1. Auflage, August 2008
© 2008 ONKEL & ONKEL, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Volker Oppmann
Korrektorat: Christel Dobenecker
Gestaltung: Alexander Rübsam
Gesetzt aus der Custodia
ISBN 978-3-940029-14-0
eISBN 978-3-943945-06-5
www.onkelundonkel.com
Für Elisabeth
Wir haben immer geschwiegen. Das Schweigen war stark. Es war wie der Teppich, auf dem ich meine ersten Schritte tat. Die Wand, die mich später von den Anderen trennte. Das Meer, in dem ich mich irgendwann verlor. Ich glaube nicht, dass einer von uns das Schweigen bemerkte, sich bewusst war, dass uns die Worte fehlten, wofür auch immer. Es gab keinen besonderen Grund für die Schweigsamkeit. Vielleicht lag es daran, dass keiner gelernt hatte zu reden. Worte für Gefühle zu suchen. Ihnen Ausdruck zu verleihen. Wir wussten ja um sie, das reichte. Da wir alle schwiegen, fiel es keinem auf, dass mit einem Mal auch die Fragen verschwanden. Vielleicht waren wir eine ganz normale Familie.
Wir haben uns geliebt. Meine Schwester meinen Vater, mein Vater meine Mutter, meine Mutter meine Großmutter, meine Großmutter mich. Meine Großmutter liebte von ganzem Herzen, still, mit der Kraft eines Baumes, der seine Arme über mich breitete, wenn es nötig war. Manchmal brach sie ihr Schweigen, schob mir einen Satz unter, eine Hilfestellung, wenn ich ins Wanken kam. Immer mit der Ruhe war so ein Satz, alles halb so schlimm war der andere. Sie wusste, wovon sie sprach. Vier Kinder in sieben Jahren, eines davon hat es nicht überlebt. Die zwei Weltkriege hatten ihr den Vater, dann den ersten Mann genommen. Der zweite, mein Großvater, auch kein Mann des Worts, schlug zu. Sie konnte gut ertragen. Das war ihre herausragendste Eigenschaft.
Der Friedhof lag in der Nähe der Autobahnausfahrt. Ein Allerweltsfriedhof von unbestimmtem Alter und überschaubarer Größe. Eine gepflegte Hecke versperrte den Blick auf die Schnellstraße. Man fühlte sich gut abgeschirmt, wenn nicht das stete Rauschen des Verkehrs gewesen wäre. Die Kapelle befand sich gleich neben dem Eingang. Schlicht, fast pragmatisch sah sie aus, nicht zu groß oder zu klein, mit ein paar farbigen Fenstern in Anlehnung an die Alten, aber nicht zu aufwendig, ausreichend abstrakt im Muster, unauffällig. Der Kiesweg sauber, kein welkes Laub, keine flachgetretenen Zigarettenstummel. Ich hatte plötzlich Lust zu rauchen. Das war das stärkste Gefühl, an das ich mich in diesem Augenblick erinnern konnte. Rauchen. Das unausweichliche Bedürfnis danach.
Meine Tante hatte mich gleich am Eingang abgefangen. Ich war noch müde. Das störte sie nicht. Ganz die Großmutter, sagte sie. Wie die Oma sähe ich aus. Vor allem, wenn ich lachte. Nein, wirklich, welche Ähnlichkeit! Die hohe Stirn, ja sogar der Haaransatz, die Farbe des Haars, dunkelbraun, fast schwarz und lang, wie das der Oma früher, dickes Haar mit leichten Wellen, schön habe das ausgesehen, sagte sie, alle hätten die Oma um ihr Haar beneidet, da sei es ein Glück, dass ich, sagte sie und nannte mich Die Kleine – dass die Kleine das Haar geerbt habe, nur nicht schneiden, sagte sie. Ich solle froh sein. Über das Haar. Das stehe mir gut, so lang, nur im Gesicht sei ich etwas schmal. Ob ich auch genug äße? Die Oma sei ja früher eine ansehnliche Frau gewesen, vor dem Krieg. Die Oma. Ganz wie die Kleine. Schön.
Dann weinte meine Tante. Die Sonne schien ihr aufs Gesicht. Die Tränen zogen eine Spur auf der gepuderten Haut. Auf der Stirn stand der Schweiß. Schwarz, sagte sie schniefend, sei schlimm in der Hitze. Schlimm. Dann öffnete sie ihre Handtasche, fuhr mit der Hand hinein; zielsicher holte sie ein Taschentuch heraus, weiß mit Spitze, drückte es sich auf die Augen, ihr Mund lächelte. Die Augen waren ungeschminkt. Kein Lippenstift. Sonst legte meine Tante viel Wert darauf, geschminkt aus dem Haus zu gehen. Heute nur Puder. Und das Haar frisiert. Sie steckte das Tuch zurück, sah mich an, lächelte wieder. Das, dachte ich, tut sie meinetwillen, nicht, weil ihr danach zumute war. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie mit dem Weinen nicht aufgehört.
