Eigentlich habe ich das alles ja schon mal gesehen. Also ging ich ihr nach. Ich meine: Es war mein freier Tag, oder etwa nicht? Ich konnte tun und lassen, was ich wollte.
Und ich hatte bereits angefangen, mir auszumalen, dass wir zwei Personen in einem Buch wären.
»Wovon handelt es denn?«, hätte sie mich fragen können.
Das Buch handelt davon, dass wir alle eigentlich eine Herde wilder Schweine sind, die aus ihrem Stall auf dem Planeten BX 314 ausgebüchst ist (– hätte ich geantwortet). Jetzt sind wir also hier gelandet. Auf der Erde. Und die meisten von uns können sich nicht an das Geringste erinnern.
Aber wir wechselten kein einziges Wort. Weder auf der Festung noch im Heimatmuseum. Wir trotteten einfach hintereinander her. Oder saßen ein paar Bänke voneinander entfernt. Und ich glaube, dass sie mich nicht einmal bemerkte.
Wir erinnern uns nicht daran? (– könnte sie gesagt und beide Hände vors Gesicht geschlagen haben.) Gar nicht so verwunderlich (– hätte ich geantwortet). Das war schließlich nicht gerade gestern oder erst neulich, sondern vor ca. drei Millionen Jahren. Und das ist schon eine ganze Weile. Also ist es nur zu verständlich, dass die Menschheit protestiert, wenn die Zik-Zaks auftauchen und versuchen, uns wieder einzufangen.
Sie nahm den Ausgang gleich hinter dem Hauptbahnhof, was ich als gutes Zeichen deutete. Diesen Ausgang mag ich nämlich auch am liebsten. Aber hier verlor ich sie aus den Augen.
»Every day we asked: Who are we and what are
we doing here? And he would say: We’re not quite sure,
but let’s get through these scenes today,
and we’ll let you know tomorrow.«
INGRID BERGMAN
Nach draußen zu kommen ist jedesmal eine ganz schöne Umstellung. Mal ganz davon abgesehen, dass es Zeit braucht, durch die Kontrollen zu kommen. Einmal wurde ich sogar gebeten, mich komplett auszuziehen. Ich glaube, sie haben eine Heidenangst davor, dass man etwas mitnehmen könnte. An und für sich kann ich das ja gut verstehen. Fair enough. Ich meine: Wenn alle Besucher von ALTE ZEITEN sich ein kleines Stück mitnehmen würden, wäre bald nichts mehr von ALTE ZEITEN übrig.
Fredri lacht mich aus, wenn ich so etwas sage. Er sagt, dass das Ganze eh nur eine Riesenverarsche ist. Gibt nicht ein echtes Ding da drin, sagt er. Nur Kopien. Und noch dazu ziemlich schlechte.
Aber ich will das nicht glauben. Ich habe längst beschlossen, nur das zu glauben, was ich möchte.
Als ich klein war, haben mich meine Eltern nach Huk mitgenommen. Wir haben gebadet und uns gesonnt. Und es war andauernd schönes Wetter.
Wie auch jetzt. An den Badestränden in ALTE ZEITEN ist immer schönes Wetter. Ich meine: Niemand hat Lust, für Regenwetter zu bezahlen.
Fredri fühlt sich vor einem Bildschirm am wohlsten. Groß oder klein. Völlig egal. Solange nur etwas leuchtet oder blinkt. Er gibt es zwar nicht zu, aber ich weiß, dass er auf eine neue Brille spart. Vermutlich würden ihn auch Kontaktlinsen reizen. Du blinzelst einfach zweimal – und schon bist du online. Aber die Operation macht ihm Angst. Und dass sie für nichts garantieren können. Ich meine: Man hat schließlich schon von Leuten gehört, die abgestürzt sind. Ein Kerl, den ich von der Arbeit her kenne, hatte einen Schwager, der danach nur noch menschliches Gemüse war. Also thanks for sharing – mir reicht der alte Helm völlig. Auch wenn er nicht mehr upgedatet wird. Und alle Programme so langsam und ruckelig laufen, dass es oh my god ist. Aber ich meine: Ich verwende immer weniger Zeit auf so etwas. Eigentlich fahre ich total auf Papier ab (wenn ich das so sagen darf). Ich glaube, die besten Träume sind die gedruckten. Auf rechteckigen Seiten, wo immer das Gleiche steht, nichts überschrieben werden kann und es kein Verfallsdatum gibt. Kaum zu überhören, wo du arbeitest, sagt Fredri. Und damit könnte er Recht haben.
Ich erinnere mich, dass Vater mir das Schwimmen beigebracht hat. Und einmal haben wir gemeinsam einen Ameisenhügel in Stücke getreten.
Die Zik-Zaks – ich entschließe mich, den ersten Namen beizubehalten, der mir eingefallen ist, ich meine: Ein Name ist genauso gut wie der andere, denn so, wie sie selbst meinen, dass sie heißen, ist es für uns Menschen ohnehin gänzlich unmöglich auszusprechen. Es hört sich einfach an wie ein Luftzug, gefolgt von zwei kleinen Schnalzern mit der Zunge und einem langen Reibelaut, so wie wenn man mit dem Finger über einen aufgeblasenen Luftballon streicht. Vielleicht können wir es auch schlicht und ergreifend deshalb nicht aussprechen (dieser Gedanke ist mir gerade erst in den Sinn gekommen!), weil wir dieses Geräusch furchtbar finden – denn das tun wir doch, oder? Vielleicht haben wir tatsächlich noch eine kollektive – wenn auch unterbewusste – Erinnerung an die Zeit, als wir noch in unseren Ställen auf BX 314 herumliefen und grunzten?
