Deutsche Erstausgabe
© 2010 by ONKEL & ONKEL, Berlin
Titel der norwegischen Originalausgabe:
Kvinnen som var et helt bord alene
© 2009 by Gyldendal Norsk Forlag AS
This translation has been published
with the financial support of NORLA.
Alle Rechte vorbehalten.
All rights reserved.
Übersetzung: Volker Oppmann
Lektorat: Marcel Diel und Jana Kühn
Korrektorat: Christel Dobenecker
Gestaltung: Alexander Rübsam
Gesetzt aus der Custodia
ISBN 978-3-940029-70-6
eISBN 978-3-943945-02-7
www.onkelundonkel.com
»Roses are red, violets are blue, I’m schizophrenic, and so am I.«
Als wir aufwachten, sahen wir einen alten Mann im Spiegel.
Wie lange sind wir denn schon hier?, fragten wir.
Etwas über zwei Wochen, antwortete die kleine Pummelige mit der Hasenscharte.
So lange schon?
Ja.
Und wieso haben wir nur noch ein Bein?
Letzteres fragten wir wegen Sigurd. Schließlich war es sein Bein, das sie abgesägt hatten. Aber sie antwortete nicht. Sie lächelte einfach, rückte unser Kissen zurecht und trottete weiter.
Weder Bodil noch ich sind Sigurd. Er hat beispielsweise eine viel tiefere Stimme als wir.
Zwei Wochen? Aber wo ist »hier«?
St. Antonius, sagen sie.
Dann wird es wohl so sein.
Weshalb sollten wir auch an ihnen zweifeln, diesen frommen Menschen in ihren blauen Kleidern, deren Schutzheiliger sogar mit Schweinen Mitleid hatte?
Sie wollen nur unser Bestes, sagen sie. Was auch immer das sein mag.
Aber zwei Wochen? Das ist eine lange Zeit, um still in einem Schrank zu liegen. Dafür machen wir Sigurd verantwortlich. Weil er uns nicht früher hat herausholen lassen.
Was das Erste war, woran wir dachten? Wir dachten: Sind wir alle da, alle drei?
Bodil, fragte ich, bist du da?
Ja, sagte Bodil, ich bin hier, Balder.
Und Sigurd?
Aber niemand antwortete.
Lange glaubten wir, dass wir ihn – in gewisser Weise – endgültig verloren hätten. Dass er zwar immer noch seine Hände in uns hineinstecken und unsere Köpfe zum Nicken bringen konnte, aber dennoch nichts mehr so sein würde wie früher.
Außer mit uns würde er nämlich am liebsten mit niemandem mehr sprechen. Und er möchte nicht, dass andere hören, wie wir uns unterhalten. Er murmelt dermaßen, dass es fast schon unmöglich ist zu verstehen, was er sagt. Aber auch wenn es kaum Sinn machte, was wir uns in den ersten Stunden erzählten, war es doch befreiend, den Mund wieder benutzen zu können. Ab und zu rissen wir den Mund so weit auf, dass es im Holz nur so knirschte.
Im Großen und Ganzen liegt er einfach mit offenen Augen da und schaut dumm aus der Wäsche. Dumm und verbrannt.
Aber die Schwestern mögen ihn. Sie betüddeln und umsorgen ihn. Geben Acht, dass sein Kopf schön auf dem Kissen liegt. Mummeln ihn in die Decke ein. Und er lässt sie gewähren. Liegt frisch gewaschen und rasiert da und lächelt sie an. Na, wie geht’s uns denn heute?, sagen sie zu ihm. Haben wir Lust, uns ein wenig rauszusetzen auf unseren Stuhl? Er antwortet nicht, liegt einfach da, starrt mit leeren Augen an die Decke – und dann plötzlich deutet er auf uns, Bodil und mich. Will uns haben. Einen in jeder Armbeuge. Das bekommt er. Und so haben wir die letzte Woche gelegen. Bodil links und ich rechts. Allemal besser als im Schrank.
Wir haben auch einen Bleistift und ein Notizbuch bekommen. Bodil und ich sind uns einig, dass wir uns beim Schreiben abwechseln werden. Und einander helfen, uns zu erinnern.
Wie lange wir Sigurd schon kennen?
Fast zwanzig Jahre, meint Bodil.
Aber er hatte bestimmt schon viele vor uns.
Ob es schade um ihn ist?
Selbstverständlich ist es schade um alle, die ein Bein verloren haben. Besonders wenn sie es gewohnt sind, darauf zu laufen. Außerdem sieht sein Gesicht nun aus wie ein verrunzelter Apfel.
Von hier, wo wir liegen, blicken wir direkt auf das große Bild eines bärtigen Mannes in knöchellangem Mantel, gesäumt von goldenen Schnörkeln. Unter dem offenen Mantel trägt er eine weiße Tunika, die unten ebenfalls verschnörkelt ist. In der einen Hand hält der Mann einen Hirtenstab und in der anderen ein offenes Buch. Was das Bild aber besonders lustig erscheinen lässt, ist das kleine Schwein, das ihm links zu Füßen sitzt. Ein aufmerksames und munteres kleines Kerlchen, dessen Ohren zur Seite abstehen. Fast so als würde es auf ihn aufpassen, ihn bewachen.