Dann umarmte sie mich. Sie war jetzt einen Kopf kleiner als ich, und ihr toupiertes Haar kitzelte mein Kinn. Der ganze Kopf roch nach Taft, ein Duft, mit dem mir auf einmal ein Haufen Kindheit ins Herz fuhr. Meine Tante drückte noch einmal zu. Sie drückte, als könnte sie nicht glauben, dass sie jetzt unter meinen Armen zufassen musste und nicht darüber. Dass ich in der Abwesenheit gewachsen sein könnte, war ihr fremd. Die Kleine, das sollte doch nicht aufhören. Nicht an einem solchen Tag.
Endlich ließ sie mich los. Ich mochte meine Tante, obwohl ich nie genau wusste, warum. Ihr Mund war schmal, die Lippen farblos, wenn sie ihnen nicht mit einem satten Rot zu ihrem typischen Farbton verholfen hätte. Die Farbe stand ihr nicht, sie ließ den Mund noch kleiner wirken. Das sagte ihr niemand, aber dumm war meine Tante nicht, sie merkte es wohl. Dieses Rot war nun mal ihre Lieblingsfarbe. Ohne das Rot wirkte ihr Mund verloren. Man sah ihn fast nicht. Es schien, als hätte auch meine Tante ihren Mund vergessen, obwohl der Gedanke absurd war, da sie ihn ja zum Reden benutzte. Ich wusste nicht, wann ich ihre Lippen das letzte Mal ohne Farbe gesehen hatte. Sie küsste mich eigentlich immer. Immer hatte ich nach unseren Begegnungen rote Flecken im Gesicht. Heute hatte sie mich noch nicht geküsst.
Was soll ich sagen? Das Wetter war schön. Unverschämt schön. An dem Tag, an dem meine Tante mein Haar bewunderte, brach der Frühling aus. Es war Anfang März, die Erde noch getränkt vom Schmelzwasser. Der Winter steckte einem noch in den Knochen. Nur vereinzelt gaben Vögel das Signal, dass es an der Zeit sei, sich zu paaren. Ich hatte elende Kopfschmerzen. Die Nacht zuvor hatte ich nicht geschlafen. Auch während der Zugfahrt nach Mannheim hatte ich kein Auge zugetan. Stattdessen die Zeit totgeschlagen. Und Zeitung gelesen. Über zwanzig Grad hatte man uns angekündigt. Das rote Leuchten auf der Wetterkarte hatte etwas Bedrohliches. Der Meteorologe, der sich noch am Vorabend im Fernsehen über den rasanten Temperaturanstieg ereifert hatte, hatte Recht behalten. In dieser Hitze also würde sie beerdigt werden.
Meine Tante wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unter dem Puder war ihre Haut rosig, ein wenig wie bei einem Kind, und ich dachte, dass es an den Pfunden lag. Je älter sie wurde, desto dicker wurde sie. Nur der feuchte Glanz in ihren Augen blieb unverändert, ein aufrichtiges Strahlen, für das ich sie immer bewundert habe. Meine Tante tupfte sich wieder die Stirn trocken. Gut, sagte sie, dass ich gekommen sei, sie hätten ja schnell handeln müssen bei diesem Wetter. Schlimm wäre das. Die Oma sollte nicht in einem Kühlfach liegen. Darum hätten sie beschlossen, gleich den Samstag zu nehmen. Da hatten alle frei. Das waren immerhin zwei Tage Zeit für die Auswärtigen, um anzureisen.
So. Die Oma war tot. Gestorben mit über achtzig. Da rechnet man schon mal mit dem Tod, zumal sie gegen Ende wohl nicht mehr wollte, sagte meine Tante. Sie weinte wieder, immerhin sei sie ja ihre Mutter gewesen, da falle der Abschied schwer, egal, ob es nun an der Zeit gewesen sei oder nicht. Vielleicht sei es besser so. Sie war ja krank. Früher oder später hätte man sie sowieso in ein Heim geben müssen. Allein, nein, allein hätte sie nicht mehr lang in der Wohnung bleiben können. Wer weiß, was dann alles passiert wäre. Immerhin sei ihr das Heim erspart geblieben. Ins Heim hätten sie keine zehn Pferde gebracht. Und teuer! Unbezahlbar wäre das gewesen. Die Kinder müssten ja dafür aufkommen, wenn der Betroffene es nicht selber zahlen könnte. Also hätten sie zahlen müssen! Wer weiß wie lang? Und glücklich wäre sie da nie geworden im Heim, Gott sei Dank, nein. Dann riss der Gesprächsfaden ab.