Läufst du die ganze Zeit durch die Gegend und denkst dir solche Geschichten aus? – hätte sie beispielsweise fragen können. (Ich meine die Dame mit den roten Haaren und dem langen Hals.) Und ich hätte genickt. Aber dort, wo ich arbeite, habe ich keine Verwendung für sie. Sie verkaufen sich nicht. So scheint es zumindest. Und es ist der Markt, der bestimmt.
Die Zik-Zaks sehen auf unsere Städte ungefähr so wie wir Menschen auf Ameisenhügel. Zum Beispiel. Oder Wespennester. Ja. Wespennester sind sicher besser. Ich meine: Vielleicht sind wir gar keine entlaufenen Schweine, sondern eher mit einem Schwarm entflogener Bienen zu vergleichen? Und die armen Zik-Zaks haben die letzten drei Millionen Jahre keinen Honig für ihre Milch gehabt.
In ALTE ZEITEN hätte ich von solchen Geschichten leben können. Dort drinnen mögen sie diese Art von Büchern. Sie verwenden Papier für alles Mögliche. Und auf den Umschlägen sind Standfotos: Nichts verändert sich oder läuft durch die Gegend. Die Bilder springen dir nicht ins Auge und versuchen, dir dieses oder jenes zu verkaufen. Ich habe herausgefunden, dass viele der Umschläge sogar zu erzählen versuchen, um was es in dem Buch geht! So ist das in ALTE ZEITEN.
»Aber du würdest da doch wohl nicht wohnen wollen?« Es ist Fredri, der sich einmischt.
»Wieso nicht?«
Bevor ich mich schlafen lege, denke ich wieder an den langhalsigen Rotschopf. Ich glaube, es ist an der Zeit, ihr einen Namen zu geben. Leda, zum Beispiel. Gute Nacht, Leda, sage ich. Gute Nacht, P, sagt sie. (Ich mag es, so zu tun, als sei ich lediglich ein Buchstabe.)
Das Zimmer, in dem ich wohne, ist vier mal vier Meter groß. Wenn ich den Helm aufsetze, wird es natürlich größer. Mit dem Helm und einem guten Programm (das ich nicht habe) kann ich mein Zimmer so groß machen, wie ich will. Fredri sagt, dass er normalerweise an einem Palmenstrand lebt. Und ich weiß, dass Mulla manchmal in einem Wolkenkratzer und manchmal auf einem Kreuzfahrtschiff wohnt. Ich selbst wohne am liebsten in einem Reihenhaus in Svartskog, gleich am Bunnefjord, und zwar vor langer Zeit. Aber normalerweise sitze ich ohne Helm hier. Ich benutze ihn nur, wenn ich schlecht einschlafen kann.
»Es hatte die Wirkung, die gemeiniglich gute Bücher haben.
Es machte die Einfältigen einfältiger, die Klugen klüger, und die übrigen Tausende blieben ungeändert.«
GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG
Dies ist ein Tagebuch. Ich meine: Von allem, was ich jemals geschrieben habe, ist dies dasjenige, was einem Tagebuch am nächsten kommt. Aber ich schreibe es nicht für mich. Das würde keinen Sinn machen. Nein. Ich schreibe es für Leda. Und ich schreibe es für die Zik-Zaks. Sie glauben, dass wir wilde Schweine (oder Wespen) sind. Nun gut. Vielleicht kann ich sie dazu bringen, ihre Meinung zu ändern? Es ist zumindest einen Versuch wert.
Ich heiße P und arbeite als Handlungsskizzierer bei SYMPOSIUM. Wir stellen »Bücher« her. Die Anführungszeichen machen deutlich, was ich davon halte. Ich werde vom einen zum anderen springen. So wie wir es immer tun, wenn wir den Mund aufmachen. Vom Denken ganz zu schweigen. Und so, wie wir unsere Bücher schreiben sollten. Meiner Meinung nach. Anstelle all dieser krampfhaften Bemühungen um Figuren aus einem Guss mit nachvollziehbaren Beweggründen für jede noch so kleine Sache – und einer wohlgeordneten Handlung von A nach B. Das Leben ist nicht so. Darüber sprechen wir oft, Mulla und ich.
Ich brauche eine Stunde bis zur Arbeit. Im Keller auf der anderen Straßenseite ist eine Haltestelle. Der Selbstbedienungsladen liegt im gleichen Haus. Hier bekommen wir das Allernötigste. Alles von Sojasimulaten bis hin zu Schweineflügeln. (Für speziellere Dinge müssen wir natürlich woandershin.)
Habe ich gesagt, dass ich alleine lebe? Nun gut. Der einzige Nachbar, mit dem ich Kontakt habe, ist Fredri (genau gegenüber). Wir waren einmal ein Liebespaar, sagt er. Aber daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Thank god.
Im Treppenhaus riecht es nach Fisch. Der Müllwagen kommt nur einmal im Monat. Und der Asphalt auf dem Gehsteig hat lange Risse, aus denen Gras wächst.
Meine anderen Nachbarn sehen nur das, was sie sehen wollen. Und das ist etwas völlig anderes. Ich meine: Sie laufen sozusagen ständig mit Helm und Brille herum. Ich verstehe nicht, wie sie im Verkehr klarkommen. Ich verstehe auch nicht, wie sie sich das leisten können. Aber so ist es eben. Ni hao – murmeln wir, im Aufzug oder auf dem Weg zur Bahn (das ist momentan die übliche Begrüßung). Aber mehr haben wir einander nicht zu sagen.
Vielleicht liegt es am Altersunterschied. Ich glaube nämlich, dass ich älter bin als die meisten hier im Block. Nicht, dass man mir das ansehen würde. In unserer Welt sieht man so etwas nicht. Ich meine: Ich habe das Meiste ausgewechselt. Wenn ich das so sagen kann. Mulla zum Beispiel ist nur halb so alt wie ich. Auch wenn sie Falten und Cellulite an den Beinen hat.