Der Mann auf dem Bild ist der heilige Antonius höchstpersönlich, der, nach dem das Krankenhaus benannt ist. Antonius war ein Eremit, der um das Jahr 225 in der ägyptischen Wüste gelebt hat. Er wollte lediglich mit Gott sprechen, alleine – aber Satan suchte ihn in vielerlei verlockender und sonderbarer Gestalt heim. Und plötzlich hörte Antonius überall Stimmen. Am raffiniertesten war Satan in seiner Erscheinung als Schwein. Aber der heilige Antonius trieb dem armen Tier den Teufel aus. Der Widersacher musste, eingehüllt in eine stinkende Rauchwolke, seiner Wege ziehen. Das Schwein aber war nun völlig durcheinander. Weil der heilige Antonius jedoch ein feiner Kerl war, behielt er es einfach bei sich. Und das Schwein folgte ihm seither wie ein treuer Hund auf Schritt und Tritt.
All das wissen wir von unserer Lieblingsschwester, der kleinen Pummeligen mit der Hasenscharte.
Sie wendet sich immer nur an Sigurd.
Der aber hat nicht einmal Lust, die Augen aufzumachen.
Danke, Schwester, sagt Bodil.
Danke, sage ich.
Die kleine Pummelige schaut uns an und kichert. Dann geht sie weiter.
Ab und an nimmt sie sich die Zeit, uns ein wenig durch die Gegend zu schieben. Die Gänge hinunter und zurück. Und wenn sie besonders gute Laune hat, fahren wir auch schon einmal mit dem Aufzug.
Die Wände sind allesamt hell und freundlich, und es gibt grüne Pflanzen in großen Keramiktöpfen.
Wir sind aber nicht die Einzigen, die hier herumlaufen oder sich schieben lassen.
Unter anderem sind wir bereits einem Indianer, einem alten Seeräuber und zwei Elvisen begegnet.
Wir wissen also, woran wir hier sind.
Sigurd sagt selbstverständlich nie ein Wort. Er streckt gerade einmal die Nase unter der Decke hervor.
Aber Bodil und ich sind voll und ganz damit beschäftigt, uns kaputtzulachen.
Um Sigurds willen bin ich froh, dass wir ein Einzelzimmer bekommen haben. Sigurd mag es nicht, von Fremden angestarrt zu werden. Er hält dann einfach die Hände vors Gesicht. Oder wendet sich ab. Das Feuer hat die eine Hälfte seines Gesichts völlig zerstört. Dr. George sagt, es sei ein Wunder, dass er überlebt habe.
Dreimal die Woche unterhalten wir uns ein wenig mit Dr. George. In unserem Zimmer. Ab und zu nimmt er es auch auf Band auf. Normalerweise macht er sich aber einfach nur Notizen. Er will über die komischsten Sachen sprechen. Und jedes Mal fragt er, ob wir unseren Tisch nicht vermissen. Er sagt, dass er uns helfen könne, einen neuen zu besorgen.
Wir schätzen es, dass er von »uns« spricht.
Aber weder Bodil noch ich wollen ihm diesbezüglich eine Antwort geben. Über den Tisch hat nämlich immer nur Sigurd entschieden. Es war sein Tisch. Und das respektieren wir.
Eigentlich war es eine Tür. Eine alte Küchentür, die niemandem gehörte. Also hat sich Sigurd ihrer angenommen. Er ist in solchen Dingen recht geschickt. Keiner von uns anderen hat nämlich richtige Daumen.
Dort – auf diesem Tisch – sammelte er alles, was er über sie in Erfahrung bringen konnte. Alle Erinnerungen. Alle Geheimnisse. Alle Phantasien. Ausschnitte, Bilder, Kleinigkeiten. Das ist ihr Tisch, erklärte er uns. Und wenn alles fertig ist, werden wir ihn ihr zeigen. Wie einen Spiegel. Ja. Wie einen Spiegel. Das war das Wort, das er benutzt hat.
Zwei Zimmer hatten wir damals. Eines zum Schlafen und eines zum Essen und zum Arbeiten. Es war eine schöne Zeit. Abends saßen wir dann vor dem Kamin und unterhielten uns. Sigurd, Bodil und ich. Aber er nahm keine Engagements mehr an. Er trat nicht mehr bei Kinder- oder 50. Geburtstagen auf. Das gab uns nichts. Mit so etwas waren wir fertig. Sigurd hatte stattdessen angefangen, Bücher zu übersetzen. Große, dicke Romane. Er hat schon immer gerne gelesen. Und auch beim Übersetzen ginge es schließlich darum, anderen eine Stimme zu geben, hatte er uns erklärt. Er war sozusagen selbst zur Puppe geworden ...
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PUPPE ist ein Wort, das wir selten benutzen. Dennoch habe ich es jetzt geschrieben.
Eigentlich erzählt er uns inzwischen mehr denn je. Hält uns ganz dicht ans Gesicht. Murmelt und flüstert. Fast so als würde er uns wichtige Geheimnisse anvertrauen. Und ich schreibe alles auf. In das blaue, karierte Notizbuch.