Meine Tante war die Einzige in der Familie, die gerne sprach. Ungewöhnlich für uns alle, sprach sie noch dazu sehr schnell, als hätte sie Sorge, alle ihre Sätze in der Zeit unterzubringen, die man ihr zuhörte. Denn Zuhören war ähnlich wie Reden sehr, sehr anstrengend.
Es war nicht meine erste Beerdigung. Wir hatten bereits meinen Großvater zu Grabe getragen. Damals ging es noch darum, Trauer zu üben. Zu lernen, dass es in unserer aufgeschwemmten Harmonie noch etwas Anderes gab, das Ende nämlich. Das Jahr seines Todes fiel mit dem GAU in Tschernobyl zusammen. Ich war mitten in der Pubertät. Ich litt, aber ich fühlte mich auch bestätigt in meiner Vorahnung, dass die Welt außerhalb nicht viel Gutes zu bieten hatte. Sein Tod war die Ausrede, die ich für mein Selbstmitleid brauchte.
Meine Tante strich mir mit einem Lächeln übers Gesicht. Mager, sagte sie, sei ich geworden. Ob ich zuviel arbeite? Und der Freund? Wann ich denn heirate? Und Kinder? Sie sah an mir herab. Mir war, als lächelte sie jetzt weniger. Das wisse ich noch nicht? Heutzutage sei das wohl so. Trotzdem. Ich solle ihr rechtzeitig Bescheid geben, damit sie auch zu meiner Hochzeit kommen könne. Man sei ja nicht mehr so flexibel im Alter. Da brauche man für alles mehr Zeit, also rechtzeitig bitte, ja?
Ich entdeckte meine Mutter in einiger Entfernung. Sie hatte sich aus einer Gruppe schwarzer Anzüge gelöst und blickte jetzt geradewegs zu uns herüber. Es schien, als wolle sie winken und habe sich dann eines anderen besonnen. Ihr Arm sank wie leblos zurück. Sie bemühte sich um ein Lächeln. Doch kam sie nicht zu uns. Meine Tante, ihre kleine Schwester, strengte sie an. Wir hatten uns eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Wenig telefoniert. Plötzlich war sie grau geworden, was mich aber nicht weiter erschreckte. Ich glaube, ich habe mir meine Mutter eigentlich immer grau und älter vorgestellt, als sie je war, das passte zu ihr und ihrer Art. Den stets fließenden Bewegungen, der Bedachtsamkeit, mit der sie sich der wenigen Worte annahm. Was willst du essen? Bist du müde? Hast du schon Hausaufgaben gemacht? Gute Nacht, mein Schatz.
Der Kies knirschte, als ich mich bei meiner Tante entschuldigte und zu meiner Mutter und den anderen, mit denen ich verwandt war, hinüberging. Obwohl es nur ein paar Meter waren, schien mir der Weg dorthin ewig lang zu sein, ein wenig wie in Wachs gegossen, das nun langsam schmolz. Ebenso langsam bogen sich auf einmal die Hälse zu mir um. Die schwarzen Rücken streckten sich, bekamen ein Gesicht.
Das hagere Gesicht meines Onkels, der noch dazu Ernst hieß, Ernst wie der Anlass, Ernst, der Mann meiner aufgeregten Tante. Ernst sah meist schlecht aus, auch heute würde ihm kein Lächeln über die Lippen kommen, er wirkte noch schmaler als sonst. Neben ihm Onkel Paul, der Bruder meines Vaters.
Paul galt als der Intellektuelle der Familie, was weniger eine Auszeichnung als eine Warnung war, denn er war Psychologe. Einer, der viele Fragen stellte und eigentlich nur in Fragen sprach. Wohl auch deshalb stand er nicht direkt in den Kreis eingebunden, sondern mit einem guten halben Meter Sicherheitsabstand. Er lächelte aufmunternd.
Dann war da noch ein Onkel zweiten Grades, einer, den man nur auf Beerdigungen traf. Er war mittlerweile der Älteste und man meinte, er käme nur, um sich zu vergewissern, dass er noch lebte.
Aus seinem Schatten schälte sich der Jüngste der Gruppe, mein Cousin. Es war Jahre her, dass wir uns gesehen hatten, dennoch durchzuckte es mich. Er trug eine graue Anzugjacke und Krawatte, die ihm mit Sicherheit meine Tante aufgedrängt hatte. Er lächelte nicht, verzog auch keine Miene, als er mich sah. Aber ich wusste, dass seine Handflächen feucht sein würden. Neben ihm, wie ein abgebrochener Engel, meine Mutter.