Ich wurde zu einer Zeit geboren, als alle Welt noch in Baseballcaps und Jeans herumlief. Wir müssen immer lachen, wenn wir uns die alten Bilder anschauen. »Stell dir nur mal vor, wie komisch wir ausgesehen haben«, sagt Mama. Auch wenn sie natürlich nicht mehr lebt. Aber ich habe sie in der VR. In einer Datei, die rauscht und springt. Ab und zu sprechen wir auch asynchron miteinander. Trotzdem gehe ich ziemlich oft da rein. Wir sitzen zuhause – nur wir beide – auf einem blaugestreiften Sofa. Mama hat die Haare zu einem schneckenhausähnlichen Dutt hochgesteckt, und ich selbst bin ein kleines Mädchen von zehn, elf Jahren.
Wie viele andere Digis ich habe? Nicht viele. Abgesehen von dem mit dem Reihenhaus in Svartskog habe ich einen kurzen Schnipsel von einer Fähre in Dänemark und ein etwas längeres Stück von einem Klassenfest am Institut. Mulla hat sich angeboten, sie aufzumöbeln und mit anderen Sequenzen zu remixen. Ich meine: So, dass sie eine Weile dauern. Mit ihrer neuen Ausrüstung wäre es beispielsweise ein Leichtes, ein Gespräch bis ins Unendliche zu verlängern. Ich meine: Mamas Stimme ist ja schon da. Mulla sagt, dass sie Mama dazu bringen kann, alles Mögliche zu machen. Und zwar viel besser, als sie es noch vor einem Jahr konnten. Denn es geht immer vorwärts. Ihnen fällt immer etwas Neues ein. Ja, sage ich – und streichle ihre welke Milchbrötchenbrust. Sie denken sich immer wieder was Neues aus. Aber mir reicht es völlig, wenn es einfach nur in Schleife läuft.
Das Haus, in dem wir wohnen, hat viel zu viele Etagen. (So ist das mit allen Blöcken hier in Brandstad.) Und wenn ich versuche, aus dem Fenster zu sehen, sehe ich nur die blauschimmernden Vierecke auf der anderen Straßenseite. Einmal hab ich auch versucht, eine Aussicht einzulegen – hatte sie aber schnell satt. Ich meine: Wenn du weißt, dass dein gesamtes Fenster einfach nur ein Bildschirm ist und du zwischen den Jahreszeiten vor- und zurückspulen kannst, musst du schon ganz schön dämlich sein, um Freude daran zu haben. Außerdem waren die Farben schlecht. Und die Geräusche machten mich wahnsinnig. Vogelgezwitscher und Kühe. Kommt daher, weil du viel zu geizig bist, sagt Fredri. Du musst in was Ordentliches investieren, nicht immer alles nur in Billigläden kaufen. Aber ich meine: Wenn ich etwas anderes will als das Fenster, das ich habe, kann ich doch genauso gut in die VR gehen und alles verändern, oder nicht? Ich meine: In ein Reihenhaus in Svartskog umziehen, zum Beispiel.
Wo BX 314 ist? (Wir waren uns einig darüber, dass die Zik-Zaks – und wir ausgebüchsten Schweine – dort zuhause waren, oder etwa nicht? Siehe oben!) Unter welcher unbekannten Sonne sich dieser schicksalhafte Planet dreht? Wir wissen es nicht. Wo die Raumschiffe sind, mit denen wir damals geflüchtet sind? Das wissen wir auch nicht. Vielleicht findet sich die Antwort in Ägypten … tief im warmen Wüstensand … in einem Schrein unter den Tatzen der großen Sphinx versteckt … oder in einem eingeschneiten Kloster in Tibet – auf dem Dach der Welt? Ich meine: Unsere fernen Vorfahren müssen doch wohl irgendeine heimliche Botschaft oder irgendeinen noch so kleinen Schlüssel hinterlassen haben? Etwas, das uns helfen und trösten kann? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass es eilt. Denn die grausamen Zik-Zaks haben uns aufgespürt. Ihre Spione sind mitten unter uns. Und die dunklen Schattenschiffe haben Pluto bereits passiert. Ich nehme Leda in die Arme. Sie lehnt sich an mich, hält mich umschlungen. Don’t cry, flüstert sie. Nicht weinen, P. Aber ich kann nichts dafür.
Ihr Kopf und ihr Hals schwanken wie eine Palme hoch über mir. Vielleicht singt sie. Ich meine: Wenn es ein Film und kein Buch wäre.
Lange Hälse, kurze Hälse. Die Jugend folgt allen möglichen biogenetischen Moden. In diesem Jahr ist es offensichtlich hip, groß und dünn zu sein. Letztes Jahr war es Mode, wie ein Picasso auszusehen. Das Problem ist natürlich, dass es oft völlig aussichtslos ist, einander wiederzuerkennen. Alte Freunde laufen auf der Straße direkt aneinander vorbei. So ist das heutzutage. An und für sich ist es also vielleicht gar nicht so verwunderlich, dass es immer mehr Naturfreaks und Graulinge gibt. Mehr davon später.
Andererseits: Ziehen wir die Zik-Zaks mit in Betracht, erscheint der ganze Aufwand mit kosmetischen Operationen, Transplantationen und Ersatzteilen im Gefrierschrank natürlich in einem ganz anderen Licht. Ich meine: Könnte für all das nicht schlicht und ergreifend die uralte und namenlose Furcht davor verantwortlich sein, wiedererkannt zu werden? Wir sind auf der Flucht. Was läge da näher, als sich zu maskieren – ein anderer zu werden? Das Ganze gründet, mit anderen Worten, in einem kollektiven (aber natürlich unterbewussten) Wunsch, sich zu verstecken – aus Angst, in den Stall zurückgezerrt zu werden (wenn wir also am Vergleich mit den Schweinen festhalten, was im Grunde das Einfachste ist).
