Deutsche Erstausgabe
© 2009 by ONKEL & ONKEL
All rights reserved.
Lektorat: Marcel Diel
Korrektorat: Ina Serif
Gestaltung: Alexander Rübsam
Gesetzt aus der Custodia
ISBN 978-3-940029-45-4
eISBN: 978-3-943945-07-2
www.onkelundonkel.com
Für meine Familie
»Und? Wie heißt du?«
Der Mann gegenüber, einer mit dickem Kopf und schwerer Brille und einer senkrechten Narbe über dem rechten Auge, hustet wie ein Asthmatiker. Seine Spucke spritzt über die aufgeschlagene Zeitung.
»Jens Hermanndung.«
Der Mann hebt seinen Kopf, wobei die Narbe blau wird, und betrachtet den Neuen, als hätte der schon etwas Dummes oder Falsches gesagt. Dann brummt er: »Der letzte Jens, den wir hier hatten …« – »Brauk, lass das!« – »… den wollten wir hier nicht.« – Der Mann an der anderen Seite des Tisches, der ihn unterbrochen hatte, niest in ein Taschentuch und hält dabei mit dem Daumen ein Romanheft auf. Während er sich die Nase reibt, ruft er: »Du heißt Jensi. Damit is jut.«
Jens sieht an dem Narbenkopf vorbei durch das Fenster. Auf der kleinen Wiese vor der Mauer liegt Bodennebel. Am Fenstersims hängt an einem krummen Nagel ein Abreißkalender. Jemand schnarcht, einer ruft: »Bölk!« Das hört sich an wie ein mächtiger Rülpser. »Bölk!«
Ein alter Mann schreckt auf, er sitzt an der spitzen Ecke des Tisches, als hätte er nirgendwo anders Platz gefunden. »Ja, ja«, murmelt er, nimmt seine Pudelmütze vom Tisch, will sie sich über den Kopf ziehen. Dann besinnt er sich, blickt zur Uhr, die über der Tür hängt: vierzehn Minuten vor sechs.
»Bölk!«, ertönt es zum dritten Mal. Der alte Mann erhebt sich und reißt das Kalenderblatt ab. Dann setzt er sich wieder. Jens liest den schwarzen Aufdruck: Montag, 2. April 1973.
Dieser Bölk blickt herüber, als hätte er den neuen Kollegen erst jetzt bemerkt. »Der Pullover«, sagt er. Jens weiß nicht, was Bölk meint, erklärt: »Mir war kalt. Hier ist es warm.« – Der Alte schließt die Augen, erinnert dabei an eine Schildkröte. Als er sie wieder öffnet, kommt es Jens so vor, als weinte dieser Mensch. Jens fragt und bereut es gleich darauf: »Wie heißen Sie denn?« Da schallt es ihm schon von allen Seiten des Tisches entgegen: »Bööölk!«
Ein Mann, den Jens nur von der Seite sehen kann, einer mit kräftigen dunklen Augenbrauen und mit einem Bierbauch, dessen Haare durch das Hemd lugen, sagt in ruhigem Ton: »Werner heiße ich. Werner Wartig. Morgen hat Leutloff Geburtstag …« – »Da läuft auch der Letzte!«, ruft der mit dem Romanheft, ohne aufzusehen: »… pfeift es heran. Kurz, scharf, tödlich. Pak! Nun schlägt es vor ihm in die Grabenbrüstung. Ein greller, orangefarbener Feuerblitz. Ein ohrenbetäubender Knall …« Wartig spricht unbeirrt weiter: »Ich sammle für alle. Kostet eine Mark, dein Einsatz.« – »Für den Geburtstag?«, fragt Jens. »Sag ich doch!«, faucht Wartig. Er schreibt etwas in ein kleines Notizbuch. Jens steht auf, holt sein Portemonnaie aus der Tasche, zieht seine Jacke aus, hängt sie über die Stuhllehne. Legt Wartig zwei Fünfzigpfennigstücke auf den Tisch. »Schöner Arsch«, flüstert jemand.
Draußen poltert es. Ein junger Mann steht in der Tür. Er wirft seine Tasche über die Köpfe der Anwesenden hinweg bis zu den Spinden, wo sie krachend auf den Boden fällt. »He!«, ruft jemand. »Hier schlafen noch welche.« – »Morgen zusammen«, antwortet der junge Mann, drückt seine schulterlangen Haare aus dem Gesicht und schlurft zum Spind, wo er sich wortlos bis auf Hemd und Unterhose entkleidet. Sein Gesicht, die Oberarme und der Nacken sind über und über mit Pusteln und roten Flecken bedeckt. Jens schlägt die Augen nieder. Der Hässliche schlüpft in seine blauen Arbeitsklamotten und lässt sich auf einen Stuhl fallen. Da entdeckt er den Neuen. Er grinst, zeigt seine gelben Zähne. »Und, wer bist du?« – Jens nennt seinen Vornamen – und verbessert sich sofort: »Jensi.« – »Sittig«, sagt der andere. »Bist jung, ne?« – »Siebzehn.« – Jemand ruft: »Nicht volljährig, Schneider. Den darfste nicht ficken.«
Sittig reißt eine Milchtüte auf und trinkt, wobei es ihm aus den Mundwinkeln auf den Ärmel tropft. »Bah!«, ruft jemand, und dann in Richtung des Neuen: »Bist du auch so ’n Milchbubi?«
– Jens möchte den Mann am liebsten gar nicht ansehen. Als er doch aufschaut, irritiert ihn dessen ernster Blick und hintergründiges Lächeln. »Hasso bin ich«, sagt der Mann und stößt mit dem Ellenbogen seinen rechten Nachbarn an, der eine Kappe auf dem Kopf trägt und unbeirrt weiter Zeitung liest. Hasso ist dick und schwitzt. Sein weißes, ärmelloses Unterhemd ist vorn und unter den Achseln nass. Jens möchte etwas sagen, aber das einzige, was ihm einfällt, ist: »Fangen wir um sechs an?« – Hasso fährt mit seiner unförmigen Hand über sein fleischiges, stoppelhaariges Gesicht, antwortet: »Ich ja.« – Wartig erklärt: »Sittig fängt immer zehn nach an.« – Der mit dem Romanheft murmelt: »Weil Schneiderchen ihn noch befummelt.« – »Den nur mit Handschuhen«, sagt Wartig. Jens betrachtet denjenigen, der Schneider sein muss, ein älterer Mann mit zerfurchtem Gesicht und dunklen, seltsam glänzenden Augen, die jung wirken. – »Wenn du mich angrabbelst«, ruft Sittig zu ihm herüber, »beiß ich ihn dir ab!« – Schneider kratzt sich am Kopf, wobei ein wenig Asche von seiner Zigarette auf sein graues, welliges Haar fällt, sagt: »Gerne.«
»Kammhoff, deine Mark!«, ruft Wartig. Der mit dem Romanheft greift in sein Hemd und zieht an einem Lederband, bis ein kleines, schwarzes Portemonnaie hervorkommt. Er öffnet es mit widerwilliger Miene, sagt: »Hatte Leutloff nicht erst letztens Geburtstag?« – »Blume war der letzte«, antwortet Wartig. Kammhoff wirft ihm ein Geldstück zu, schlägt dem Mann links neben ihm, der tief und fest zu schlafen scheint, auf die Schulter und ruft: »Blume! Geburtstag!« Erschrocken fährt Blume zusammen und hebt seinen Kopf aus dem Armkissen. Wartig wirft das Geldstück zurück zu Kammhoff, faucht: »Steck sie dir in den Arsch, deine scheiß Ostmark!« – Kammhoff fasst Blume an beiden Schultern, schüttelt ihn und schreit: »Hast du gehört, der Wartig will mein Geld nicht haben!« – »Jawoll, Blume, tu was!«, ruft Sittig, und Bölk sagt wie zu sich selbst: »Für alles soll man zahlen.« Eine Klingel, schrill wie eine Schulpausenklingel, verschluckt eine Bemerkung von Schneider, und weil sich alle mehr oder weniger behände von ihren Stühlen erheben, steht auch Jens auf. Was nun? Er presst seine Hand auf die Brust, als müsse er sein Herz festhalten.