Noch im Gehen dachte ich, dass ich besser umkehren sollte. Mein Gepäck, das wenige, das ich aus Berlin mitgebracht hatte, war noch am Bahnhof im Schließfach, es war Mittag, und um diese Zeit fuhr stündlich ein Zug. Weg hier. Nur weg. Onkel Paul winkte. Hast du den weiten Weg hierher gefunden, rief er herüber. Sein Lachen wirkte überdreht. Wahrscheinlich hatte man ihn mit Schweigsamkeit ausgedörrt. Die Freude trieb ihm die Röte ins Gesicht. Onkel Ernst warf ihm einen bösen Blick zu. Als Paul es bemerkte, klopfte er ihm so kräftig auf die Schulter, dass Ernst kurzzeitig die Fassung verlor. Schnell wich er einen Schritt zur Seite.
Die ganze Gruppe kam in Bewegung. Mein Cousin drehte sich weg. Ging einfach. Meine Mutter machte einen Schritt auf mich zu. In ihren Armen dachte ich an das Bild, das sich eben in meinem Kopf gelöst hatte wie ein Dominostein – das lief und lief mir durch den Kopf, nur wohin es lief und dass sich mit ihm noch andere Bilder gelöst hatten, ahnte in diesem Augenblick niemand.
Meine Mutter schluchzte leise. Es war mehr ein Wimmern. Ein hoher Ton, der sich verselbständigt hatte, ich war mir nicht sicher, ob meine Mutter wusste, dass sie weint. Wir hätten uns ewig so in den Armen liegen können, wenn die Hitze nicht gewesen wäre. Die Sonne brannte mir auf den Rücken. Mein Hals war nass von Schweiß und Tränen. Vorsichtig, doch mit Nachdruck schob ich meine Mutter weg. Ich dachte, dass das für den Moment reiche, wir hätten ja noch genug Gelegenheit, weiter zu weinen. Den ganzen Tag über. Bei Beerdigungen redet man sowieso nicht viel. Und über Gefühle würden wir wohl kaum sprechen. Man sah es einander an. Man wusste, dass alle die Oma geliebt hatten. Dass ein Abschied immer schwer war. Was gab es auch groß zu sagen am Ende. Der Pfarrer sollte das übernehmen. Der fand bestimmt die richtigen Worte, ein Bild aus der Bibel, Lieder, die man singen konnte. Hoffnungsschimmer. Vielleicht ein Gebet.
Ich hatte noch immer nicht geraucht. Meine Tante hatte sich inzwischen zu uns gesellt. Sie zupfte am Anzug meines Onkels herum, was er über sich ergehen ließ, jedoch nicht ohne ihr zuzuflüstern, dass es jetzt gut sei. Meine Mutter öffnete ihre Handtasche. Zwischen allen möglichen Papieren, einem Bündel, von dem ich wusste, dass es aus ihr wichtigen Briefen und Fotos bestand, begann sie nach etwas zu suchen, mit zittrigen Fingern, so dass ihr leise ein Fluch entfuhr. Mist! Ich musste lächeln. Meine Mutter sah es nicht. Nur meine Tante schien zu verstehen und hielt ihr eines ihrer gebügelten Taschentücher hin. Zögerlich, fast mürrisch nahm es meine Mutter entgegen. Nie im Leben hätte sie ihr gesagt, nie das Missverständnis aus der Welt geräumt, dass sie nach einer Zigarette gesucht hatte. Schon lange hatte sie damit aufgehört. Von den Rückfällen wusste nur ich.
Man brachte jetzt die Kränze. Meine Tante sagte völlig belanglos, vielleicht auch nur, um etwas zu sagen und nicht mehr der Stille ausgeliefert zu sein: Da sind sie ja! Als hätte sie die ganze Zeit darauf gewartet. Trauerbekundungen in Grün, Schärpen, auf denen man die Namen der Trauernden lesen konnte, auch derer, die nicht gekommen waren.
Wo waren eigentlich mein Vater, meine Schwester? Meine Mutter schüttelte den Kopf, als ich sie fragte. Mein Vater, sagte sie, sei sich noch ein bisschen die Beine vertreten. Wir hätten ja noch Zeit bis zur Messe, fügte sie entschuldigend hinzu. Es schien ihr unangenehm zu sein, dass die Anderen zuhörten, vor allem meine Tante, die sich auch prompt einmischte. Er hätte sich ja auch mal um was kümmern können. Die Kränze zum Beispiel. Und um die Kleine, sagte sie spitz.
Meine Mutter kniff den Mund zusammen, sie wollte keinen Streit. Mit ihrer Schwester, sagte sie für gewöhnlich, sei eben nicht zu reden. Darum wartete sie, bis meine Tante sich den Kränzen zuwandte. Also würde sie sich halt wieder selbst kümmern müssen, sagte sie im Gehen, knirschend wie der Kies unter ihren Schuhen.