Hier ist etwas, das bei mir an der Wand hängt. Geschrieben auf gewöhnlichem Papier, in einem Font, der an Plakatschrift erinnert. Festgeklebt am Vinyl. Ich habe es aus einer Zeitung in ALTE ZEITEN herausgescannt. Wäre niemals selbst auf so etwas gekommen. Es ist nämlich so gut, dass mir ganz schwindlig wird. Und hier kommt es:
Die Erzählung dominiert unsere Wirklichkeit. Die Anzahl sekundärer Erfahrungen ist größer denn je – die Erfahrungen, die wir kennen, ohne sie selbst physisch gemacht zu haben, die Erfahrungen, die uns die Fiktion vermittelt. Wir haben das Meiste bereits im Film, Fernsehen oder der vr gesehen, bevor wir es selbst erleben. Das sexuelle Debüt der Pubertät ist wie von einem Drehbuch diktiert. Alle haben zahlreiche »Morde« gesehen, aber die wenigsten einen wirklichen toten Körper. Wenn wir neuen Situationen begegnen, fangen die meisten Menschen unmittelbar an, wie Hauptpersonen eines Buches oder eines Films zu agieren. Diese Fiktionalisierung unseres Lebens ist ein Verteidigungsmechanismus. Wir distanzieren uns von neuen Situationen, die uns verunsichern, indem wir sie in einen bekannten Bezugsrahmen setzen, um so nicht mit der Angst konfrontiert zu werden, die mit ihnen verbunden sein könnte. Indem wir unser Leben zu einer Erzählung machen, wird der Schmerz gemindert – er wird ästhetisiert.
Verstehst du das? sagt Fredri. Nein, antworte ich. Nicht alles. Aber ich mag es. Ich wünschte, ich hätte das geschrieben. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du wieder ein Mädchen wirst, sagt Fredri – und schüttelt den Kopf.
»Ungowa!«
JOHNNY WEISSMÜLLER in Tarzans Sohn
Das Schlimmste am Mannsein ist, dass ich mich jeden Tag rasieren muss. Ich mag es nämlich, glatt zu sein. Haarlos und glatt am ganzen Körper. Und Männer haben fast überall Haare. Aber ich meine: Dann habe ich auch das versucht. Genauer gesagt: Ich habe es mehrmals versucht. Aber nie lange. Nicht mehr als ein paar Jahre auf einmal. Manchmal hilft mir Mulla den Kopf zu rasieren. Damit ich sicher sein kann, im Nacken alles wegzubekommen. Und sie schmiert mich mit Creme ein. Ich liege ganz still da und lasse ihre Hände über mich gleiten, vor und zurück. Sie sagt, sie mag es, wenn ich ein Mann bin.
Als was ich mich am ehesten fühle? Was ich am liebsten sein möchte? Das ist es, was zählt. Zum ersten Mal in der Geschichte können wir das sein, was wir sein wollen. Niemand muss mehr Opfer eines zufälligen Chromosomensprunges sein. Denn die Wissenschaft hat uns endlich befreit. Das lernen wir in der Schule. Wir lernen, dass wir, die wir gerade jetzt leben, Glück haben.
Ich schreibe das hier mit Bleistift. HB. So einem, wie sie immer noch in China hergestellt werden. Die aber niemand mehr importiert. Nur, dass dieser hier deutsch ist. Echter STEIFEL. Collector’s item. Aber es ist schon seltsam, was man alles auf dem Schwarzmarkt bekommt. Wenn man nur gut genug bezahlt. Wahrscheinlich wurde er herausgeschmuggelt. Das sollte zwar unmöglich sein, aber für Geld machen die Leute alles. Und in ALTE ZEITEN gibt es genügend Bleistifte. Kugelschreiber. Füllfederhalter. Buntstifte. Radiergummis. Ich habe sogar Tintenfässer und Löschpapier gesehen.
Auf der Arbeit verwenden wir Bildschirme und Autopiloten. Ich arbeite bei HANDLUNG. Schlage schnelle Entwürfe und kurze Resümees vor, die von anderen ausgeführt werden. Ich meine: Größtenteils erledigt der Rechner das für mich. Wir sind so eine Art Team. Ich bin der menschliche Faktor. Ich repräsentiere das Impulsive, das Unberechenbare, das gewisse Etwas. Ich bin dafür verantwortlich, dass nicht alles so save und vorhersehbar wird. Eigentlich kann ich mir also ausdenken, was ich will. Solange es sich nur um die Sehnsucht nach Liebe, Geld und Glück handelt, von denen wir glauben, sie im Alltag finden zu können. Aber ich meine: Junge trifft Mädchen. Mädchen trifft Jungen. Wie spannend kann das schon werden? Wie viele mögliche Variationen gibt es? Und genau in diesem Punkt sind die Maschine und ich in der Regel verschiedener Meinung. Und genau deshalb haben sie mich wahrscheinlich eingestellt. Sie mögen es, dass ich unseren Handlungsentwürfen (ich sage »unseren«) diesen kleinen Touch von Irrsinn gebe, der notwendig ist, damit das Ganze erst so richtig flutscht/läuft/das ausbügelt, was nicht passt. Bei SYMPOSIUM gelte ich als äußerst wichtiger Mitarbeiter. Auch wenn ich weiß, dass viele über mich lachen.
Als ich ein kleines Mädchen war. Das ist vielleicht der Satz, den ich am liebsten mag. Als ich ein kleines Mädchen war.
Fredri sagt, dass ich wankelmütig bin. Mulla sagt, ich bin süß.