Im Flur brüllt ein glatzköpfiger Mann: »Kammhoff: Schere! – Blume: Hilf! – Sittig: Moppel! – Brauk: Du weißt! – Hasso: Zink! – Schneider: Grob! – Bernhard: Hilf!« – »Nicht da!« – »Krank?« – »Nicht da.« – »Wetzel: Geh du! – Bölk: Fittings! – Ziel kommt später, alles klar? Ab!« – Die Männer verschwinden im Durchgang zur großen Halle, einige, wie Wartig, gehen durch eine Eisentür nach draußen. Jens bleibt allein zurück. Der Glatzköpfige sieht ihn an, sagt: »Und du? Hermanndung, ja?« Jens nickt. »Ich bin Leutloff. Vorarbeiter. Kannst mitkommen.« – Jens’ Arme zittern. Leutloff zieht ein Kaugummi aus der Hosentasche, reicht es dem neuen Kollegen, sagt: »Beiß drauf! Hilft!«
Jens läuft dem kleinen, rundlichen Mann hinterher und muss immer wieder stehen bleiben, weil der Vorarbeiter in seine Papiere sieht, die er mit beiden Händen vor dem Bauch festhält, als könnten sie ihm jeden Augenblick gestohlen werden. Dazu murmelt er pausenlos und nahezu monoton: »Tränenblech für Schindler. Vier Quadrat. Macht Brauk. Blei morgen. Grob soll Meister entscheiden. Moppel 3 kaputt. Und die Meldung?« – Ehe sich Jens versieht, befindet er sich mitten in der großen Halle. Wohin er auch blickt, sind schreibtischgroße Bleche aufeinander gestapelt, oft mehr als einen Meter hoch und oben mit einer Pappe bedeckt. Die Luft riecht nach Holz und Maschinenöl, es zieht aus allen Ecken. Jens hört das dumpfe Klirren schwerer Eisenketten und das Summen von Elektromotoren. Sittig sitzt lässig auf einem gelben Hubwagen, fährt rückwärts. Eine Kurve. Vorwärts. Und wieder rückwärts. Leutloff brüllt: »Das Alu, Langer, dalli!« Ein Warnton, und der Wagen rast mit den aufgegabelten Blechen so nah vorbei, dass Jens zurückspringt.
Dann ist es ruhig. Jens befindet sich in einem mannshohen Glaskasten, der kaum Geräusche durchlässt. Hier telefoniert jemand und zwinkert dem Neuen zu. Jens kennt ihn: Meister Bode. Leutloff tritt von einem Bein auf das andere, starrt durch die Glasscheibe auf eine rote Bodenmarkierung außerhalb des Kastens, wo gerade Sittig seinen Hubwagen mit den Blechen abstellt. »Hier, Jensi, die Waage«, murmelt Leutloff und betätigt einen langen eisernen Hebel, der wie eine Lastautokupplung aussieht. Dann drückt er auf einen dicken roten Knopf, eine Klingel ertönt und Leutloff ruft: »Passt!« – Eine elektrische Schreibmaschine rattert, ein Blatt Papier schiebt sich heraus. Leutloff reißt es ab und wirft es durch einen Schlitz nach draußen. Sittig greift danach, hüpft auf den Sitz und knallt den Zettel mit einer leeren Konservenbüchse auf die Bleche. Leutloff macht eine Handbewegung, als wollte er jemandem eine Ohrfeige verpassen, ruft: »Ab!«, und Sittig fährt die Bleche Zigarette rauchend davon.
»Morgen, mein Lieber, haben Sie gut hergefunden?«, fragt der Meister und reicht ihm die Hand. – »Mein Vater hat mich hergefahren.« – Der Meister setzt sich und bietet auch Jens einen Hocker an, während Leutloff daneben steht und seine Zettel sortiert. »Ich freue mich für Sie, dass das alles so gut geklappt hat. Sind Sie mit ihrer Wohnung zufrieden?« – Jens sieht beide Männer abwechselnd an: »Mein Vater hat ein Zimmer gemietet, ich darf aber alles benutzen. Die Küche und das Bad. Es sind vier Zimmer insgesamt. Der Vermieter wohnt woanders, irgendwo in der Nähe, bei seiner Freundin.« – »Sie werden mit der U-Bahn kommen, ja?« – »Morgen früh noch mit dem Auto. Dann fährt mein Vater nach Lebenstedt zurück.« – Der Meister klappt einen zerfledderten Stadtplan auf, einige Seiten rutschen auf den Boden, Jens hebt sie auf. »Wie heißt die Straße?« – »Braunschweiger.« – »Dann fahren Sie am besten vom Bahnhof Neukölln bis Mehring-damm. Hier müssen Sie umsteigen. Dann Richtung Alt-Mariendorf bis Ullsteinstraße.« – »Ich bin noch nie U-Bahn gefahren. Ich muss mir das genau ansehen.« – Der Meister lacht. »Sicher, sicher. So schnell merkt sich das kein Mensch.«
Leutloff ruft durch die Halle: »Bööölk!« Es dauert eine Weile, bis der Alte erscheint: vornübergebeugt, irgendwie schief, mit Pudelmütze. »Kriegst Hilfe, Bölk«, sagt Leutloff. »Zeig ihm alles und pass auf, dass er nicht unter die Räder kommt.« – Bölk grinst, sein Mund reicht fast von einem Mützenrand zum andern. »Dann kommen Sie mal mit, Junge«, sagt er. Jens wundert sich, gesiezt zu werden. Der Alte geht langsam bis zum anderen Ende der Halle, an Brauk vorbei, der gerade ein Blech vom Stapel auf den Wagen zieht und Bölk keines Blickes würdigt. Bölk lächelt ihn freundlich an, zieht einen Zigarrenstummel aus der Hosentasche und steckt ihn in den Mund. Jens stößt sich an einem Stapel Holzpaletten, reibt sich die Stelle. »Hast Hunger?«, fragt Bölk, Zigarre im Mundwinkel, Jens von Kopf bis Fuß musternd. »In Ihrem zarten Alter hatte ich immer Hunger. Hunger nach Salami und nach Braut. Beides gab’s nicht. Hast eine Braut, ja? Sie haben Glück, weil Sie noch jung sind.« Bölk schreitet weiter. Jens fällt auf, dass der Mann seinen rechten Schuh hinten flachgedrückt hat wie einen Latschen. »Mich übersahen die Damen immer. So ist es bis heute geblieben – oder ich hab’s nicht bemerkt«, flüstert Bölk, als sollte es niemand hören. Doch dann dreht er sich um, hebt Zeigefinger und Stimme: »Glauben Sie nicht, dass ich nicht verheiratet war! Hilde war bloß keine Dame. Sie ist vielleicht eine im Himmel geworden, wer weiß das schon.«
In einem dunklen Flur bleibt Bölk unvermittelt stehen, als fürchte er sich. »Entschuldigung. Ich muss aufs Dings. In meinem Alter muss man immer pissen.« Er verschwindet durch eine schmale Tür, hinter der sich, dem beißenden Geruch nach zu urteilen, eine Toilette befinden muss.