Meine Schwester hatte sich mit Fieber entschuldigt, ein Grippeanfall. Laut meiner Mutter bei diesen Temperaturschwankungen auch kein Wunder. Da würde man schnell krank. Und anstecken wolle meine Schwester uns auch nicht, was rücksichtsvoll von ihr sei. Wieder weinte sie. Auch die Rücksichtnahme ihrer älteren Tochter gegenüber kostete Kraft. Vielleicht würde Michi ja noch aus München nachkommen, immerhin habe sie das angedeutet. Sie wolle abwarten, ob das Fieber falle. Bei dieser Hitze, sagte sie und wischte die Tränen beiseite, wohl eher unwahrscheinlich. Aber da stecke man ja nicht drin.
Mein Cousin stand an die Mauer der Kapelle gelehnt, das Gesicht so geneigt, dass der Schatten seine Augen verdeckte. Dennoch spürte ich, dass er zu uns herübersah. Er rauchte. Sonst aber bewegte er sich nicht. Nur der obere Teil des Rückens berührte die Steine. Den Körper wie ein Bogen gespannt, durchbohrten mich seine Blicke. Ich rührte mich nicht.
Je länger wir warteten, desto aufgescheuchter lief meine Tante herum. Ihre schnellen Schritte mischten sich mit dem Rauschen des Verkehrs. Nur manchmal hielt sie inne und ihre Stimme drehte auf. Waren denn inzwischen alle da? Und wo war überhaupt der Pfarrer? Der Organist? Wussten alle, wo sie sitzen würden? Meinen Vater erwähnte sie nicht mehr.
Mein Wunsch schien meine Mutter nicht zu wundern. Vielleicht hatte sie darauf gewartet. Von selbst hätte sie nicht gefragt. Ja, sie läge noch offen da und ich solle mich ruhig von ihr verabschieden. Nur wolle sie nicht mehr mitgehen. Sie weinte nicht mehr. In ihren Augen zog sich etwas zusammen. Ich dachte, vielleicht ist das die Angst. Auch meine Mutter glaubte an Ähnlichkeit.
Ich ging allein. Mein Cousin rauchte die zweite Zigarette. Als ich an ihm vorbeiging, nahm er gerade einen Zug. Den Rauch hielt er zurück, bis ich in der Kapelle war. Ich hörte ein leises Husten. Drinnen war es kühl. Das Licht brach sich in den Scheiben, verstreute seine Stücke über den Boden. Es war schön. Gelb und blau. Wenn man es mischt, ergibt das Hoffnung. Nebenan in der Sakristei dann der Sarg. Man hatte ihr das Haar zurückgebunden. Meine Oma trug sonst immer einen Knoten. Auch nach dem ersten Schlaganfall hatte sie stets darauf bestanden. Selbst wenn es sie eine Stunde gekostet hatte, bis er saß. Zurückgebunden. Die Spitzen waren dünn und brüchig. Man hatte noch versucht, ihnen durch einen leichten Dreh etwas Form zu geben. Unbeholfen, da trauernd, hatte sich bestimmt meine Tante daran versucht. Auch das Kleid war das Lieblingskleid von ihr. Meine Oma hatte es von ihr geschenkt bekommen. Der Mund. Geschlossen. Ihn hatte man nicht hochbinden müssen. Immerhin, dachte ich und sah etwas, das wohl der Grund der Angst in Mamas Augen gewesen war. Ja, ich sah es. Meine Großmutter lächelte.
Ich saß bereits, als sie kamen. Das Licht fiel jetzt steil durch das Fenster zum Altar, die Blumengestecke leuchteten. Jemand, wahrscheinlich meine Tante, hatte Lilien gewählt, deren schwerer Duft sich bis in die letzte Reihe verteilte, wo ich Platz genommen hatte. Die Stille in der Kapelle hatte etwas Feierliches. Nur draußen schabten Schritte im Kies, zunehmend lauter, und ich dachte, dass sie sich sammelten. Dann drangen Stimmen herein. Es war wie ein Murmeln, das dichter und lauter wurde, ein bisschen wie Wasser, wenn es steigt.
Als Erste kam meine Tante und stellte sich an den Eingang, von dort aus konnte sie am besten dirigieren, den Verwandten zuflüstern, wo sie sich hinsetzen sollten. Als sie mich da sitzen sah, machte sie mir ein aufgeregtes Zeichen und deutete Richtung Altar. Nein, nein, die zweite Reihe, hörte ich sie sagen, sie bemühte sich, nicht zu laut zu werden. Ich stand auf und ging den Gang entlang nach vorn, auf den Sarg zu, den zwei Helfer noch rechtzeitig in Position gerollt hatten, zwischen die Blumengestecke. Man sah ihn kaum unter den weißen Blüten. Auch den Deckel hatte man geschmückt. Weiß, wohin ich sah. Der Duft der Lilien verschlug mir den Atem.