Lasst uns Folgendes mal klarstellen: SYMPOSIUM ist natürlich nichts Besonderes. Es ist ein Verlag, der Bücher herausgibt, oder etwa nicht? Und Bücher waren noch nie so der Hit. Selbst wenn sie noch so viel von Liebe, Geld und Alltäglichkeiten handeln. Was ich damit sagen will: Es gibt schließlich noch so viel anderes, was das auch tut. Aber wir kommen zurecht. Und allein das ist fast schon unbegreiflich. Denn wir reden hier nicht von all diesen verkappten Computer-Dingern: Live-Bücher, Spielkarten, die dich bitten, eine Person deiner Wahl zu ziehen, oder zeitbegrenzte Hologramme mit spannender Fortsetzung. Wir reden hier von Büchern, die man auf- und wieder zuklappen muss. In denen man herumblättern kann. Und selbst lesen, mind you! Jedes Jahr gibt es jemanden, der prophezeit, dass sie verschwinden werden. Dass das Buch ausstirbt. Man sagt, dass es mit der Lesefähigkeit stetig bergab geht. Und da ist schon was dran: Im Verlag merken wir das ebenfalls. Deshalb kürzen wir in unseren Büchern gelegentlich auch ein paar Prozent des Wortschatzes.
Meiner Meinung nach sägen wir damit an unserem eigenen Ast. Aber diejenigen, die entscheiden, glauben offenbar etwas anderes. Sie nennen es: »notwendige Marktanpassung«. Manche meinen sogar, wir sollten auch eine Soundoption einbauen, wenn wir überleben wollten, so dass die Leute selbst entscheiden können, ob sie sich vorlesen lassen oder lieber selbst lesen möchten. Und dass wir natürlich weitaus mehr Bilder verwenden sollten. Aber das ist ein alter Hut. Und ich glaube: Der entscheidende Punkt, dass wir uns überhaupt über Wasser halten können, ist der, dass wir eben genau so sind, wie wir sind. Wir haben zwar wenige Kunden, dafür aber treue. Wir bieten ein Nischenprodukt an. Wir sollten niemals versuchen, etwas anderes zu machen. Deshalb sollten wir auch nirgendwo sonst Live-Bilder haben als auf dem Umschlag (am besten auch dort nicht!), wir sollten weiterhin Papier verwenden (yesss!) und wir sollten niemals mit Klappseiten aufhören.
Mulla sieht das genauso.
Mit ihr kann ich über alles reden.
Über den Rotschopf zum Beispiel, den ich Leda nenne und noch einmal wiedergesehen habe. Wieder in ALTE ZEITEN. Vielleicht arbeitet sie da, sagt Mulla. Aber das glaube ich nicht. Sie sah nämlich überhaupt nicht rehabilitiert aus. Diesmal habe ich sie in Aker Brygge getroffen. Sie saß einfach nur mit geschlossenen Augen da, ließ ihre nackten Beine von der Sonne bräunen und lauschte dem Möwengeschrei aus den Lautsprechern der Festung Akershus. Den ganzen Frühling und Sommer über. Hat sich bis weit in den Herbst hinein nicht bewegt. Die ganze Zeit stand ich da und verzehrte sie mit meinen Blicken. Aus sicherer Entfernung natürlich. Wo? fragt Mulla. An der alten Telefonzelle, antworte ich. Die, die drüben am Konzerthaus steht. Von der aus du über viertausend Nummern anrufen und lange Gespräche mit Leuten führen kannst, die es nicht gibt. Wieso traust du dich nicht, sie anzusprechen? Keine Ahnung, antworte ich. Ist einfach so. Aber ich bin ihr nachgegangen. Um uns herum wehte nun das Herbstlaub. Und noch bevor wir das Parlament erreichten, fiel der erste Schnee. Ich beobachtete, wie sie in ein Musikgeschäft ging und eine Bluse kaufte, die im Angebot war. Solche Dinge eben, die Mädchen gerne machen, wenn sie hier sind – obwohl sie wissen, dass sie am Ausgang alles wieder abgeben müssen (und dort auch ihr Geld zurückbekommen). Für viele ist aber genau das der einzige Zweck ihres Besuchs in ALTE ZEITEN – Shopping. Für andere sind es Fußballspiele. Wo hast du sie diesmal verloren? fragt Mulla. Am Eingang zur U-Bahn, antworte ich. Außerdem lief meine Zeitkarte gerade ab. Ich glaube, du bist verliebt, sagt Mulla. Ja, sage ich. Ewas in der Art. Wir waren in ihrem Wolkenkratzer. Saßen auf der Terrasse und betrachteten die Lichter Manhattans. Vielleicht war es auch Hong Kong.
Wieso ich nicht glaube, dass sie – ich spreche jetzt von Leda – dort arbeitet, d. h. in ALTE ZEITEN? Zunächst einmal sieht sie nicht rehabilitiert aus (wie gesagt). Und wir wissen ja, dass alle, die dort untergebracht sind, rehabilitiert werden. ALTE ZEITEN ist (etwas, was mich immer verwundert hat) kein Ort, wohin man sich auf eigene Faust versetzen lassen kann. Fredri sagt, dass er in ALTE ZEITEN einen Blumenverkäufer kennt, der Blumenverkäufer ihn aber nicht wiedererkennt. Ursprünglich war er Biochemiker oder so etwas.
Wie auch immer: Es ist eine gute und humane Art, mit Kriminellen zu verfahren. In ALTE ZEITEN richten sie keinen Schaden mehr an. Ganz im Gegenteil. Sie laufen auch nicht mehr frei herum. Und überhaupt: Nach dem Rehabilitationsprogramm wissen sie sowieso nichts mehr von einem anderen Leben. Das lernen wir in der Schule.