Jens wartet. Seine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Auf einem der dicken, schwarzen Kabel, die über dem brüchigen Putz verlegt sind, und auf dem gekachelten Fußboden liegen unzählige Zigarrenstummel wie tote Käfer, teilweise unter Spinnennetzen. Man könnte meinen, dass nur Bölk diesen Flur benutze, kein anderer, ja dass der alte Mann hier zu Hause ist.
»Hier kann man immer«, flötet der Alte, als er endlich wiederkommt. »Hier wird man nicht gestört.« Er schlurft weiter den Flur hinunter. Jens folgt ihm in einen Raum, der einzig von einer grauen, schmutzigen Lampe erhellt wird, die ihr gelbes Licht auf einen zerschlissenen Schreibtisch abgibt. Jens blickt auf ein enormes Regal, wandhoch und aus Eisen, das fünfzig, hundert Plastikkästen beherbergt, blaue und grüne, an denen kleine Zettel kleben. In diesen Kästen lagern kupferne und messingfarbene Rohrstücke. Unmengen. Jens nimmt eins in die Hand, es ist kalt, fühlt sich schmutzig an. Bölk stößt Zigarrenrauch aus, erklärt: »Fittings. Kreuzstück. Wie das Jesuskreuz. Nur für Klempner.« Er hebt an der Wand rechts vom Regal einen Haken aus einer Öse, öffnet krachend eine hölzerne Lade; sie gibt den Blick in die Halle frei und lässt staubiges Licht herein. Jens ist überrascht, er hat die Halle ganz woanders erwartet. »Ein Kaufmannsladen.« – Bölk lässt sich in einen zerschundenen Drehsessel fallen, der zu besseren Zeiten in einem Büro gestanden haben muss, raucht genüsslich, während er langsam und mit Pausen spricht: »Sieh sie dir an. Alle. T-Stück. Übergangswinkel. Einfacher Winkel. T-Stück mit Abgangsinnengewinde. Winkelverschraubung mit Innengewinde. Bogen. Muffe normal. Muffe lang. Kurz …« – Jens greift in das Meer kalter, stumpfer Metallteile, die einen hellen Ton von sich geben, fragt: »Was machen wir damit? Verkaufen?« – Bölk hat die Augen geschlossen, antwortet wie im Selbstgespräch: »Sie müssen alles sortieren. Wegen dem Langen. Sittig hat sich auf das Regal gestellt. Ich war im Urlaub, und da fiel alles um. Hasso hat ihn entdeckt, wollte ihn aber nicht anfassen. Wegen der Pickel.« Bölk spricht leise, immer leiser. Schließlich schläft er ein. Der Zigarrenstummel fällt ihm aus dem Mund.
Worauf sich setzen? Jens findet einige nach Öl riechende Lappen, legt sie auf dem Fußboden übereinander und macht es sich so bequem wie möglich. Er schreibt mit dem Finger etwas auf den Beton. Mit großen Buchstaben: JENS HERMANNDUNG. Dann schreibt er: IN BERLIN. Er hört Bölk schnarchen und schreibt auf den schmutzigen, öligen, kalten Betonboden das Wort ENDLICH. Dahinter setzt er ein Ausrufezeichen. Er liest das letzte Wort immer wieder, als wäre es ein Zauberwort, das ihn überhaupt erst in diese Stadt, in diesen Betrieb, diesen Kaufmannsladen hier gebracht hat.
Kalt ist es hier. Kalt und ungemütlich. Jens zieht den Reißverschluss seiner Jacke hoch. … und hässlich. Aber es ist doch schön hier. Neu und wunderschön. – Er freut sich über den Gedanken. Dann gähnt er. Bölks Schnarchen macht müde. Jens ist sowieso müde. Fast die ganze Nacht hat er wachgelegen, wie in den Nächten davor, hat geschwitzt und sich gefürchtet – wie vor der wichtigsten Prüfung seines Lebens. Vor Berlin. Berlin! – Er sieht sich in Lebenstedt das Auto beladen, das war am Geburtstag seines Vaters. Er sieht die Mutter und den Bruder in der Haustür stehen. Sie winken. Die alte Welt winkt, hat Jens im Auto gedacht – und schon aus der neuen zurückgewunken, obwohl er noch nicht einmal die Straße verlassen hatte. – Und die neue Welt kam schnell näher, sie kam in Etappen. Sie war es schon in Marienborn, denn Jens war noch nie zuvor an der Grenze gewesen, der deutschdeutschen. Sie war es schon auf der Autobahn, denn niemals zuvor hatte er eine so weite Reise unternommen: dreihundert Kilometer. – Und dann die Enttäuschung, dass links und rechts der Autobahn keine Mauer stand.
Der Traktor, der auf der holprigen Autobahn einen Ballen Stroh verlor. Die Spruchbänder an den Brücken: »Dem Sozialismus gehört die Zukunft«, »Ruhm und Ehre unseren Aktivisten«. Dann der letzte Halt vor Berlin. Passkontrolle. Die glatte Avus. Dann der Funkturm und die Explosion der Straßen. – Wohin? – Geradeaus. Im Zweifel immer geradeaus. Nach Norden. Hier ist doch Norden? Und wie heißt das hier? Müllerstraße. Irgendwo. Unendliche Stadt. Wo ist die Mauer? Unsichtbar. Und weiter. Zufällig in den Süden. Hier ist doch Süden? Die Ratlosigkeit des schweigenden Vaters. Tempelhofer Damm irgendwo. Der Vater steigt aus. Warum gerade hier? Industriegebiet. Versucht’s einfach. Verschwindet in der nächsten Seitenstraße. Jens wartet im Auto. Ohne Hoffnung. Und dann geschieht das Unglaubliche: Der Vater findet für seinen Sohn eine Arbeit! Kurze Vorstellung bei Meister und Chef. (»Muss ich denn?« – »Doch, doch, die müssen einen Eindruck bekommen.«) Dann der Vertrag. Der erste in seinem Leben. »Bis übernächste Woche, Herr Junior!« So ist Berlin.
Lager- und Transportarbeiter Jens Hermanndung. Wo soll er wohnen? Eine Nacht im Hotel: Pension Schneider, Holzmannstraße. Zum ersten Mal in einem Hotel. Warmes Abendessen: Currywurst. Malzbier. Zwei sogar. Der Vater einen doppelten Wodka. Zwei. Zur Feier des Tages. Anruf bei der Nachbarin in Lebenstedt: Gut angekommen. – Nachts erst allein im Bett. Der Vater geht noch mal an die Bar.