Die Bänke knarrten, als wir uns setzten, einer nach dem anderen, meine Mutter direkt vor mir, denn die erste Reihe war, laut meiner Tante, für die Kinder und deren Ehepartner bestimmt, was wohl selbstverständlich war. Dahinter die Kindeskinder. Dann kamen die Cousinen und Cousins, die Verwandten zweiten und dritten Grades, die sich in den hinteren Reihen platzierten, die Kapelle war ja nicht groß. Der Platz neben meiner Mutter blieb leer. In Erwartung meines Vaters war ihr Rücken steif geworden. Ich streichelte sie vorsichtig, als sich mein Cousin an die Seite stellte und wartete. Nach einigem Zögern setzte er sich neben mich. Ich zog meine Hand zurück. Er roch nach Rauch. Sein Jackett zog er nicht aus, obwohl ihm heiß sein musste. Ich musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, wie sehr. Seine langen Beine stießen an die Vorderbank. Langsam ließ er sie auseinandergleiten.
Zu meiner Linken saß Eva, meine kleine Cousine, Tochter von Paul, die, wie ich feststellte, inzwischen ein richtiges Mädchen geworden war, mit kurzem Rock und übereinandergeschlagenen Beinen. Sie lächelte unentwegt, es schien, als sollten alle sehen, dass sie keine Zahnspange mehr trug. Ihre Wangen glühten. Sie war sehr hübsch. Nachdem wir uns leise gegrüßt hatten, beugte sie sich vor und nickte unserem Cousin zu. Sie nannte ihn beim Namen, Andreas, was mich seltsam berührte. Ich glaube, so habe ich ihn noch nie genannt. Mein Cousin beugte sich nicht vor. Stattdessen schob er sein Bein an meines.
Ich beschloss, gleich nach der Predigt zu rauchen. Der Pfarrer trat aus einer Seitentür, die ich nicht bemerkt hatte. Er strahlte, als freue er sich, uns zu sehen. Voll Zuversicht schritt er zum Altar, unter dem Arm eine Art Mappe, die er feierlich aufschlug. Das sollte wohl das Zeichen für den Anfang sein. Den Sarg hatte er noch nicht angeschaut. Er wartete, bis das letzte Murmeln verebbt war. Dann noch einmal Schritte. Mein Vater, rot im Gesicht. Er sah aus, als sei er gerannt. Ohne Entschuldigung setzte er sich, vielleicht, dachte ich, war es ihm unangenehm, der Letzte zu sein, die Blicke aller für einen Augenblick auf sich gezogen zu haben. Erst nach einer Minute drehte er sich um, begrüßte mich kurz. Ich nickte nur, wagte nicht, mich nach rechts zu drehen. Mein Cousin hielt den Atem an.
Dann begann der Pfarrer zu sprechen. Ich gebe zu, dass ich Mühe hatte, ihm zuzuhören. In seiner Stimme lag so viel Verständnis für jemanden, den er, wie ich jetzt dachte, gar nicht kannte. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass meine Großmutter lange vor ihrem Tod mit dem Glauben aufgehört hatte. Die Stimme des Pfarrers, monoton und doch sonor, schallte durch den Raum, und nicht nur mein Kopf senkte sich zu ihrem Klang, auch die Reihe vor mir schien sich in sich selbst zu versenken. Nur mein Cousin saß aufrecht da. An ihm schienen die Worte abzugleiten.
Man hatte den Sarg ins Licht gestellt, doch mit jeder Minute wanderte der Strahl der Sonne weiter, so dass er bald im Schatten lag und schließlich ganz im Blumenmeer verschwand. Der Pfarrer blätterte in seiner Mappe. Er sagte, dass Frau Hermann zeit ihres Lebens bescheiden gewesen sei. Nie habe sie ein böses Wort verloren. Voller Demut habe sie gelebt und trotz der eigenen Krankheit ihren Ehemann gepflegt. Für einen Augenblick erstrahlte sein Gesicht, als seien dies alles Auszeichnungen für ein erfülltes Leben. Auch Gott, führte er an, vor dem ja alle gleich seien, auch bei Gott gäbe es Geschichten, die belegten, dass Demut und Liebe direkt zu ihm in den Himmel führten. Ich sah meine Tante nicken. Meine Mutter rührte sich nicht. Ich hörte, dass sie leise weinte.
Dann war der Pfarrer fertig. Der Organist spielte ein Lied, zu dem man singen konnte. Eva hielt einen Zettel mit dem passenden Text in der Hand und sang mit heller, klarer Stimme. Auch meine Tante, meine Mutter sangen mit, mein Vater brummte ein wenig, der Pfarrer sang am lautesten. Ich summte. Mein Cousin summte nicht. Nach dem Lied das Vaterunser. Das konnten alle. Noch einmal Musik. Der Pfarrer nickte den beiden Helfern zu, die mit gefalteten Händen an der Seite standen und sich nun dem Sarg näherten.