Mulla interessiert sich nicht so für ALTE ZEITEN wie ich. Sie ist nur ab und zu da. Nur wenn dort was Besonderes los ist, sagt sie. Ich weiß, dass sowohl Mulla als auch Fredri den Kopf über mich schütteln. (Fredri – da wir gerade von ihm sprechen – ist sozusagen nie dort. Er habe mit seinem Krempel schon genug zu tun, sagt er. Hier und jetzt – und etwas, woran man herumschrauben kann.) Keiner von beiden versteht, dass ich einen derartigen Drang nach etwas verspüren kann, was für sie lediglich ein nettes Unterhaltungsangebot und ein gewöhnlicher Freizeitpark ist – von einer Art zwar, von der wir hierzulande nichts Vergleichbares haben, von der es in den meisten Ländern Europas jedoch Varianten gibt. Ich glaube aber nicht, dass ich der Einzige bin, dem es so geht. Oft erkenne ich dort Leute wieder. Im Buchladen zum Beispiel. Dort sind meistens dieselben anzutreffen. Und ich weiß, dass sie – genau wie ich – auch nur auf Besuch dort sind, weil ich sie auf dem Weg nach draußen an der Kontrolle getroffen habe. Kurz gesagt: Ich glaube fast, dass Leda eine von ihnen ist. Correction: Eine von uns.
Hast du versucht, sie zu finden? fragt Mulla. Aber das will ich nicht. Ich möchte ihr nur zufällig begegnen. So wie sie es in den Büchern machen. Zum Beispiel in dem, für das Mulla gerade den Umschlag entwirft. Sie zeigt mir verschiedene Vorschläge. Die meisten sind gelb, weil das bestimmt in diesem Jahr die Farbe ist. Ich mag den am liebsten, auf dem zwei Mädchen ein Rüsselauto waschen. Sie haben Badeanzüge an. Und mitunter wirkt es fast so, als ob sie dich mit Wasser bespritzten. Das Buch heißt »Ewige Liebe«, und Mulla sagt, dass es sie zum Weinen gebracht hat. So grottenschlecht und konsequent dämlich sei es. Wo soll das noch alles enden?
Während wir so dasitzen und plaudern – und uns Manhattan ansehen, das langsam erwacht –, schnüffelt ihr kleiner Welpe eifrig um unsere Beine. Seit fünf Jahren hat sie ihn jetzt. Eigentlich verstößt das gegen alles, woran sie glaubt. Mulla, die nichts Künstliches will, wenn es um sie selbst geht. Nicht einmal die Brust reparieren. Und dann zieht sie los und kauft so etwas.
Einen kleinen Dalmatiner, der immer klein bleibt. Der niemals erwachsen wird. »Sie sind am niedlichsten, wenn sie klein sind«, sagt die Werbung. Alle Zoohandlungen führen sie. Hunde und Katzen liegen natürlich voll im Trend (wie man früher sagte). Wünscht man jedoch exotischere Knirpse, lässt sich auch das einrichten. Es deutet auch nichts darauf hin, dass die Tiere daran Schaden nähmen. Ich habe gehört, dass (in vollem Ernst) ein Vorschlag diskutiert wurde, wonach Eltern, die sich das wünschen, das Recht bekommen sollen, ihre Kinder auf die gleiche Weise genbehandeln zu lassen. So dass sie fortwährend zwei oder drei Jahre alt sein können. Denn in diesem Alter sind sie ja auch einfach nur zum Fressen. Oder leben wir etwa nicht in einer freien Gesellschaft?
Heute hieß es, dass Norwegen einige dreizehn Milliarden mehr Gewinn gemacht hat als erwartet (oder so etwas in dem Dreh). Letztes Jahr. Oder vielleicht auch im letzten Monat. Aber deshalb fällt man einander nicht gleich um den Hals. Wir wissen nämlich nur allzu gut, was das heißt. Jedes Mal, wenn Norwegen reicher wird, kommt es für die einfachen Leute ein wenig härter. Das ist schon immer so gewesen. Und wenn Norwegen jetzt noch reicher wird, wage ich fast nicht daran zu denken, wo das noch enden soll. Ich meine: Dann reicht’s bald nicht mehr für die Butter aufs Brot. Das ist ein alter Ausdruck, der immer noch in Umlauf ist. Wenn auch etwas missverständlich. Wir essen ja keine Butter mehr.
Eigentlich verstehe ich nicht, wie sich Mulla Sullik leisten kann. (So nennt sie ihren kleinen Dalmatiner.) Wahrscheinlich macht sie Überstunden. Damit haben die in der Designabteilung einen Vorteil.
»History is the fiction we invent to persuade ourselves that events are knowable and that life has order and direction. That‘s why events are always reinterpreted when values change. We need new versions of history to allow for our current prejudices.«
BILL WATTERSON: Calvin and Hobbes
Wir waren frei. Frei wie die Steine. Wir lagen einfach da und warteten darauf, aufgelesen zu werden.
Es waren natürlich nicht die Menschen, die die Erde zerstört haben. Nur, damit das mal gesagt ist. Das wäre ja auch der absolute Irrsinn, wasn’t it? Es waren die Zik-Zaks, die die Welt komplett auf den Kopf gestellt haben. Mit ihren Todesstrahlen. Einfach drauflosgeballert. Aus großer Distanz. Und aufs Geratewohl. Großflächig über die gesamte Milchstraße. Ohne zu wissen, worauf sie hätten zielen sollen. Aber so haben sie uns gefunden. Denn wir schrien zum Himmel, als die Zerstörung über uns hinwegwalzte, als alles, was wir kannten, zusammenbrach. Wir quiekten wie abgestochene Schweine, die wir ihrer Meinung nach ja auch sind.