Frühstück. – Die Frau berlinert: »Ick kann Se nich helfn. Ick wees nich, wo wat is. N Zimma – nee, wees ick wirklich nich.«
Und am selben Tag die Wohnung! Es ging so schnell. Der Vater hielt an, stieg aus, als würde er sich auskennen. Sah sich um, als wüsste er, wonach er suchte. Ging ein paar Schritte, als hätte er einen Plan. Dann war er verschwunden, und als er wieder zurückkam, hatte er eine Frau angesprochen, die einen Freund hat, der mit jemandem bekannt ist, der Herr Wameling heißt. Und der hätte ein Zimmer frei. Sie warteten eine Dreiviertelstunde. Der Vater redete pausenlos, geradezu euphorisch: »Werde, was ich nicht werden konnte … In deinem Alter … Ich habe mir immer gewünscht, und du hast die Gelegenheit …« Keine neuen Worte, doch heute schienen sie zu passen, klangen anders, fast wie zum ersten Mal gesagt. Der Rest war reine Formalität. Der Vater besuchte die Frau noch einmal. Jens weigerte sich, mitzukommen. »Du musst!« – »Nein!« – »Sei doch nicht kindisch!« – »Ja.«
Jens schreckt auf. Er hört das Jaulen eines Hubwagens. Erhebt sich, blickt durch das Ladenfenster. Es ist der dicke Hasso, der da angefahren kommt. So dick, dass der halbe Hintern in der Luft hängt. Und Bölk schläft. »Herr Bölk! Aufwachen!« Doch der alte Mann rührt sich nicht. Jens schüttelt ihn, bis ihm die Pudelmütze über die Augen rutscht. Zwecklos, Hasso ist längst da. Der Dicke hält genau vor dem Fenster, damit er hereinsehen kann, ohne aufzustehen. Er nimmt den Schlüssel aus dem Fahrzeug und schlägt mit Wucht gegen die Lade. Das wirkt: Bölk wacht auf und zuckt. Dann springt er hoch und streckt Hasso seine rechte Hand entgegen. Hasso legt einen Zettel hinein, grüßt Jens mit erhobener Hand und fährt ab, ohne ein Wort zu verlieren. Bölk lässt das Papier auf den Tisch fallen und sich selbst in den Sessel. Es scheint, als wollte er gleich weiterschlafen. Jens mustert das Papier: »Was machen wir damit?« – »Nichts«, antwortet Bölk mit geschlossenen Augen. – »Aber wir müssen doch etwas tun.« – »Erst mal nichts. Der kommt erst am Nachmittag wieder.« – Bölk zieht sich die Mütze über die Augen und lässt Jens ratlos stehen. Sollte er hier so wenig zu tun haben? Und wenn ihn jemand kontrollieren kommt? Das muss doch Ärger geben! »Soll ich nicht schon mal anfangen?«, fragt er. – »Wenn Sie wollen. Sortieren Sie, Jensi. Sortieren, sortieren. Rest später.«
Sortieren. Jens sortiert die Fittings, so gut er kann. Irgendwann fragt er: »Wann ist denn Mittagspause, Herr Bölk?«, aber der rührt sich nicht. Jens möchte dem alten Mann am liebsten gegen das Schienbein treten, damit er antwortet.
Er setzt sich wieder auf die Lappen. Denkt an seinen Vater, der heute einige Formalitäten erledigen will. Das Wichtigste ist die Monatskarte für die U-Bahn. Dann die Anmeldung bei der Krankenkasse und bei der Polizei. Jens kann sich auf seinen Vater verlassen – wenn der nicht abgelenkt wird, von Herrn Wameling zum Beispiel, dem Vermieter. Am Samstag kam Herr Wameling in die Wohnung und redete mit dem Vater endlos über kleinste Nebensächlichkeiten. Als den beiden in der Wohnung zu kalt wurde, musste Jens mitkommen in eine Kneipe am Bahnhof, wo genauso endlos weitergeredet wurde und so viel getrunken, dass Jens seinen Vater auf dem Weg zurück stützen musste. Das war nicht einfach. Und in der Wohnung angekommen, funktionierte das Licht nicht. Jens hatte in der dunklen Küche Streichhölzer und Kerzen finden müssen, war über einen Koffer gefallen, und dann lag alles durcheinander. Der Vater brauchte nur eine Stunde Schlaf, um den Alkohol zu verdauen, dann half er sogar noch beim Putzen – mit einer Taschenlampe. Er wischte die halbe Küche und machte Witze. Die Wohnung war sehr dreckig und ist immer noch nicht sauber. Auch Strom gibt es nach wie vor nicht. Im Kerzenlicht aßen sie polnisches Schweinefleisch aus der Büchse, dazu trank der Vater wieder Bier. Es war ein schöner Abend.
Und gestern, am Sonntag, hatten sie wieder geputzt. Der Vater die braunen Dielenbretter im Flur und die Türen. Jens die schönen großen Kachelöfen. Der schönste, mit einem Engel aus Keramik, steht in dem hintersten Zimmer, dessen Fenster auf den Hof blicken. Jede Viertelstunde flog mit großem Gepolter und Pfeifen ein Düsenflugzeug übers Dach. Erst am Abend wurde es still. Jens ärgerte sich über seinen Vater, weil er Herrn Wameling besuchen wollte, ohne dass es dazu einen triftigen Grund gab. Nur um wieder über tausend Nebensächlichkeiten zu reden. Der Vater ging dann doch nicht hin, lieh sich aber 40 Mark von Jens. Dass der Vater nicht vernünftig wirtschaften kann! Das Geld hatte doch die Oma aus Stöckse geschickt, 150 Mark, damit der Junge es am Anfang nicht so schwer hat!
Zur Mittagspause lärmen unüberhörbar tausend Klingeln. Bölk erhebt sich, lässt einen fahren, sagt: »Das müssen Sie entschuldigen, das gehört dazu.« – Er kramt in seiner Tasche, macht ein besorgtes Gesicht. Und als er einen Zigarrenstummel gefunden hat, zeigt er wieder sein breites Grinsen. Im Gang läuft ihm Jens hinterher wie ein Hund, doch in der Halle geht er neben Bölk wie ein Kollege. Vorne am Waagehäuschen sieht er Kammhoff, wie er Leutloff einen Zettel hereinreicht. »Müssen wir nichts abgeben?«, fragt er Bölk. – »Was denn abgeben?« Der Alte sieht ihn müde an. – »Na, den Zettel vom Hasso.« – »Ach, den …« Bölk zieht am Stummel. Jens mag Zigarrenrauch. Er beobachtet Kammhoff, wie er schnurstracks zum Ausgang eilt, ohne auf Blume zu achten, der mit geneigtem Kopf hinter ihm hertrottet und dreimal so viele Schritte braucht. Meister Bode klopft von innen gegen die Scheibe des Waagehäuschens und winkt. Jens winkt zurück. Bölk brummelt: »Hast Glück, Junge.«
Im Pausenraum riecht es nach warmem Rotkohl. Die meisten Männer sitzen vor einer dampfenden Aluminiumschale und schaufeln das Mittagessen in sich hinein. Jens nimmt auf seinem Stuhl Platz, möchte sich die Hände waschen, traut sich aber nicht, nach einem Waschbecken zu fragen. Wartig befiehlt, während er kaut: »Nimm’s vom Bernhard. Ist übrig. Ab morgen kriegste Essensmarken.« – »Hat wieder keine Lust, der Scheißkerl«, faucht Kammhoff. – »Wo ist denn unser Bernhard?«, fragt Bölk süßlich. Jens fällt auf, dass die Männer mit schmutzigen Fingern essen. Er ist hungrig, freut sich auf die Portion, hat aber kein Besteck. Die Männer haben Gabeln, keine Messer. »Entschuldigen Sie, wo kann ich denn eine Gabel bekommen?« – »Entschuldigen Sie … Pah!«, brummt Brauk. Wartig erklärt: »So fein sind wir hier nicht. Wir duzen uns alle.« – »Das heißt aber nicht, dass wir uns abküssen«, sagt Hasso, »obwohl es mancher gern hätte.« Er blickt zu Schneider hinüber, der seine Kartoffeln in der Soße zerdrückt und dabei in einer Zeitung blättert. Aber Schneider liest nicht. Er hält die Gabel wie ein Messer umklammert, mit dem er im nächsten Moment zustechen könnte. Wenzel, der hinter seiner weit aufgeschlagenen ›BZ‹ sitzt und ein Wurstbrot isst, schiebt Jens eine Gabel rüber. Jens bedankt sich, entdeckt Essensreste zwischen den Spitzen, kratzt sie heimlich unter dem Tisch mit dem Fingernagel ab.