Keiner von uns wagte aufzustehen. Vielleicht hatte auch niemand verstanden, dass es jetzt zu Ende war. Vielleicht lag es auch am Pfarrer, der mit ungebrochener Zuversicht vorn am Altar stand und in die erste Reihe blickte. Dann knarrte die Bank und meiner Tante entfuhr ein Ach-ja, als ihr einfiel, dass jemand eine kleine Rede halten wollte, nämlich und eigentlich sie, da sie ja die Älteste war. Nun aber raunte sie Ernst zu, er solle das übernehmen, da sie dazu selbst nicht mehr in der Lage sei, nach und gerade wegen der schönen Predigt, sagte sie und weinte. Ernst, der sich jäh aufgesetzt hatte, winkte entschuldigend ab.
Lächelnd gab der Pfarrer dem Organisten ein Zeichen, der daraufhin noch einmal das Lied von vorhin spielte, nur mit mehr Kraft, wie eine Zugabe, dachte ich, als der Pfarrer noch in das Lied hinein ein langes Amen sprach, worauf alle ein ebensolches erwiderten. Dann schoben die Helfer den Sarg durch den Mittelgang hinaus. Der Pfarrer folgte ihm gesenkten Hauptes, und wie er an mir vorbeiging, dachte ich, er sähe nun endlich auf den Sarg oder vielmehr auf den Deckel, auf dem die Lilien zitterten. Ich rutschte meiner Cousine nach in den Gang.
Vor dem Grab hatten sich bereits alle versammelt, als ich ankam. Ich hatte mir Zeit gelassen. Eng an eng drückten sich die schwarz bekleideten Rücken, ein paar standen gebeugt. Ganz vorn erkannte ich meine Mutter, Tante, meinen Vater etwas abseits im Profil, noch immer gerötet wie von einer unaussprechlichen Anstrengung. Onkel Paul hatte den Arm um meine Tante gelegt, mit der anderen Hand reichte er ihr ein Taschentuch. Ihr Mann stand etwas unschlüssig daneben, er hörte dem Pfarrer zu, der anscheinend die letzten Worte, die endgültigen, sprach. Meinen Cousin sah ich nicht.
Langsam ging ich näher heran. Wie nebenbei las ich die Namen auf den Grabsteinen, die meisten davon in Gold geschrieben. Sie glänzten nicht mehr, aber dafür waren die Gräber gepflegt, wie kleine Vorgärten sahen sie aus. Ich blieb neben dem Grab einer Erna Kinkel stehen, die nur wenige Jahre nach meiner Großmutter geboren, aber einige Zeit früher gestorben war. Ihr Mann war alt geworden. Die Frau daneben gleichfalls. Und die anderen? Der Gedanke ließ mich nicht los, dass meine Großmutter nun doch noch im Altersheim angekommen war.
Der Sarg war wohl schon hinabgelassen. Ich sah nur noch, dass eine seltsame Bewegung in die Umstehenden gekommen war, ausgelöst durch den Pfarrer, der sich aus dem Halbkreis löste, nicht ohne vorher noch einmal aufmunternd in die Runde genickt zu haben. Wie ein Wabern sah das aus. Vor allem meine Tante begann zu schwanken, nicht stark, dennoch schien es, als müsste Onkel Paul sie halten. Gleich zu ihren Füßen war ja das Loch. Kein Laut mehr. Weinten sie? Jetzt, dachte ich, ist für alle der Augenblick gekommen, Abschied zu nehmen. Ich wartete, aber nichts geschah, nur dieses Wanken hörte nicht auf. Und irgendwo, weit oben, die Sonne, die nun mit noch mehr Wucht auf die Köpfe brannte.
Eigentlich, dachte ich, war das alles nicht schlimm, und wenn der Anlass nicht gewesen wäre, hätte man sogar behaupten können, dass es schön aussah, wie sie da alle nebeneinander standen, wie eine seltene Blume, von der ich einmal gelesen habe, eine Blume, die nur alle paar Jahre blüht, für eine Nacht, mit nur einer Blüte, einer immensen Blüte, der größten überhaupt.