Oder: Sie haben es bereits lange vorher gewusst. Denn die Zik-Zaks haben uns viele Zik-Zak-Zeitalter hindurch gerufen und gelockt: Gutzi, gutzi, gutzi (– haben sie gerufen. Natürlich in ihrer eigenen seltsamen Sprache). Das Verwunderliche aber ist, dass wir eigentlich … eigentlich wollten wir gefunden werden. Ich sehe, dass Leda zusammenzuckt. »Das wollten wir?«, flüstert sie. »Na klar«, antworte ich. »Sonst hätten wir doch nicht diese ganzen riesigen Satellitenschüsseln gebaut, jede Nacht mit einem Ohr am Weltraum wachgelegen und endlose Wiederholungen von Radiosignalen mit Kuckuck-hier-sind-wir und Hallo-hallo-ist-dadraußen-jemand ins All gesendet? Als ob wir Angst gehabt hätten, alleine zu sein, und eine unterbewusste Sehnsucht danach, gefunden und in Schutz genommen zu werden. Leda sieht mich an. Rümpft die Nase. »Go fuck yourself!«, sagt sie. Und kauert sich hinter dem Schrotthaufen zusammen.
Später – als das Schlimmste vorüber war – haben wir die Welt wieder zusammengesetzt. Ungefähr so, wie wir sie in Erinnerung hatten. Wir sind nämlich nicht nur wilde Schweine. Wir sind auch fleißige Bienen. Und was ist mit Oslo? Schwierig. Sehr schwierig. Wir haben beschlossen aufzuräumen. So gut es sich eben machen ließ. Danach den ganzen Krempel eingezäunt und gleich daneben eine neue Stadt gebaut. Und die alte zu einem Vergnügungspark gemacht.
Oder (wenn wir es etwas drastischer ausdrücken wollen): Unsere neuen Städte sind eigentlich nichts anderes als riesige Schweineställe. In denen uns die Zik-Zaks untergebracht haben. Vorübergehend, versteht sich.
Leda und ich halten uns versteckt. Wir leben von Würmern, Mäusen und Fallobst. Und wir vertrauen niemandem. Ab und zu sehen wir Herden von anderen Schweinen, die unter Geheul und Spektakel abgeführt werden. Manchmal sehen wir große Scheiterhaufen auflodern. Oder aber es regnet tagelang Asche. Und dennoch: Wenn sie ihren langen, schlanken Hals beugt und ihre signalroten Haare wie einen Vorhang über mein Gesicht fallen lässt, bin ich so glücklich wie noch nie zuvor.
Cool, sagt Fredri, als ich ihm erzähle, was ich da zusammenbraue. Aber er bringt es nicht über sich, es auch zu lesen. Sachen auf Papier interessieren ihn einfach nicht.
Übrigens habe ich angefangen zu zerreißen. Eine Angewohnheit, die ich seit Kurzem habe. Ich weiß auch nicht, warum.
Aber in a strange way fühlt sich das richtig an. Ich meine: Es ist schwierig, an ordentliches Papier für den Privatgebrauch heranzukommen. Also bin ich gezwungen, das wenige, das ich habe, zu recyceln. Schon allein deshalb fühlt es sich ganz natürlich an, manchmal etwas zu zerreißen …
»Man kann ein ganzes Leben / in Gesellschaft von Worten verbringen, / ohne das richtige / zu finden. //
Gleich einem armen Fisch / in ungarische Zeitungen verpackt: / Zum einen ist er tot / und zum anderen versteht er / kein Ungarisch.«
NIELS HAV
Ehrlich gesagt, mag ich keine Hunde. Aber ich sage Mulla nichts davon. Es gibt einfach zu viele in letzter Zeit. Im Treppenhaus kommt man vor lauter Hundescheiße ja kaum noch vorwärts. Und es stinkt im Aufzug. Am schlimmsten sind diese ganzen genmanipulierten Wachköter mit ihren hundert Stielaugen. Das Einzige, was an ihnen natürlich wirkt, ist ihr unaufhörliches Sabbern.
Die Bahn hatte heute Verspätung. Wir saßen mit Rüsseln in der Nase da und mussten über eine halbe Stunde warten. Bestimmt waren ein paar Steine auf die Gleise gefallen. In solchen Situationen überlege sogar ich, mir eine Brille zu kaufen. Oder immer etwas dabeizuhaben, worauf man herumkauen kann.
Mulla möchte wissen, wie die Zik-Zaks aussehen. Sie würde sie gerne für mich zeichnen, sagt sie. Sie sind entsetzlich, antworte ich. Einfach grauenhaft. Und weil gerade Mittwoch ist, frage ich sie, ob sie gerne noch ein Krabbenbutterbrot hätte.
Eigentlich ist Mulla ein wenig eifersüchtig auf Leda. Sie versucht, so zu tun, als wäre nichts. Ich kann es aber deutlich spüren. Wir liegen nebeneinander auf dem Diwan. Aber es ist nicht so wie sonst.
Ich muss mich einfach entscheiden, ob die Zik-Zaks immer noch da sind, sage ich nach einer Weile. Oder ob sie ihrer Wege gegangen sind. Trotzdem können sie zurückkommen. Aber sind sie jetzt hier?
Ich habe heute nicht einmal Freude an ihrer Milchbrötchenbrust.
Es gibt fast keine Realtime, sage ich traurig zu mir selbst.
Es gibt fast keine Realtime mehr.
Thank god! hätte Fredri gesagt (wenn wir uns zum Beispiel gleich, nachdem ich Mulla und Sullik zum Aufzug gebracht habe, getroffen hätten). So müssen wir wenigstens nicht die ganze Zeit in dieser Scheiße rumschwimmen! Jetzt kannst du genau die Wirklichkeit abonnieren, die du gerne magst. Und in so vielen Parallelwelten leben, wie du dir leisten kannst.
In gewisser Weise hat er Recht. Es ist überhaupt nicht lustig, die ganze Zeit mit offenen Augen herumzulaufen. Und trotzdem tue ich das? Ich rede mir ein, dass es für meinen Job erforderlich ist. Oder vielleicht doch nicht erforderlich. In jedem Fall aber ein Vorteil. Wir sollen uns unser eigenes Bild machen, nicht wahr? Das ist zu so einer Art fixen Idee für mich geworden. Falsch. Eigentlich nehme ich es ziemlich locker. Ich würde eher sagen, dass es etwas ist, an das ich irgendwie glauben kann. Eine Art Geländer, in gewisser Weise. Weil jeder etwas braucht, woran er sich festhalten kann (– sagt Mama andauernd). Auch wenn man sich oft täuschen kann.