Heute erzählte uns Sigurd eine neue Geschichte von Agnete. Ich habe mit Bodils Hilfe versucht, seine Worte einzufangen, damit ich sie so genau wie möglich wiedergeben kann. Und da Sigurd die Gegenwartsform gewählt hat, benutze auch ich das Präsens. Und das hier hat er erzählt:
Ich kenne keinen schöneren Wald als den draußen bei Jægersborg. Die Tour unter den hohen Bäumen entlang von Schæffergaarden nach Dyrehavbakken mag ich mit am liebsten. Besonders dann, wenn ich sie zusammen mit Agnete gehen kann.
Sie liebt den Wald noch viel mehr als ich.
Agnete ist total »wild« auf Bäume, wie die Dänen sagen.
Wir sind seit drei Monaten zusammen, aber ich fühle, dass ich sie schon viel länger kenne.
Sie lacht auch nicht über meine Katze.
Letzteres ist mit am wichtigsten.
Wenn Agnete über Bäume spricht, könnte man fast meinen, sie würden leben. Sie ist so eine, die sich jederzeit an einen Baum ketten würde, um ihn vor Holzfällern zu beschützen. Sie sagt, dass die Bäume die ältesten aller irdischen Geschöpfe sind. Die klügsten. Und die geduldigsten.
Und was ist mit den Steinen?, frage ich. Sind die nicht noch älter?
Doch, sagt sie, nachdem sie sich besonnen hat. Aber nicht so klug.
Agnete ist 27. Ich selbst bin gerade erst 30 geworden.
Sie fragt, warum ich am Institut aufgehört habe.
Ich antworte, dass ich das nie getan habe – nicht endgültig … Ich bin lediglich beurlaubt. Und weshalb arbeitet sie immer noch in einer Buchhandlung, wo wir doch beide wissen, dass sie am liebsten raus möchte und reisen?
Können wir nicht zusammen wegfahren?, fragt sie.
Wohin denn?
Wohin auch immer.
Sie erzählt mir von ihrer Großmutter in Gilleleje. Als Agnete noch klein war, hatte die Großmutter immer auf sie aufgepasst, während ihre Eltern in Helsinge auf Arbeit waren. Die Großmutter und sie saßen zusammen an einem großen, braunen Eichentisch am Fenster. Sie konnten bis hinunter zum Fischereihafen schauen. Sie sahen die Boote ein- und auslaufen. Den ganzen Tag über spielten Agnete und ihre Großmutter mit Papierpuppen, die sie aus Wochenblättern ausgeschnitten hatten. In den Zeitungen fanden sie auch etwas zum Anziehen für die Puppen. Oder sie zeichneten Kleider auf Butterbrotpapier, malten und schnitten sie aus. Agnete hat früh gelernt, vorsichtig mit der Schere zu sein. Die Großmutter hatte ihr nämlich erklärt, dass auch kein Kleber mehr half, wenn man jemandem den Kopf oder den Arm abgeschnitten hatte. Dann war die Puppe tot und musste begraben werden. Ab und zu haben sie einer Puppe auch absichtlich den Kopf abschnitten. Weil Beerdigungen immer so feierlich waren. Alle Puppen erschienen dann in ihren besten Kleidern. Agnete und die Großmutter losten untereinander aus, wer die Grabrede halten durfte. Anschließend gab es manchmal Brötchen. Jede Puppe hatte einen Namen, einen Geburtstag, und sie feierten Geburtstagspartys. Und ab und an heiratete eine von Agnetes Puppen eine von Großmutters.
Ich konnte sein, wer ich wollte, erzählt Agnete. Heute der und morgen ein anderer. Das hat mir eine enorme Freiheit verschafft. Eine Freiheit, die ich heute vermisse und die wohl für immer verloren ist.
Ich hole die Katze raus. Lasse sie mit ihrem Haar spielen. Sie heißt Sala. Ich lasse sie mit ihrem weichen Maul aus Schaumgummi leicht in ihr Ohrläppchen beißen.
Sag hallo zu Agnete, sage ich.
Hi, Sala, sagt Agnete.
Und dann küssen wir uns unter einer großen Buche, während Sala miaut und schnurrt.
Später – in Agnetes Zweizimmerwohnung in einem Wohnblock in Gentofte:
Ich habe hier in Kopenhagen gewohnt, als Großmutter vor ein paar Jahren plötzlich gestorben ist, sagt Agnete. Ich erinnere mich noch genau an den Anruf von Tante Jenny … Ich habe nicht geweint, sondern mich gleich hingesetzt und uns ausgeschnitten. Großmutter und mich. Wir hatten einander lange nicht gesehen. Aber damals haben wir uns endlich wieder unterhalten. Über alles Mögliche. Die Puppen habe ich immer noch. Schau mal.
Agnete kramt in einer Schublade in ihrem Nachttisch, holt zwei zerknitterte Papierfiguren heraus und hält sie mir vor die Nase. Du kannst gerne mich haben, sagt sie. Aber Großmutter gehört nur mir …
Auf immer und ewig