Sittig poltert herein, als hätte er die Pause verpasst, und stellt jedem mit lautem Knall eine Flasche Bier vor die Nase. »Du auch?«, fragt er den Neuen. – Jens weiß, dass er jetzt nicht zögern darf, ablehnen schon gar nicht. Er nickt, Wenzel öffnet ihm die Flasche und Hasso ruft: »Na denn!« – Zehn Minuten später ist Jens seltsam leicht ums Herz. Er lächelt still vor sich hin. Alle Furcht ist wie weggeblasen. Er gähnt zufrieden, und als er Bölk und Blume schlafen sieht, dauert es nicht lange, bis auch er seinen Kopf auf die Arme legt und wegdöst.
»Das Essen ist fertig!«, hört er die Mutter durchs Treppenhaus rufen. Er nimmt das Periskop vom Auge, antwortet: »Gleich!« Durch die geschlossene Tür dürfte sie es kaum gehört haben. Jens möchte nichts sagen, möchte sich nicht verraten, hält das Periskop wieder ans Auge, hebt es durch die Dachluke in die richtige Position. Aber wo ist sie denn? Eben stand sie noch auf den Gehwegplatten. An der Laterne, Ecke Borsigstraße. Mit kurzem Rock. Lianne! – Jens steht auf, sieht ohne Hilfsmittel nach draußen. Überblickt die Straße. Wo bist du? Er zieht seine Unterhose hoch, so gut er kann. Dann schließt er die Tür auf und läuft die Treppe hinunter …
»Jensi, aufstehen!« – Er hebt den Kopf, versucht es zumindest, aber der fällt gleich wieder auf den Tisch zurück. Der Aufschlag lässt ihn endgültig aufwachen. »Bist tot, ja?« – Leutloff steht neben ihm. Leutloff! Jens begreift, springt auf wie ein Ertappter, doch Leutloff drückt ihn auf den Stuhl zurück. »Komm erst mal zu dir, Jensi.« – Leutloffs Stimme hallt eigenartig. Wo sind die Männer? Jens blickt sich um. »Was ist denn passiert?« – Leutloff wippt von einem Bein aufs andere, als müsse er pinkeln, sagt: »Bist Arbeiten nicht gewohnt, ja?« – Jens springt wieder auf, zittert vor Aufregung. »Du musst zum Chef.« – »Zum Chef?« – »Muss jeder mal. Aber dich will er begrüßen.« – Leutloff schnappt sich die Papiere, die er auf dem Tisch abgelegt hat, fragt: »Bist wach?« – Jens spürt starken Harndrang, fragt: »Wo sind die andern?« – Leutloff antwortet, schon fast in der Tür: »Bist spät. Beeil dich!«
Jens findet die Toilette nicht, öffnet eine Eisentür und erleichtert sich im Freien. Wieder im Flur sucht er das Treppenhaus. Er geht die Stufen hinauf. Oben sind die Wände sauber. Er drückt mit der Schulter eine Glastür auf, betritt einen Flur, in dem ein langer grauer Teppich liegt. Hier ist er schon einmal gewesen. Bei der Vorstellung, als der Vater und der Chef sich die Hand reichten und der Chef sagte: »Die Stadt kann Arbeiter brauchen.« – Dabei ist er doch gar kein Arbeiter. Er ist Schüler. Ist es bis vor zwei Wochen noch gewesen. Und bald wird er es wieder sein. Nach fünf Monaten bei der Firma wird er Oberschüler sein. Chemie möchte er studieren.
Das pfeilförmige Schild an der Decke: ›Geschäftszimmer‹. Jens erkennt es wieder. Er klopft an, wartet. Eine kleine Frau mit kurzen schwarzen Haaren, langer Nase und schwerer Brille öffnet, sagt leise: »Ach, Sie hätten doch einfach reinkommen können! Herr Schäfer wartet schon.« – Die Frau lässt einen Stift fallen, Jens bückt sich danach, entdeckt Staub an seinen Schuhen, dann die Beine seines Gegenübers. Sein Blick wandert an der Naht der grauen Nylonstrümpfe entlang über den Saum des grauen Rocks kurz unter dem Knie bis nach oben. Er errötet leicht. »Sehr liebenswürdig«, trällert die Frau, »ich verliere in letzter Zeit immer meine Kugelschreiber. Und das Komische ist: Bei meiner Schwester sind es die Taschentücher. Sie verliert immer Taschentücher.« – Sie geht einen Schritt zur Seite, und Jens betritt das Zimmer. Links an der Wand klappert ein schrankhoher Fernschreiber, rechts hängt ein Ölgemälde, das eine Landschaft mit allerlei Säulen und Schafen zeigt. »Gleich hier durch.« – Jens fällt auf, dass die Frau keinen Busen hat. Er wischt mit dem Pulloverärmel einmal über seine Schuhe. – »Das brauchen Sie doch nicht!« Die Frau rückt ihre Brille zurecht und zieht sich kichernd hinter ihren Schreibtisch zurück.
Jens klopft an. Die Tür öffnet sich. Da steht der Chef, ein Mann mit grauen Haaren, schmalem Gesicht und seitlich zusammengedrückten Nasenflügeln. Er trägt, wie neulich, einen schweren grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte mit den Initialen ›US‹ unter dem Knoten. Auf seinem glänzenden Kinn prangt ein kleines Pflaster. Der Chef streckt ihm die Hand entgegen. »Der junge Hermanndung. Ich grüße Sie.« Seine Stimme klingt ruhig und voll wie die des Tagesschausprechers. »Ich will Sie und mich nicht mit langweiligen Formalitäten aufhalten. Ich will Ihnen nur sagen, was ich jedem neuen Mitarbeiter ans Herz lege: Seien Sie pünktlich! Pünktlichkeit ist die Tugend, auf die ich bauen will. Sie entzückt mich – und sie ärgert mich. Je nachdem. Aber sie ist eine Notwendigkeit, auch wenn das insbesondere unsere jungen Leute immer öfter nicht wahrhaben wollen.« Jens möchte antworten, dass schon in der Schule großer Wert auf Pünktlichkeit gelegt worden ist, doch der Chef spricht weiter: »Darum nutzen Sie Ihre Chance und sehen Sie rechtzeitig auf die Uhr. Ich mache es nicht anders. Ich habe mir Uhren für jedes Zimmer zugelegt, und wenn selbst diese vorsorgende Maßnahme einmal versagen sollte, habe ich immer noch meine Frau, die meine Zeiten kennt, die weiß, wann ich zu gehen habe. Sie wohnen allein?« – »Ja.« – Der Chef mustert seinen neuen Mitarbeiter einmal von unten bis oben, als könne er von dessen Kleidung auf familiäre Verhältnisse schließen, dann nickt er ihm aufmunternd zu: »Als ich so jung war wie Sie, war ich auch allein. Aber«, fügt er augenzwinkernd hinzu, »das gibt sich.«
Noch ein Handschlag, dann schließt sich die Tür wieder. Jens reibt sich den Schweiß von den Händen. Im Treppenhaus lässt er sich Zeit.