Es war also nur verständlich, dass ich noch am gleichen Nachmittag in ALTE ZEITEN ging. Obwohl ich wusste, dass ich mir nur ein paar Stunden leisten konnte.
Es tut gut. Man merkt es fast augenblicklich an der Atmung. Die CO2-Regulation klappt hier drinnen einfach besser. Sogar im Kirkeveien und in der Majorstua kommen wir den Großteil des Jahres ohne Masken aus. Ich hielt überall nach ihr Ausschau. Ich meine: Ich bin überall hingegangen, wo ich sie früher schon einmal gesehen hatte. Das war natürlich far out, aber wenn man das Herz klopfen fühlt, hat man keine andere Wahl (wie es in den Büchern heißt). Vor dem Grandhotel stand eine lange Schlange von Menschen, die alle Zimmer für die Nacht gebucht hatten. Manche Leute haben einfach unvorstellbar viel Geld! Aber warum bleibe ich nicht auch über Nacht – ich meine: Mal ganz davon abgesehen, dass ich es mir nicht leisten kann – könnte man sich nicht irgendwo einschleichen und in irgendeiner Ecke oder Toreinfahrt übernachten (wenn es in dieser Nacht nicht gerade Winter ist)? So etwas könnte man fragen, wenn man zum Beispiel ein verkleideter Zik-Zak wäre – ein Agent, der nach ALTE ZEITEN geschickt wurde, um zu spionieren. Aber die Antwort ist natürlich ganz einfach: Bringt nichts. Warum nicht? fragt der Zik-Zak. Wegen des Chips, antworte ich. Welcher Chip? Der, der uns in den Kopf implantiert wurde, sage ich. Ach so, sagt der Zik-Zak und fasst sich an die Stirn, den hätte ich fast vergessen. Du bist ein verdammter Spion, sage ich, ziehe eine Strahlenpistole und flashe ihn zu grünem Schleim. Denn wer vergisst schon den Chip? Die ganze Gesellschaft ist schließlich auf ihm aufgebaut. Er sagt uns, wer wir sind. Jeder kann den Namen benutzen, den er möchte. Oder überhaupt keinen Namen benutzen. (Ich selbst mag den Buchstaben P am liebsten.) Spielt keine Rolle. Wir können den Wohnsitz, den Arbeitsplatz, die Nase und das Geschlecht wechseln. Der Chip kontrolliert unsere Personalnummer und weiß zu jeder Zeit, wo wir sind. Spürt uns in null Komma nichts auf. Sorgt dafür, dass es kein Durcheinander gibt. Und dass zum Beispiel niemand länger in ALTE ZEITEN bleibt, als er dafür bezahlt hat.
Wenn ich gewusst hätte, wie sie sich selbst nannte, hätte ich ihren Namen an die Wände sprayen können, hätte schreiben können, dass ich sie liebte, hätte sie bitten können, mich an der Telefonzelle neben dem Konzerthaus anzurufen, mich zu treffen und you name it. Der Name »Leda« aber ist meine eigene Erfindung, er würde ihr überhaupt nichts sagen. Im Buch (von dem ich weiß, dass es SYMPOSIUM niemals herausgeben wird) reden wir oft genau davon. Wir stehen oben auf Grefsen – an einer Stelle, die die Zik-Zaks nicht kennen –, ihre Haare sind rot, so rot, und wir erzählen einander von all den Namen, die wir früher verwendet haben. Ja, wir sind so verliebt, dass wir einander sogar den vertraulichsten Namen verraten, den Namen, den uns unsere Eltern bei unserer Geburt zugeflüstert haben, den Namen, der allein uns gehört und von dem kein Chip der Welt etwas weiß. (Und den ich auch hier nicht verrate.)
In Norlis Buchhandlung habe ich sie dann plötzlich wiederentdeckt. Ja, ich gebe zu, dass das nicht gerade sehr wahrscheinlich ist. Auf der Arbeit hätte mein Rechner gezögert, das zu schreiben. Er ist darauf programmiert, lediglich einen Zufall pro Geschichte zu akzeptieren. Besonders, wenn es eine Kriminalgeschichte ist. (Was diese hier hoffentlich nicht ist!) Aber so etwas passiert nun mal. Thank god. Sie stand da und blätterte in einem großen Atlas. Ich lief zu ihr hinüber. Und just in diesem Moment fing meine Zeitkarte an zu piepen. Ich fühlte mich wie der letzte Trottel, der ich Fredris Meinung nach auch bin. Ich fühlte mich genauso dumm wie ein entlaufenes Schwein. Arbeitest du hier? fragte sie. Aber ich stand nur mit offenem Mund da. Ich stand direkt vor ihr und mir fiel nicht das Geringste ein. (Ich bekam nicht mal ein Ni hao heraus.)
Und das Piepen meiner Zeitkarte wurde lauter und lauter. Die Leute blieben stehen und sahen uns an. Und dann fing sie an zu lachen. Sie neigte ihren langen Hals zur Seite, lehnte ihren Kopf gegen ein Bücherregal und lachte. Das war sicher nicht böse gemeint (denn so ist sie nicht), aber es verwirrte mich nur noch mehr. Also verbeugte ich mich vor ihr, murmelte etwas von Wetter und Jahreszeit (was man in ALTE ZEITEN eben gerne so sagt, nur dass es jetzt dafür ganz klar zu spät war), wartete nicht auf Antwort, sondern ging einfach schnell weiter, eilte an ihr vorbei aus dem Geschäft – und entschloss mich, ab Freitag wieder ein Mädchen zu sein. (Solche Dinge regelt man am besten am Wochenende.)