Das dumpfe Aufschlagen von Erde. Erst meine Tante, dann meine Mutter, mein Vater, Onkel Paul, mein alter Onkel, ein paar andere, mit denen ich wohl auch verwandt war, dann die Jüngeren. Man warf Rosen ins Grab, dann wieder Erde, allmählich wurden die Schichten dicker. Kaum noch Töne. Ich stellte mich in die Reihe, die sich unmerklich gebildet hatte, und wartete, dass man die Schaufel an mich weiterreichte. Dann stand ich am Grab. Der Sarg schaute nur noch an wenigen Stellen hervor, es wäre ein Leichtes gewesen, seine Existenz zu leugnen. Meine Cousine hielt mir das Körbchen mit der Erde hin. Ich konnte nicht. In fast greifbarer Nähe war da Großmutters Lächeln. So war sie aus dem Leben gegangen. Und wir? Ich versuchte mich zu erinnern, an meine Vergangenheit mit ihr. Mit einem Mal schien mir, als gäbe es außer dem Blick in ein viereckiges Loch und ein paar gemischten Gefühlen nichts, woran ich mich halten konnte, vielleicht noch ein innerer Aufruhr über ihren schnellen Tod. Mir kam es so vor, als müsste ich meine Großmutter jetzt um diesen einen Satz bitten, einen, der den heutigen Tag wieder auf die Beine stellen würde. Sie schwieg. Ich meine nicht den Leichnam. Der rührte sich natürlich nicht. Der hatte mich auch nicht gerührt, als ich Abschied nahm. Er ließ mich kalt, wie man sagt, so wie er selbst erkaltet war, eine Wachs-puppe, die man hatte anziehen, zurechtmachen müssen. Meine Großmutter hätte das nicht geduldet. Sie wollte alles selber machen, bis zum Schluss. Nur so, sagte sie, behalte man seine Würde. Die Würde war wichtig. Neben dem Aushalten war sie die wichtigste Eigenschaft. Dass man sie anzog, hätte sie nicht ertragen, und fast schien es, als wäre der letzte Hauch ihres Lebens mit diesen Berührungen verschwunden, dem ungewollten Zerren an einem steif gewordenen Leib. Es war nur ein Körper. Dennoch war es mir unmöglich, Erde auf den Sarg zu werfen.
Ich gab die Schaufel weiter. Der Blick meiner Mutter ruhte auf mir, ich wich ihm aus, denn ich spürte, dass sie in meinen Augen ihre Mutter sah. Sie hatte gelächelt, das würde meine Mutter nie vergessen.
Meine Erinnerung beginnt in einem Gitterbett. Ich war drei Jahre alt und eigentlich schon zu groß für das Bett, über dessen Kante ich beQuem die Arme hängen lassen konnte. Noch heute ist mir, als könne ich die Kante spüren, die erst schrecklich kalt unterm Kinn war, sich dann aber allmählich erwärmte, sich manchmal sogar heiß anfühlte, wenn ich lange gewartet hatte, zu lange, bis man mich herausnahm. Dennoch sagt meine Mutter noch heute, ich hätte da gern geschlafen. Damals hätte ich noch keine Angst gehabt. Gut behütet. Das waren die Worte für mich in dem Bett, von dem aus ich ja allerlei überblicken konnte – mein Zimmer war geräumig und ein Durchgangszimmer dazu. Womöglich stimmt es auch, dass ich mein Bett mochte. Es schützte mich vor Angriffen aller Art, fliegenden Stofftieren zum Beispiel, mit denen meine Schwester gern spielte.
Von dieser Kante aus, mit müden Augen gerade darüber hinweg, beginnt auch die Erinnerung an meine Großmutter, die mit meinem Großvater zu Besuch gekommen war und mich mit ihren langen Armen herausheben wollte. Ich aber wollte nicht. Ich ließ mich ins Bett fallen und schrie aus Leibeskräften. Unter Tränen sah ich nur unscharf, es war, als wüchsen diese Arme noch, um näher an mich heranzukommen. Im Hintergrund das schöne Gesicht meines Großvaters, der aus irgendeinem Grund keine Arme hatte, die mich hätten retten können, noch dazu schien er zu lächeln, ein schönes Lächeln immerhin. Begleitet vom Lachen meiner Mutter, die aus dem Nichts gekommen war, hob mich meine Großmutter heraus, es musste fast ein halber Meter Abstand zwischen unseren Gesichtern sein, und ich war schwer, dennoch hielt sie mich hoch, unbewegt und stark wie ein Baum, und sah mich mit großen, ernsten Augen an.
Ihr noch dichtes Haar trug sie zu einem Knoten zusammengesteckt. Auf ihrer blassen Haut kaum Falten, unter den Augen jedoch dunkle Ringe, die sie, wie ich später auf Fotos gesehen habe, bereits als junges Mädchen hatte. Ihre Lippen waren geschwungen, auf eine anrührende Art klar. Mit dem Alter und der Arbeit, wie sie selbst sagte, wurden sie schmal, ohne jedoch an Farbe und Ausdruck zu verlieren. Sie war nicht eitel. Nicht gebildet, in einem ehrgeizigen Sinn. Aber wach. Und das vor allem sah man an ihren großen, fordernden Augen, vor denen ich als Kind zurück in meine Kissen geflohen war.