Es ist nicht einfach, Bölk zu finden. Jens läuft durch die Halle wie ein Hund ohne Herrchen. Plötzlich hört er Kammhoffs Stimme. Er entdeckt den Kollegen hinter einer Kunststoffwand, gibt sich aber nicht zu erkennen. Kammhoff brüllt: »Wie oft habe ich dir gesagt: Stichproben! Mach Stichproben!« Als Jens genauer hinsieht, entdeckt er Blume, der an einem Betonpfeiler klebt und wimmert.
Bölk kramt in den Kästen, wirft einige Fittings in den kleinen Einkaufskorb, der an seinem Arm hängt. Jens riecht den süßen Tabakrauch, der ihn an seinen Opa, an Stöckse, an die Ferien bei seinen Großeltern erinnert. »Tag!«, sagt Jens. Bölk dreht sich um, schiebt ihm den Sessel zu, nuschelt: »Leutloff sagt, ich soll Sie nicht so hart rannehmen.« – Jens zögert, will Bölk den Korb abnehmen. »Nun pflanz dich!«, befiehlt Bölk. Jens nimmt Platz. Eine Staubwolke wirbelt auf.
Bölk arbeitet. Jens dreht sich im Sessel hin und her, dann mit dem Sessel im Kreis, immer wieder. Schön ist es. »Was ist denn mit Blume?«, fragt er. – »Blume?« – Bölk sieht ihn nicht an. – »Kammhoff war eben nicht gerade freundlich zu ihm.« – »Blume ist Blume. War schon immer so.« – »Ist er krank?« – »Krank ist jeder. Pass auf … dass Sie es nicht auch werden.« – »Was hat er denn?« – »Blume?« – »Ja, Blume!« – »Hat’s im Kopf. Hat Blumen im Kopf.« – »Der schläft doch immer.« – »Nee, nee. Tut nur so. Damit er nicht reden muss.« – Jens sieht dem Alten zu, wie er den Korb bis zum Rand mit Fittings füllt.
Bölk sitzt auf den Lappen, Jens döst im Sessel. An seinem letzten Tag ist Lianne vorbeigelaufen. Am Abreisetag. Davor hat er sie wochenlang nicht gesehen. Ob sie mitbekommen hat, dass er Lebenstedt verlässt? Aber warum sollte sie sich für seine Abreise interessieren. Sie ging vorbei, ohne herüberzuschauen. Vielleicht, wenn er draußen gestanden hätte … Doch Jens war in seinem Dachzimmer, packte, sah noch einmal alles durch, alles, was wichtig war für Berlin. Irgendwann öffnete er die Luke, und zufällig: sie!
Jens hört einen Hubwagen, blickt durch das Ladenfenster in die Halle, sieht Hasso kommen. »Herr Bölk! Aufwachen! Hasso!« – Bölk erhebt sich bedächtig, stöhnt, massiert seine Hüften. »Sei froh, dass Sie jung sind!« – »Hasso will die Fittings, wetten?« – »Das müssen Sie noch lernen, Jensi. Wir sind noch nicht fertig. Wir lassen Hasso warten.« – »Soll ich helfen?« – Bölk zeigt ihm den Bestellschein. Jens versucht, die richtigen Teile zu finden. »Hier ist alles durcheinander.« – Als Hasso vorfährt, sind beide beschäftigt. »Ware!«, ruft Hasso. »Ware!« Der Dicke sieht mürrisch aus, doch als er Jens erblickt, lächelt er auf einmal und ruft: »Letzte Ecke, Jensi. Hier sind die Ratten. Willste nicht lieber mir helfen? Wo ich bin, sind die Viecher nicht.« – »Muss das nicht Leutloff entscheiden?«, fragt Jens unsicher. »Ach, der! Noch ein Infarkt und der ist sowieso tot. Dann habt ihr alle mich als Vorarbeiter.« – Bölk reicht ihm den Korb durchs Fenster. Ein Fitting fällt auf den Boden. »Jetzt bück ich mich für Bölk, das hätte der gerne!«, schimpft Hasso, fährt davon und lässt das Kupferteil liegen.
»Gibt es hier wirklich Ratten?«, fragt Jens. »Ach was«, murmelt Bölk, »der sieht überall welche. Nur bei sich nicht. Irgendwann ist Hasso Chef von ›Ulrich Schäfer‹. Aber das dauert. Wenn ich tot bin, ist der Chef. Dann stehe ich über ihm.« – Jens kommt Bölk zuvor und setzt sich auf die Lappen statt in den Sessel.
Bölk schläft. Jens stiert an die Wand. Unten ist ein Loch, gerade passend für Ratten. Aber das einzige Tier, das herauskommt, ist eine Spinne. Jens verfolgt ihren Weg. Der Körper ist so groß wie ein Pfennigstück. Dazu die Beine. Jens denkt an die Spinne, die er in seinem Dachzimmer gefangen hat, eine ähnlich große, letzten Sommer. Er lernte Algebra, und sie saß plötzlich auf dem Chemikalientisch. Er stülpte ein Becherglas über sie, schob ein Blatt Papier drunter, drehte beides um. Sie schaffte es nicht heraus, die dicke, große Spinne. Ein Tropfen Salmiakgeist genügte. Er beobachtete ihren Todeskampf. Dann nahm er sie mit einer Pinzette heraus und fixierte sie in einer Glasschale, die acht Beine ordentlich ausgestreckt. Tote organische Substanz. Trotzdem war sie ihm unheimlich. Er verschloss die Schale mit einem Glasdeckel, sperrte die Leiche ein. Und jetzt, hier, in diesem schmutzigen Raum, die gleiche Kreatur. Oder gar dieselbe? Hatte auch sie es geschafft, heraus aus dem Lebenstedter Gefängnis nach Berlin?
Leutloffs Stimme. »Alle her!« Jens sieht ihn von weitem zwischen den Blechstapeln, die Stimme dringt von allen Seiten an sein Ohr: »Alle her! Dampf! Dampf!« – Jens will Bölk wecken, doch der steht bereits hinter ihm: »Leut macht Feuer!«
In der Halle erlebt Jens zum ersten Mal, dass Bölk sich beeilt. Die Männer stehen im Halbkreis um Leutloff herum, oder sitzen, wie Hasso, Sittig und Brauk, auf den Hubwagen. Jens blickt zum Waagehäuschen, wo Meister Bode telefoniert. Leutloff klatscht mit der Hand auf ein Blatt Papier, erklärt: »Muss alles raus. Heute! Gleich! Alle ran!« Dann verteilt er kleine Zettel, auf denen etwas Handgeschriebenes steht. »Hasso, Sittig.« – »Mit Sittig? Warum?« – »Hasso, Sittig – Schneider, Brauk – Kammhoff, Blume – Wenzel, Bölk. Dampf!« – Die Männer entfernen sich grummelnd in verschiedene Richtungen, als letzter Hasso. Jens bleibt zurück. »Jensi!«, ruft Leutloff. »Wartig bleibt bei Ovellan. Hilf du Kammhoff!«
»So ein Scheiß! Vierundvierzigeinhalb Minuten vor Feierabend!«, schimpft Kammhoff. Jens sieht zu, wie er und Blume ein Stahlblech nach dem andern von einem tonnenschweren Stapel auf eine Holzpalette ziehen. Jens möchte helfen, weiß nicht wie. Kammhoff beachtet ihn gar nicht, redet mit sich selbst. Blume arbeitet wie ein Roboter, als hätte man ihm die notwendigen Bewegungen einprogrammiert, die er nun exakt wiederholt – solange Kammhoff ihn nicht durch irgendeine unnötige Bewegung aus dem Takt bringt. Blume macht ein verbissenes, angestrengtes Gesicht, wie bei einer Prüfung. »Was kann ich tun?«, fragt Jens. »Du? Nichts«, antwortet Kammhoff.
Es ist fast schon elegant, wie Kammhoff das macht: Wie er das oberste Blech mit einem kleinen Messer an einer Stelle anhebt, dann die Ecke mit beiden Händen greift und ruckartig nach oben zieht. Durch die entstehende Welle löst sich das ölige, klebrige Blech vom unteren und kann wie ein gefrorener Teppich weggezogen werden. Zwei, drei Mal packt Jens mit an. Ein wenig. Und ungefragt. Eigentlich keine Hilfe. Eine Bemühung, mehr nicht.
Die Männer schaffen es bis zur Feierabendklingel. Man versammelt sich vor dem Waagehäuschen. Jens hat sich in den Finger geschnitten, will es nicht zeigen, bleibt zurück. Er drückt ein Taschentuch auf die Stelle. »Jensi!«, ruft Bölk.
Als Jens aufblickt, entdeckt er seinen Vater neben Meister Bode im Waagehäuschen. Sie unterhalten sich angeregt, lachen, scheinen sich gut zu verstehen. Der Vater hat seine Hand kumpelhaft auf den Rücken des Meisters gelegt. Ja, das kann er: auf jemanden zugehen. Kontakte knüpfen. Jetzt wird er wieder Unsinn reden. Übertriebenes Zeug. Große Worte. Und wenn er getrunken hat, wird er schlüpfrig. Jens möchte da nicht hineingehen und sich vor den Augen der Kollegen von seinem Vater hochloben lassen. Seht, das ist mein Sohn! Der wird bald studieren gehen. Eine Freundin? Nein, die hat er noch nicht. Die braucht er auch nicht. Der Jens ist noch nicht so weit.
Jetzt hat der Vater ihn gesehen. Er winkt ihn zu sich. Jens hebt den Finger hoch, damit der Vater das Blut sehen kann. Dann fragt er Hasso, der gerade seinen Hubwagen an der Ladestation abstellt, wo denn hier ein Waschbecken sei. »Das weißt du nicht? Das ist doch das Wichtigste! Außer dem Ausgang natürlich.«
Hasso schiebt Jens vor sich her in den Gang, der zum Pausenraum führt. Am Ende des Ganges, in einer Nische, befindet sich die Tür zur Kaue. Ein Waschbecken neben dem andern. Sogar eine Dusche. Hasso grinst. »Hier kannst du ungestört deinen Schniedelwutz sauber machen.«
Die Luft ist warm, der Spiegel nass. Jens findet ein Stück Seife, wäscht sich die Hände und das Gesicht. Der Finger schmerzt. Plötzlich steht Schneider neben ihm. »Verletzt?« – »Nur ein bisschen.« – »Zeig mal.« – Schneider nimmt seine Hand, sagt: »Beim Meister ist ein Hilfekasten.« – »Nein, nein, so schlimm ist es nicht.« – »Ich habe noch Pflaster in der Tasche«, sagt Schneider. – Das Blut tropft ins Becken. Ehe sich Jens versieht, ist Schneider mit einem Streifen Wundpflaster zurück. Der Geruch alter Zigarettenkippen steigt in seine Nase. – »Mach ihn trocken«, sagt Schneider. Jens wischt den Finger an der Hose ab. Schneider versorgt die Wunde. Es ist Jens unangenehm, dass er seine Hand länger als nötig festhält. »Mach’s gut«, sagt Schneider plötzlich und geht. Jens wartet, blickt in den Spiegel, auf dem die Wassertropfen nach unten rinnen.
In der Halle ist es still und düster. Es ist Feierabend. Jens blickt sich um. Wo ist der Vater? Er kann doch nicht schon nach Hause gefahren sein? Von weitem hört Jens eine Tür zuschlagen. Er geht in den Gang zum Pausenraum. Hier ist niemand. Dann hört er Stimmen vom Treppenhaus her. Jens geht den Stimmen nach, reißt die Tür auf. »Papa?« Geht weiter. Horcht. Stille. Weiter. Die Treppe hoch zum Flur mit dem grauen Teppich. Auch hier ist niemand. Die Glastür ist verschlossen. Jens springt die Stufen hinunter, läuft in die Halle zurück. »Papa?« Niemand. Während er Richtung Ausgang läuft und dabei nichts als seine eigenen Schritte und seinen Atem hört, überkommt Jens ein ungeheures Gefühl von Verlassenheit. Fast wie in Lebenstedt. Er läuft schneller.
Der Vater wartet am Tor, raucht Zigarette, dabei auf und ab gehend. »Wo warst du, Junge?« – »Drinnen.« – »Drinnen?« – »Ja.« – Jens umarmt seinen Vater. »Wie war’s?«, fragt der Vater und wirft die Kippe ins Gras. »Hast du was gegessen? Herr Bode will sich um die Essensmarken kümmern.« – »Das macht schon der Wartig.«
Mitten auf dem Weg steht eine Kiste mit Metallschrott. Der Vater stellt einen Fuß darauf, sagt: »Die hat jemand einfach vergessen. Das ist gefährlich. Wenn hier wieder ein Lastwagen um die Ecke braust …« Der Vater bückt sich. Jens will ihm helfen, kann die Kiste aber nicht anheben. Der Vater drängt ihn zur Seite, schleppt das enorme Gewicht zwischen den Beinen bis zum Wegrand. »Das kannst du morgen dem Bode erzählen«, sagt er. Er wischt mit seinen großen, kräftigen Händen durch das feuchte Gras. Dann bückt er sich plötzlich noch mal und macht einen Handstand auf der Kiste. Der Mantel rutscht ihm über das Gesicht.
Der Vater streicht seine drahtigen Haare mit beiden Händen nach hinten. Seine Augen funkeln. »Herr Bode schätzt mich jünger ein. Um die vierzig.« Er hebt die Augenbrauen, als wollte er sagen: »Ich mich auch.«
Auf der anderen Straßenseite sieht Jens ein Stück Lebenstedt: der hellgraue Käfer, Baujahr ’65, Kennzeichen ›SZ – C 389‹. Verrostet. Mit Beton ausgegossene Hohlräume. Auf dem Dach der Gepäckträger, auf dem noch vor kurzem Jens’ bescheidener Hausstand, in drei Koffern verpackt, festgezurrt war. »Vorhin stand hier ein Mercedes«, sagt der Vater und stiert auf die leere Parkbucht neben dem Käfer. »Die dachten alle, es wäre meiner. Ich habe mich dagegen gelehnt und selber gedacht, es ist meiner.«
Volkmarstraße, Tempelhofer Damm. Der Vater fährt wie ein Ortskundiger. »Am Vormittag kam der Elektriker. Hat Licht gemacht. Herr Wameling war auch da.« – »Warst du bei der Polizei?« – »Musst du selber. Die haben heute keine Sprechstunde. Aber ich habe die U-Bahn-Karte besorgt. 18 Mark.« – »Danke.« – »Gilt einen Monat und nur für eine bestimmte Strecke. Ich war auch im Laden. Frau Kaiser hat uns eine Mettwurst geschenkt für heute Abend. Geh doch in den nächsten Tagen mal hin, damit sie dich kennenlernt.« Der Vater schaltet das Radio ein. Ein Rentner wurde ermordet in der Nacht zum Sonntag. Nachbarn fanden ihn morgens blutüberströmt. Von den Tätern noch keine Spur.
Silbersteinstraße. Jens’ Orientierungsvermögen ist schlecht, dennoch erkennt er einiges von heute morgen wieder. Karl-Marx-Straße. ›Plaza‹, der Supermarkt. Die Brücke. Und die Braunschweiger, sein neues Zu Hause.
Die Haustür ist offen. Im Flur grüßt jemand. Jens kennt den Mann nicht, aber der scheint den Vater zu kennen. Während Jens im zweiten Stock vor der Wohnungstür wartet, hört er den Vater reden und lachen. Dieses übertrieben laute Auflachen. Sein ehrliches Lachen ist aber auch nicht viel leiser. Jens sieht sich um. Überall Holz: Holztüren, Holzstufen, Holzgeländer, Fensterrahmen aus Holz. Der Fußboden auch. Die Tür ist mindestens zweifünfzig hoch und zweigeteilt. Der Schlüssel ist dreimal so lang wie ein Lebenstedter Schlüssel.
Jens staunt. Der Vater ist fleißig gewesen, hat den Badezimmerfußboden gewischt und den losen Toilettendeckel mit Draht festgebunden. Außerdem weiß er, wie der Elektroherd funktioniert, ein amerikanisches Gerät, das einem Spielautomaten ähnelt, mit vielen Schaltern und Drehknöpfen. Über dem Spülbecken hängt jetzt ein einfacher Wasserhahn. »War schwierig. Sind Bleirohre«, sagt der Vater. »Möchte wissen, wie lange hier keiner gewohnt hat.« – »Wolltest du den Wameling nicht fragen?« – »Er sagte nur, dass er letztes Jahr mal einen Untermieter hatte. Aber nicht lange. Die Verkäuferin wollte mal einziehen.« – »Welche?« – »Die von Frau Kaiser. Arbeitet im Laden. Ist so alt wie du.« – »Und warum ist sie nicht eingezogen?« – »Ich nehme an, die Wohnung war ihr zu groß. Sie würde sich hier fürchten.«
Mettwurst und Schrippen, Bier und Cola. Jens hat die Kerze angezündet, obwohl die Deckenlampe funktioniert. Sie sitzen im Fernsehzimmer. Der Fernseher ist kaputt. Es ist kalt. Jens zieht sich die Wolldecke über die Schultern. Der Vater trinkt Schnaps, liest in der ›BZ‹. Liest laut: »Adieu Sportpalast. Nach 62 Jahren, turbulenten und traurigen, schönen und schlechten, hieß es Abschied nehmen. Für ein Stück Berlin hatte die letzte Stunde geschlagen. In der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag gaben sich in der Potsdamer fast 2000 Gäste bei Erbsensuppe und Bockwurst, Molle und Korn zum letzten Mal ein Stelldichein …« Blättert weiter. »Heute kommt ›Panorama‹. Mit Merseburger.« Er springt auf, schaltet das Gerät ein, schlägt mit der Faust einmal kräftig gegen das klobige Gehäuse, und plötzlich ist das erste Programm zu sehen. Das zweite auch. Der Vater schaltet noch einmal um. »Ostzone«, sagt er. Der Bildschirm flackert, als ein Düsenflugzeug über sie hinwegpoltert.
Jens hat Durchfall. Auf der wackligen Toilette sitzend, betrachtet er ein großes, schräg an die Wand geklebtes Poster von Mick Jagger, wahrscheinlich vom Vormieter. Fließendes Wasser kommt aus einem vom Fußboden über den Badewannenrand gebogenen Bleirohr. Sobald Jens den Hahn aufdreht, quietscht es wie ein Vogel, ein Urwaldvogel vielleicht.
Der Vater ist auf dem Sofa eingeschlafen. Jens geht durch den langen Flur in sein Zimmer, schließt ab. Klappt das Sofa aus, spannt das Laken drüber. Bettdecke und Kissen sind schon bezogen. Er setzt sich auf die Bettstatt, schaltet die schwarze Lampe ein, die an dem Tisch klemmt. Der Vater hat sie auf dem Balkon gefunden, in einem Blumenkasten, auch ein Stromkabel. – Jens legt sich hin, schließt die Augen. Es dauert nur ein paar Minuten, bis sie auf dem Labortisch steht und aus der Dachluke schaut. Bis sie von seinem Periskop entzückt ist, während er vor dem Tisch sitzt und auf ihre nackten Waden blickt, immer höher sieht. »Bitte nur noch einen Moment, Lianne«, flüstert er.
Er wirft das Taschentuch in den Pappkarton, der ein Papierkorb sein soll, und malt in sein kleines Kalenderbuch, das auf dem Tisch liegt, für den 2. April 1973 einen kleinen Tropfen. Er malt auch einen Tropfen für den 30. März. Und zwei für den 27. Er blättert zurück. Den nächsten Tropfen findet er am 24. März. Und den ersten in diesem Jahr am 2. Januar.
5.15 Uhr morgens. Stau in der Silbersteinstraße. Es ist dunkel, und auf einer Länge von mindestens einem Kilometer ist die Straßenbeleuchtung ausgefallen. Der Vater schimpft. Jens blickt in sein schweigendes Spiegelbild. Das Licht der entgegenkommenden Autos blendet. Der Vater dreht am Radioknopf, der Sender lässt sich nicht gut einstellen. Dann: ›Crimson & Clover‹. Mit dem knackenden Geräusch ist das Lied unerträglich – aber wenigstens ist der Vater, der den ganzen Morgen geredet hat, still geworden.
Germaniastraße. Jens hat den Stadtplan auf dem Schoß. »Junge, ich brauche noch mal vierzig Mark. Besser fünfzig. Für Benzin.« – Jens sagt nichts, nimmt aus seinem Portemonnaie drei Scheine und hält sie dem Vater vors Gesicht. »Kriegst du wieder«, sagt der Vater und überholt drei Autos in einem Rutsch.
Jens rechnet. 150 Mark. Minus vierzig. Minus fünfzig. Rest sechzig. Plus zwanzig von Mutti. Plus fünf, von denen der Vater nichts weiß. 85 Mark. Muss bis zum Monatsende reichen. Der Vater hat die Miete nur zum Teil bezahlt, statt 120 nur 100. Wameling wird vier Wochen warten müssen. ›Daydream Believer‹. Jens schaltet aus. Hört den Regen.
Polizeisirenen auf dem Tempelhofer Damm. Der Vater hält an. Das Blaulicht rast vorbei. Glück gehabt. Herr Hermanndung wurde nicht festgenommen. Warum auch, er hat ja nichts verbrochen. Außer dass er nicht wirtschaften kann. Dass sein Geld irgendwohin fließt. Nach Drütte. Jens weiß, was in Drütte ist. Nicht dran denken. Ein Bild noch, und dann an etwas Schönes denken: Küchentisch mit Zuckerbrot und Butter und Wasser. Früher wurde noch in der Küche gegessen – das Fenster offen, die Luft warm, Jens zehn. Trotzdem spürte er, dass etwas nicht stimmt. Mit Muttis Portemonnaie. Es war immer nur ein bisschen Klimpergeld drin. Und keine Wurst auf dem Teller.
Verrückt breite Straße. So muss New York sein. Oder London. Paris. Vielleicht Hamburg. München. Jens kennt Lebenstedt, den Fahrradweg vom Abschnitt 5 nach Fredenberg zur Fachschule. Kennt Stöckse bei Nienburg – sonst fast nichts. Die Lichtenberge kaum, ein ganz klein wenig den Harz. Die Welt ist aber viel größer. Manchmal hatte er sich gefragt, ob das alles wirklich existiert, was er im Atlas findet, oder ob es vorgegaukelt wird. Hamburg? Amerika? Hat es nie gegeben. Berlin?